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Dieses Buch plädiert dafür, Solidarität nicht nur als bloße Parteinahme für die Gleichen und Ähnlichen zu fassen. Entscheidend ist vielmehr die Frage, wie Solidarität auch mit denjenigen möglich ist, mit denen wir nicht gemeinsame Erfahrungen, das Geschlecht und die Herkunft teilen. Unbedingt ist diese Solidarität, weil sie weder die geteilte Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu ihrer Bedingung macht, noch ein bloßes Tauschgeschäft mit Kosten-Nutzen-Abwägung ist. Darüber hinaus ist Solidarität auch im Sinne einer Dringlichkeit unbedingt: Wir brauchen mehr solidarische Beziehungen im Kampf für eine gerechte Gesellschaft! Der Sammelband bietet vielfältige Einblicke in die theoretischen Debatten, diskutiert Beispiele praktizierter Solidarität und ist darüber hinaus ein eindringliches Plädoyer für eine solidarische Gesellschaft, für eine radikale Solidarität unter Ungleichen, für eine unbedingte Solidarität.
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Seitenzahl: 454
Veröffentlichungsjahr: 2022
Lea Susemichel und Jens Kastner (Hg.)
Unbedingte Solidarität
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Lea Susemichel und Jens Kastner (Hg.):
Unbedingte Solidarität
1. Auflage, August 2021
eBook UNRAST Verlag, Dezember 2021
ISBN 978-3-95405-100-7
© UNRAST-Verlag, Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
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Umschlag: cuore, Berlin
Satz: Andreas Hollender, Köln
Lea Susemichel & Jens KastnerEinleitung
Lea Susemichel & Jens KastnerUnbedingte Solidarität
Rahel Jaeggi Solidarität und Gleichgültigkeit
Sabine HarkSchwierige Solidarität
Bini AdamczakVielsamkeit eines ausschweifenden Zusammenhangs
Serhat KarakayaliInstitution und Affekt Dimensionen von Solidarität
Silke van DykSolidarität revisitedDie soziale Frage, die Wiederentdeckung der Gemeinschaft und der Rechtspopulismus
Brigitte Bargetz, Alexandra Scheele, Silke SchneiderSolidarität in Differenz oder: Mit Feminismen lernen
Jana GüntherFragile Solidaritäten und kollektive Identität in der frühen Frauenbewegung
Stefanie Kron & Stefania MaffeisDie Stadt als sicherer Hafen: Kosmopolitismus und gelebte Solidarität
Alexander BehrRevolutionäre Dringlichkeit Thesen zu den Voraussetzungen und Umsetzungsstrategien für globale Solidarität in Zeiten der Klimakrise
Monika MokreSolidarität als Übersetzung
Friederike HabermannÖkonomische Solidarität? Unbedingt!
Torsten BewernitzSolidarität und GewerkschaftlichkeitErfahrungen und Schlussfolgerungen aus der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung
Cara RöhnerJenseits des Marktindividualismus Soziale Demokratie und Vergesellschaftung als solidarische Perspektiven im Recht
Paul BuckermannDie Zärtlichkeit der Felder? Kunst, Solidarität und symbolische Differenz
»Vielleicht war es früher einfacher, bedingungslos solidarisch zu sein.«Schreiben über Solidarität: Jens Kastner und Lea Susemichel im Austausch mit den Zeitschriften Frauen*solidarität, Informationsstelle Lateinamerika (ila), Informationszentrum Dritte Welt (iz3W) und Lateinamerika Nachrichten über die Geschichte der Solidaritätsbewegungen
Defend SolidaritySolidarische Praxis: Jens Kastner und Lea Susemichel im Austausch mit Jelka Kretzschmar von Sea-Watch und Ramona Lenz von medico international über kritische Solidarität und ihre Kriminalisierung
Die Autor*innen
Anmerkungen
Lea Susemichel & Jens Kastner
Radikale Solidarität basiert auf Differenzen. Sie setzt voraus, dass es gerade nicht geteilte – ökonomische, kulturelle, politische – Grundlagen gibt und dass dieses Trennende überwunden werden kann. Sie besteht nicht in erster Linie in der Parteinahme für die Gleichen und Ähnlichen, sondern darin, sich mit Menschen zu solidarisieren, mit denen man eben nicht die Fabrik und das Milieu, das Geschlecht oder die ethnische Zuschreibung teilt.
