Bezaubernde neue Mutti - Regine König - E-Book

Bezaubernde neue Mutti E-Book

Regine König

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Beschreibung

In der völlig neuen Romanreihe "Fürstenkinder" kommt wirklich jeder auf seine Kosten, sowohl die Leserin der Adelsgeschichten als auch jene, die eigentlich die herzerwärmenden Mami-Storys bevorzugt. Ihre Lebensschicksale gehen zu Herzen, ihre erstaunliche Jugend, ihre erste Liebe – ein Leben in Reichtum, in Saus und Braus, aber oft auch in großer, verletzender Einsamkeit. Große Gefühle, zauberhafte Prinzessinnen, edle Prinzen begeistern die Leserinnen dieser einzigartigen Romane und ziehen sie in ihren Bann. »Ein Unfall? Autozusammenstoß? Wie bitte?« Angela fuhr sich über die Augen; sie war noch ganz verschlafen. Weshalb läutete das Telefon auch nur immerzu in der Nacht! Es war, als würden gerade nach Mitternacht die Telefone ringsum ausgerechnet Dr. Kilian bemühen, ihn, der nun auch schon nicht mehr der Jüngste war, aus dem Schlaf herausläuten. Dr. Wilhelm Kilian hatte eine Landpraxis, war aber gleichzeitig Unfallarzt auf der Strecke der großen Bundesstraße, die zur Landeshauptstadt führte. Man sollte Papa auch mal schlafen lassen! durchfuhr es Angela, die nur mit einem kurzen Morgenrock bekleidet vor dem Apparat stand. »Sicher wieder Betrunkene«, murmelte sie, »und da soll mein Vater…« Weiter kam sie nicht mit ihrer moralischen Standpauke, die einem unsichtbaren Zuhörer galt. Da schon stand der Vater hinter ihr. »Unfall!« erklärte Angela nur, während sie den Hörer dem Vater weiterreichte. »Denen solltest du mal sagen…« Dr. Wilhelm Kilian aber sprach kaum etwas in den Apparat, sagte nur ein paarmal »jaja«

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Fürstenkinder – 8 –

Bezaubernde neue Mutti

Du sollst für immer bei uns bleiben!

Regine König

»Ein Unfall? Autozusammenstoß? Wie bitte?«

Angela fuhr sich über die Augen; sie war noch ganz verschlafen.

Weshalb läutete das Telefon auch nur immerzu in der Nacht! Es war, als würden gerade nach Mitternacht die Telefone ringsum ausgerechnet Dr. Kilian bemühen, ihn, der nun auch schon nicht mehr der Jüngste war, aus dem Schlaf herausläuten.

Dr. Wilhelm Kilian hatte eine Landpraxis, war aber gleichzeitig Unfallarzt auf der Strecke der großen Bundesstraße, die zur Landeshauptstadt führte.

Man sollte Papa auch mal schlafen lassen! durchfuhr es Angela, die nur mit einem kurzen Morgenrock bekleidet vor dem Apparat stand.

»Sicher wieder Betrunkene«, murmelte sie, »und da soll mein Vater…«

Weiter kam sie nicht mit ihrer moralischen Standpauke, die einem unsichtbaren Zuhörer galt.

Da schon stand der Vater hinter ihr.

»Unfall!« erklärte Angela nur, während sie den Hörer dem Vater weiterreichte. »Denen solltest du mal sagen…«

Dr. Wilhelm Kilian aber sprach kaum etwas in den Apparat, sagte nur ein paarmal »jaja«, und »hmhm«, und endlich: »Ich komme sofort.«

»An dich denkt auch keiner, Paps!« Angela sah in das übermüdete Gesicht des Vaters.

