Beziehungsweise Revolution - Bini Adamczak - E-Book

Beziehungsweise Revolution E-Book

Bini Adamczak

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Im Oktober 2017 jährt sich die Russische Revolution zum 100. Mal. Anlass genug, die Ereignisse von 1917 durch das Prisma 1968 zu betrachten und beide Revolutionen in ein Verhältnis wechselseitiger Kritik zu bringen. Während 1917 auf den Staat fokussierte, zielte 1968 auf das Individuum. In Zukunft müsste es darum gehen, die »Beziehungsweisen« zwischen den Menschen in den Blick zu nehmen.

Das Buch analysiert die revolutionären Geschlechterverhältnisse als Verhältnisse, die zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, »Nahbeziehungen« und »Fernbeziehungen« geknüpft sind – das Geschlecht der Revolution. So tritt ein Begehren zutage, das nach wie vor seiner Realisierung harrt: das Begehren nach gesellschaftlichen Beziehungsweisen der Solidarität.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 376

Veröffentlichungsjahr: 2017

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Im Oktober 2017 jährt sich die Russische Revolution zum einhundertsten Mal. Anlass genug, die Ereignisse von 1917 durch das Prisma 1968 zu betrachten und beide Revolutionen in ein Verhältnis wechselseitiger Kritik zu bringen. Während 1917 auf den Staat fokussierte, zielte 1968 auf das Individuum. In Zukunft müsste es darum gehen, die »Beziehungsweisen« zwischen den Menschen in den Blick zu nehmen. Das Buch analysiert die revolutionären Geschlechterverhältnisse als Verhältnisse, die zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, »Nahbeziehungen« und »Fernbeziehungen« geknüpft sind – das Geschlecht der Revolution. So tritt ein Begehren zutage, das nach wie vor auf Realisierung wartet: das Begehren nach gesellschaftlichen Beziehungsweisen der Solidarität.

Bini Adamczak lebt in Berlin und arbeitet als Autorin und Künstlerin zu politischer Theorie, queerfeministischer Politik und der vergangenen Zukunft von Revolutionen. Von ihr sind bisher erschienen: Gestern Morgen. Über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft und Kommunismus. Kleine Geschichte, wie endlich alles anders wird.

Bini Adamczak

Beziehungsweise Revolution

1917, 1968 und kommende

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der edition suhrkamp 2721.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-75466-5

www.suhrkamp.de

Inhalt

TEIL EINSRUSSISCHE REVOLUTION

PRD – Postrevolutionäre Depression

Postrevolution als Utopie

Das Missverständnis der Revolution

Revolution als synaptische Konstruktion

TEIL ZWEIDAS GESCHLECHT DER REVOLUTION

1917 – Universelle Maskulinisierung

1968 – Differentielle Feminisierung

TEIL DREIBEZIEHUNGSWEISEN

Totalität, Singularität, Relationalität

Bzw. Der Begriff der Beziehungsweise

Gleichheit, Freiheit, Solidarität

Literatur

Es ist nicht warm

aber es könnte warm sein

Erich Fried

TEIL EINSRUSSISCHE REVOLUTION

11

PRD – Postrevolutionäre Depression

Mitte der zwanziger Jahre unternahmen Ignazio Silone, ein italienischer Kommunist und Schriftsteller, und Lazar Schatzky, der Vorsitzende des Komsomol, der Kommunistischen Jugendorganisation Russlands, einen Spaziergang über den Roten Platz in Moskau. Es war die Zeit der Neuen Ökonomischen Politik, die im Rahmen der »Diktatur des Proletariats« kapitalistischen Handel zwischen Stadt und Land erlaubte. Die Kommunistische Partei Russlands (Bolschewiki) befand sich schon ein Jahrzehnt an der Macht, doch während sich der Geist des Leninismus großer Lebendigkeit erfreute, war Lenin selbst bereits 1924 verstorben. Lenins Gehirn wurde in einem eigens dafür gegründeten Institut auf Genialität hin untersucht (Hagemeister 2005, 36), der Rest seines Körpers in einem hölzernen Mausoleum auf dem Roten Platz konserviert. Diesen Holzbau, an dem »man jeden Tag endlose Prozessionen armer, zerlumpter Bauern vorbeidefilieren sah« (Silone 2005 [1949], 107), passierten die beiden Freunde gerade, als Lazar Schatzky begann, über seine Traurigkeit zu sprechen. Was ihn traurig machte, war das Gefühl, zu spät geboren zu sein, zu spät, um an der Revolution teilnehmen zu können. Für einen überzeugten bolschewistischen Revolutionär musste das dem Gefühl gleichkommen, das wichtigste Ereignis des eigenen Lebens verpasst zu haben. Ignazio Silone versuchte, seinen Freund zu trösten: »Es wird noch genug andere Revolutionen geben«, sagte er, »Revolutionen werden immer nötig sein, auch in Russland.« »Was für Revolutionen?«, fragte Schatzky ungeduldig, »und wie lang müssen wir noch darauf warten?« (Ebd., 107)

Silone wollte seinen sowjetischen Genossen nicht leiden sehen und bot direkte Abhilfe an. Er zeigte auf das hölzerne 12Mausoleum, dessen Fassade erst 1930 durch grauen und roten Granit ersetzt werden sollte, dann schlug er vor, einige Kanister Benzin zu besorgen, die »Totem«-Baracke anzuzünden und so auf eigene Faust eine kleine »Revolution« zu machen.

Bekanntlich befolgte der Vorsitzende der Kommunistischen Jugendorganisation Russlands den Vorschlag seines italienischen Genossen nicht. Weder fackelte er das Lenin-Mausoleum ab, noch konnte er über die schöne Idee auch nur lachen. Stattdessen wurde er »furchtbar blass und begann zu zittern«. Dann bat er seinen Freund, nie wieder etwas so Scheußliches zu sagen.

Zwei affektive Zustände prägen diese kurze Sequenz, die Ignazio Silone in einem 1950 geschriebenen autobiographischen Essay erinnert. Zunächst ein Zustand von Blässe und Zittern. Obwohl sich der Stalinismus erst 1929 konsolidierte (Arendt 2008 [1951], 629), waren diese Reaktionen bereits Mitte der zwanziger Jahre Ausdruck einer aufkommenden stalinistischen Subjektivität. Erstens weil die systematische Vergötzung Lenins, der »Leninismus« oder »Marxismus-Leninismus« selbst ein stalinistisches, von Stalin entwickeltes Konzept war (Adamczak 2007, 123ff.). Zweitens weil Silones Angst rückblickend mehr als gerechtfertigt erscheint. Nur wenige Jahre später würde ein Witz tatsächlich ausreichen, um nicht nur aus der Partei ausgeschlossen, sondern auch verhaftet und verbannt, zu Zwangsarbeit verpflichtet oder erschossen zu werden. Auch Schatzky sollte, zehn Jahre nach diesem Spaziergang, dem stalinistischen Terror zum Opfer fallen. Nicht wegen eines Witzes, aber aufgrund einer ähnlich absurden Mitgliedschaft in einem frei erfundenen »trotzkistisch-sinowjewschen Block«.