Dieses Plädoyer für eine Politik der radikalen Solidarität findet sich im letzten Kapitel unseres Buchs über Identitätspolitiken[1]. Gemeint ist eine Solidarität, die nicht aus gemeinsamen Erfahrungen von Ausbeutung und Unterdrückung entsteht, sondern stattdessen Differenzen zum Ausgangspunkt nimmt. An diesen Gedanken möchten wir mit diesem Band anknüpfen und ihn weiterführen. Radikale Solidarität definieren wir im Anschluss an die feministische Theoretikerin Diane Elam als »groundless solidarity«, als »unbedingte Solidarität«. Unbedingt ist diese Solidarität gleich in dreifacher Hinsicht: Bedingung für eine solidarische Praxis ist erstens nicht die gemeinsame Zugehörigkeit zu einer Gruppe – zur Arbeiter*innenklasse, zu den Frauen, zu einer ethnischen Identifizierung … Zweitens ist Solidarität unbedingt im Sinne von bedingungslos, insofern sie nicht als Tauschgeschäft gedacht werden sollte, sie also nicht in einer Kosten-Nutzen-Abwägung an Bedingungen geknüpft sein darf. Drittens plädieren wir für unbedingte Solidarität im emphatischen Sinne einer Dringlichkeit: Wir brauchen unbedingt mehr solidarische Beziehungen im Kampf für eine gerechte Gesellschaft.
Im Zuge der Corona-Pandemie erleben wir eine wahre Diskurswucherung in Sachen Solidarität. Und wie bei jedem inflationären Gebrauch verliert dabei der Gegenstand rapide an Wert. Die beklatschten Care-Arbeiter*innen haben bislang ebenso wenig konkrete Solidarität in Form besserer Arbeitsbedingungen und Löhne erfahren wie Länder des globalen Südens bei der Impfstoffverteilung. Solidarität droht, wie Stephan Lessenich schon vor der Corona-Krise schrieb, wegen der zu nichts verpflichtenden Harmlosigkeit ihrer Ausrufung eine folgenlose »soziale Wohlfühlkategorie«[2] zu werden.
Nicht zuletzt dieser Entwicklung wollen wir entgegentreten und den Begriff der Solidarität als politisches Konzept stärken, das eine gerechte Gesellschaft und globale Solidarität zum Ziel haben muss. Wir haben Autor*innen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und aktivistischen Kontexten eingeladen, die in ihren Beiträgen aus verschiedenen Perspektiven allesamt die Frage umkreisen, wie ein Konzept von Solidarität zu denken ist, das auf den Differenzen zwischen Menschen basiert.
Rahel Jaeggi sucht nach Möglichkeiten für ein »nicht-essenzialistisches Solidaritätskonzept«, das sie von Hilfsbereitschaft, Mitgefühl und Loyalität, aber auch von Gemeinschaftlichkeit abgrenzt. Solidarität entsteht weder von selbst, noch ist sie als einseitige Unterstützungsleistung zu denken. Jaeggi plädiert für ein Verständnis von Solidarität als »gegenseitige und wechselseitige Beziehung«. Dass Solidarität sich nicht von selbst versteht und auch nicht von selbst ergibt, wird nicht als Mangel verstanden, sondern als Möglichkeit: Es »eröffnet ein Potenzial der Erweiterung, der Ausdehnung solidarischer Beziehungen«.
Auch Sabine Hark stellt ausgehend von der AIDS-Krise der 1980er-Jahre dar, warum und inwiefern Solidarität sich nicht automatisch herstellt, sondern »politisch erarbeitet und artikuliert werden« muss. Dies erscheint heute umso dringlicher, da Solidarität nach Jahrzehnten neoliberaler Politik »aus der Demokratie vertrieben wurde«. Dafür ist es notwendig, Differenzen und Pluralität nicht nur hinzunehmen, sondern als »glücklichen Umstand« zu verstehen, »der die Lebenschancen aller vermehrt statt beschränkt«.