»Wir sollten in die Stadt ziehen!« hatte Angela einmal gesagt, kurz nach Mutters Tod vor fünf Jahren. »Da hast du es einfacher, Paps!«

Sie war damals schon die große, verständige Tochter. Dr. Kilian aber hatte den Kopf geschüttelt, nur ganz einfach gesagt: »Wo kämen wir hin, wenn wir uns alle die leichteste Arbeit suchten. Und auf den Dörfern braucht man Ärzte, gerade uns ältere. Jüngere wollen eben tatsächlich nicht mehr aufs Land ziehen. Und ist es nicht eigentlich auch sehr hübsch hier bei uns in unserer kleinen Kreisstadt?«

Wie heimelig diese kleine Kreisstadt selbst mitten in der Nacht war, spürte Angela, als sie die Freitreppe des alten Arzthauses auf dem Markt hinabging, um den Wagen aus der Garage zu holen.

Das volle Mondlicht traf das Doktorhaus, in dem schon seit Generationen Ärzte wohnten, und warf auch einen Schein auf die gegenüberliegende Apotheke, über deren Tür ein goldener Elefant würdig thronte.

Und mitten auf dem Platz strahlte das vergoldete kleine Holzweiblein, das Wahrzeichen der kleinen norddeutschen Stadt. Das Wasser des Brunnens darunter plätscherte leise und glucksend.

Ein schrecklicher Brunnen übrigens!

Angela lachte, während sie jetzt langsam und sicher den Wagen bereits aus der Garage neben dem Doktorhaus herausfuhr.

Wie viele Generationen von Schulkindern hatten schon Aufsätze über ihn schreiben müssen!

»He, du…!«

In diesem Augenblick öffnete sich im weißen, breit im Mondlicht dahingelagerten Doktorhaus ein Fenster im obersten Stockwerk. Ein Jungengesicht schaute heraus.

»Du, he, Schöpfle, darfst du jetzt noch Auto fahren?«

Angela hatte den Wagen gerade verlassen, um des Vaters Tasche zu holen. Seit kurzem war sie seine Helferin.

Das war ein gelernter Beruf, vor dem sehr viele im Ort richtig Respekt hatten.

»Nun schrei doch nur nicht diesen blöden Namen mitten in der Nacht durch die ganze Stadt!«

Angela hob empört die Augen zu dem Bruder, der sich jetzt noch weiter aus dem Fenster beugte. Im Mondlicht leuchtete des zwölfjährigen Till borstenartig geschnittenes Haar ein wenig rötlich.

Unwillkürlich fuhr sich das Mädchen an den Kopf.

Anders frisieren sollte ich mich, dachte sie, ja, völlig anders. Ein Knoten sähe überhaupt besser aus für eine Arzthelferin. Aber es war nun einmal praktisch, die kurzen goldroten Locken mit einer runden Spange einfach ein wenig am Hinterkopf hochzuschieben, ein Tüchlein darumwickeln oder manchmal auch ein Schleifchen zu binden. Die naturgewellten weichen Locken wirkten dann aber eben wie ein Schopf.

Schopf war praktisch!

Und »Schöpfle« war der Kosename gewesen, den die leider früh verstorbene süddeutsche Mama ihr gegeben hatte.

Aber auch eine Mama tut nicht immer das Richtige!

Angela schüttelte den Kopf ein wenig.

Wenn ich einmal Mutter sein werde…

»Mach, daß du ins Bett kommst!« rief sie dem Bruder zu, der grinsend von oben herabschaute.

»Denkste!« Till machte es sich allem Anschein nach behaglich auf der Fensterbank. »Es passiert was mitten in der Nacht, und ich soll nicht dabeisein? Wo ich doch Reporter werden will!«

»Aber das dauert noch eine Zeit!« Jetzt war Angela die Überlegene. »Wenn du nächsten Ostern noch mal sitzenbleibst, dann…«

In diesem Augenblick unterbrach Dr. Kilian die geschwisterliche Auseinandersetzung.