Der zweite affektive Zustand, der die kurze Sequenz prägt, 13ist zugleich offenkundiger und rätselhafter. Anders als bei Schatzkys Angst ist es bei seiner Traurigkeit nicht nötig, körperliche Zeichen zu interpretieren. Er sprach dieses Gefühl wie dessen Grund offen aus: Der Revolutionär war traurig, weil er die Revolution verpasst hatte. Was allerdings einer Interpretation bedarf, ist diese Traurigkeit selbst. Es ist die Traurigkeit des Revolutionärs nach der Revolution, nach der passierten und verpassten Revolution. Warum sollte jemand – und der Vorsitzende der Kommunistischen Jugend Russlands ist nicht irgendjemand – darüber traurig sein, darüber traurig sein können, die Revolution verpasst zu haben? Schließlich handelte es sich bei derjenigen von 1917 nicht um ein folgenloses oder abgeschlossenes Ereignis wie so viele Revolutionsversuche davor und danach, sondern um einen folgenreichen und fortgesetzten Prozess. Die Russische Revolution war, unbestreitbar, siegreich, sie war, nach den niedergeschlagenen proletarischen Revolutionen von Haiti (bzw. Saint-Domingue, vgl. James 1984) und Paris (Jakobiner, vor allem Pariser Commune, vgl. Ross 2015), die erste dauerhaft siegreiche sozialistische Revolution. Anders als ihre Vorgängerinnen und die meisten ihrer Nachfolgerinnen wurde die Russische Revolution nicht von äußeren Feinden geschlagen. Bereits 1921 waren alle Angriffe imperialistischer Staaten wie konterrevolutionärer Truppen abgewehrt worden. Nachdem die monarchistischen oder bürgerlichen »Weißen« besiegt und die ehemals verbündeten anarchistischen »Schwarzen« verraten waren, konnten die bäuerlichen »Grünen« befriedet werden, womit die bolschewistischen »Roten« als unbestrittene Sieger aus dem Bürgerkrieg hervorgingen. Warum also sollte jemand, der wie der Vorsitzende der Kommunistischen Jugend Russlands den »Roten« angehörte, einen Kampf wiederholen wollen, nachdem er gewonnen wurde? Einen Kampf zumal, dessen (bürger)kriegerischer Verlauf über eine Million Tote 14gefordert hatte (Figes 2008, 17)? Was heißt es, die Revolution herbeizusehnen, sie zu vermissen und zu begehren – nach der Revolution? Und was bedeutet es, angesichts der Unmöglichkeit, diesen Wunsch zu erfüllen, traurig und niedergeschlagen zu sein, vielleicht sogar resigniert und antriebslos? Warum also litt Lazar Schatzky unter einer postrevolutionären Depression?1

Notwendige ökonomische und freie kriegerische Politik

In seiner Traurigkeit war Lazar Schatzky nicht allein. Unter ihr litten in den zwanziger Jahren in Russland viele Menschen, insbesondere Kommunistinnen. Die scheinbar naheliegende Erklärung für die postrevolutionäre Depression (PRD) bestand in der Unzufriedenheit der Beteiligten mit den Ergebnissen der Revolution, mit dem Fortschritt des Sozialismus. Insbesondere die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik galt als Zugeständnis an die kapitalistische Ökonomie, an alte wie neue Bourgeoisie. Lenin bezeichnete sie als eine »Niederlage«, die »ernster war als irgendeine Niederlage«, die den 15Bolschewiki jemals von konterrevolutionären Generälen beigebracht worden war und angesichts derer es »natürlich unvermeidlich« sei, »dass manche Leute in einen recht deprimierten, fast panikartigen Zustand« verfielen (Lenin, LW 33 [1921], 43f.). Der Vorsitzende der Kommunistischen Internationalen, Grigori Sinowjew, schlug vor, die NÖP nicht als Neue, sondern als Notwendige Ökonomische Politik auszuschreiben (Naiman 1997, 10). Und Karl Radek formulierte 1922 knapp: »Wir gehen vorsätzlich mit der Bourgeoisie ins Bett« (zitiert nach Naiman 1997, 81).

Tatsächlich brachte die Warenwirtschaft der Neuen Ökonomischen Politik gegenüber dem Bezugscheinesystem des Kriegskommunismus wirtschaftliche Entspannung (Mats 2012, 66), vergrößerte aber auch erneut die soziale Ungleichheit (Benjamin 1980 [1927], 103f., Ostrowski 2004 [1932], 282ff.). Auch wenn manch führender Parteikader das Entstehen der Neukapitalistinnen mit einer gewissen Entspanntheit betrachtete und plante, sie »wie junge Hühner fett werden zu lassen«, um ihnen »sobald sie lästig würden […] höflichst den Hals umzudrehen« (Kopelew 1979, 219), war die allgemeine Stimmung gedämpfter. »War es wirklich nötig«, fragte ein Komsomolze in seinem Brief an Trotzki, »die Oktoberrevolution zu machen, bei der so viele junge Menschen getötet wurden, nur um zur Vergangenheit zurückzukehren?« (Zitiert nach Gorsuch 1997, 567.)216

Das Unbehagen in der Ordnung der Neuen Ökonomischen Politik erklärt allerdings noch nicht, warum sich die Sehnsucht der Revolutionäre nicht auf die kommunistische Zukunft richtete, sondern auf die kriegskommunistische Vergangenheit. Auch das war keine individuelle Eigenart Lazar Schatzkys, sondern eine kollektive Erfahrung, »verbreitet unter denjenigen Kommunisten in Russland, die sich von der Neuen Ökonomischen Poltik verraten fühlten« (Borenstein 2000, 40, vgl. auch Werth 1998, 108). Obwohl diese Tendenz insbesondere von alten Bolschewiki, die bereits vor 1917 Mitglieder der Partei gewesen waren und in dieser jetzt eine Minderheit bildeten, kritisiert wurde, stellte der Kriegskommunismus ein Reservoir an idealisierten Bildern zur Verfügung, an denen sich »Verhalten, Sprache und sogar Aussehen von Kommunistinnen in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts« orientierten (Fitzpatrick 1985, 58). Er erhielt seine Anziehungskraft nicht trotz, sondern gerade wegen seines martialischen Namens, der nur im Deutschen die Form einer Alliteration, aber in jeder Sprache die eines Oxymorons hat. Auf den ersten Blick war es gerade das Primat des Kampfes, das den Kriegskommunismus von der Neuen Ökonomischen Politik unterschied. Während die Aufgabe zuvor im Ausschalten der Konterrevolution bestanden hatte, ging es nun um den Aufbau einer postrevolutionären Ordnung; während die Situation zuvor Mut und Entschlossenheit gefordert hatte, verlangte sie jetzt Geduld und Disziplin. Der Übergang war konfliktreich. Am deutlichsten zeigte sich das in der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei, dessen Vorsitz Lazar Schatzky Mitte der zwanziger Jahre innehatte. Für die hier organisierten jugendlichen Arbeiterinnen bedeutete 17das Ende des Bürgerkriegs einen sozialökonomischen Abstieg. Ebenso wie weibliche Arbeiterinnen wurden sie von den erwachsenen und männlichen Facharbeiterinnen, die aus dem Krieg zurückkehrten, von ihren Arbeitsplätzen verdrängt. Nachdem sie bereits gleichberechtigt mit älteren Genossinnen zusammen gekämpft hatten, fühlten sie sich nun auf den Status von Schülern zurückgestuft. Auf dem dritten Komsomol-Kongress im Herbst 1920 übernahm es Lenin persönlich, der »erfolgs- und siegestrunkenen Jugend« (Mehnert 1973 [1932], 151) ihre neue Aufgabe zu vermitteln. Es sei klar, »dass die in der kapitalistischen Gesellschaft erzogene Generation der Arbeitenden bestenfalls die Aufgabe lösen« können werde, »die Grundlagen der alten, kapitalistischen […] Lebensweise zu zerstören«. Im Gegensatz dazu stehe »gerade vor der Jugend die eigentliche Aufgabe […], die kommunistische Gesellschaft zu schaffen« (Lenin, LW 31 [1920a], 272). So groß die Aufgabe war, die Lenin der Jugend antrug, so wenig glich sie doch den Vorstellungen der Komsomolzen. Tatsächlich fiel sie wesentlich nüchterner aus, als Lenins einleitende Worte hatten erwarten lassen. Die Aufgaben »der Jugend im Allgemeinen und der kommunistischen Jugendverbände […] im Besonderen« wollte der Parteivorsitzende »durch ein einziges Wort ausdrücken: Die Aufgabe besteht darin, zu lernen.« (Ebd.)

