Bevor ich jetzt gehe - Paul Kalanithi - E-Book

Bevor ich jetzt gehe E-Book

Paul Kalanithi

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  • Herausgeber: Knaus
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

„Dieses gehört zu der Handvoll Bücher, die für mich universell sind. Ich empfehle es wirklich jedem.“ ANN PATCHETT

Was macht das eigene Leben lebenswert? Was tun, wenn die Lebensleiter keine weiteren Stufen in eine vielversprechende Zukunft bereithält? Was bedeutet es, ein Kind zu bekommen, neues Leben entstehen zu sehen, während das eigene zu Ende geht? Bewegend und mit feiner Beobachtungsgabe schildert der junge Arzt und Neurochirurg Paul Kalanithi seine Gedanken über die ganz großen Fragen.

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Seitenzahl: 251

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Das Buch

»Vielleicht werde ich später sterben, als ich heute annehme, aber ganz bestimmt früher, als ich mir wünsche.«

Mit 36 Jahren wird bei Paul Kalanithi Lungenkrebs im Endstadium diagnostiziert. Von heute auf morgen wird ein Arzt selbst zum Patienten, der um sein Leben kämpft.

»Wer dieses Buch gelesen hat, wird es unmöglich vergessen können … Kalanithi schrieb brillant über sein Schicksal: Der leidenschaftliche Mediziner, voller Neugier aufs Leben, der lernen muss zu sterben.«

The New York Times

Der Autor

Paul Kalanithi war Neurochirurg und Autor. In Stanford studierte er Englische Literatur und Biologie, in Cambridge Wissenschaftsgeschichte und Philosophie bevor er anschließend die Yale School of Medicine absolvierte. Zurück in Stanford machte er seine Facharztausbildung und forschte im Rahmen eines Postdoc-Stipendiums, wo er mit dem höchsten Nachwuchsforscherpreis der American Academy of Neurological Surgery ausgezeichnet wurde. Er starb im März 2015 mit nur 37 Jahren, während der Arbeit an seinem Buch. Er hinterlässt seine Familie, seine Frau Lucy und ihre Tochter Elizabeth Acadia.

»Bevor ich jetzt gehe« brach beim Erscheinen in den USA alle Rekorde und wurde auf Anhieb ein Nr. 1-Bestseller.

Weitere Informationen zu unserem Programm unter www.knaus-verlag.de

Paul Kalanithi

BEVOR ICH JETZT GEHE

Was am Ende wirklich zählt –Das Vermächtnis eines jungen Arztes

Aus dem Amerikanischen von Gaby Wurster

KNAUS

Für meine Tochter

You that seek what life is in death,

Now find it air that once was breath.

New names unknown, old names gone:

Till time end bodies, but souls none.

Reader! Then make time, while you be,

But steps to your eternity.

Baron Brooke Fulke Greville, Caelica LXXXIII

INHALT

Vorwort von Abraham Verghese

Prolog

Teil I – Der Arzt

Teil II – Der Patient

Nachwort von Lucy Kalanithi

Dank

VORWORT

von Abraham Verghese, Arzt und Schriftsteller (»Rückkehr nach Missing«)

Beim Schreiben dieser Zeilen merke ich, dass das Vorwort zu diesem Buch eher ein Nachwort ist. Denn bei Paul Kalanithi ist jedes Zeitgefühl auf den Kopf gestellt. Als Erstes – oder vielleicht zu guter Letzt: Ich habe Paul erst nach seinem Tod kennengelernt. Erst als er nicht mehr da war, wurde er mir vertraut.

Unser erstes Treffen, Anfang Februar2014, bleibt für mich unvergesslich. Er hatte in der New York Times gerade eine Kolumne mit dem Titel »Wie viel Zeit bleibt mir noch?« veröffentlicht, die bei den Lesern eine Welle überwältigender Reaktionen auslöste. Daraufhin wollte Paul mich besuchen, mit mir reden, wollte von mir Tipps in Bezug auf Literaturagenten, Verlage, Veröffentlichungsmöglichkeiten, denn er wollte ein Buch schreiben. Das Buch, das Sie nun vor sich haben. Ich erinnere mich, wie die Sonne durch die Magnolie vor meinem Büro fiel und folgende Szene beschien: Paul saß vor mir, seine schönen Hände waren außerordentlich ruhig, sein Prophetenbart war dicht und voll, und seine dunklen Augen taxierten mich. In meiner Erinnerung hat das Bild etwas von einem Vermeer-Gemälde, eine Schärfe wie von einer Camera obscura. Ich weiß noch, dass ich dachte: Das musst du im Gedächtnis behalten. Denn was auf meine Netzhaut fiel, war kostbar. Kostbar, weil man sich im Zusammenhang mit Pauls Diagnose nicht nur dessen Sterblichkeit bewusst wurde, sondern auch der eigenen.