»So, komm, Angela, wir wollen fahren!«

*

»Tot!« sagte der Wachtmeister, als Dr. Kilian den Wagenschlag aufriß. »Hier kommt wohl jede ärztliche Hilfe zu spät, Herr Doktor!«

Angelas Augen starrten durch die Windschutzscheibe auf das vor ihr liegende Straßenstück.

Es war ihr bekannt wie ihr Vaterhaus. Rechts bog die breite Kastanienallee nach Schloß Hallermünde ab, geradeaus ging es weiter nach Waldhagen, wo der größte Teil von Paps’ Patienten wohnte.

Angela zitterte. Sie fühlte selber nicht, wie ihre Lippen flatterten, als sie jetzt ausstieg. Vielleicht brauchte Paps seine Tasche.

Doch Dr. Kilian hatte sich schon über zwei leblose Körper gebeugt, die auf der Straße lagen. Als erfahrener Unfallarzt konnte er nur das Urteil des Wachtmeisters bestätigen.

Aber…

Angela traute ihren Augen nicht. Da hockten doch – ein wenig verstört und mit weit aufgerissenen Augen – zwei Kinder am Straßenrand!

Angela trat auf die Kinder zu. »Was tut ihr denn hier?«

»Wir leben!« erklärte da der Junge, der wenig jünger als Till sein mochte, jetzt aber einen sehr kindlichen Eindruck machte. Sein Gesicht war nicht nur vom Mondlicht so entetzlich bleich.

»Wir leben!« piepste die Stimme des neben ihm sitzenden kleinen Mädchens, das mit schwarzen Augen Angela ins Gesicht starrte.

»Und wie kommt ihr hierher?«

»Na, von dorther!« Der Junge wies auf den zertrümmerten Wagen.

»Aus dem Wagen mit…« Angela fuhr sich über die Augen.

»Daddy und Mummie sind tot!« erklärte der Junge fast ungerührt, obgleich sein Gesicht noch immer verstört wirkte.

»Ja, aber…«

Angela kniete sich jetzt zwischen die beiden Kinder, legte um jedes von ihnen einen Arm und zog sie so dicht zu sich, daß die Kinder nicht sehen konnten, wie man die Toten jetzt auf Tragen bettete und sie in den Unfallwagen schob.

»Na ja!« Angela spürte plötzlich, wie sich der helle Bubenkopf hob, den sie gegen die Schulter gepreßt hielt. »Das ist natürlich schrecklich, wenn sie nicht mehr leben. Aber…« Der Junge zuckte die Achseln – »eigentlich kennen Micky und ich sie gar nicht richtig. Das waren doch nur auf dem Papier unsere Eltern!«

»Ja, auf dem Papier!« echote das kleine Mädchen mit den schwarzen Augen.

Was Eltern, die nur auf dem Papier standen, bedeuteten, konnte Angela nicht ganz ermessen. Als Mama starb, war es schrecklich für sie alle gewesen. Und der schönste Kosename, den Paps ihr geben konnte, war ›Kleine Mama‹ oder auch ›meine kleine Doktorin‹! Ja, das war schon etwas, wenn Paps das sagte!

Und nun gab es hier Kinder, deren Eltern ›nur auf dem Papier standen‹ und deren Tod man deshalb nicht so tragisch zu nehmen brauchte, wie andere Kinder dies wohl getan hätten.

Daß die Kinder aber einen Schock mitbekommen hatten, spürte Angela an den eiskalten, bebenden Kinderfäusten, die sich in ihre kleinen, nicht minder kalten Hände bohrten.

»Wenn du bei uns bleiben könntest…«, sagte der Junge plötzlich mit zaghafter Stimme.

Da aber stand schon der Wachtmeister Küster aus dem Dorf vor der kleinen, bisher kaum beachteten Gruppe.

»Ihr seid doch… wie kommt es überhaupt, daß ihr unverletzt seid?«

»Die Tür ging auf, und wir sind herausgeflogen!« sagte der Junge.