Lenins zutreffende Analyse, dass eine kommunistische Gesellschaft sich nicht allein mit auswendig gelernten kommunistischen Losungen aufbauen lässt, sondern nur mit Hilfe des gesammelten Wissens der alten Gesellschaft, stieß bei der kommunistischen Jugend auf begrenzte Begeisterung. »Sehr viele«, berichtet ein Beobachter, »wurden durch den schulmeisterlich erscheinenden Aufruf zum ›Lernen‹ aus ihren romantischen Illusionen gerissen. Schade, sagten sie, Lenin ist also auch alt geworden« (Mehnert 1973 [1932], 152).18

Nikolai Bucharin, das jüngste Mitglied des Zentralkomitees, konnte die Komsomolzinnen hierin verstehen. Während der Bürgerkrieg der Jugend »eine kolossale Aufgabe von beispielloser Schönheit« gegeben habe, nämlich, den gemeinsamen Feind Weltkapitalismus zu töten, konnte die NEP mit keiner »schillernden, scharf definierten, militanten, heroischen Aufgabe« aufwarten (Bucharin, zitiert nach Fisher 1959, 79f.). Mit dieser Mangelbestimmung – Abwesenheit einer heroischen Aufgabe – traf Bucharin recht genau die Atmosphäre, die im Komsomol gegenüber der »Teufels-NEP« (Mehnert 1973, 152) vorherrschte. Die kommunistische Jugend, »diejenigen, die die Oktoberrevolution im Alter von zehn Jahren oder weniger erlebten«, klagten, dass »der Geist der Revolution vergangen war«, dass »die harten, aber romantischen Jahre des Bürgerkriegs nicht mehr wiederkehren würden« und dass »die ältere Generation [ihnen] ein langweiliges, prosaisches Leben ohne Kampf oder Aufregung hinterlassen hatte« (zitiert nach Figes 2008, 862). Dabei wurde der Wechsel des Subjektideals von der gnadenlosen, harten und militarisierten Barrikadenkämpferin zur politisch gebildeten, disziplinierten und moralischen Komsomolzin auch als eine Bewegung der Verweiblichung interpretiert (Wood 1997, 49ff., Gorsuch 1996, 645). Entsprechend rigoros wurde der Vorschlag, das Rauchen und Trinken aufzugeben, um nichtkommunistischen Jugendlichen ein Vorbild zu sein, im Komsomol zurückgewiesen (vgl. Gorsuch 1997, 575). Klaus Mehnert, ein deutscher Nationalist, der in den späten zwanziger Jahren sowohl die USA als auch die Sowjetunion bereiste, beschrieb die Atmosphäre, die 1921 und 1922 im Komsomol vorherrschte, als »Depression«. Aufgrund zu schnellen Wachstums habe sich der Verband durch »innere Leere und Leblosigkeit« ausgezeichnet – typische Charakteristika einer depressiven Stimmung: »Die heroische Zeit schien endgültig vorüber zu sein. 19Die Begeisterung brannte aus. Eine allgemeine Entspannung trat ein. Cafés und Restaurants wurden wieder geöffnet, Kitschfilme aufgeführt, Schundliteratur gelesen.« (Mehnert 1973 [1932], 152) Deutlichstes Anzeichen der hier mit Kitschfilmen und Schundliteratur als weiblich gekennzeichneten Depression war, dass die Zahl der Mitglieder des Komsomol im Jahr 1922 von einer halben Million auf 235 ‌000 zusammenschmolz (ebd.). Diese Entwicklung ließ sich nicht im rationalistischen Vokabular des bolschewistischen Marxismus fassen, dessen zentrale Kategorien für den affektiven Charakter politischer Prozesse blind sind. Bucharin, einer der wichtigsten Theoretiker des frühen Bolschewismus, erkannte das. Die Vorschläge für Gegenmaßnahmen, die er dem Verband unterbreitete, waren deswegen auf emotionaler Ebene angesiedelt. »Wir dürfen«, deklarierte er, »uns nicht nur ans Hirn wenden. Denn ehe der Mensch etwas versteht, muss er es fühlen« (zitiert nach Mehnert 1973 [1932], 153). Wie aber sollte diese emotionale Mobilisierung aussehen und welche Affekte sollten durch sie aktiviert werden, um die PRD zu überwinden? Der historisch folgenreiche Beschluss des fünften Komsomol-Kongress 1922 lautete:

»Alles romantisch-revolutionäre Material muss ausgenutzt werden für die Erziehung der Jugend – die ›unterirdische Arbeit‹ vor der Revolution, der Bürgerkrieg, die Tscheka, die Kämpfe und revolutionären Taten der Arbeiter und der Roten Armee, technische Erfindungen und Expeditionen.« Vor allem, paraphrasiert Mehnert, »müsse eine Literatur geschaffen werden, in der in hinreißender Form das sozialistische Ideal, der Kampf des Menschen mit der Natur, das Heldentum des Proletariats und die bedingungslose Hingabe an den Kommunismus verherrlicht werde.« (Ebd., vgl. Lenin, LW 33 [1921], 48.)

Der Begriff der Verherrlichung, den der deutsche Nationalist Mehnert wählt, beschreibt die Komsomol-Politik ebenso genau wie der für den bolschewistischen Diskurs so ungewöhn20liche Begriff des Romantischen. »Man war«, wie Walter Benjamin fünf Jahre später beobachtete, »in die Restauration eingetreten«, wollte »aber dem ungeachtet revolutionäre Energie in der Jugend wie elektrische Kraft in einer Batterie aufspeichern.« (Benjamin 1980 [1927], 80) Wo die Erfahrungen von Untergrundarbeit, Revolution, Bürgerkrieg nicht mehr real erlebt werden konnten, sollten sie virtuell reproduziert werden, zum einen, indem die Propaganda sie in Erinnerung hielt, zum anderen, indem sie auf Erfindungen, Expeditionen, Geheimpolizei übertragen wurden. Selbst der »Kampf mit der Natur« fand seinen Platz in dieser kriegerischen Dramaturgie. Die »Erziehung der Jugend« folgte dem Narrativ der Abenteuererzählung, blieb allerdings weder auf die Jugend begrenzt noch auf bloße Fiktion. Gregori Sinowjew proklamierte 1925, dass »die Kämpfe, die über das Schicksal der Revolution« entschieden, andauerten, auch wenn sie »ohne Blut und Kanondonner« vor sich gingen (zitiert nach Naiman 1997, 11). In dieser Interpretation wurde die Neue Ökonomische Politik als Fortsetzung des Bürgerkrieges mit anderen Mitteln verstanden. Die alten Mittel blieben dabei als Option bestehen. Sie mussten nicht lange darauf warten, wieder aufgegriffen zu werden.

Ende der zwanziger Jahre sollte der kollektive Wunsch nach einem Ende der langweiligen Neuen Ökonomischen Politik und einer Wiederkehr von Kampf und Aufregung der Revolution in Erfüllung gehen. Die stalinistische Politik der Industrialisierung und Kollektivierung geriet zur Wiederaufführung der harten, aber romantischen Jahre des Bürgerkriegs. Der Krieg gegen Saboteure, Spione und Verräter, gegen die inneren wie äußeren Feinde der Partei, gegen neue Bourgeois und angebliche Großbäuerinnen (Behrens 2012, 51f.) erschien als Ausweg. Revolutionärinnen, die sich nach der im Rück21blick glorifizierten Zeit zurücksehnten, konnten den Kriegskommunismus wiederholen; Revolutionärinnen, die von der Trauer bedrückt waren, die Revolution verpasst zu haben, konnten ihn nachholen. »Der Kriegskommunismus war der Bezugspunkt, wenn nicht gar das Modell für viele der Politiken, die sich mit Industrialisierung und Kollektivierung verbanden.« (Fitzpatrick 1985, 58)