An jenem Nachmittag sprachen wir über alles Mögliche. Paul war leitender Assistenzarzt in der Neurochirurgie. Wahrscheinlich waren wir uns zu irgendeinem Zeitpunkt schon einmal begegnet, aber wir konnten uns an keine gemeinsamen Patienten erinnern. Er erzählte mir, dass er im Grundstudium in Stanford Englisch und Biologie im Hauptfach studiert, dann seinen Master in Englischer Literatur gemacht hatte. Wir sprachen über seine lebenslange Liebe zum Lesen und Schreiben. Mir wurde klar, dass er durchaus Englischprofessor hätte werden können und diese Richtung ja auch tatsächlich eingeschlagen hatte. Doch dann hatte er, wie sein Namenspatron auf dem Weg nach Damaskus, den Ruf gehört. Er wurde Arzt, träumte aber immer davon, auf irgendeine Art und Weise wieder zur Literatur zurückzukehren. Durch das Schreiben eines Buches. Vielleicht. Eines Tages. Er dachte, er hätte Zeit. Warum auch nicht? Aber nun war Zeit genau das, was er am wenigsten hatte.

Ich erinnere mich an sein schiefes, freundliches Lächeln, in dem man den Schalk ahnte, auch wenn sein Gesicht abgespannt und ausgezehrt war. Die Krebserkrankung hatte ihn sichtlich geschwächt, aber eine neue Immuntherapie schlug gut an und gestattete ihm, ein wenig nach vorn zu blicken. Er sagte mir, dass er während seines Medizinstudiums davon ausgegangen sei, Psychiater zu werden, dann jedoch seine Liebe zur Neurochirurgie entdeckt habe. Dahinter stand weit mehr, als sich in die Komplexität des Gehirns zu verlieben oder die Befriedigung, seine Hände so zu trainieren, dass sie Wundertaten vollbrachten – es war Liebe und Einfühlungsvermögen für die Leidenden, für das, was sie durchmachten, und das, was er dagegen ausrichten könnte. Ich glaube, ich habe das weniger von ihm selbst gehört als vielmehr von meinen Studenten, die Paul für seinen festen Glauben an die moralische Verantwortung in seinem Beruf zutiefst bewunderten.

Und dann sprachen wir über sein Sterben.

Nach dem Treffen hielten wir über E-Mail Kontakt, aber ich sah Paul nie wieder. Ich tauchte wieder in meine eigene Welt aus Terminen und Pflichten ein und überließ es ihm, ob er mich sehen wollte – denn das Gefühl, eine neue Freundschaft pflegen zu müssen, war wohl das Letzte, was er jetzt brauchen konnte. Ich dachte jedoch viel an ihn und an seine Frau. Ich wollte ihn fragen, ob er schrieb. Fand er dazu die Zeit?

Als vielbeschäftigter Arzt hatte ich jahrelang selbst versucht, mir Zeit zum Schreiben zu erkämpfen. Ich wollte Paul sagen, dass ein berühmter Schriftsteller, der über dieses ewige Problem klagte, einmal zu mir gesagt hatte: »Wäre ich Neurochirurg und würde mich bei meinen Gästen entschuldigen, weil ich zu einer dringenden Kraniotomie gerufen wurde, würde keiner ein Wort sagen. Aber wenn ich verkünde, dass ich meine Gäste nun allein im Wohnzimmer sitzen lasse, weil ich hinaufgehen muss, um zu schreiben …« Ich fragte mich, ob Paul das witzig gefunden hätte. Immerhin könnte er wirklich behaupten, dass er zu einer Operation gerufen wurde. Es wäre glaubhaft. Und dann könnte er stattdessen schreiben.

Während Paul an diesem Buch arbeitete, veröffentlichte er einen kurzen, bemerkenswerten Artikel in einer Ausgabe der Zeitschrift Stanford Medicine, der unserer Vorstellung von Zeit gewidmet war. Als ich seinen Artikel las, bekam ich ein tieferes Verständnis für das, was sich bereits in seiner Kolumne für die New York Times angedeutet hatte: Pauls Stil war faszinierend. Egal, worüber er geschrieben hätte, es wäre wortgewaltig und überwältigend gewesen. Aber er schrieb nicht über irgendwas – er schrieb über die Zeit und was sie nun, vor dem Hintergrund seiner Krankheit, für ihn bedeutete.

