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Karl Lauterbach erklärt die geheimnisvolle Krankheit Krebs und nimmt es mit der Gesundheitslobby auf. Krebs wird in den nächsten Jahren zu einer unserer größten Herausforderungen – menschlich wie gesundheitspolitisch. Fast jeder zweite Deutsche wird im Alter betroffen sein, Wissenschaftler gehen von 60 Prozent mehr Krebsfällen bis zum Jahr 2030 aus. Dennoch herrscht bei dieser Volkskrankheit enormes Unwissen – von dem viele profitieren: Ärzte, Krankenhäuser und insbesondere die Pharmaindustrie, für die Krebsmedikamente, deren Preise sie selbst festlegt, der größte Wachstumszweig sind. Karl Lauterbach, Mediziner und Politiker, deckt auf, was im Gesundheitssystem schiefläuft: die ungerechte Zweiklassenmedizin gerade bei Krebs, die falschen finanziellen Anreize für die Kliniken und die Pharmaindustrie, mangelnde Transparenz, was Behandlungserfolge und -methoden betrifft. Zugleich erklärt Lauterbach präzise, kenntnisreich und verständlich die geheimnisvolle Krankheit Krebs und entlarvt die zahlreichen Krebsmythen. Er erklärt, welche Früherkennungen sinnvoll sind und was das Risiko, Krebs zu bekommen, erhöht oder verringert. Vor allem aber zeigt Lauterbach, was geschehen muss, damit die Pharmaindustrie ihre Forschung mehr in den Dienst des Patienten statt nur des Profits stellt. Karl Lauterbach verbindet in diesem Buch seine doppelte Kompetenz als Politiker und Arzt; deshalb kann er ein besonderes Buch vorlegen, das längst überfällig war.
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Seitenzahl: 366
Veröffentlichungsjahr: 2015
Karl Lauterbach
Wie eine Krankheit Deutschland erobert
Karl Lauterbach erklärt die geheimnisvolle Krankheit Krebs und nimmt es mit der Gesundheitslobby auf.
Krebs wird in den nächsten Jahren zu einer unserer größten Herausforderungen – menschlich wie gesundheitspolitisch. Fast jeder zweite Deutsche wird im Alter betroffen sein, Wissenschaftler gehen von 60 Prozent mehr Krebsfällen bis zum Jahr 2030 aus. Dennoch herrscht bei dieser Volkskrankheit enormes Unwissen – von dem viele profitieren: Ärzte, Krankenhäuser und insbesondere die Pharmaindustrie, für die Krebsmedikamente, deren Preise sie selbst festlegt, der größte Wachstumszweig sind.
Karl Lauterbach, Mediziner und Politiker, deckt auf, was im Gesundheitssystem schiefläuft: die ungerechte Zweiklassenmedizin gerade bei Krebs, die falschen finanziellen Anreize für die Kliniken und die Pharmaindustrie, mangelnde Transparenz, was Behandlungserfolge und -methoden betrifft. Zugleich erklärt Lauterbach präzise, kenntnisreich und verständlich die geheimnisvolle Krankheit Krebs und entlarvt die zahlreichen Krebsmythen. Er erklärt, welche Früherkennungen sinnvoll sind und was das Risiko, Krebs zu bekommen, erhöht oder verringert. Vor allem aber zeigt Lauterbach, was geschehen muss, damit die Pharmaindustrie ihre Forschung mehr in den Dienst des Patienten statt nur des Profits stellt. Karl Lauterbach verbindet in diesem Buch seine doppelte Kompetenz als Politiker und Arzt; deshalb kann er ein besonderes Buch vorlegen, das längst überfällig war.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2015
Copyright © 2015 by Rowohlt·Berlin Verlag GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung Frank Ortmann
ISBN 978-3-644-11951-2
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Danksagung
Einleitung: Wie der Krebs Deutschland erobert und eine ganze Industrie schafft
Jeder Zweite wird an Krebs erkranken
Eine Kostenlawine rollt auf uns zu
Was ist Krebs?
Die Krebs-Industrie
Der Aufbau des Buches
1. Wie Krebs entsteht
Ungezügeltes Wachstum
Ausschaltung der Schutzgene
Unsterblichkeit der Krebszelle
Aufbau eigener Blutgefäße
Metastasen
Tarnung vor körpereigenen Killerzellen
Besondere Energieversorgung
2. Neue Therapien: gezielt und teuer
Meist nur eingeschränkt wirksam: Tyrosinkinaseinhibitoren und Antikörperbehandlungen
Die Kostenexplosion in der Krebsbehandlung
Ökonomische und medizinische Grenzen der ersten Generation gezielter Therapie
Ein lukrativer Markt ohne Qualitätskontrolle
Die große Hoffnung: Immunbehandlung bei Krebs
Die wertvollste Pipeline der Welt
3. Die Krebs-Industrie wächst
Vorwurf 1: Die hohen Preise haben nichts mit dem tatsächlichen Nutzen der Medikamente zu tun
Vorwurf 2: Die hohen Medikamentenpreise resultieren nicht aus den Forschungskosten, sondern dienen allein den Profitinteressen der Unternehmen
Vorwurf 3: Die Konzerne missbrauchen ihre Marktmacht
Vorwurf 4: Die Pharmafirmen behindern die Forschung oft sogar
Vorwurf 5: Die hohen Preise sprengen das System
Die Kostenlawine durch die Krebserkrankungen der Babyboomer
Die Selbstregulierung des Marktes funktioniert nicht
Regulierte Modelle sind bislang keine Lösung
Ethische Voraussetzungen für den Einsatz teurer Krebsmedikamente
Die Rolle der Krankenhausindustrie
Das Versagen des Verbraucherschutzes
4. Was kann die Politik tun im Kampf gegen den Krebs und die Krebs-Industrie?
Gegen den Würgegriff der Industrie
Zweiklassenmedizin – gerade bei Krebs nicht tolerierbar
Deutschland braucht mehr Krebszentren und eine bessere Vernetzung
Wirksam oder nicht – Hauptsache, lukrativ? Schluss mit den falschen Anreizen
Wie lassen sich Preise regulieren?
5. Vorbeugung und Früherkennung – was hilft, was schadet
Die vier wichtigsten Krebserkrankungen
Risikofaktoren und Prävention im Überblick
Wie sinnvoll ist das Mammographiescreening?
Prostatascreening – vor allem ein gutes Geschäft?
Hilfreiche Vorsorgeuntersuchungen – und noch nicht existente
Alternative Medizin und unwirksame Schutzfaktoren
Was kann man als Patient tun?
Ausblick: Wann wird Krebs heilbar sein?
Viele Menschen haben mich durch Gespräche und Diskussionen in der Vorbereitung dieses Buches unterstützt. Besonders danken möchte ich dabei den Krebspatienten und ihren Angehörigen, die mit mir ihr Schicksal besprochen haben und deren Unterlagen ich auswerten konnte. Für sie und andere jetzt oder zukünftig Betroffene habe ich das Buch geschrieben, aber auch für diejenigen, die sich durch die Lektüre motiviert fühlen, ihre Risikofaktoren für Krebs zu senken oder anderen dabei zu helfen. Besonders danken möchte ich auch für die freundliche Unterstützung meiner Arbeit durch Olaf Rotthaus, Guido Laue und Conny Gatzweiler, denen ich viele Anregungen und Verbesserungen verdanke. Von meinen ärztlichen Kollegen bin ich besonders Professor Michael Hallek von der Universität Köln und Professor Wolfgang Ludwig, Chefarzt der Klinik für Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie, HELIOS Klinikum Berlin-Buch, zu großem Dank verpflichtet.