Das Begehren nach Revolution, das sich so lange negativ in der postrevolutionären Depression reproduziert und virtuell in der kulturellen und politischen Propaganda des Kampfes reaktualisiert hatte, fand nun eine historisch spezifische Realisierung. Die stalinistische Konterrevolution »versprach eine Wiederaufnahme des Klassenkampfes gegen die ›Kulaken‹ und die ›bürgerlichen Spezialisten‹, vor denen die NEP zurückgewichen war« (Figes 2008, 862). Mit dem ersten Fünfjahresplan 1928 wurde die Neue Ökonomische Politik politisch wie ökonomisch beendet. Damit wurde auch die affektive Struktur der PRD überwunden. Genau diesen Eindruck erhielt Klaus Mehnert, als er 1929 zum ersten Mal die Sowjetunion besuchte:

»Gleichsam als wäre der Anschluss an den Bürgerkrieg aufs Neue gefunden, so verschwand auch die unheroische Bürgerlichkeit der NEP-Zeit. Die Traditionen des Bürgerkriegs, Kampflust und kriegerische Stimmung flammten wieder auf. Das Graue, Alltägliche, Unheldische, das […]3 in Russland in unzähligen Komsomolzen den Eindruck er22weckt hatte, man habe im NEP die Ideale der Revolution verraten, das war mit dem Beginn des Fünfjahresplans endgültig überwunden.« (Mehnert 1973 [1932], 156)

Die stalinistische Politik schien die Beschlüsse des Komsomol-Kongresses umzusetzen, wenngleich in radikalisierter, brutalisierter Weise. Das gesamte politische Leben wurde in den »revolutionären« Begriffen eines Klassenkampfes restrukturiert, der deutlicher als zuvor den Charakter eines Klassenkrieges annahm, in dem es recht wenig um Klassen, sehr viel jedoch um den entfesselten inneren Krieg ging. Soziale Ereignisse wurden in der Logik des antagonistischen Kampfes politisiert und im Sinne der Feindbestimmung personalisiert. Jede ausgebliebene Ernte, jeder verspätete Zug, jeder Unfall im Tagebau konnte so als Ausdruck von Sabotage, als Wirken des Klassenfeindes interpretiert werden. Die Wissenschaft wurde zu einer »›Festung‹, die von der Jugend ›erobert‹ werden« musste, die Wirtschaft zum Schauplatz von »Brigaden«, die »Engpässe« zu stürmen oder »Gefechtsabschnitte« einzunehmen hatten (Mehnert 1973 [1932], 157, Stalin 1954 [1928], 46). Dabei umschloss die Reinszenierung des gesellschaftlichen Lebens als revolutionärer Kampf in militarisierter Form die klassische Sphäre der Politik ebenso wie die von Ökonomie, Kultur und Wissenschaft, Sexualität und Familie sowie die alltäglichen Praktiken des Wohnens, Einkaufens und Essens (Buchli 2000, 23f.). Die stalinistische Konterrevolution verband den Aufbau der Neuen Welt, verstanden als industrielle Produktivkraftentwicklung, mit dem Angriff auf die alte 23Welt, verstanden als Kampf gegen immer neu zu konstruierende Feindgruppen. So trug die forcierte nachholende Entwicklung die Form einer nachholenden Revolution. Damit war der postrevolutionäre Revolutionarismus im Dienste des Staates auch eine Antwort auf jene affektive Atmosphäre, die während der zwanziger Jahre viele Kommunistinnen umgab: Die nostalgische Sehnsucht nach einer siegreichen, aber verlorenen, weil vergangenen Revolution.

Revolutionäres Begehren und der Fetisch des Begehrens nach Revolution4

Wenn die PRD ein Motiv für die stalinistische Konterrevolution war, die kollektive Depression der NEP ein Grund für die kollektive Aggression des Stalinismus, dann bekommt die 24Kritik ihrer hegemonialen Deutung eine Dringlichkeit, die sich noch nicht absehen ließ, als Lazar Schatzky und Ignazio Silone Mitte der zwanziger Jahre über den Roten Platz spazierten. Rückblickend lässt sich das Begehren nach Revolution als Ausdruck eines Fetischs erkennen, des Revolutionsfetischs. Wie jeder Fetisch besteht auch dieser in einer Verkehrung, hier in einer Verkehrung von Mittel und Zweck. Von einem notwendigen Mittel zur Erreichung eines postrevolutionären Zustands, der sozialistischen oder kommunistischen Gesellschaft, verwandelt sich die Revolution in einen Selbstzweck. Sie dient nicht länger der Befriedigung des Begehrens nach einer anderen Welt, sondern wird selbst zu dem, worauf sich das Begehren richtet: Aufstand, Aufruhr, Action.

Noch lange vor der Russischen Revolution war dieses Begehren nach Revolution von Sergej Gennadiewitsch Netschajew beschrieben worden, einem Vertreter der revolutionären Diktatur und Anhänger Bakunins, dessen 1869 verfasster »Revolutionärer Katechismus« viele bolschewistische Motive vorwegnahm. Netschajew proklamierte, der Revolutionär müsse »all die sanften, schwächenden Gefühle der Verwandtschaft, Liebe, Freundschaft, Dankbarkeit und sogar der Ehre« in sich unterdrücken und »der eiskalten, zielstrebigen Leidenschaft für die Revolution Raum geben«. Für ihn gäbe es »nur eine Freude, einen Trost, einen Lohn und eine Befriedigung – den Erfolg der Revolution«. Schließlich werde der Revolutionär »von dem einzigen Gedanken an die Revolution und von der einzigen Leidenschaft für sie völlig in Anspruch genommen« (Netschajew 1870, 17f.). Das Begehren nach Revolution lässt keinen Raum für ein Begehren nach einer revolutionierten Welt. Erst mit dem Sieg der Revolution dürfte die Revolutionärin ihr Interesse für deren Zweck wiederentdecken. Allerdings war zum Zeitpunkt des Sieges der bolschewisti25schen Revolution der Zweck bereits hinter dem Mittel verschwunden.5

Die Fetischisierung der Revolution bildet ein konstitutives Merkmal der Sowjetideologie (vgl. Luxemburg 1918, 335). Von den großen kulturellen Produktionen der Filme und Theater, Literatur, Fotografie und Malerei über die bombastischen Paraden und Aufmärsche an den Feiertagen bis zu den alltäglichen Ritualen der Betriebsorganisationen und Jugendverbände wird immer wieder das Bild der Revolution als heroisches Ereignis reinszeniert und zugleich die Figur der Revolutionärin als diszipliniertes, aufopferungsbereites und maskulines Subjekt idealisiert. Der berühmte »Held der Arbeit«, der weit über die Stachanow-Arbeiterin der stalinistischen Epoche hinausweist, ist ein Prototyp der Konservierung von Kampf und Heldentum unter nichtrevolutionären Bedingungen. So reproduziert sich der »Revolutionarismus« (Herfurth 2005 und 2008) über die Revolution hinaus. Unter der Universalität dieser Inszenierung reduziert sich die »psy26chosoziale Spaltung der sowjetischen Gesellschaft zwischen denen, die den ›Oktober‹ durchlebt hatten und denen, die ihn nicht durchlebt hatten« (Stites 1989, 214, vgl. Konecny 1999). Beide Generationen teilen denselben Diskurs des Begehrens, greifen auf dasselbe Set an kulturellen Affekten zurück, in dem es der Kampf ist, der Aufregung verschafft und der Krieg, der soziale Anerkennung vergibt, weil er Helden erschafft. Es ist die Revolution als Aufstand, als Angriff, als Ausnahmezustand, auf die sich die Begierde richtet und die in staatlicher Propaganda kultureller Ikonographie immer wieder hervorgebracht und aufrechterhalten wird.