Aber das muss ich noch einmal sagen: Seine Worte waren unvergesslich. Sie kamen aus seiner Feder wie ein goldener Faden.

Ich las den Artikel wieder und wieder und versuchte zu verstehen, wie Paul das zustande gebracht hatte. Zunächst war sein Text melodisch, fast wie ein Gedicht, und hatte Anklänge an Galway Kinnell. (»Wenn du dich eines Tages / mit jemandem, den du liebst / in einem Café am Ende / des Pont Mirabeau an der Bar findest / auf der Weißwein in sich nach oben öffnenden Gläsern steht …«, so Kinnell in einem Gedicht, das er in einer Buchhandlung in Iowa City deklamierte, ohne je in sein Manuskript zu blicken.) Doch da war noch ein anderer Klang, etwas aus einem alten Land, aus einer Zeit vor allen Schanktresen. Als ich den Artikel ein paar Tage später noch einmal las, fiel es mir ein; etwas in Pauls Diktion erinnerte mich an Thomas Browne, der 1642 im damals üblichen Stil, mit beinahe archaischen Schreibweisen und Wendungen, die Religio medici verfasste. Als junger Arzt war ich besessen von diesem Buch, ich verbiss mich darin wie ein Farmer in den Versuch, einen Sumpf trockenzulegen, an dem schon sein Vater vor ihm gescheitert war. Ein fruchtloses Unterfangen, dennoch wollte ich unbedingt seine Geheimnisse aufdecken. Frustriert warf ich das Buch in die Ecke, dann nahm ich es wieder zur Hand, ich war mir nicht sicher, ob es etwas für mich bereithielt, dennoch spürte ich am Klang der Worte, dass es so sein musste. Ich hatte den Eindruck, dass mir ein entscheidender Rezeptor fehlte, der die Buchstaben zum Klingen brachte und mir ihre Bedeutung enthüllte. Doch so sehr ich mich auch bemühte, es blieb mir verschlossen.

Warum?, fragen Sie sich vielleicht. Warum habe ich beharrlich weitergelesen? Wen interessiert schon die Religio medici?

Nun, mein großes Vorbild William Osler hatte sich dafür interessiert. Osler, der 1919 verstarb, gilt als Vater der modernen Medizin in Amerika. Er liebte dieses Buch, es lag immer auf seinem Nachttisch, und er wollte mit einer Ausgabe der Religio medici begraben werden. Doch um nichts in der Welt konnte ich begreifen, was Osler darin gesehen hatte! Nach vielen Anläufen und nach einigen Jahrzehnten offenbarte sich mir das Buch schließlich – dabei half eine zeitgemäße Überarbeitung in einer neueren Ausgabe. Ich fand heraus, dass der Trick darin bestand, es laut zu lesen, damit der Rhythmus nicht verloren ging: »Wir tragen in uns selbst alle Wunder, die wir in der Ferne suchen: ganz Afrika mit seinen Ungeheuern lebt in uns. Wir sind jenes unerhörte und kühn gefügte Stück Natur, dessen Betrachtung einem weisen Studenten alle Erkenntnisse in nuce bietet, die sich andere müheselig aus endlosem Stoff und Stückwerk aneignen müssen.« Auch den letzten Abschnitt in Pauls Buch sollten Sie laut lesen, dann spüren Sie diesen langen Atem, den Takt, zu dem man meint, mit den Füßen klopfen zu können. Aber wie bei Browne wird der Text Sie längst gepackt haben. Paul war ein Remake von Browne, dachte ich bei mir – oder, wenn lineare Zeit eine irrige Vorstellung des Menschen ist, ist vielleicht eher Browne ein Remake von Kalanithi. Ja, da dreht sich einem der Kopf!