Ebenso gebührt dem Rowohlt · Berlin Verlag großer Dank, insbesondere Hanna Schuler, Ricarda Saul, Ulrich Wank und Gunnar Schmidt.
Berlin, August 2015, Karl Lauterbach
Kaum eine andere Erkrankung ist ähnlich bedrohlich wie Krebs. Schon heute lässt sich sagen, dass Krebserkrankungen die öffentliche Debatte um Gesundheit und Gesundheitspolitik in den kommenden Jahren bestimmen werden. Zwar können vorübergehend immer wieder andere Themen in den Vordergrund rücken, wie etwa die Ebola-Krise oder ein neuer antibiotikaresistenter Keim; langfristig jedoch ist Krebs die wichtigste Epidemie unserer Zeit, die sich unaufhaltbar ausbreitet.
Das Schicksal der Betroffenen und ihrer Familien, der sich rasch revolutionierende medizinische Kampf gegen die Krankheit sowie ihre wirtschaftliche Bedeutung – all das wird die gesellschaftliche und politische Diskussion prägen. Und zwar aus verschiedenen Gründen: Schon jetzt sind von keiner Krankheit mehr Menschen direkt oder indirekt betroffen, und ihre Zahl wird weiter steigen. Von der Babyboomer-Generation der Jahrgänge 1950 bis 1970, insgesamt rund 25 Millionen Menschen[1], wird die Hälfte im Laufe ihres Lebens an Krebs erkranken. Das lässt sich schon heute absehen, denn das größte Risiko dieser Generation ist ihre lange Lebenserwartung. Sie erhöht das Krebsrisiko deutlich mehr, als alle bekannten Vorbeugemöglichkeiten es reduzieren könnten. Die Frage ist also, wie viele Menschen an Krebs sterben werden und welche Lebensqualität ihnen bis dahin bleibt – und weniger, wie viele Menschen erkranken. Das lässt sich deutlich leichter beantworten: Für einen Babyboomer liegt die Wahrscheinlichkeit, dass weder er noch sein Partner, noch seine Eltern an Krebs erkranken, unter zehn Prozent. Damit wird eine komplett krebsfreie Familie in Zukunft eher die Ausnahme sein.
Da zugleich die Lebenserwartung der Krebspatienten wächst, werden in Zukunft häufig Kinder erkranken, während die Eltern noch mit Krebs leben. Für fast jede Familie wird Krebs ein wichtiges und sehr persönliches Thema sein – ähnlich wie heute das Thema Pflege im Alter. In der aktuellen Diskussion vergessen wir oft, dass viel mehr Menschen im Laufe ihres Lebens an Krebs erkranken, als dass sie pflegebedürftig werden. Pflegebedürftig sind Menschen in der Regel wenige Monate am Ende ihres Lebens, an Krebs leidet man häufig ein ganzes Jahrzehnt. Krebs jedoch kostet allein in einem Jahr oft so viel wie die gesamte Pflege eines Menschen im Alter. Während die Frage, wie wir im Alter leben wollen und wie das finanzierbar ist, völlig zu Recht breit diskutiert wird, ist Krebs von dieser Aufmerksamkeit weit entfernt. Das liegt zum einen daran, dass die Gesamtzahl der Krebskranken bisher nur langsam steigt, denn noch haben die meisten Babyboomer das kritische Alter nicht erreicht. Gleichzeitig ist das Erkrankungsrisiko für einige Krebsarten sogar leicht gesunken. Und zum anderen sind derzeit nur wenige Prominente bereit, offen über ihr Leben mit Krebs zu berichten. Doch je mehr dies tun, desto deutlicher werden die gesellschaftlichen Dimensionen der Krebs-Epidemie erkennbar sein.
Damit einher geht auch die zunehmende volkswirtschaftliche Bedeutung von Krebs – in unserer immer älter werdenden Gesellschaft muss die Babyboomer-Generation so lange produktiv sein wie möglich. Jeder einzelne Fall von Krebs ist zwar vor allem ein persönliches Schicksal, doch zugleich ist er mit hohen wirtschaftlichen Verlusten für unsere Gesellschaft verbunden – in Form von verlorenem Einkommen. Diese sogenannten indirekten Kosten der Krebserkrankung sind derzeit meist noch höher als die der eigentlichen Behandlung, wobei dieses Verhältnis sich bald umkehren dürfte, da die Therapiekosten derzeit sehr stark steigen.[1]
Die Therapie von Krebs wird in den nächsten Jahren dramatisch teurer werden, weil wir zurzeit in diesem Bereich eine wahre Revolution erleben: den Übergang von der klassischen Chemotherapie zur sogenannten gezielten Therapie. Dabei werden statt relativ simpler chemischer Moleküle oder Hormone maßgeschneiderte Spezialmoleküle oder Antikörper eingesetzt, die mehr oder weniger gezielt in die erst in den letzten Jahren erfolgreich erforschten Mechanismen des Krebswachstums eingreifen. Während eine klassische Chemotherapie rund 4000 Euro kostet, belaufen sich die Ausgaben für die gezielte Therapie im Durchschnitt oft schon monatlich auf diese Summe. Und die Behandlungskosten werden in Zukunft noch zusätzlich steigen, weil man mehrere Formen der gezielten Therapie miteinander verbinden kann und sie darüber hinaus über einen längeren Zeitraum anwenden wird. Viele Patienten werden sogar über viele Jahre hinweg behandelt werden, denn dank der gezielten Therapie verlängert sich ihr Überleben deutlich. Die Lebenserwartung stieg dank dieser neuen Methoden im Durchschnitt bisher nur um 2,5 Monate.[2] Somit ist die Revolution der gezielten Therapie bisher im Wesentlichen eine Revolution der Kostenentwicklung.
Die Zahl der Krebsfälle nimmt auch deswegen zu, weil wir andere Krankheiten besser verhindern oder behandeln können. Dahinter steckt die einfache Logik, dass nur derjenige, der den Herzinfarkt überlebt hat, den Krebs noch bekommen kann. Das klingt trivial, ist es aber nicht. Deutschland hat wie viele andere Länder mit gutem Gesundheitssystem und hohem ökonomischem Standard die Sterblichkeit bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen sehr erfolgreich gesenkt, seit 1990 allein um die Hälfte.[3] Nun lässt sich Krebs aber nicht annähernd so wirksam vermeiden und heilen, und zusätzlich gibt es wegen der höheren Lebenserwartung immer mehr Krebspatienten. Dieser Trend wird sich auch in den nächsten Jahren fortsetzen: Der Erfolg insbesondere bei der Vermeidung und Behandlung von Herzinfarkten und Schlaganfällen erhöht die Zahl der Krebserkrankungen. Wir müssen bis zum Jahr 2030, also in nur fünfzehn Jahren, weltweit mit sechzig Prozent mehr neuen Krebsfällen rechnen.[4] Die Zahl der Erkrankten wird sogar noch stärker steigen, denn hinzu kommt die wachsende Zahl der Überlebenden, die noch vor Jahren an der Krankheit gestorben wären.