Hierin scheint eine universelle Struktur solcher Regime zu bestehen, die durch Revolutionen an die Macht gekommen sind und in der Revolution ihren immer wieder anzurufenden Gründungsmythos finden. Über die Geschichte des Globus verteilt sammeln sich Revolutionsführerinnen, die auch zwanzig, dreißig, fünfzig Jahre nach der Revolution nicht ihre Uniform ablegen. Von Mao in China, Tito in Jugoslawien und Fidel Castro in Kuba, über Thomas Sankara in Burkina Faso, Samora Machel in Mosambik hin zu Daniel Ortega in Nicaragua oder Muammar al-Gaddafi in Libyen. Und es sammeln sich Parteien, die in ihrem Namen – und meistens nur darin – noch den Verweis auf die Revolution tragen, vor allem die Partei der institutionalisierten Revolution in Mexiko, aber auch der Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN) in Nicaragua, der Frente de Libertação de Moçambique (FRELIMO) oder das Movimento Popular de Libertação de Angola (MPLA). Was als symbolische Versicherung gegen Verbürgerlichung intendiert gewesen sein könnte, fungiert zugleich als ideologische Verschleierung genau dieses Prozesses. Die Reinszenierung der Revolution dient dem Regime zur Legitimation. Schließlich ist die Revolution ein Ereignis der Massen, ein populäres Ereignis, die Diktatur der Partei ist es nicht. 27Die Institutionalisierung der Revolution und die Reklamation ihres Erbes ist somit eine Form der Rechtfertigung der Regierung, ebenso wie das Konservieren der Leichen von Revolutionsführern. Sei es diejenige des vietnamesischen Revolutionärs Ho Chi Minh oder des Staatsoberhaupts der Volksrepublik Angola, Agostinho Neto, diejenige des Vorsitzenden der Kommunistischen Internationale Georgi Dimitroff, des mongolischen Diktators Chorloogiin Tschoibalsan, oder diejenige des Nordkoreaners Kim Il Sung – sie alle profitierten von den an Lenins Leiche geschulten sowjetischen Konservierungskünsten. Lediglich Maos Leichnam erhielt wegen politischer Verwerfungen keine Unterstützung – und verweste (Zbarski 1999 [1997], 43). Aber selbst wenn es sich hierbei lediglich um eine rationale Strategie der Herrschaftserhaltung handelte, könnte diese doch nur deshalb erfolgreich sein, weil sie auf ein weitverbreitetes Begehren bauen kann. Ein Begehren, das sich, weil die Revolution nicht nachhaltig defetischisiert wurde, in den meisten radikalen, revolutionären Bewegungen finden lassen dürfte.

Das Begehren nach Revolution aber ist ein paradoxes Begehren. Es muss mit Notwendigkeit enttäuscht werden in dem Moment, in dem die Revolution erfolgreich ist. Und kann andersherum nur befriedigt bleiben, wenn die Revolution nicht erfolgreich ist. Es steht damit in der Gefahr, ein konterrevolutionäres Begehren zu werden, mindestens aber ein Hindernis für das Gelingen der Revolution. Damit entfaltet sich eine paradoxe Lehre: Die Fixierung auf die Revolution lässt die Revolution siegen – und scheitern. Auch die unausgesetzte Fortführung der Revolution, die permanente Revolution6 bie28tet hier keine Lösung, sondern eröffnet nur einen Zirkel, der beständig das Problem verlängert, auf das er eine Antwort zu geben sucht.

Das Begehren nach Revolution stellt somit die fetischistische Verkehrung eines revolutionären Begehrens dar. Letzteres zielt, seinem primären Selbstverständnis nach, nämlich nicht auf die Revolution selbst, sondern auf die Überwindung einer schlechten und die Errichtung einer besseren Welt. Hierzu steht das Begehren nach Revolution in einem antipodischen Verhältnis.7 Es beruht auf einer Konzeption von Revolution und Postrevolution, in der beide Terme durch Eigenschaften charakterisiert sind, die sich wechselseitig ausschließen. Einerseits wird der Kommunismus als eine »gran29diose Gesellschaft allmenschlicher Harmonie« (Machno 1926, 11) vorgestellt, die durch Subsumption des Besonderen unter das Allgemeine, also durch Zwangsharmonisierung realisiert wird (vgl. Lenin, LW 25). Andererseits ist das – vor allem bolschewistische – Bild von Revolution in einem Maße von kompromisslosem Streit, unüberwindbaren Gegensätzen, kurz: Feindschaft geprägt, dass kein Raum für Vermittlung, Kompromiss, Integration bleibt (vgl. Steinberg 1981 [1923], 318). Als wäre es darum gegangen, die philosophische Figur der Nichtidentität von Identität und Nichtidentität geschichtlich zu realisieren, trennt die dünne und politisch schwer zu diagnostizierende Linie, die zwischen Revolution und Postrevolution gezogen ist, die Trennung von der Einheit. Schon Netschajew verwies als Vorläufer der bolschewistischen Revolutionskonzeption die Aufgabe einer zukünftigen Organisation, die sich »durch die Regsamkeit und das Leben des Volkes« durchzusetzen habe, an »künftige Generationen«, während er die Aufgabe der Revolutionäre in der »furchtbaren, totalen, universalen und erbarmungslosen Zerstörung« sah (Netschajew 1870, 20). Streit, Spaltung, Kampf, aber auch Aufregung, Abenteuer, Spontaneität befinden sich so auf der Seite der Revolution. Harmonie, Frieden, Sicherheit, aber auch Langeweile, Stillstand, Symbiose finden sich auf der Seite des Kommunismus. Dabei bleiben die Pole nicht nur als zeitlich aufeinander folgende, sondern auch als konditional vermittelte logisch verknüpft. Dies ist ein allgemeines Charakteristikum chiliastischer, messianischer und millenarischer Revolutionsvorstellungen, die erwarten, dass das Reich der Harmonie und Erlösung durch einen Zustand der Katastrophe oder Apokalypse herbeigeführt werde (Rendtorff/Tödt 1968). Die Vorstellung, durch die »krasseste Spaltung« hindurch die »Menschheit wieder zu sammeln«, da im Moment der höchsten Konzentration von Zwang und Gewalt die 30»Wachstumskurve der proletarischen Staatlichkeit jäh zu sinken« (Bucharin 1970 [1920], 158 und 167) anfange, findet sich bei Bucharin ebenso wie bei Trotzki, der die staatliche Gewalt in der Revolution mit einer Lampe verglich, die kurz bevor sie erlöscht, noch einmal am hellsten aufflackert (Trotzki 1990b [1920], 156). Auch Georg Lukács meinte, dass gerade die »radikale Ausmerzung der Klassenunterschiede« zu einer »Gesellschaft der Liebe« führe, in der »jeglicher Zorn und Hass, jeglicher Neid und Hochmut« (Lukács 1975 [1918-1920], 86f.) der Vergangenheit angehörten (vgl. Wallat 2012, 113). Die Spaltung erfolgt im Interesse der Einheit, der Krieg im Namen des Friedens. Daraus lässt sich folgern, dass der Kampf zwischen entgegengesetzten Interessen umso kompromissloser geführt werden muss, je mehr er auf einen Zustand zielt, in dem es keine Kompromisse mehr braucht, weil es keine Interessengegensätze mehr gibt. Folgerichtig brach der stalinistische Terror von 1937 genau in dem Moment los, in dem mit einer neuen Verfassung auch freie Wahlen gestattet und abgehalten werden sollten und die Periode des Klassenkampfes für beendet erklärt wurde, in dem also die Grenze zwischen Revolution und Postrevolution offiziell gezogen und überschritten wurde (vgl. Schlögel 2008). Sobald die klassenlose Gesellschaft offiziell als erreicht galt, lag es nahe, politische Differenz nicht mehr im Sinne sozialer Gegnerschaft, sondern biopolitischer Feindschaft zu interpretieren. Wer jetzt noch abwich, konnte kein Teil des endlich konstituierten Volkes, der neu vereinigten Menschheit mehr sein (vgl. Foucault 1999a, Žižek 2007).