Bini Adamczak versteht Solidarität als Beziehung zwischen Menschen. Nicht als Zweierbeziehung, sondern als kollektive Verflechtung, die »Vielsamkeit eines ausschweifenderen Zusammenhangs«. Als solche bricht Solidarität auch kollektive Identitäten auf und hilft, »sie zu überwinden«. Auch wenn sie immer wieder von partikularen Anliegen ausgeht, zielt sie doch auf alle: »Sie ist zugleich ein Verlangen danach, alle Verhältnisse umzustürzen, die ein solidarisches Leben für alle verunmöglichen.«
Serhat Karakayali setzt die Widersprüche, die ein moderner Begriff der Solidarität impliziert, mit einem politischen Antirassismus in Beziehung. Während in den Konzepten von Sozialstaat und Sozialversicherung davon ausgegangen wird, dass Solidarität auf Reziprozität beruht, die Differenzen kompensieren kann, wird dabei eine »Überwindung oder Aufhebung der Differenzen bzw. Asymmetrien« nicht angestrebt. Demgegenüber betont Karakayali unter Bezugnahme auf die Affekttheorie, »dass eine ›Solidarität mit den Anderen‹ nur erfolgreich sein kann, wenn sie sich zu einer ›Solidarität, um etwas anderes zu werden‹ entwickelt«.
Silke van Dyk zeigt auf, wie und inwiefern im Neoliberalismus die »Fragen der Solidarität neu akzentuiert« wurden. Es sei ein »Community-Kapitalismus« entstanden, der die soziale Frage von wohlfahrtstaatlicher auf zivilgesellschaftliche Ebenen verlagert hat. Die positiven, durchaus emanzipatorischen Mobilisierungen von gemeinschaftlichen Praktiken sind stets mit den »Kehrseiten der persönlichen Abhängigkeit, die sich zu einer moralischen Affizierung sozialer Sicherheiten zusammenfügen« verknüpft. Das Erstarken der Ultrarechten ist vor dem Hintergrund dieser Konstellation zu analysieren. Nicht zuletzt deshalb plädiert van Dyk für »Perspektiven nicht-gemeinschaftsförmiger Solidarität«.
Brigitte Bargetz, Alexandra Scheele und Silke Schneider rekapitulieren die Geschichte von Feminismus und Frauenbewegungen im Hinblick auf das Entstehen von Solidarität trotz Differenzen. Sie vertreten dabei die These, »dass es gerade die Auseinandersetzungen um Solidaritäten bei gleichzeitig geteiltem Commitment zu gemeinsam erkämpften politischen Zielen sind, […] die politische Solidarität in Differenz auch […] ermöglichen.« Solidarität bedeute aus feministischer Perspektive, zugleich »machtvolle Differenzen anzuerkennen und die eigenen Privilegien zu verlernen«.
Jana Günther untersucht die keineswegs selbstverständlichen, »fragilen Solidaritäten« in den frühen Frauenbewegungen in England und Deutschland. Diese Bewegungen zur »Bekämpfung von Ausbeutung und die Anerkennung politischer Rechte« für alle hatten durchaus unterschiedliche Grundlagen und Ansatzpunkte: proletarisch-sozialistische und bürgerliche Strömungen standen sich ebenso gegenüber wie militante und gemäßigt-konstitutionalistische Herangehensweisen. Die Widersprüche lähmten allerdings die Bewegungen nicht nur, sondern die Konflikte eröffneten auch »Handlungsspielräume für Protest«.
Stefanie Kron und Stefania Maffeis untersuchen die »Bewegungen, Netzwerke und Politiken solidarischer Städte« am Beispiel der Initiativen für »sichere Häfen« im Kontext der Flucht- und Migrationsbewegungen. In den solidarischen Städten und sicheren Häfen sehen sie einen »modernen Kosmopolitismus«, der sich nicht auf intellektuelle Eliten beschränkt. Die solidarische Haltung gegenüber Geflüchteten kommt letztlich nicht nur diesen zugute, sondern »Solidarität und Inklusion in der Stadt und Kommune bedeuten auch einen Wandel des Zusammenlebens auf der Mikroebene, die alle Bewohner*innen der Stadt betrifft«.
Alexander Behr plädiert angesichts der globalen »Vielfachkrise« für eine solidarische »linke Arbeitsteilung«. Er entwickelt mit Blick auf Migrationsbewegungen und den Kampf für Klimagerechtigkeit Ideen, wie eine solche Arbeitsteilung auch »transnational wirksam« sein könnte. Er mahnt dabei eine »revolutionäre Dringlichkeit« an, denn es bestehe akuter Handlungsbedarf.