Die Generation der Babyboomer ist möglicherweise die einzige, deren Mitglieder so zahlreich an Krebs erkranken und sterben werden. Für ihre Eltern und Urgroßeltern war das Krebsrisiko geringer, weil sie häufig an anderen Krankheiten starben, bevor sie das Krebsalter erreicht hatten. Die Babyboomer waren und sind den Risikofaktoren für Krebs – hohe Lebenserwartung, Rauchen, Alkohol, Übergewicht, Bewegungsarmut – so lange und so intensiv ausgesetzt wie keine Generation zuvor. Jedoch haben wir Grund zur Hoffnung, dass Krebs in einigen Jahrzehnten vielfach heilbar oder zumindest kontrollierbar werden könnte. Dass er sich vollständig vermeiden lässt, ist hingegen sehr unwahrscheinlich. Daher ist die Babyboomer-Generation, was den Krebs betrifft, eine Sandwich-Generation. Sie ist zu jung, um an anderen Erkrankungen zu sterben, und zu alt, um die Heilbarkeit vieler Krebsarten zu erleben.
Was Krebs eigentlich ist, nämlich eine genetische Erkrankung, und wie er entsteht und sich entwickelt, wissen wir im Grunde erst seit Anfang der achtziger Jahre. Aus medizinischer Sicht ist Krebs in vielerlei Hinsicht die interessanteste Krankheit, die es überhaupt gibt. In einem bösartigen Tumor spielen sich viele Aspekte der Evolution der gesamten Menschheit im Zeitraffer ab. Es ist grausam und faszinierend zugleich, wie ein Krebs sich des Körpers bemächtigt, um in diesem quasi wie ein neuer, eigener Organismus parasitär zu wachsen. Wir haben über Krebs in den letzten zehn Jahren mehr gelernt als in der ganzen Menschheitsgeschichte zuvor. Bei keiner anderen Krankheit hat es größere Erkenntnisgewinne gegeben, keine wird intensiver untersucht. An Krebs forschen mehr Spitzenwissenschaftler aller Disziplinen als an jeder anderen Krankheit. Ein Großteil der Medizinnobelpreise der letzten dreißig Jahre ging an Krebsforscher, und weitere werden bald folgen. Keiner anderen Erkrankung widmet die Pharmaindustrie und die akademische Forschung größere Aufmerksamkeit, nirgendwo sind derzeit mehr neue Medikamente in der Zulassungsschleife.
Leider haben diese Erkenntnisse auch gezeigt, dass Krebs viel schwerer zu heilen ist, als man erwartet hat, zumindest in den fortgeschrittenen Stadien. Vor 1980 wurden die geringen Heilungschancen beim fortgeschrittenen Krebs darauf zurückgeführt, dass man nicht wusste, wie er entsteht und was eigentlich genau in einer Krebszelle passiert. Man nahm an, dass das Verständnis dieser Funktionen auch rasch zu einer Therapie führen würde. Heute kennen wir die wichtigsten Mechanismen in der Krebsentwicklung sehr genau. Es hat sich tatsächlich bewahrheitet, dass Krebs nach zwar sehr komplexen, aber durchaus logischen Gesetzen funktioniert, und diese verstehen Mediziner immer besser. Aber genau deshalb weiß man auch, wie schwer die Heilung ist.
Die Gesetze des Krebswachstums, Robert Weinberg nennt sie die Hallmarks of Cancer, machen deutlich, worin die Schwierigkeiten der Heilung genau bestehen.[1] Leider rechne ich nicht damit – auf die Gründe dafür komme ich zurück –, dass sich in den nächsten Jahren dramatische Durchbrüche ereignen werden. Vielmehr wird es viele kleine erfolgreiche Schritte geben und einen weiteren Durchbruch nur beim exponenziell wachsenden Verständnis der Erkrankung. Mir ist klar, dass viele Forscher optimistischer sind, und ich würde mich freuen, wenn ich unrecht hätte. Deshalb soll hier das Potenzial der vielversprechendsten neuen Verfahren, die im Moment in erster Linie aus der Immuntherapie und deren Kombination mit anderen gezielten Therapien kommen, gewürdigt und beschrieben werden. Doch letztlich führen diese Ansätze – sowie die Erkenntnisse der letzten dreißig Jahre insgesamt – zu dem Schluss, dass der Gegner größer ist als erwartet.
Eine der wichtigsten, die neuen Erkenntnisse zusammenführenden Publikationen zu der Frage, was Krebs ist, erschien bereits 1982, in dem Jahr, als ich mein Medizinstudium an der Uniklinik in Aachen begann. Sie stammt von dem oben erwähnten Robert Weinberg selbst, einem Krebsforscher vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston, der auch das erste Gen entdeckt hat, das Krebs verursacht, das erste Onkogen.[2] Es ist untertrieben zu sagen, dass sich seitdem das Wissen über Krebs verhundertfacht hat. Trotzdem ist in der gleichen Zeit die Lebenserwartung eines neu diagnostizierten Falls von etwa Bauchspeicheldrüsenkrebs nur um wenige Wochen gestiegen.[3] Es gibt zwar einige Durchbrüche, insbesondere die immer wieder zitierte Behandlung der chronisch myeloischen Leukämie (CML) mit dem Medikament Imatinib (Glivec), einem Paradebeispiel der gezielten Therapie, die aufgrund pathogenetischer Erkenntnisse über diesen seltenen Tumor entwickelt werden konnte.[4] Trotzdem ließ sich der Erfolg dieses 2001 zugelassenen Medikaments bislang bei keiner anderen Krebsart in diesem Umfang wiederholen. Dies liegt daran, dass es bei der CML eine vorherrschende Störung gibt, welche die Krankheitsentstehung begründet. Dieses Onkogen, bcr-abl, wird durch Imatinib (Glivec) relativ gezielt gehemmt. Fast alle anderen Krebsarten haben eine größere genetische Komplexität. Es sind mehr als zehn Gene (Treibergene) nötig, um den Krebs auszulösen. Zusätzlich sind zum Zeitpunkt der Diagnose bis zu 150 Gene (Passagiergene) verändert. Die Behandlung eines solchen Tumors ist daher, um dauerhaften Erfolg zu haben, mit einem einzigen Medikament nicht möglich. Die Behandlung konzentriert sich auf die Treibergene, die wiederum über drei verschiedene Wege wirken. Die Passagiergene tragen zum eigentlichen Krebswachstum nicht bei und können sogar in der Immuntherapie genutzt werden, um den Krebs besser behandeln zu können. Die Details sprengen den Rahmen dieser Einführung. Da aber bereits die Behandlung mit Imatinib (Glivec) im Durchschnitt 41000 Euro kostet, lässt sich grob erahnen, wie teuer die zukünftigen Behandlungen von Krebs mit gezielten Therapien sein dürften. Die Kombination von zwei Immuntherapien beim schwarzen Hautkrebs kann zum Beispiel über 200000 Dollar kosten.[5]
Es gibt somit gute und schlechte Neuigkeiten bei der Behandlung von Krebs. Gut ist der gigantische Fortschritt in den Grundlagenwissenschaften der letzten dreißig Jahre, der überhaupt erst gezeigt hat, mit welcher Krankheit wir es hier letztlich zu tun haben. Dank dieses Fortkommens lassen sich viele Fehlinvestitionen in der Forschung und falsche Ursachenzuschreibungen beseitigen. So ist etwa die in meinem Medizinstudium teilweise noch gelehrte, jedoch vollkommen unsinnige Annahme widerlegt, Krebs sei eine psychosomatische Erkrankung. Die Ursachen von Krebs kennen wir mittlerweile sehr viel besser. Eine weitere gute Nachricht ist, dass wir dank der neuen Erkenntnisse die Behandlungsergebnisse bei fast allen Krebsarten verbessern werden und bei manchen von ihnen, ähnlich wie bei der CML, sogar eine Heilung erreichen können. Eine schlechte Nachricht sind die Größe und Komplexität der Herausforderung insgesamt sowie der Umstand, dass die zu erwartenden Fortschritte für viele zu spät kommen werden.