Und dann starb Paul. Ich war bei der Trauerfeier in der Stanford Memorial Church, einer prachtvollen Kirche, die beim Trauergottesdienst brechend voll war. Ich saß ganz an der Seite und lauschte den bewegenden, mitunter heiser vorgetragenen Geschichten seiner engsten Freunde und seines Bruders. Ja, Paul war gegangen, aber merkwürdigerweise hatte ich das Gefühl, dass ich ihn erst jetzt kennenlernte, besser als durch seinen Besuch bei mir im Büro, besser als über die Artikel, die er geschrieben hatte. Er nahm Gestalt an in den Anekdoten, die in der Kirche erzählt wurden, Paul nahm Gestalt an durch seine liebenswerte Frau, seine kleine Tochter, seine trauernden Eltern und Brüder und in den Gesichtern der vielen Freunde, Kollegen und ehemaligen Patienten, die den Raum füllten. Paul war auch später dabei, bei dem Essen unter freiem Himmel, wo so viele zusammenkamen. Ich sah ruhige, lächelnde Gesichter, als hätten die Menschen gerade etwas zutiefst Schönes erlebt.

Vielleicht sah mein Gesicht auch so aus, denn wir hatten im Ritual eines Gottesdienstes, im Ritual des liebenden Gedenkens und in den geteilten Tränen Sinnhaftigkeit gefunden. Und auch die Feier, bei der wir unseren Durst stillten und unsere Körper nährten und mit vollkommen Fremden sprachen, mit denen wir durch Paul ganz persönlich verbunden waren, war von Sinnhaftigkeit geprägt.

Doch erst als ich die Seiten bekam, die Sie nun lesen werden, zwei Monate nach Pauls Tod, hatte ich endlich das Gefühl, ihn richtig zu kennen, besser zu kennen, als hätte ich das Glück gehabt, ihn einen Freund nennen zu dürfen. In Pauls Worten lag eine Aufrichtigkeit, eine Wahrheit, die mir den Atem raubte.

Erleben Sie, wie Mut klingt, wie tapfer es ist, sich auf diese Weise zu offenbaren. Doch vor allem erleben Sie, was es heißt, weiterzuleben und die Leben anderer Menschen tief zu berühren, nachdem man tot ist, und zwar mit Worten. In unserer heutigen Welt, einer Welt asynchroner Kommunikation, in der wir uns so oft hinter Monitoren verstecken und unser Blick auf viereckige Geräte gerichtet ist, die in unserer Hand klingeln, und in der unsere Aufmerksamkeit von kurzlebigen Geschehnissen absorbiert wird – halten Sie inne und treten Sie in einen Dialog mit meinem jung verstorbenen Kollegen, der nun alterslos in unserer Erinnerung lebt. Hören Sie Paul zu. Und hören Sie auf das, was Sie in der Stille zwischen seinen Zeilen zu ihm zu sagen haben. Darin liegt seine Botschaft. Ich habe sie erhalten. Ich hoffe, Sie bekommen sie auch. Sie ist ein Geschenk.

PROLOG

Webster war ganz erfüllt vom TodUnd sah den Schädel unterm Haar;Brustlose Wesen in der GrubeBoten ihr lippenloses Grinsen dar.

T. S. Eliot, Unsterblichkeits-Wehen

Ich klickte durch die CT-Scans, die Diagnose war eindeutig: Die Lunge war von unzähligen mattschwarzen Tumoren durchzogen, die Wirbelsäule deformiert, ein Leberlappen wie ausradiert. Krebs, der weit gestreut hatte.

Ich war Assistenzarzt in der Neurochirurgie und hatte gerade das letzte Jahr meiner Facharztausbildung angetreten. In den vergangenen sechs Jahren hatte ich eine Menge solcher Scans begutachtet, in der vagen Hoffnung, dass dem Patienten irgendwie geholfen werden könnte. Aber dieser Scan war anders, es war mein eigener.

Diesmal stand ich nicht im weißen Kittel und mit Handschuhen in der Radiologie – ich trug ein Patientenhemd, war an eine Infusion angeschlossen und benutzte den Laptop, den die Schwester mir überlassen hatte. Meine Frau Lucy, sie ist Internistin, saß neben mir. Noch einmal ging ich die Aufnahmen durch: Lunge, Knochen, Leber. Ich scrollte von oben nach unten, von links nach rechts, dann wieder vor und zurück, genau wie ich es gelernt hatte – als könnte ich etwas entdecken, das die Diagnose verändern würde.

Wir lagen zusammen auf dem Klinikbett.

Lucy fragte ruhig, als würde sie es ablesen: »Meinst du, es besteht eine Möglichkeit, dass es etwas anderes ist?«

»Nein«, sagte ich.

Wir hielten uns eng umschlungen wie junge Liebende. Schon im vergangenen Jahr hatten wir beide den Verdacht, wollten es aber einfach nicht glauben oder auch nur darüber sprechen, dass in mir der Krebs wuchs.