Sind Revolution und Kommunismus so einander gegenübergestellt, konstituieren sie einen Widerspruch. Durch ihn ließe sich die PRD lesen als eine implizite Kritik des Verhältnisses von Kommunismus und Revolution. Wenn die Revolution der Errichtung einer postrevolutionären Gesellschaft dient, dann wird das Begehren nach Revolution in dem Mo31ment verschwinden, in dem diese Gesellschaft errichtet ist. Verschwindet es nicht, muss ein Moment der Revolution in der postrevolutionären Gesellschaft nicht aufgehoben worden sein. Die Kritik, die in diesem Widerspruch impliziert ist, ist wechselseitig, sie lässt sich nach zwei Seiten hin auflösen. Entweder wird das Begehren nach Revolution, nach Abenteuer, Kampf, Freiheit, aus der Perspektive des Kommunismus als eines identifiziert, dessen Befriedigung von seinem eigenen Zweck verunmöglicht wird, das also nach kommunistischen Maßstäben ein falsches Begehren ist. Das führte zu der bekannten subjektkonstitutionstheoretischen Figur, dass die aus der Vergangenheit stammenden Revolutionärinnen notwendig unfähig seien, die Revolution in die Zukunft zu führen. Oder aber der Kommunismus wird aus der Perspektive der Revolution als eine Gesellschaft beschrieben, deren harmonische Langeweile nicht das Begehren der Kommunistinnen nach Revolution befriedigen kann. Seine Bestimmung als Harmonie würde die gegebene Definition einer nach den Bedürfnissen der Lebenden eingerichteten Gesellschaft verfehlen. Die Befriedigung der Bedürfnisse aller ließe das Bedürfnis, die Bedürfnisse anderer kämpferisch zu übergehen, unbefriedigt. Diese Position kann in konservativer Fassung eine anthropologische Form annehmen. Dann würde eine kommunistische Gesellschaft von dem universell-menschlichen Bedürfnis nach Konkurrenz, Macht und Krieg notwendig verunmöglicht. Sie kann auch eine progressive Fassung annehmen. Dann würden diese Bedürfnisse als Ausdruck einer spezifisch historischen Subjektivität verstanden, die von den gewaltsamen Bedingungen der Revolution – zaristischer Untergrund, imperialistischer Krieg, konterrevolutionärer Bürgerkrieg – hervorgebracht werden. Für die PRD hat diese Differenz allerdings kaum Relevanz. Zumindest Zarismus und Krieg sind als ihre Bedingungen vorgefunden 32und somit nicht wählbar. Handelt es sich bei dem Begehren der Kommunistinnen folglich um ein Begehren, das nicht befriedigt werden kann, handelt es sich bei ihrer Traurigkeit um eine tragische Traurigkeit, für die sich kein Trost finden lässt?

Beziehungsweise Revolution

Weswegen waren die Kommunistinnen so traurig? Von der Beantwortung dieser Frage hängt ab, ob sich ihnen nachträglich noch ein anderer Trost anbieten lässt als jener der massenmörderischen Mobilisierung von Industrialisierung, Entkulakisierung und Großem Terror, der zuallererst neuen Anlass für Trauer schuf. Diesmal nicht um ein Ereignis, sondern um Menschen – etwa um Lazar Schatzky, der sich aus Furcht vor seiner bevorstehenden Verhaftung zu Tode stürzte.8

Ob die Traurigkeit der Kommunistinnen eine tragische war, ihre Lage trostlos und ohne Ausweg, ist abhängig von ihrer Interpretation. Die zeitgenössisch hegemoniale Interpretation, diejenige von Komsomol-Führung und Parteileitung, führte in die Falle des stalinistischen Terrrors. Was aber, wenn 33das Begehren nach Revolution nicht ausschließlich die Revolution selbst meinte, wenn die Revolution hierin auch Trägerin eines anderen, noch versteckten Begehrens wäre? Was, wenn die Revolutionärinnen an der Revolution nicht hauptsächlich den Kampf begehrten, sondern etwas, das sich lediglich mit dem Kampf verband und sich aus noch zu ergründenden Gründen nur in dieser Verbindung ersehnen ließ? Wenn also die von der Partei verschriebene Verherrlichung des revolutionären Helden und die Wiederaufführung des Bürgerkriegs nicht die einzige Kur gegen die PRD gewesen wäre?

Um diese Fragen zu vertiefen, lohnt ein Blick auf jene Regionen der sowjetischen Realität, in denen das Begehren der PRD am deutlichsten konserviert und kultiviert wurde: Subkulturen trauriger Kommunistinnen, deren – vor allem satirische – Beschreibung in der Literatur der NEP-Zeit ein wiederkehrendes Thema bildet (Borenstein 2000, 32f. sowie Maguire 1968, 330f.). Vladimir Slepkov nannte sie »kleine Brüder« (»Bratuschki«) und beschrieb sie als junge und dogmatische Kommunistinnen, die gegen die »friedlichen Bedingungen des kleinkarierten Pragmatismus« protestierten und nicht einmal »elementare Gesetze« und Beschränkungen akzeptierten. Die Kriegsversehrten unter ihnen etwa hätten es verweigert, sich an die Krankenhausroutine zu halten, da ihnen jedes »Regime« als despotisch erschien und sie »in jeder Ecke die Konterrevolution« erblickten (zitiert nach Gorsuch 1997, 565). Die vermutlich bekannteste Darstellung dieser Subkultur des »Baracken-Kommunismus« (Borenstein 2000, 30) findet sich bei dem Schriftsteller Boris Pilnjak, der ihr einen zentralen Platz in seiner Novelle »Mahagoni« einräumte. Der Platz befindet sich in der Ziegelfabrik einer russischen Kleinstadt, wo sich eine Gruppe »zerlumpte[r] Vagabunden, bewachsen mit verfilzten Haaren« in einem Erdloch neben dem Ziegelofen eingerichtet hat. Hier »lümmelten« »Wahnsinnige und Säufer« 34herum, Kommunisten, »für die die Uhr in der Epoche des Militärkommunismus stehen geblieben war«. Sie waren »von der Revolution hinausgeworfen […], aber durch die Revolution erschaffen« worden und hausten in unterirdischen Gewölben, als wollten sie sich mit dem Wechsel von Tag und Nacht auch von der unnachgiebig fortschreitenden Zeit zurückziehen, die für sie 1921 geendet war (Pilnjak 1961 [1929], 29ff.). Ein Mitglied der Gruppe, ihr »Vorsitzender«, fand neben dem Ausladen von Schleppkähnen Zeit für eine bemerkenswerte politische Tätigkeit. Iwan Oshogonow

»ging durch die Stadt, suchte seine Bekannten auf und auch Fremde, er bat sie, zu weinen – er hielt feurige und irrsinnige Reden über den Kommunismus, und auf den Basarplätzen weinten viele bei seinen Reden. Er klapperte die Behörden ab, und in der Stadt gingen die Gerüchte, dass einige von der Obrigkeit ihre Augen mit Zwiebeln einrieben, um sich durch die abtrünnigen Glaubensnarren die notwendige Popularität in der Stadt zu erwerben.« (Ebd., 50)

Es ist eine ungewöhnliche Form der Politik, von der diese Geschichte erzählt. Politische Reden, zumal die revolutionären dieser Zeit, zielen für gewöhnlich auf andere Affekte als jenen der Trauer. In ihrer illokutionären Dimension, seltener als unmittelbar perlokutionäre Sprechakte, als direkte Aufforderungen also, wollen sie aufklären, aufrütteln, aktivieren – Wut mobilisieren: Empört Euch! Trauer hingegen gilt im Allgemeinen als deaktivierender Affekt, der sich mit Regression, Resignation, Rückzug ins Private verknüpft. Eine Tendenz, die noch verstärkt wird, wenn die Trauer in depressive Entleerung, in Antriebslosigkeit übergeht. Die Aufforderung, die Bitte, zu weinen, die explizite Politik der Trauer, durchbricht diese Tradition.9 Sie verlangt das Eingedenken, sie ruft den 35Schmerz über einen Verlust hervor – oder in Erinnerung, denn eine Vielzahl der Zuhörerinnen wird nicht nur die verlorene Zeit, sondern auch die sich mit ihr verbindende Hoffnung geteilt haben. Anders wäre die immense Ansteckungskraft des Affekts schwer zu erklären, mit dessen Hilfe sich die »Obrigkeit« Legitimität zu erschleichen versucht. Worum genau aber bittet Iwan Oshgonow die Genossinnen zu trauern, wem oder was gilt dieses Trauerperfomativ? Der traurige Kommunist könnte nicht deutlicher sein: »Weine, Akim!«, fordert er seinen trotzkistischen Neffen auf: »Weine auf der Stelle um den verlorenen Kommunismus!«

Dieser betrauerbare, weil verlorene Kommunismus ist nicht ein unbekannt zukünftiger, sondern ein bereits annähernd erfahrener, vergangener Kommunismus, der Kriegskommunismus. Die entscheidende Frage lautet, welchen Momenten dieses paradoxalen Begriffsungetüms die Zentralität des Begehrens gilt, den kriegerischen oder den kommunistischen? Eine genauere Lektüre muss das ans Licht bringen.