Ganz sicher ist, dass sich in den nächsten Jahrzehnten eine regelrechte Krebs-Industrie entwickeln wird. Allein durch die große Zahl der Patienten, die massive Forschungs- und Entwicklungsarbeit und die dabei entstehenden großen Behandlungszentren wird automatisch eine Industrie geschaffen, die mit kaum einem anderen Wirtschaftszweig vergleichbar ist. Nirgends sonst geht es um so viele Einzelschicksale, Schicksale ganzer Familien, Hoffnungen und Enttäuschungen. Keine andere Industrie ist ähnlich komplex und erzielt derart hohe Gewinne. Keine andere Industrie wird in den nächsten Jahren ähnlich schnell wachsen. Und leider ist auch keine andere Industrie so anfällig für Manipulationen jeder Art, angefangen bei gefälschten oder verzerrten Forschungsergebnissen über Korruption von Ärzten und Kliniken bis hin zu Preismanipulationen und tödlichen Fehlern von allen Beteiligten. Zu dieser Industrie gibt es keine Alternative, aber man muss sie verstehen, um sie regulieren zu können. Nur dann lässt sich der dringend benötigte Fortschritt auch wirklich erreichen. Das Buch soll nicht als pauschale Kritik verstanden werden, vielmehr will es Licht und Schatten der Krebsindustrie darstellen. Im Kampf gegen den Krebs brauchen wir alle Mittel, die es gibt; deshalb sind wir auch angewiesen auf eine Krebsindustrie, die diese Mittel herstellt. Aber wir benötigen eine bessere Krebsindustrie, und dieses Buch will zeigen, wie das gehen könnte.
Im ersten Kapitel wird beschrieben, was Krebs genau ist und wie er sich im Körper ausbreitet. Dabei werden die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse so erklärt, dass sie auch ohne medizinische oder biologische Vorkenntnisse zu verstehen sind. Krebs ist faszinierend und gleichzeitig extrem gefährlich. Unter den Krankheiten ist er die Raubkatze. Die Mechanismen seiner Entstehung hat man seit 1980 immer klarer entschlüsselt, und besondere Fortschritte hat es gerade in den letzten fünf Jahren gegeben. Trotzdem hat sich die Prognose beim fortgeschrittenen Krebs bisher kaum verbessert. Weshalb das so ist und wann bzw. ob wir mit einem Durchbruch rechnen können, wird ausführlich erörtert. Im Grunde ist Krebs eine genetische Krankheit, bei der jene Gene verschleißen, die das Zellwachstum antreiben und bremsen. Dieser Verschleiß kann durch Risikofaktoren wie Rauchen oder Übergewicht beschleunigt sein, aber er findet ebenso im Körper eines vollkommen gesunden Menschen statt.
Im zweiten Kapitel werden die neuesten Behandlungsmöglichkeiten von Krebs beschrieben. Auf der Grundlage des Wissens über Krebs, das in den letzten Jahren geradezu explodiert ist, sind neue Therapien entstanden, die man als sogenannte gezielte Therapien bezeichnet. Während Chirurgie, Bestrahlung und Chemotherapie gesunde wie kranke Zellen treffen und nur beschränkt auf den Tumor selbst gelenkt werden können, richten sich die gezielten Therapien auf jene genetischen Eigenschaften, die nur die Krebszellen aufweisen. Wenn dies vollständig gelingen würde, könnte man mit der gezielten Therapie den Krebs komplett beseitigen, ohne die gesunden Zellen zu beschädigen. Leider ist es oft so, dass der Krebs seine Gene gegen diese gezielten Angriffe sehr gut schützt, indem er sie etwa im Kampf gegen die Behandlung weiter verändert. Die gezielte Therapie ist daher wie ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Tumor und Medizin. Die Medikamente, die in der ersten Generation der gezielten Therapie entwickelt wurden, im Wesentlichen seit Beginn dieses Jahrtausends, sind die sogenannten Tyrosinkinaseinhibitoren (TKI) und die Antikörper gegen Krebs. Wie sie wirken und welches Potenzial sie haben, wird mit vielen Beispielen im zweiten Kapitel dargestellt. Leider mit dem Ergebnis, dass sie das Leben oft nur um wenige Monate verlängern, weil der fortgeschrittene Krebs sehr schnell Wege findet, ihre Wirkung auszuschalten. Häufig kommt der Krebs noch aggressiver und mit geballter Kraft zurück. Im gleichen Kapitel soll auch die zweite Generation der gezielten Therapie vorgestellt werden, die Immuntherapie, die seit 2011 einen Durchbruch zu schaffen scheint. Von ihr geht heute die mit einigem Abstand größte Hoffnung im Kampf gegen den Krebs aus, weil sie entgegen jeder Erwartung weit fortgeschrittene Tumore, auch den besonders gefährlichen schwarzen Hautkrebs, in einigen Fällen offenbar heilen konnte. Es überlebten Patienten für mehr als zehn Jahre, die ohne diese Behandlung nach nur wenigen Wochen gestorben wären. Die wichtigsten Fakten dieser Medikamente, die als Checkpoint-Inhibitoren (CKI) bezeichnet werden, sollen erläutert werden – wie sie wirken, wann sie in Deutschland auf den Markt kommen, für welche Krebsarten man sie erwarten kann und wie sie mit den anderen gezielten Therapien kombiniert werden. Die gezielten Therapien der ersten und zweiten Generation sind extrem teuer, die Behandlung kann leicht hunderttausend Euro pro Jahr betragen. Hinzu kommen Kosten für das Krankenhaus, die Ärzte, die Rehabilitation und für Komplikationen. Die gezielte Therapie bewirkt eine Kostenexplosion, deren Ausmaß bisher massiv unterschätzt wird. Die neuen Therapien sind im Durchschnitt zehn- bis vierzigmal so teuer wie die Chemotherapie, die sie in der Regel ablösen oder ergänzen.
Sowohl im Bereich der Krebsentstehung als auch im Bereich der gezielten Therapien sind es fast ausschließlich amerikanische Forscher, denen diese Entdeckungen zu verdanken sind. Sie forschen an Universitäten wie Harvard, der Universität von Kalifornien oder dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) und sind oft besessene Einzelkämpfer, die viele Jahre gegen den Strom der vermeintlich erfolgversprechenderen Wissenschaft geschwommen sind. Einige werden in den nächsten Jahren wohl mit dem Nobelpreis für Medizin rechnen können. Entgegen der Erwartung vieler Laien und auch im Gegensatz zur Marketingstrategie der Pharmafirmen wurde kein einziger wichtiger Krebsmechanismus und auch sonst keine entscheidende Waffe gegen Krebs in den Laboren der Arzneimittelindustrie entdeckt. Leider haben sich solche Durchbrüche auch nicht in den deutschen Forschungseinrichtungen und Universitäten ereignet. Weshalb dies so ist, soll ebenfalls zur Sprache kommen.