Seit etwa einem halben Jahr verlor ich massiv an Gewicht und litt unter fürchterlichen Rückenschmerzen. Morgens beim Anziehen hatte ich den Gürtel erst ein Loch, dann zwei Löcher enger geschnallt. Schließlich ging ich zu meiner Hausärztin Vinitia, einer ehemaligen Kommilitonin aus Stanford. Doch in ihrer Praxis fand ich eine andere Ärztin vor, Vinitia war in Elternzeit. In einem dünnen, blauen Kittel auf einem kalten Untersuchungstisch liegend, beschrieb ich der Kollegin meine Symptome. »Klar«, sagte ich, »wäre es eine Prüfungsfrage – Patient, 35 Jahre mit unerklärlichem Gewichtsverlust und heftigen Rückenschmerzen –, wäre die Antwort eindeutig: Krebs. Aber vielleicht arbeite ich auch nur zu viel. Ich weiß es nicht. Zur Sicherheit würde ich gern eine Magnetresonanztomografie machen lassen.«

»Ich denke, wir sollten zuerst röntgen«, sagte sie. Eine MRT wegen Rückenschmerzen ist teuer und unnötige Scans stehen derzeit wegen der Kostensparprogramme im Gesundheitssystem auf dem Prüfstand. Allerdings hängt die Aussagekraft einer Untersuchung davon ab, was man sucht – Röntgen ist bei Krebs weitgehend nutzlos.

»Und wenn wir Röntgenaufnahmen in Beugung und Streckung machen, vielleicht wäre die realistischere Diagnose dann eine Isthmische Spondylolisthesis?«, schlug ich vor.

Im Spiegel konnte ich sehen, wie sie den Begriff googelte: Wirbelgleiten.Dabei handelt es sich um eine Fraktur der Interartikularportion, eine häufige Ursache für Rückenschmerzen bei jüngeren Leuten, bis zu fünf Prozent sind davon betroffen.

»Gut, ich beantrage das.«

»Danke«, sagte ich.

Warum war ich in einem Patientenkittel so kleinlaut, im Chirurgenmantel so gebieterisch? Immerhin wusste ich über Rückenschmerzen mehr als diese Ärztin, denn ein großer Teil meiner Ausbildung zum Neurochirurgen bestand aus der Beschäftigung mit Wirbelsäulenproblemen. Vielleicht konnte ein Wirbelgleiten also auch der Grund für meine Schmerzen sein. Immerhin litt eine nicht gerade unbedeutende Anzahl junger Erwachsender darunter – und Metastasen an der Wirbelsäule mit dreißig? Die Wahrscheinlichkeit konnte nicht bei mehr als 1 zu 10 000 liegen. Aber selbst wenn Krebs in jungen Jahren tausendmal häufiger auftreten würde, wäre er immer noch weniger verbreitet als ein Wirbelgleiten. Vielleicht machte ich mich einfach nur selbst verrückt!

Als die Röntgenbilder gekommen waren, war nichts auffällig. Wir schrieben also meine Symptome der vielen Arbeit und dem beginnenden Alter zu, vereinbarten einen späteren Kontrolltermin, und ich widmete mich wieder meinen Patienten.

Der Gewichtsverlust verlangsamte sich, die Rückenschmerzen wurden erträglicher. Eine solide Dosis Ibuprofen half mir über den Tag, und außerdem hatte ich nicht mehr so viele dieser mörderischen 14-Stunden-Tage vor mir. Auf der langen Reise vom Medizinstudenten zum Professor für Neurochirurgie war ich fast am Ziel. Nach zehn Jahren Ausbildung war ich entschlossen, noch die kommenden fünfzehn Monate durchzuhalten, bis meine Assistenzzeit endete. Ich hatte mir den Respekt meiner älteren Kollegen erworben, hatte renommierte Preise gewonnen und bekam schon Angebote von einigen der angesehensten Universitäten. Mein Studienleiter in Stanford bat mich zu sich und sagte: »Ich denke, Sie sind die Nummer eins bei jeder Stelle, auf die Sie sich bewerben. Rein interessehalber werden wir hier eine Stelle für jemanden wie Sie ausschreiben. Ich verspreche natürlich nichts, aber Sie sollten es in Betracht ziehen.«

Mit sechsunddreißig Jahren lag das Land der Verheißung vor mir. Ich konnte es sehen, von Gilead über Jericho zum Mittelmeer. Ich konnte einen schönen Katamaran auf diesem Meer sehen, mit dem Lucy, unsere imaginären Kinder und ich am Wochenende hinausfuhren. Ich konnte sehen, wie sich die Verkrampfung in meinem Rücken löste, während sich mein Arbeitspensum verringerte und das Leben überschaubarer wurde. Ich konnte sehen, wie ich endlich der Ehemann wurde, der ich zu sein versprochen hatte.