»Aber da hinten«, er wies auf seine etwas magere Sitzfläche – »da spür ich’s.«

»Und ich…« Nun begann das kleine Mädchen zu weinen.

»Die Kinder werde ich mitnehmen!« erklang in diesem Augenblick eine kräftige, wenn auch ein wenig harte Männerstimme. Und das Antlitz, zu dem sich Angelas blaue Augen unwillkürlich hoben, war scharf geschnitten, ja, beinahe kühn, wie es oft Abenteurer und Seefahrer haben.

»Herr Graf!« sagte Wachtmeister Küster und nahm beinahe eine militärisch stramme Haltung an. »Das ist ja auch das nächstliegende. Nur eine Notiz für meinen Bericht…«

»Wohin schon sonst sollten wir die Kinder Ihrer verunglückten gräflichen Schwester und ihres… Gatten bringen?« vollendete Wachtmeister Küster. Er wußte vor Aufregung überhaupt nicht mehr, wie man die Gutsherrschaft und ihre Verwandten ansprechen sollte. Hätte er doch nur heute dienstfrei gehabt!

Aber so ging es ihm immer! Stets wenn er Nachtdienst hatte, geschah etwas. Und wenn er auch nur die alte, immer betrunkene Lina aus dem brüchigen und längst abbaureifen Armenhaus von der Straße auflesen mußte. Dabei hatte man im Dorf nicht einmal eine Ausnüchterungszelle. Alles blieb am diensthabenden Wachtmeister hängen.

Nur gut, daß Graf Justus von Hallermünde, Gutsherr auf Schloß Hallermünde, das am Ende der blühenden Kastanienallee lag, sofort zur Stelle gewesen war. Noch vor der Polizei!

Viele Jahre war Graf Justus im Ausland herumgereist, war erst zurückgekommen, als der älteste verheiratete Bruder tödlich mit dem Pferd stürzte und er das Gut übernehmen mußte, das über und über verschuldet war.

Aber gleichviel: die Kleinen konnte er gewiß für diese Nacht aufnehmen.

»Die Kinder nehme ich mit!« erklärte in diesem Augenblick die junge Angela sehr energisch. Sie warf den Kopf dabei ein wenig zurück. Das nachtblaue Chiffontüchlein um den Schopf flog bei jedem Wort hin und her, und zwar sehr energisch.

»Die Kinder brauchen jetzt Liebe!« erklärte sie.

»Und Sie glauben, das hätten sie bei mir nicht?«

Der große, breitschultrige, sportlich gestählte Mann mit dem sehr dunkel gebräunten Gesicht lachte ein wenig spöttisch.

»Liebe!« betonte Angela und fühlte sich etwas verwirrt.

Wie stattlich sah dieser Mann aus, von dem sie wußte, daß er der kürzlich zurückgekehrte Graf Justus war. »Liebe, die…« Sie begann zu stammeln.

»Glauben Sie nicht, daß ich jemanden liebhaben könnte?« erkundigte sich der Mann. »Sprechen Sie mir etwa die Voraussetzung für die Liebe ab?«

Angela versuchte, sich zusammenzureißen, wollte eine kecke, schnippische Antwort finden.

Wie kam dieser Mann dazu, sie solche Dinge zu fragen?

Aber irgendwie ging etwas Zwingendes von ihm aus, dem sie einfach nicht entfliehen konnte.

Röte stieg ihr ins Gesicht.

Liebe!

Sie fühlte auf eine nie gekannte Weise das Blut durch ihre Adern jagen.

Ich habe sicher auch einen Schock bekommen. Weshalb kann ich nichts sagen?

Graf Justus schaute trotz der schrecklichen Situation beinahe belustigt auf Angela, die beinahe noch wie ein Kind wirkte.

Er hatte alle Weltteile bereist, und er hatte viele Frauen nicht nur gekannt, sondern auch besessen. Er war sich seiner Macht über Frauen durchaus bewußt.