Im dritten Kapitel geht es um die Krebsindustrie, die durch die Zunahme der Krebserkrankungen entstanden ist und im Wesentlichen aus Pharmafirmen, Forschungseinrichtungen, Krankenhäusern und der Ärzteschaft besteht. Fünf konkrete Vorwürfe zeichnen sich bei näherer Betrachtung der Krebsindustrie ab: 1. Die hohen Preise der Krebsmedikamente resultieren nicht aus ihrem realen Nutzen. 2. Keinesfalls werden die Gewinne in Forschung reinvestiert. 3. Die Pharmakonzerne missbrauchen ihre Marktmacht, und 4. behindern oft sogar die Forschung. 5. Die hohen Preise werden in absehbarer Zeit die Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems gefährden.
Diese Vorwürfe resultieren unter anderem aus Studien bekannter amerikanischer Krebsärzte, die genau das nahelegen. Sie kommen zu dem Schluss, dass die Profitgier einiger Unternehmen die Finanzierbarkeit der Krebsbehandlung akut gefährdet und sogar die Forschung bedroht. Es gibt nur noch eine kleine Gruppe von Arzneimittelfirmen, die neue Krebsmedikamente auf den Markt bringen können, und diese beherrschen sowohl die Zulassungsverfahren als auch die Preise, die sie den Ländern vielfach aufzwingen können. Dabei machen sie extrem hohe Gewinne, die mit den Forschungsaufwendungen dieser Firmen in keinem nachvollziehbaren Zusammenhang stehen und Ergebnis von Gewinnmaximierung und Monopolstellungen auf dem Markt sind. In der Krebsindustrie funktioniert die Selbstregulierung des Marktes nicht; viele der gezielten Therapien sind zu teuer, sie verlängern das Leben oft nur um wenige Monate bei Kosten von mehr als hunderttausend Euro. Da sie sehr aggressiv vermarktet werden, schaden sie einigen Patienten sogar mehr, als sie ihnen nutzen. Sie überschätzen die Wirkung der Medikamente, stimmen der Behandlung zu oder fordern sie sogar ein und verbringen so die letzten Monate ihres Lebens in Krankenhäusern, wo sie teils schwere Rückfälle erleben müssen. Die Möglichkeit, ohne Schmerzen und Qualen dem Leben einen sinnvollen Abschluss zu geben, wird ihnen auf diese Weise genommen. Doch wie gelingt es jenen wenigen Pharmakonzernen, dass Ärzte und Patienten die Medikamente zu ihren Bedingungen verwenden? Dabei geht es um eine extreme Konzentration von Macht, die damit beginnt, dass nur noch wenige Firmen in der Lage sind, die für die Zulassung notwendigen Studien durchzuführen. Das tun sie so, dass der Nutzen der Medikamente systematisch überschätzt wird und die Medikamente zu früh und auf der Grundlage unsicherer Daten zugelassen werden. Damit könnten diese Firmen dem Durchbruch der gezielten Therapie langfristig sogar im Wege stehen: Sie diskreditieren Medikamente, die bei geringeren Kosten, besserer Erforschung und gezielterer Nutzung für die Patienten wesentlich hilfreicher sein könnten. Deutsche Pharmaunternehmen sind durchaus innovativ, sie sind aber von der Zulassung und Vermarktung neuer Krebsmedikamente nahezu ausgeschlossen. Woran liegt das, und was müsste sich ändern?
Die Generation der Babyboomer erreicht in den nächsten zwanzig Jahren das gefährlichste Alter für die Entstehung von Krebs; rund jeder Zweite, so steht zu befürchten, wird selbst betroffen sein. Wenn sich die Kostenexplosion fortsetzt wie bisher, werden wir jährlich zusätzliche 45 Milliarden Euro für die Krebsbehandlung aufwenden müssen. Damit wäre die Krebsbehandlung der am stärksten wachsende Posten in unseren Sozialsystemen überhaupt (wie sich diese Summe berechnet, steht ebenfalls im dritten Kapitel).
Gerade die Babyboomer-Generation wird eine außerordentlich harte Auseinandersetzung mit den Krebskrankheiten führen. Die Chancen der gezielten Therapie verbessern sich, aber es gibt gute Gründe zu glauben, dass die Heilung eines fortgeschrittenen Krebses in den nächsten Jahren dennoch eher die Ausnahme bleiben wird. Dann wäre die Babyboomer-Generation vielleicht die erste und die letzte zugleich, die so stark unter Krebs leiden muss. Schon jetzt ist sie die Generation, die mehr als jede andere zum grundsätzlichen Verständnis von Krebs und seiner Behandlung beigetragen hat. Ob sie von den eigenen Erkenntnissen noch profitieren kann oder im Wesentlichen die überzogenen Gewinne der Krebsindustrie finanzieren muss, wird sich in den nächsten Jahren zeigen.
Im vierten Kapitel geht es darum, was die Politik tun kann und muss, um die Krebsforschung und die Behandlung zu verbessern. Deutschland hat von allen europäischen Ländern schon jetzt die höchsten Kosten in der Krebsbehandlung, kann aber gleichzeitig keine herausragenden Behandlungsergebnisse vorweisen. Hinzu kommt, dass in Deutschland die Qualität der Behandlung sehr stark davon abhängt, wo man lebt und wie man versichert ist. Es fehlt zunehmend an echten Spezialisten, und wir müssen befürchten, dass viele Patienten nicht die Behandlung bekommen, die für sie die beste wäre. Doch das ließe sich ändern – wie, wird im vierten Kapitel beschrieben. Außerdem müssen wir gegen die zu erwartende Kostenexplosion vorgehen und dabei auch die Forschung in Deutschland stärken. Auch dazu mache ich einige Vorschläge, insbesondere zur Preiskontrolle für neue Krebsmedikamente. Die bestehenden Regeln haben sich als wenig wirksam erwiesen, Alternativen müssen dringend diskutiert werden.
Im fünften Kapitel soll es um jene Vorbeugemaßnahmen gehen, die tatsächlich sinnvoll sind – und jene, die eher schaden. Auch stelle ich immer wieder fest, dass es in der Bevölkerung einen weitverbreiteten Irrglauben darüber gibt, wodurch Krebs verursacht wird. Um der Krebsindustrie wirklich begegnen zu können, braucht es auch in diesem Bereich Aufklärung.
Menschen sind in sehr unterschiedlichem Maße anfällig für Krebs, und diejenigen, deren Eltern bestimmte Gene weitergaben, haben ein viel höheres Risiko. Das sind aber nur fünf Prozent aller Krebspatienten. 95 Prozent aller Fälle sind das Ergebnis von purem Zufall oder vermeidbaren Risikofaktoren.
Unter optimalen Bedingungen lassen sich zwischen dreißig und vierzig Prozent aller Krebsfälle durch Vorbeugung vermeiden. Die meisten Risikofaktoren für die verbreitetsten Krebserkrankungen (Lungen-, Brust- und Darmkrebs) sind in Fachkreisen mittlerweile bekannt. In der breiten Bevölkerung jedoch herrscht nach wie vor großes Unwissen. Im fünften und letzten Kapitel werden diese Risiken detailliert beschrieben. Dazu bewerte ich die Studien der Vorbeugemedizin der letzten vierzig Jahre, in denen Millionen von Patienten untersucht und beobachtet wurden. In diesen großen Studien konnten die Hauptrisikofaktoren der häufigsten Krebsarten identifiziert werden. Ihre Wirkweise und Bedeutung sowie geeignete Vorbeugemaßnahmen werden im letzten Kapitel beschrieben.