Monika Mokre begreift Solidarität als Praxis der Übersetzung von politischen Forderungen und Strukturen »in individuelles und kollektives Denken, Fühlen und Handeln«. Das bedeutet, dass sie nicht vorauszusetzen ist, dass aber stets »neue Formen der Solidarität entwickelt werden können«. Mokre entwickelt das Konzept entlang verschiedener theoretischer Ansätze, macht aber auch am Beispiel des City Plaza Hotels in Athen, einem Solidaritätsprojekt für Geflüchtete (2016-2019), deutlich, wie die praktische Umsetzung von Solidarität »in Verbindung mit theoretischer Verankerung und Analyse gelingen kann«.
Friederike Habermann geht vor dem Hintergrund der Feststellung, dass die Frage nach einer ökonomischen Solidarität »zentral für jedes Herrschaftsverhältnis« ist, einerseits der »strukturellen Anti-Solidarität« der Markwirtschaft und andererseits den Bedingungen und Möglichkeiten ökonomischer Solidarität nach. Diese ökonomische Solidarität »schließt das Abschöpfen von Mehrwertproduktion aus« und sie muss sich, um Gerechtigkeit herzustellen, stets aktiv um die Aufnahme des Ausgeschlossenen bemühen.
Torsten Bewernitz setzt für die Wirksamkeit »interessegeleiteter Solidarität« auf die Ausweitung gewerkschaftlicher Organisationsmodelle. Eine so verstandene »Gewerkschaftlichkeit« wird als Weg begriffen, um verschiedenste Ausbeutungs- und Unterdrückungsformen gleichzeitig anzugehen und zu bekämpfen. Gegenseitige Abhängigkeiten und globale Zusammenhänge müssten dafür erkannt und in den Kämpfen berücksichtigt werden.
Cara Röhner widmet sich der Bedeutung von Solidarität im Rechtsdiskurs. Solidarität und Privateigentum erscheinen dabei als widerstreitende Zwecksetzungen des Rechts. Am Beispiel des Wohneigentums zeigt Röhner auf, dass und inwiefern Enteignung bzw. Vergesellschaftung als Mittel einer demokratischen, solidarischen Politik begriffen werden kann. Grundsätzlich stellt sie fest, dass sich Solidarität nicht »nur als ›von oben‹ durch den Sozialstaat organisiert, sondern auch als ›von unten‹ geführter kollektiver Kampf um ein anderes, nicht auf die Marktlogik bezogenes Recht verstehen« lässt.
Paul Buckermann nimmt Debatten im künstlerischen Feld über die »Verbindungen zwischen Kunstinstitutionen und der Waffen-, Pharma- und Ölindustrie« zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zu einer Solidarität zwischen Ungleichen. Er zeigt dabei auf, dass die Feldgrenzen gar nicht als Hindernisse gesehen werden müssen, sondern sogar »Bedingung für Solidarität« sein können und dass die »strategische Ausnutzung symbolischer Differenzen« durchaus zu politischen Erfolgen führen kann.
Wie Kämpfe für Solidarität konkret aussehen und zur praktischen solidarischen Aktion werden, dieser Frage gehen wir in zwei Interviews nach. Einmal im Austausch mit Zeitschriften-Redaktionen, die sich seit Jahrzehnten der (inter- und transnationalen) Solidarität widmen. Außerdem sprechen wir mit den beiden NGOs medico international und Sea-Watch über kritische Solidarität und ihre Kriminalisierung.
Lea Susemichel & Jens Kastner
»Yes, it is bread we fight for, but we fight for roses, too«. So klingt Solidarität: Lesben, Schwule und streikende Bergarbeiter*innen singen mit Inbrunst gemeinsam den Protestsong »Bread and Roses«. Die bewegende Szene ist aus dem Film Pride, der einem sehr schönen Beispiel ›unbedingter Solidarität‹ gewidmet ist. Er erzählt die Geschichte der Lesbians and Gays Support the Miners (LGSM), die den britischen Bergarbeiterstreik 1984/85 unterstützt haben. LGSM mobilisierte während des einjährigen Arbeitskampfes gegen die Politik Margaret Thatchers, sammelte Geldspenden für die Familien der Streikenden und organisierte das Benefizkonzert »Pits and Perverts«. Später zeigten sich im Gegenzug die Bergleute solidarisch und marschierten 1985 ganz vorne bei der Lesbian and Gay Pride Parade in London mit. Auch ihre einflussreiche Gewerkschaft setze sich in der Folge in der Labour Partei für Gay Rights ein.