Doch schon nach ein paar Wochen bekam ich anfallartige, ernstliche Schmerzen im Brustkorb. Hatte ich mich bei der Arbeit irgendwo gestoßen? Hatte ich mir etwa eine Rippe gebrochen? Nachts wachte ich manchmal schweißgebadet auf. Wieder verlor ich Gewicht, nun zügiger, nach zuvor 80 Kilo wog ich nur noch 65. Ich bekam einen hartnäckigen Husten. Es bestand nur noch wenig Zweifel.

An einem Samstagnachmittag lagen Lucy und ich im Dolores Park in San Francisco in der Sonne und warteten auf ihre Schwester. Sie sah auf das Display meines Handys, das Ergebnisse meiner Suche in medizinischen Datenbanken zeigte: »Häufigkeit von Krebserkrankungen bei 30- bis 40-Jährigen.«

»Wozu?«, fragte sie. »Ich habe gar nicht gewusst, dass du dir deswegen Sorgen machst.«

Ich antwortete nicht. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

»Willst du nicht mit mir darüber reden?«

Sie war bestürzt, weil auch sie sich die ganze Zeit unausgesprochen Sorgen gemacht hatte. Sie war bestürzt, weil ich nicht mit ihr darüber geredet hatte.

»Kannst du mir bitte sagen, warum du dich mir nicht anvertraust?«, fragte sie.

Ich schaltete das Handy aus. »Lass uns Eis essen gehen«, sagte ich.

In der folgenden Woche hatten wir frei und wollten alte Studienfreunde in New York besuchen. Vielleicht würden ausreichend Schlaf und ein paar Drinks uns dabei helfen, uns wieder näherzukommen und den Druck im Dampfkochtopf unserer Ehe zu verringern.

Doch Lucy hatte plötzlich andere Pläne. »Ich komme nicht mit nach New York.« Sie wollte sich eine Auszeit nehmen, wollte allein sein und den Zustand unserer Beziehung überdenken. Sie sagte es mit fester Stimme, was den Schwindel, den ich empfand, nur verstärkte.

»Warum?«, sagte ich. »Bitte nicht!«

»Ich liebe dich so sehr, deshalb ist alles so verwirrend«, sagte sie. »Aber ich habe Angst, dass wir von unserer Beziehung jeweils etwas anderes erwarten. Ich habe das Gefühl, dass wir nicht richtig miteinander verbunden sind. Ich will nicht durch Zufall von deinen Sorgen erfahren. Als ich dir gesagt habe, dass ich mich ausgeschlossen fühle, hast du das offenbar nicht für ein Problem gehalten. Für mich muss sich etwas ändern.«

»Alles wird anders«, sagte ich. »Das ist nur wegen der Assistenzzeit.«

War es denn wirklich so schlimm? Die Ausbildung zum Neurochirurgen gehört zu den härtesten und forderndsten medizinischen Spezialisierungen und hat unsere Ehe sicherlich belastet. An zu vielen Abenden kam ich so spät von der Arbeit nach Hause, dass Lucy schon im Bett war, und fiel im Wohnzimmer erschöpft auf den Boden, und an zu vielen Morgen ging ich noch im Dunkeln zur Arbeit, bevor Lucy überhaupt wach war. Aber wir hatten die schwierigste Etappe überstanden. Hatten wir nicht zigmal darüber gesprochen? Merkte sie denn nicht, dass es der denkbar schlechteste Zeitpunkt war, alles aufzugeben? Konnte sie nicht sehen, dass ich nur noch ein Jahr als Assistenzarzt vor mir hatte, dass ich sie liebte und dass wir dem gemeinsamen Leben, das wir uns immer gewünscht hatten, näher waren als je zuvor?

Das Original erschien 2016 unter dem Titel »When Breath Becomes Air« bei Random House, einem Verlag der Random House, Inc., New York.

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4., überarbeitete Auflage

Copyright der Originalausgabe © Random House, einem Verlag der Random House, Inc., New York

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016

beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagillustration: © retrorocket / shutterstock

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-18936-5V002

www.knaus-verlag.de