Wie Krebs entsteht, wurde erst in den letzten dreißig Jahren erkannt, und es ist noch lange nicht vollständig erforscht. In diesem Kapitel wird daher nur ein kurzer Einblick vermittelt. Es kann weder der Stand der Wissenschaft im Detail beschrieben werden, noch darf der Eindruck entstehen, als wäre das Rätsel Krebs bereits gelöst. Um jedoch die realen Möglichkeiten der Vorbeugung, der Früherkennung und der Behandlung verstehen zu können, muss man zumindest die grundlegenden Mechanismen von Krebs kennen. Vieles, was sich heute innerhalb der Krebsindustrie ereignet, ist erst dann begreiflich, wenn man einen ungefähren Überblick über die Besonderheiten dieser Krankheit gewonnen hat.
Zunächst ist zu sagen, dass es «den» Krebs nicht gibt. Es gibt einerseits Blutkrebs, etwa Leukämie oder Krebs der roten Blutkörperchen, und andererseits sogenannte solide Tumoren. Fast jedes Organ kann davon betroffen sein, und für jedes gibt es etliche Unterformen. Krebse können schnell (z.B. Gioblastome des Gehirns) oder langsam (Varianten des Prostatakrebses) wachsen, früh (Lungenkrebs) oder spät (manche Brustkrebse) oder gar keine Metastasen bilden (weißer Hautkrebs), eine sehr hohe (Bauchspeicheldrüsenkrebs) oder eine sehr niedrige (Prostatakrebs) Sterblichkeit haben. Trotzdem funktionieren alle Krebsarten mehr oder weniger nach den gleichen Regeln. Sie zu verstehen ist die Grundvoraussetzung, um Krebs heilen zu können oder ihm vorzubeugen. Diese Regeln machen auch deutlich, warum die Heilung einer einzigen Krebsart sehr viel leichter sein wird, als einen einzelnen Menschen vor jeder Krebsart zu schützen.
Als es möglich geworden war, einzelne Gene im Körper, ihre Funktion und ihre Rolle bei Erkrankungen zu bestimmen, begann die Entschlüsselung der Krankheit Krebs. Erste Durchbrüche gab es in den siebziger Jahren. In der Medizin treibt oft der Fortschritt in der Biologie und in der Grundlagenforschung den Erkenntnisgewinn voran, weil erst durch technische Errungenschaften die Instrumente entstehen, mit denen man die Krankheiten erforschen kann. Die wichtigste Erfindung ist der Computer selbst, weil keine der Entdeckungen der Krebsforschung in den letzten Jahren ohne die Auswertung von riesigen Datenmengen möglich gewesen wäre.
Die Mechanismen von Krebs werden in diesem Kapitel so beschrieben, dass sie auch für Nichtmediziner gut verständlich sind. Das zwingt zur Vereinfachung, und Ärzte und Spezialisten können diese Seiten überschlagen. Keine andere Krankheit ist derart komplex wie Krebs, und das ist es, was den Möglichkeiten der Vorbeugung und der Heilung enge Grenzen setzt – und was zwangsläufig eine Krebsindustrie entstehen lässt.
Die wohl meistzitierten aktuellen wissenschaftlichen Artikel zu den genauen Mechanismen der Krebsentstehung wurden in den Jahren 2000 und 2011 von Douglas Hanahan und Robert A. Weinberg publiziert. Beide forschten am Massachusetts Institute of Technology in Boston, Hanahan inzwischen in der Schweiz, und Weinberg hat auch an wesentlichen Entdeckungen zur Krebsentwicklung selbst mitgewirkt.[1] Die Artikel sind nur für Fachleute verständlich und setzen mehr Kenntnisse der Tumorbiologie voraus, als sie etwa ein Allgemeinarzt haben dürfte. Trotzdem bilden diese und ähnliche Veröffentlichungen mittlerweile das Grundlagenwissen der Krebsentwicklung, und auf dieser Basis wird weltweit geforscht und behandelt. Die dort beschriebenen Mechanismen, die den Kenntnisstand von Tausenden Klinikern und Grundlagenwissenschaftlern zusammenfassen, konnten wissenschaftlich bestätigt und reproduziert werden. Es stellte sich heraus, dass sich die gezielte Beeinflussung der von Hanahan und Weinberg beschriebenen Mechanismen durch bestimmte Medikamente direkt auf das Wachstum eines Tumors auswirkt und letztlich die Lebenserwartung des Patienten verlängert. Die beiden sahen sich bestätigt.
Hier werden acht Merkmale (in der späteren Version der Arbeit von Hanahan und Weinberg sind es schon zehn) der Krebsentstehung beschrieben, wobei für einige der Merkmale noch nicht endgültig bestätigt werden konnte, ob sie für jeden Krebs gelten.
Das erste und wichtigste Merkmal von Krebs ist das ungezügelte Wachstum. Die normalen Körperzellen eines erwachsenen Menschen teilen sich nur selten (Ausnahmen sind Haut- und Haarzellen) und werden erst ersetzt, wenn sie beschädigt oder verschlissen sind. Der Körper tauscht lediglich das aus, was nicht mehr funktioniert, und im Alter lässt selbst diese Fähigkeit nach.
Krebszellen wachsen stetig, sie teilen sich ohne physiologischen Grund und ohne jemals aufzuhören, wenn man sie nicht daran hindert. Es gibt Krebszellen, die seit Jahrzehnten in Laboren leben und sich weiter teilen, obwohl die Menschen, in denen sie einst wuchsen, schon lange tot sind. Während gesunde Zellen im Alter verschleißen und die Fähigkeit zur Zellteilung ganz verlieren, teilen sich Krebszellen in der Regel umso schneller, je länger sie im Körper ungehindert wachsen konnten: Entdeckt man den Krebs zu spät, ist er nicht mehr zu stoppen. Auf seiner Suche nach der Unsterblichkeit kann der Mensch nirgendwo mehr lernen als vom Krebs, der zahlreiche Mechanismen der Alterung erfolgreich beseitigen kann. Möglich wird dieses Wachstum in erster Linie durch sogenannte veränderte Onkogene – Gene, die die Krebszelle immer weiter zum Wachstum und zur Zellteilung anfeuern. Sie wurden oft als Gaspedale des Krebses bezeichnet, als hätte man den Fuß bei der Zellteilung fest auf dem Hebel, während man sonst nur Gas gibt, wenn eine kaputte Zelle im gesunden Gewebe ersetzt werden muss.
Der Mensch hat etwa 23000 Gene in jeder Zelle, die für die Produktion je eines Proteins zuständig sind. Aus der Kombination der Proteine in bestimmten Geweben lassen sich Form und Funktion aller Organe ableiten. Nicht alle der 23000 Gene sind in jeder Zelle aktiv, und in jedem Organ arbeiten sie anders zusammen. Wenn man so will, sind die Proteine Signale in der Zelle, die in ihrer Zusammenarbeit alle Körperfunktionen steuern. Da in jedem Organ andere Kombinationen von Genen angeschaltet und abgeschaltet sind, findet jede Zelle ihre Aufgabe, und jedes Organ hat seine Funktion. Die meisten dieser Gene und Proteine funktionieren bei Mensch und Tier sehr ähnlich, wie etwa bei der Maus, deren Gene sich von unseren in weniger als einem Prozent unterscheiden, weshalb man an ihr viele Krebserkrankungen und Behandlungen erforschen kann.