Die filmreife Geschichte ist so rührend, dass man am liebsten aussparen möchte, was auch Pride weitgehend auslässt: Schon vor der gemeinsamen Demonstration mit den Streikenden in London ereilt LGSM das Schicksal vieler linker politischer Organisationen – sie spaltet sich. Ein Großteil der lesbischen Mitglieder kehrte LGSM den Rücken, um die Lesbians Against Pit Closures zu gründen, sie waren den Sexismus und die Dominanz der Schwulen leid und wollten ihre Solidaritätsarbeit auch dazu nutzen, um »feminist ideas into a working men’s sphere« zu bringen.
Trübt dieser Verlauf die Freude über die ungewöhnliche Allianz? Zugegeben: ein wenig. Aber er schmälert nicht das historische Ereignis dieser unwahrscheinlichen Solidarisierung zwischen so ungleichen Akteur*innen. Und er ändert auch nichts daran, dass Lesbians and Gays Support the Miners Vorbild wurde für die Lesbians and Gays Support the Migrants, die heute mit spektakulären Aktionen ihre Solidarität mit Geflüchteten bekunden und deren Selbstverständnis aufbaut auf einer »proud history of queer solidarity to say: no one is illegal«[3]. Auch wenn die LGSMigrants, wie jedes identitätspolitische Bündnis, das emanzipatorische Politik macht, vor intersektionalen Konflikten nicht gefeit ist: Wahrscheinlich hat es aus der Geschichte seines Vorbilds zumindest ein wenig gelernt und macht es hoffentlich besser.
Die Geschichte der LGSM macht deutlich, was wir mit diesem Buch zeigen wollen: Dass Kämpfe und Konflikte innerhalb solidarischer Allianzen nicht das Scheitern von Solidarität bedeuten. Ganz im Gegenteil: Nicht selten sind diese Kämpfe erst die Bedingung der Möglichkeit von Solidarität. Denn um Solidarität muss gerungen werden, sie konstituiert sich zumeist konfliktiv. Erst in diesem Prozess formiert sich auch das solidarische Kollektiv, das sich nicht zwangsläufig aufgrund geteilter Erfahrung (oder gar einer wie auch immer gearteten ›Wesensverbindung‹) herausbildet. Unbedingte Solidarität beruht also auf Differenzen (und nicht auf Gleichheit), sie bedarf der Konflikte (und nicht der Konformität), sie hat mit Gefühlen zu tun (und nicht nur mit rationalen Entscheidungen). Unbedingte Solidarität ist eine ›Kampfsolidarität‹, nicht nur im Sinne einer ›solidarity against‹, die sich nach außen geschlossen gegen Unmenschlichkeit und Ungleichheit richtet, sondern die auch innerhalb der eigenen Reihen für mehr Gerechtigkeit kämpft, wo nötig. Unbedingte Solidarität ist ein reziproker Prozess des Aufbaus neuer Beziehungen, eine solidarische Praxis, die zugleich institutionalisierte Formen annehmen kann (und sollte), um gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, die Solidarität verstetigen.