Abends, wenn genug Wodka organisiert worden ist, rücken »die Abtrünnigen« näher zusammen, kramen ihre Becher hervor und setzen sich in einen Kreis. Dann erzählen sie sich, von immer neuen Wodkarunden gewärmt, Geschichten. Geschichten von den Brüdern Wright beispielsweise, die den Menschen das Fliegen beibrachten, dabei aber selbst umkamen, ebenso vergessen wie jetzt die »wirklichen Kommunisten in der Stadt«. Geschichten vor allem aber von Kämpfen, von Partisanengruppen, von durchmarschierten Nächten, Maschinengewehrsal36ven im Morgengrauen. Es wird geprahlt mit den vollbrachten Taten und gestritten darüber, wie der Säbel richtig zu halten ist. Dann aber unterbricht der Vorsitzende seine Genossen, als wollte er darauf hinweisen, dass die Anekdoten von Kämpfen, die Prahlerei mit Waffen, nur ein kontingentes Vehikel seien, das die wesentliche Geschichte in den diskursiven Raum trage: »›Genossen‹, sagte Oshogonow leise, und sein Gesicht verzog sich durch eine Zuckung wie bei einem Irren, ›wir müssen heute von Ideen reden, von großen Ideen, und nicht davon, wie man mit einem Säbel haut!‹« (Pilnjak 1961 [1929], 31)

Vor dem Hintergrund gewesener Gemetzel erhebt sich eine Erfahrung, die gerettet werden will und die ganz anders wärmt als die Kriegsgeschichten kriegsgestählter Großväter. Während draußen die NEP-Leute im Bündnis mit den alten Adligen Geschäfte machen, alte Kacheln oder auch Sex kaufen,

»bejahten [die Abtrünnigen in dem unterirdischen Gewölbe] zu dieser Stunde, am Ofen sitzend, mit Augen und Stimmen von Wahnsinnigen, das Jahr 1919, in dem alles gemeinsam war, das Brot und die Arbeit, in dem es keine Vergangenheit und keine Zukunft gab, die Ideen genügten, und es kein Geld gab, weil dieses nicht notwendig war.« (Ebd., 43)

Eine ideelle, der Zeit entrückte, eine geldlose Gemeinschaft. Boris Pilnjak, Autor dieser Beschreibungen, war kein Kommunist, er verweigerte es, sich so zu bezeichnen, geschweige denn der Partei beizutreten, obwohl ihm dies deutliche Nachteile brachte – auch der Abdruck dieser Erzählung, Mahagoni, wurde 1929 abgelehnt. Er blieb gegenüber den Anfeindungen der parteilichen Kritik nur so lange geschützt, wie Gorki seine schützende Hand über ihn hielt, und wurde kurz nach dessen Tod umgebracht (Lebedew 1961, 6f.). Pilnjak hatte keinerlei Grund, die traurigen Kommunisten in beschönigendem Licht darzustellen. Im Gegenteil: Mahagoni gilt im Allgemeinen als Satire, die die Nostalgikerinnen, die Alkoholiker, die depressiven Revolutionärinnen der Lächerlichkeit preisgibt, indem 37sie ihre hilflosen Träume mit dem Erfolg jener konfrontiert, die sich der Zeit hatten anpassen können. Zugleich und gerade weil diese Geschichte nicht in beschönernder Absicht geschrieben ist, steigt eine eigene, traurige Schönheit aus ihr auf.

»Iwan Karpowitsch [Oshogonow] sprach im Delirium weiter. Er erzählte von seiner Kommune und davon, wie er seinerzeit der Erste Vorsitzende des Komitees war, von den damaligen Zeiten und wie diese untergegangen seien, von den ereignisreichen Jahren und wie er jetzt unter den Menschen herumgehe, um sie an die damaligen Zeiten zu erinnern, um sie zum Weinen zu bringen und sie zu lieben. Wieder erzählte er von seiner Kommune, von der Gleichheit und Brüderlichkeit – er behauptete, dass der Kommunismus sich auf Nächstenliebe gründe, auf ein lebendiges, gegenseitiges Interesse, auf Freundschaft, Zusammenwirken, Zusammenarbeit. Kommunismus bedeute den Verzicht auf Dinge, und bei einer echten kommunistischen Liebe stehe die Achtung vor dem Menschen und der Mensch selbst über allen anderen Dingen. Der pedantische Greis zitterte im Wind, während er mit seinen abgemagerten, knöchernen Händen den Kragen seines Rockes abtastete.« (Pilnjak 1961 [1929], 49)

Zumindest diese Kommunistinnen sehnen nicht zuallererst den Kampf zurück, sondern die Gemeinschaft der Gleichen. Allerdings verfügt ihr kommunistisches Begehren in dem historischen Raum, in dem es seine Klagelieder anstimmt, über keinerlei kulturelle Intelligibilität. Die drastischen Begriffe, mit denen Pilnjak seine Figuren überzieht, lassen daran keinen Zweifel. Es sind Wahnsinnige, Alkoholiker, Trottel, arme Gestalten, die im günstigsten Fall einen »Vogel« haben, aber eher schon eine Psychose (ebd. 50). Ihr kommunistisches Begehren wird von den Realpolitikerinnen der Revolution als rein affektiv, irrational, sentimental denunziert.10 Es kann 38sich artikulieren nur mit einem starken Drall ins Religiöse, in die christliche Metaphorik alter russischer Traditionen und – als nostalgische Sehnsucht nach einer vergangenen Epoche von Revolution und Bürgerkrieg. Das ist der gesellschaftliche Grund der postrevolutionären Depression.

Diese abtrünnigen Kommunistinnen sind somit keine oppositionellen Kommunistinnen, sie organisieren sich nicht, stellen keine Programme auf, fordern keine Aktionen. Stattdessen trauern sie und träumen. Dennoch liest sich der »wahre Kommunismus« (ebd., 50), den sie in diesen Träumen entwerfen, zunächst wie eine Verkehrung des bolschewistischen Kommunismus. In diesem ist die Solidarität als notwendige Voraussetzung und automatischer Effekt des Kampfes konzipiert. Sie wird benötigt, um eine starke Bewegung zu bilden, die die Massen mobilisiert, und soll sich zugleich im Fortgang des Kampfes von selbst einstellen. In der dissidenten Formulierung der postrevolutionären Depression jedoch ist es genau die Solidarität, die begehrt wird. Der vortheoretische Traum der wahnsinnigen Kommunistinnen kreist immer wieder darum: »Gleichheit und Brüderlichkeit«, »Gemeinschaft«, »Kameradschaft«, »Nächstenliebe«. Die Vielzahl der Begriffe verweist auf die Schwierigkeit, etwas zu fassen, das der politischen – und womöglich sogar rationalen – Ordnung der Sprache mindestens im bolschewistischen Diskurs nur begrenzt angehört. Umso verdienstvoller sind die vielzähligen Formulierungen, die Pilnjak anbietet: »lebendiges, gegenseitiges Interesse«, »Freundschaft, Zusammenwirken, Zusammenarbeit« (Pilnjak, 50 und 49). Die Begriffe führen zum Titelthema dieses Buches. Was hier unübersehbar begehrt wird, ist eine bestimmte, nämlich solidarisch-kooperative Beziehungsweise.