Na, dies kleine Doktorsmädchen machte wohl keine Ausnahme. Nur seltsam –, daß auch er irgendwie angerührt wurde.

Aber das kommt wohl daher, weil es für mich auch ein Schock war, sinnierte der Graf, daß sie beide gerade vor der Kastanienallee verunglückten, meine schöne Schwester Isabella und ihr Mann.

Natürlich standen wir nicht zueinander wie gute Verwandte. Man sah sich ja kaum. Aber der Schwager Alexander war Forschungsreisender gewesen. Und die beherzte Isabella hatte ihn immer begleitet. Man hatte Forschungsergebnisse ausgetauscht. Das verband ein wenig. In den nächsten Tagen hatte man Reiseerinnerungen austauschen wollen. Graf Justus arbeitete genau wie sein verunglückter Schwager Alexander an einem Werk über Nordafrika. Man hätte sich ergänzen können.

Nun waren sie tot, Isabella und Alexander.

Sterben müssen wir wohl alle einmal! dachte der Mann grimmig. Und da kam diese kleine Person, deren Haarschopf im leichten Nachtwind wehte, und schlang die Arme um die Kinder seiner Schwester, als wolle sie sie vor ihm beschützen.

Und sprach ihm die Fähigkeit ab, lieben zu können.

Mir, ausgerechnet mir!

Sie weiß ja noch gar nicht, was Liebe bedeutet! revoltierte der Mann mit dem kühlen Gesicht, den das Schicksal dazu verurteilt hatte, Landwirt zu werden. Und das auf einem völlig verwirtschafteten Besitz.

Nichts, gar nichts weiß sie von Liebe, diese närrische kleine Person.

Im gleichen Augenblick aber versicherten der Junge und die kleine Micky, daß sie sehr wohl an Angelas Liebe glaubten.

»Die hat uns wirklich lieb!« erklärte Chris. Er stampfte dabei herrisch mit dem Fuß auf. »Und Micky und ich gehen auch mit ihr und nicht mit dir. Wer bist du überhaupt?«

»Zufällig euer Onkel!« antwortete Justus von Hallermünde trocken. »Eine Ehre und Freude ist’s aber nicht.«

Dabei wandte er sich ab und besprach mit den Polizeibeamten noch Einzelheiten.

Dann erklärte er sich auch bereit mitzukommen. Denn da gab es noch vieles zu ordnen.

Angela sah nicht, wie der Mann noch einmal zu ihr herüberschaute. Sie hatte mit Chris und Micky zu tun, die jetzt mit den Zähnen zu klappern begannen.

»Setzt euch auf den Rücksitz meines Autos. Und dann dauert es gar nicht mehr lange, bis ich euch ins Bett gepackt habe.«

»Wieso?« fragte der grauhaarige Dr. Kilian, als er die beiden schmalen Gestalten im Fond des Wagens zusammengekauert sah.

»Die nehmen wir mit, Papa!« Angela sagte es, als sei es ganz selbstverständlich, daß sie mitten in der Nacht zwei wildfremde Kinder auf der Landstraße auflas. »Oder – Paps, hast du schon einmal einen einfach so sitzenlassen, der nicht weiß, wohin er soll?«

Da senkte der Mann den Kopf.

Nein, niemals hatte er das gekonnt. Die Menschen waren für einen Arzt stets die Hauptsache.

Während er noch nachdachte, fühlte er eine Hand an seinem Jackenärmel zupfen.

»Du, Paps, wenn… wenn… ich meine…«

Dr. Wilhelm Kilian schaute in das junge und jetzt sehr blasse Gesichtchen der Tochter.

»Setz dich auf den Rücksitz zu den Kindern. Die brauchen jetzt so etwas wie eine Mutter, kleine Doktorin. Und das Fahren werde ich übernehmen.«

Angela seufzte erleichtert auf.

Komisch, daß ihr jetzt die Hände zitterten, jetzt, wo gar nichts mehr passierte. Eigentlich war doch nun alles in Ordnung.