Den Begriff der unbedingten Solidarität verwenden wir in Anlehnung an die feministische Theoretikerin Diane Elam. In kritischer Abgrenzung zu Richard Rorty hatte Elam in den 1990er-Jahren für eine ›groundless solidarity‹ plädiert: »my hope is that political solidarity can be affirmed without losing sight of the difference within it.«[4]
Sie zielte damit darauf ab, kein vorgegebenes Wir, keine Gemeinschaft zur Voraussetzung von Solidarität zu machen. Auch der Versuch Rortys, so Elam, das Gemeinschafts- oder Identitätsverständnis als Grundlage von Solidarität zu erweitern und auszubauen, entkomme den identitären Schließungen nicht. Zudem sei verstörend an Rortys Konzept von Solidarität, dass »there is no space left for the possibility of an obligation to the unrepresentable, the incommensurable, the radically Other«[5]. Elam richtet sich auch gegen die Fallstricke feministischer Identitätspolitik und plädiert für ein offenes Konzept, das eben nicht auf (essenzialistisch verstandenen) kollektiven Identitäten beruht. Solidarität ist ›groundless‹, was erstens aber nicht unbegründet, also nicht ohne argumentative Gründe meint, sondern bedingungslos in dem Sinne, dass gemeinsame Erfahrungen und lebensweltliche Grundlagen nicht vorausgesetzt werden müssen bzw. sollten. Und sie setzt auch nicht notwendigerweise geteilte politische Haltungen voraus. Ich kann mit jeder Frau solidarisch gegen ihren sexistischen Chef sein oder gemeinsam mit irgendeinem Arbeiter für gerechtere Löhne kämpfen, auch wenn wir nicht dieselbe Partei wählen. Unbedingte Solidarität beruht also auf Differenzen. Das bedeutet, dass es gerade keinen gemeinsamen Erfahrungshorizont gibt und dass Trennendes überwunden werden kann. Unbedingte Solidarität besteht nicht in der Parteinahme für meinesgleichen, sondern darin, mit Menschen in solidarische Beziehung zu treten, mit denen man gerade nicht die Fabrik und das Milieu, die sexuelle Orientierung, das Geschlecht oder die ethnische Zuschreibung teilt. Die solidarische politische Aktion muss stattdessen als »both endless and contingent«[6] aufgefasst werden. Endlos und kontingent – das macht Solidarität zu einer ständig aufs Neue zu erkämpfenden Beziehung zwischen Menschen, die vor allem praktisch zu verwirklichen ist und deren Institutionalisierungen immer neu zu verhandeln sind. Solidarität ist zweitens unbedingt, insofern sie kein Tauschgeschäft von Rechten und Pflichten oder Kosten und Nutzen ist. Solidarität sollte nicht auf der Bedingung einer zu erwartenden Gegenleistung beruhen, wenngleich sie reziprok zu denken und zu praktizieren ist. Und schließlich sprechen wir in einem dritten, emphatischen Sinne von unbedingter Solidarität: Sie ist unbedingt notwendig, und dieser Dringlichkeit wollen wir mit diesem Buch Ausdruck verleihen.
Solidarität gehörte seit der Französischen Revolution neben Freiheit und Gleichheit zur Grundlage des modernen Demokratieverständnisses, der ›Brüderlichkeit‹ wurden allerdings in den letzten anderthalb Jahrhunderten wenig demokratietheoretische Überlegungen gewidmet. Als zentrale demokratische Grundwerte der revolutionären Triade »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« gelten vor allem Freiheit und Gleichheit. »Die Norm der Brüderlichkeit«, schreibt deshalb Alex Demirovic, »erscheint in der politischen und philosophischen Reflexion oft als ein Anhängsel von Freiheit und Gleichheit. Über das Verständnis dieser beiden Normen wird vielfach gestritten, während die Norm der Brüderlichkeit oder der Solidarität nur wenig Dissens hervorruft und vernachlässigt wird.«[7] Doch Brüderlichkeit bzw. Solidarität erfüllt auch gegenüber diesen beiden die Funktion eines wichtigen Korrektivs: »Die Brüderlichkeit soll diese Tendenz zur Gleichgültigkeit und Konkurrenz aller gegen alle, die den anderen Normen innewohnt, überwinden. Brüderlichkeit und Solidarität stehen für die moralische Aufforderung an die Einzelnen, bei ihrem freien und gleichen Handeln den Gesichtspunkt des Zusammenhalts nicht aus den Augen zu verlieren.«[8] Während also Solidarität im philosophischen und politikwissenschaftlichen Diskurs weitgehend vernachlässigt wurde, gibt es in der Soziologie und den Sozialwissenschaften durchaus elaboriertere Konzepte.
Zum einen hat sich im Anschluss an den Soziologen Émile Durkheim und an die Entwürfe des Sozialtheoretikers und Politikers Léon Bourgeois auf der einen Seite sowie in Auseinandersetzung mit dem Geografen und Theoretiker des kommunistischen Anarchismus Peter Kropotkin auf der anderen Seite ein sehr weites Verständnis von Solidarität herausgebildet. Solidarität wird hier universalistisch konzipiert und im Wesentlichen als allgemeiner sozialer Zusammenhalt verstanden.