39Das Begehren nach einer befriedigenden Beziehungsweise verknüpft sich mit dem Begehren nach einer kämpferischen Revolution, dessen heimliche Unterströmung es bildet. Es ist ein Begehren, das sich nicht auf die Beziehung zu den Feinden richtet, sondern auf die Beziehung zu den Genossinnen. Nicht um eine Beziehung der Spaltung, der Trennung, des Kampfes und des Sieges also geht es, sondern um eine Beziehung der solidarischen Gleichheit. Noch weniger allerdings als die Utopie rein ist, ist es ihre Antizipation, die gelebte Praxis, die »strenge Gemeinschaft«, in der die Erdhöhlenkommunistinnen leben, und die als eine Gemeinschaft sogenannter Männer beschrieben wird. Der Ausschluss sogenannter Frauen wird von Pilnjak zunächst in der Logik patriarchal-christlicher Askese, als Verzicht auf »Besitz« eingeführt. »Sie lebten«, schreibt er, »ohne den notdürftigsten persönlichen Besitz, ohne Geld, ohne Gegenstände, ohne Frauen.« Dann aber hängt er an: »nebenbei gesagt, die Frauen hatten sie verlassen wegen ihrer Phantastereien, ihres Irrsinns und des Alkohols« (Pilnjak 1961 [1929], 32). Da zumindest Phantastereien und Irrsinn Eigenschaften sind, die innerhalb heterosexistischer Diskurse eher mit Weiblichkeit verbunden werden, liegt der Verdacht nahe, die Anekdote verfolge vor allem den Zweck, die Gemeinschaft der verfilzten Irren weiter zu diskreditieren. Damit spricht sie diese zugleich von dem Vorwurf frei, den Ausschluss von Frauen aus ideologischen Gründen zu betreiben. Militärische Männlichkeit stellte somit kein Wesensmerkmal der in der PRD begehrten Beziehungsweise dar. Nadine Teuber hat in ihrer Untersuchung des Verhältnisses von Geschlecht und Depression (Teuber 2011) an Sidney Blatt anknüpfend (Blatt 2004) zwei Formen der Depression unterschieden, eine eher instrumentell-männliche, die auf das Scheitern an einer Leistungsnorm verweist, und eine eher expressiv-weibliche, die um soziale Beziehun40gen zentriert ist. Wenn, wie hier argumentiert, die PRD weniger dem nichtvollendeten Sieg in Revolution und Bürgerkrieg gilt, als vielmehr der in dieser Zeit etablierten Beziehungsweise, dann fördert ihre Analyse ein Begehren zu Tage, das nur sehr wenig mit maskulinen Autonomiephantasien zu tun hat. Ein Begehren, das in seiner körperlichen Zärtlichkeit zugleich auch die heteronormative Ordnung übersteigt, die für sogenannte Männerkörper nur bestimmte, distanzierte, und selbst im Falle von Berührung ausschließlich harte Verkehrsformen vorsieht. »Sie schliefen«, erzählt uns Boris Pilnjak, mit welcher Absicht auch immer, »zusammengekrochen auf einem Haufen. Der Kopf des einen lag auf den Knien des anderen, zugedeckt mit ihren Lumpen.« (Pilnjak 1961 [1929], 31)

Was für eine ungewöhnliche Zärtlichkeit. Gerade für den internationalen Rahmen männlicher Kriegskameradschaft, in dem die kriegskommunistische Sehnsucht häufig verortet wird (Borenstein 2000, 40).11 Weder das Begehren nach einer Gemeinschaft der Gleichen noch seine bevorzugte Politik der Trauer ist intrinsisch maskulinistisch. Tatsächlich überschreitet, wie im Laufe dieses Buches argumentiert werden wird, das Begehren nach einer solidarischen Beziehungsweise not41wendig die Aufteilung der Welt in ausschließende Männlichkeit und Weiblichkeit. Der maskulinistische Rahmen der Russischen Revolution ist jedoch andersherum ein Grund dafür, dass sich das subkutane Begehren nicht in die rationale Sprache politischer Proklamationen übersetzen ließ. Auf die Forderung, zu weinen, folgt keine Forderung zur Organisation. Nachdem 1921, wie es bei Pilnjak heißt, »alles vorbei gewesen ist«, und zwar, wie es bei Pilnjak nicht heißt, weil mit der Niederschlagung der ukrainischen Machnowschtschina sowie des Kronstädter Matrosenaufstands auch die Hoffnung niedergeschlagen wurde, die Revolution könnte noch einmal als solidarische wiederauferstehen, zog sich dieses Begehren nach befriedigenden Beziehungsweisen auf lange Zeit in den Bereich des Phantastischen zurück. Aus diesem müsste es gerettet werden.

Noch bevor alles vorbei gewesen ist, im Jahr 1920, traf Alexander Berkman auf seiner Reise durch die Sowjetunion einen Anarchisten, der sich anders als die bisher zu Wort gekommenen Kommunistinnen in offener politischer Opposition zu den Bolschewiki befand, aus dem aber die gleiche traurige Sehnsucht nach einer lebendigen Revolution sprach. In den Oktobertagen, teilte er seinem Interviewer mit, sei eine »Welle der Begeisterung« durchs Land gegangen:

»Damals gab es Freiheit, jawohl, und Brüderlichkeit. Die Freude der Leute war so groß, dass sich Wildfremde auf der Straße küssten.« Noch während des Bürgerkriegs habe sich jeder »als freier Mensch [gefühlt], der seine Revolution verteidigte. Aber als wir von der Front zurückkamen, hatten sich die Bolschewiki zu Diktatoren über uns aufgeworfen – im Namen ihrer Partei. Unsere Revolution ist tot« (Berkman 2004 [1925], 133).

Dass sich Wildfremde auf der Straße küssen; dass diese freiheitliche Geschwisterlichkeit, die Erfahrung einer solida42rischen Beziehungsweise begehrt und vermisst wird, ist das Geheimnis der PRD. Dort, wo die lebendige Erfahrung der Solidarität versiegt, stirbt die Revolution. Doch kann die verlorene Erfahrung nicht durch Verstetigung oder Wiederaufführung der Revolution wiederbelebt werden. Insbesondere wenn die Revolution rein negativ, als Zerstörung der alten Welt verstanden wird. Die maskulinistische Fetischisierung des Kampfes verhindert dessen Erfolg.12 So verweist die nachrevolutionäre Traurigkeit auf die Notwendigkeit, das Verhältnis von Revolution und Postrevolution, von Übergang und Utopie zu rekonzeptualisieren. In ein Verhältnis wechselseitiger Kritik gebracht, geben beide Pole – jener der Einheit (der Zwangsharmonie) und jener der Zweiheit (des revolutionären Krieges) – zu erkennen, dass in ihnen etwas fehlt. Will eine emanzipatorische Revolution jenes Scheitern vermeiden, das sich in der PRD symptomatisch artikuliert, muss sie den Widerspruch zwischen diesen beiden Konzeptionen auflösen – in beide Richtungen.

In die eine Richtung ist das von der anarchistischen Kritik am marxistischen Revolutionsmodell geleistet worden, die verlangt, dass Momente der Utopie bereits in der Revolution aufgehoben werden, dass die Bewegung zu einer besseren Gesellschaft bereits Werbung für diese ist (vgl. Landauer 1924, 4392). Die Erfahrung des Stalinismus hat diese Kritik unabweisbar gemacht: Der gute Zweck legitimiert nicht die schlechten Mittel, die schlechten Mittel delegitimieren den guten Zweck.