Sie hockte sich zwischen die beiden Kinder, legte wieder die Arme um sie, daß die Kinderköpfe gegen ihre schmalen Schultern sanken.

*

»Na!«

Chris räusperte sich.

»Na!« wiederholte er noch einmal. »Ihr wäret doch besser bei uns geblieben.«

»Wären wir auch!« erklärte der lichtblonde Chris nüchtern. »Aber was willst du machen? Er ist nun mal unser Onkel. Und Vormund heißt er jetzt!«

Er: Onkel Justus, Herr auf Hallermünde!

Gut, daß er nicht hörte, was die Kinder im Anblick des Raumes sprachen, der für Chris und Micky bereitstand.

Das heißt zwei Räume: einer für Chris, einer für Micky. Aber die Räume unterschieden sich wenig voneinander. Jeder Raum enthielt ein Bett, überzogen war es aber noch nicht.

»Ich will zu Schöpfle zurück!«

In diesem Augenblick begann die kleine Micky laut aufzuweinen.

»Na, vielleicht« – Chris räusperte sich – »vielleicht kriegen wir noch eine Vormundin. Weshalb eigentlich nur einen Vormund?«

»Weil Männer besser sind!« belehrte ihn Till und warf den Kopf mit dem roten Bürstenhaar stolz in den Nacken.

»Besser?« Micky weinte jetzt nicht mehr, sie brüllte laut.

In diesem Augenblick erklangen Schritte auf dem langen Flur.

»Ihr seid schon da?« Justus Graf von Hallermünde war erstaunt. »Ihr solltet doch erst…«

»Ja, in zwei Stunden sollten wir erst kommen!« Chris betrachtete diesen Mann ziemlich kritisch, der plötzlich über ihn zu bestimmen haben sollte.

Eigentlich gefiel er ihm mit dem kühn geschnittenen Gesicht, dem dunklen Haar und den Augen, die eine unbestimmbare Farbe zeigten. Aber irgendwie sind sie kühn – so wie bei Seeräubern.

Chris liebte Seeräuber. Deshalb verzieh er dem Onkel auch wenige Augenblicke später den recht frostigen Empfang.

»Ich habe bisher im früheren kleinen Jagdschloß gewohnt!« erklärte Justus von Hallermünde. »Aber dort ist nicht genug Platz für euch. Natürlich« – er machte eine umfassende Handbewegung – »werden die Räume in Ordnung gebracht. Aber das Personal… ich muß eben erst noch Personal suchen. Aber mein Diener kommt gleich herüber.«

Mickys Stimme war ein wenig furchtsam: »Du läßt uns doch nicht ganz allein in dem großen Haus wohnen?«

Der Mann zuckte zurück.

Er hatte vielerlei hinter sich gebracht in den Wochen, in denen die weißen Kastanienblüten auf der Allee zu Schloß Hallermünde langsam abgefallen waren. Es gab viele Wege zu den Behörden und Ämtern. Zudem war er selber noch nicht recht warm geworden auf diesem riesigen Besitz, der stark verschuldet war. Es gab wohl einen Verwalter. Aber den hatte er gleich zum Teufel gejagt. Hat meinen Bruder betrogen wie… na, es gibt gar keinen Vergleich dafür. Aber mein Bruder…

Man ließ sich doch nicht so betrügen! Man machte die Augen auf bei diesem Besitz. Man hinterließ kein Gutshaus, das so verwahrlost war wie dieses Hallermünde, in dem sich die Kinder allem Anschein nach nicht wohl fühlten.

»Wir hätten Schöpfle mitbringen sollen!« behauptete Micky jetzt, während sie mit den kleinen, schmutzigen Händen über die Augen fuhr. »Schöpfle, Onkel Justus, die hat mir ein weißes Bett gedeckt und mich jeden Abend gebadet.«

Herrgott!

Der Mann wandte sich unwillig ab.