Nur ein paar hundert Gene haben etwas mit der Teilung von Zellen zu tun, und davon ist wiederum nur ein Teil der Gruppe der Onkogene zuzuschreiben.[1] Onkogene hat auch die gesunde Zelle, aber dort werden sie gezielt an- und abgeschaltet und haben physiologische Funktionen. Onkogene haben alle eine physiologische Funktion. Sie erzeugen aber Krebs, wenn sie mutiert sind, daher der Name Onkogen. Die Mutationen können im Austausch einzelner Basenpaare bestehen (meistens) oder es können ganze Stücke des Gens verändert sein, indem Teile fehlen oder fremde Teile angehängt sind (seltener). Krebs entsteht, wenn Onkogene permanent aktiviert sind. Dies passiert durch Mutationen, also Fehler in den Onkogenen. Das erste Onkogen überhaupt, es trägt den Namen Ras, wurde von Robert A. Weinberg im Jahre 1982 gefunden. Mit ihm gelang es, in gesunden Zellen Krebs entstehen zu lassen. Damit war der Beweis erbracht, dass ein verändertes Gen Krebs verursachen kann, daher der Name Onkogen. Bis heute kennt man zweihundert Onkogene, und die Zahl wird weiterwachsen, obwohl die wichtigsten heute wahrscheinlich bekannt sind.[2] Dabei reicht ein einzelnes Onkogen nicht, um Krebs zu verursachen. Es sind fast immer mehrere nötig, um malignes Wachstum entstehen zu lassen. Mutierte Onkogene sind jedoch die Voraussetzung für die Entstehung von Krebs, weil das Signal zur ungebremsten Teilung notwendig ist. Wie kommt es also dazu, dass der eine Mensch mutierte Onkogene hat, der andere aber nicht?
Zunächst werden viele Menschen schlicht mit mutierten Onkogenen geboren. Wenn in einer Familie viele Krebsfälle vorkommen, insbesondere bei Eltern und Geschwistern in jüngeren oder mittleren Jahren, gibt es häufig mutierte Onkogene oder andere krebsverursachende Gene in der Familie. Vererbte mutierte Onkogene bedeuten nicht, dass man zwangsläufig an Krebs erkranken muss, sie erhöhen aber die Wahrscheinlichkeit. Kommen im Laufe des Lebens weitere Faktoren hinzu oder gehen Schutzfaktoren verloren (dazu später mehr), kann der Krebs im Körper entstehen.
Leider reicht eine einzige der etwa hundert Billionen Zellen im Körper aus, um Krebs entstehen zu lassen.[3] Diese Zelle hat einen Überlebensvorteil, da sie sich ungebremst teilt oder weniger schnell abstirbt. So können im Leben dieses Zellklons weitere Mutationen erworben werden, die weitere Überlebensvorteile erbringen, bis ein aggressiv wachsender Tumor entsteht. Eine wichtige Möglichkeit der Vorbeugung und Behandlung wird darin gesehen, diese veränderten Zellklone so früh wie möglich zu entdecken, bevor ein solcher aggressiver Tumor entstanden ist. Die Entstehungszeit von den ersten Mutationen bis zum sichtbaren Krebstumor dauert Jahrzehnte. Könnte man das Wachstum früher stoppen, wären die Heilungsaussichten sehr viel besser. Dies könnte durch frühere Behandlung oder durch Veränderung der Lebensweise, die auf die Wahrscheinlichkeit weiterer Mutationen einwirkt (Epigenetik), geschehen.
Da jedes Gen bei jeder Zellteilung beschädigt werden kann, etwa weil diese nicht genau funktioniert und einige der sogenannten Basenpaare der DNA-Kette, aus der jedes Gen besteht, vertauscht werden, mutieren im Körper wahrscheinlich ständig Onkogene. Diese werden aber meist durch Reparaturmechanismen sofort beseitigt. Je älter man wird, desto häufiger passieren der Zelle Fehler bei der Teilung, desto mehr mutierte Onkogene entstehen also im Rahmen der normalen Zellteilung. Gleichzeitig werden die Reparaturgene, die die Schäden sofort beheben, im Alter zunehmend unzuverlässig, weil auch sie großteils schon beschädigt sind und nicht rechtzeitig ausgetauscht werden konnten. Somit sind bei einigen Krebsarten 95 Prozent der Fälle ein Produkt des Zufalls und des Verschleißes der Gene im Körper. Es ist nur eine Frage der Lebenszeit, bis mutierte Onkogene und Schutzgene nicht mehr rechtzeitig vernichtet oder repariert werden können und der Krebs entsteht. Der Verschleiß der Zellen ist der wichtigste Grund dafür, dass das Krebsrisiko im Alter dramatisch zunimmt. Würden wir lange genug leben, würde definitiv jeder von uns an Krebs erkranken. So kann man bei mehr als der Hälfte der Männer, die im Alter von 85 Jahren an anderen Krankheiten verstorben sind, in der Prostata Krebszellen finden.[4]
Das Krebsrisiko steigt, weil wir in das Hochrisikoalter hineinaltern und gleichzeitig durch Faktoren wie das Rauchen quasi den Alterungsprozess in bestimmten Geweben massiv beschleunigen, insbesondere in der Lunge. Fast jedes Tier kann an Krebs erkranken, und er wurde bereits bei den ältesten unserer Vorfahren vor 120000 Jahren entdeckt.[5] Etwa dreißig bis vierzig Prozent der Krebsfälle in Deutschland wären wahrscheinlich trotzdem vermeidbar, unter anderem auch, da sich der Verschleiß durch Vorbeugung verzögern lässt.
Ein weiteres Merkmal von Krebszellen ist es, dass die Funktionen der sogenannten Suppressor-Gene ausfallen können. Wie oben beschrieben, hat jede gesunde Zelle Gene, die ungewollte oder schädliche Zellteilungen vermeiden und Defekte an zerstörten Genen reparieren. Nur so wird sichergestellt, dass nicht mehr Zellen nachwachsen, als benötigt werden, und sich beschädigte Zellen erst gar nicht vermehren. Die Funktion dieser Suppressor-Gene ist zwar sehr komplex, lässt sich aber ungefähr wie folgt beschreiben: Mehrere hundert dieser Gene sind in jeder Zelle aktiv. Einige arbeiten daran, dass das Kopieren der Gene während der Zellteilung korrekt vonstattengeht. Ist es nach der Teilung zu den unvermeidlichen Verwechslungen von Basenpaaren gekommen und das Gen funktioniert in der neuen Zelle nicht, wird der Schaden repariert. Dies geschieht ständig nach Zellteilungen. Ohne diese rasche Reparatur entstünde in fast jedem Körper in kürzester Zeit Krebs.
Glückt diese Reparatur einmal nicht, können die Suppressor-Gene über ihre Proteinproduktion entweder die ungehinderte Teilung der Zelle nicht mehr stoppen (Merkmal 2 einer jeden Krebszelle) oder kein Signal zum Zelltod geben – der sogenannten Apoptose (fehlender «Suizid» der kranken Zelle und Merkmal 3 jeder Krebszelle). Die gesunde Zelle wird also durch den Schutz der Suppressor-Gene entweder dem Zugriff der mutierten Onkogene entzogen oder vernichtet sich ohne Rückstände selbst. In der Krebszelle versagt dieser Schutz häufig. Wegen ihrer Funktionen werden die Suppressor-Gene oft mit Bremsen verglichen. Krebs entsteht, wenn die mutierten Onkogene als festgeklemmte Gaspedale das Dauersignal zur Zellteilung geben und fehlende oder defekte Suppressor-Gene – wie defekte Bremsen – diese Gaspedale nicht lösen und die Beschleunigung nicht stoppen können.[1] Wenn dies geschieht, entstehen in kurzer Zeit immer mehr Zellen, und ein Tumor wächst. Man nennt dies klonales Wachstum. Weist dieser Tumor noch andere Krebsmerkmale auf, wird er so lange wachsen, bis er den Körper, in dem er entstanden ist, getötet hat.
Das erste Suppressor-Gen, Retinoblastom (Rb) genannt, wurde 1984 in Los Angeles entdeckt.[2] Seitdem wurden über zweihundert weitere Suppressor-Gene gefunden.[3] Zum Zeitpunkt der Entdeckung weist ein Krebstumor typischerweise schon Schäden an vielen Onko- und Suppressor-Genen auf, meist sind zehn bis fünfzehn sehr wichtig, sie nennt man auch Treiber-Gene. Der Tumor ist dann oft schon schwer zu stoppen. Die ungehemmte Teilung hilft den Krebszellen dabei, weitere Onkogene und Suppressor-Gene zu beschädigen, weiter Fahrt aufzunehmen, und es können Metastasen entstehen. Während bei der normalen Zellteilung nur ab und zu ein Onkogen oder ein Suppressor-Gen so verändert wird, dass es Krebs verursachen kann, führt die rasante Zellteilung, die bei diesem Tempo außerdem nur sehr selten perfekt funktioniert, zu mehr Mutationen von Genen.
Wenn der Krebs erst einmal voll ausgeprägt ist und schnell wächst, kann er, wie oben erwähnt, in Laboren weiterleben, selbst wenn er den Menschen, in dem er entstanden ist, schon längst getötet hat. Auf dem Weg dorthin setzt der wachsende Tumor immer wieder auf ganz geschickte Art und Weise die Technik der beschleunigten Alterung und der Unsterblichkeit ein, auch um es so dem Körper schwerzumachen, ihn zu besiegen.
Mutierte Onko- und Suppressor-Gene machen den Krebs zu einer genetischen Erkrankung. Alle Risikofaktoren für Krebs, wie z.B. Rauchen, Asbest, Viren, Übergewicht und rotes Fleisch, verursachen Krebs nur durch veränderte Onko- und Suppressor-Gene oder zumindest in deren Gegenwart. Onkogene und Suppressor-Gene sind in allen Zellen vorhanden. Die aus ihnen entstehenden Proteine sind essenziell für wichtige Funktionen der normalen Zelle, zum Beispiel für die Steuerung der Zellteilung oder die Einleitung des programmierten Zelltods von verbrauchten oder geschädigten Zellen. Auch ohne Risikofaktoren kann es zur Schädigung von Krebsgenen kommen.
Bevor man Onko- und Suppressor-Gene kannte, hat man nicht im Ansatz gewusst, wie Krebs funktioniert. Es gab zum Teil haarsträubende Theorien. Auch dachte man, dass es sich um eine Viruserkrankung handele – was in einigen Fällen zumindest teilweise sogar richtig sein kann – oder dass sich genetisch gesunde Zellen nach einer nicht bekannten Umprogrammierung ungehindert teilten und zerstörend wirkten. Auch wurde vermutet, dass unterschiedliche Krebsarten auf völlig verschiedene Ursachen zurückzuführen seien.
Inzwischen weiß man, dass alle Risikofaktoren erst durch ihre Einwirkung auf die Gene der Zelle zu Risikofaktoren werden. Auch Viren führen nur dann zu Krebs, wenn sie Onko- und Suppressor-Gene beeinflussen. Daher gibt es beispielsweise auch keine Krebspersönlichkeit,[4] die aufgrund bestimmter Charakterzüge oder nicht verarbeiteter Konflikte ein besonders hohes Risiko trüge. Heute kann man die Risikofaktoren unter anderem im Labor testen, weil sich die Vorstufen von Krebs meist leicht zeigen lassen. Atmet die Maus im Labor etwa Zigarettenrauch ein, findet man in ihrer Lunge nach einiger Zeit auch solche Zellen, deren Gene in Richtung Krebs verändert sind. Setzt man Medikamente ein, die wichtige mutierte Onko- oder defekte Suppressor-Gene blockieren, wächst der Krebs langsamer oder gar nicht mehr. Damit sind Onko- und Suppressor-Gene die wichtigsten Ansatzpunkte der sogenannten gezielten Therapie.
Bei der Bestrahlung und Chemotherapie zerstört man sowohl gesunde Zellen als auch Krebszellen. Wirkung erzielt man nur, weil wegen ihrer schnellen Teilung überproportional viele Krebszellen getötet werden können, denn die sich teilende Zelle ist viel empfindlicher für Strahlen oder die Zellgifte der Chemotherapie. Bei der gezielten Therapie hingegen versucht man, nur die defekten Onkogene und Suppressor-Gene anzugreifen, also im Idealfall die gesunden Zellen gar nicht zu beschädigen. Obwohl die gezielte Therapie oft weniger gezielt ist als gewünscht, wie unten zu beschreiben sein wird, sind ein zentraler Vorteil die relativ geringfügigen Nebenwirkungen, da gesunde Zellen verschont bleiben.
Die beiden ersten Medikamente der gezielten Therapie waren Imatinib (Glivec) gegen die chronisch myeloische Leukämie (CML) und Trastuzumab (Herceptin) gegen Brustkrebs. Imatinib (Glivec) ist wie gesagt ein Sonderfall, da die CML als genetisch besonderer Tumor auf einem dominanten Onkogen beruht, das in fast allen Fällen dieser Leukämie, aber nicht bei anderen Krebserkrankungen vorkommt. Die gezielte Therapie der CML ist also vergleichsweise einfach. Das Herceptin-Ziel-Gen ist hingegen nur bei zwanzig Prozent der Brustkrebspatientinnen verändert, und nur in diesen Fällen verbessert das Medikament die Prognose. Es ist ein Antikörper, der auf der Zelloberfläche «andockt» und damit ein Wachstumsprotein in der Brustkrebszelle hemmt. Allerdings sind die Heilungschancen deutlich geringer, wenn der Tumor spät diagnostiziert wird, weil dann häufig schon andere Gene verändert sind. Die größten Erfolge hat Trastuzumab (Herceptin) bei früh entdecktem Brustkrebs, wenn die Patientinnen zudem in hoher Konzentration das veränderte Herceptin-Gen tragen. Auch Medikamente, die den Zelltod durch Apoptose wieder in Gang setzen, gibt es schon. Somit werden Medikamente für die ersten drei Merkmale des Krebses – mutierte Onkogene für beschleunigtes und ungebremstes Wachstum und ausgeschaltete Suppressor-Gene für entweder Wachstumsbremsung oder den programmierten Zelltod von sich zu schnell teilenden und beschädigten Zellen – bereits breit in der Krebsbehandlung eingesetzt.
Etwa fünf Prozent aller Krebserkrankungen sind erblich in dem Sinne, dass die Patienten von Geburt an die für diesen Krebs sehr wichtigen mutierten Onko- oder Suppressor-Gene in sich tragen.[5] So gibt es familiären Brustkrebs, der durch das BRCA-Gen verursacht wird und bei den betroffenen Frauen in bis zu 60 bis 70 Prozent der Fälle ausbricht.[6] Auch familiäre Formen des Darmkrebses sind bekannt, zum Beispiel die familiäre adenomatöse Polyposis (FAP) oder das Lynch-Syndrom.[7]