Für Durkheim entsteht Solidarität grundsätzlich aus der und durch die moderne Arbeitsteilung. Menschen sind demnach, weil sie nicht alle alles produzieren können, fundamental aufeinander angewiesen. »Jede der Funktionen«, schreibt Durkheim, »die sie [die Mitglieder der Gesellschaft, J.K. / L.S.] ausüben, hängt ständig von anderen ab und bildet mit diesen ein solidarisches System«[9]. Durkheim grenzt die Solidarität in modernen Gesellschaften explizit ab von der vormodernen Solidarität in Familie, Dorf und Clan. Die vormoderne Solidarität nennt er »mechanische Solidarität«, weil sie quasi automatisch, wie selbstverständlich aus sozialer Nähe entsteht. Die moderne Solidarität ist für Durkheim eine »organische Solidarität«, weil sie aus dem Ineinandergreifen der funktional differenzierten gesellschaftlichen Praxis heraus entsteht.[10] Anders als Marx und Engels, die die Gleichheit – die Lebensweise und Ausbeutung des Proletariats – als Voraussetzung von Solidarität konzipieren, vertraut Durkheim darauf, dass »Solidarität aus Unterschieden der Funktionen, Berufe und Individuen«[11] entsteht. Solidarität basiert demnach auf Fremdheit, auf den durch die moderne Arbeit und Urbanität erzeugten Differenzen zwischen Menschen. Das war in vormodernen Sozialkonstellationen durchaus anders, in denen nach Durkheim – und das sieht auch Kropotkin so – die solidarische Praxis aus der ge- und erlebten sozialen Nähe erwuchs. Durkheim beschreibt diese verschiedenen Solidaritätsformen nicht nur, er bewertet sie auch. Er zieht die differenzbasierte »organische Solidarität« der Moderne der gleichheitsbasierten »mechanischen Solidarität« normativ deutlich vor, eben weil sie sich auch auf Menschen bezieht, mit denen man weder Ansichten noch Lebensweisen teilt.
Neben der Arbeitsteilung sieht Durkheim noch eine weitere Grundlage für das Entstehen und die Verbreitung von Solidarität am Werk. Zwar geht Durkheim davon aus, dass die Arbeitsteilung zugleich zu rechtlich verbindlichen Regeln führt, die das solidarische System absichern. Er spricht aber darüber hinaus auch von einer sich stets erweiternden, moralischen Entwicklung der Menschheit, die kaum vertragliche Regelungen braucht, sondern sich aus Mitgefühl speist. Darüber hinaus entsteht Solidarität laut Durkheim eben nicht allein als Effekt der funktionalen Arbeitsteilung, sondern ist auch Resultat der Aus- und Weiterbildung von moralischem Empfinden und Verhalten. »Jede Gesellschaft ist eine moralische Gesellschaft«[12], schreibt Durkheim.
Durkheims Konzeption von Solidarität wirft allerdings einige grundsätzliche Fragen auf. Durkheim verwendet erstens wenig bis gar keine Ausführungen darauf, seine These empirisch zu untermauern, beantwortet also die Frage nicht, wie genau eigentlich Solidarität durch Arbeitsteilung entsteht. Dass die Konsumentin Brot und die Bäckerin Mehl und die Müllerin Korn und die Bäuerin Saatgut braucht, zwingt sie alle nicht zu kooperativem Verhalten, es kann auch Konkurrenz begünstigen. Dass Kooperation neben Ausbeutung, Hilfe neben Übervorteilung usw. existieren kann, sieht Durkheim jedoch als bloße Abweichung von der behaupteten Norm. Der »normale Funktionszusammenhang«, urteilen auch die Soziologen Hans-Peter Müller und Michael Schmid, »zwischen Arbeitsteilung und organischer Solidarität [bleibt] letztlich unaufgeklärt«[13]. Laut Durkheim führt die Arbeitsteilung zugleich zu rechtlich verbindlichen Regeln, die das solidarische System absichern. Aber auch auf die Frage, wie dies geschieht, gibt er kaum Antworten. Zweitens fragt sich, wie die Verrechtlichung von Solidarbeziehungen mit der Moralentwicklung zusammenhängt. Es stellt sich die Frage, wozu es überhaupt verbindliche und staatlich verbriefte Regeln braucht, wenn Solidarität als moralische Grundhaltung ohnehin vorausgesetzt wird. Und ist Solidarität, drittens, überhaupt der richtige Begriff für die Phänomene, die Durkheim damit beschrieben haben will? Ist nicht Soziabilität das bessere, weil neutralere und weiter gefasste Wort für die Möglichkeit allgemeiner Kooperation?
Das gilt auch für die Verwendung des Solidaritätsbegriffs bei Bourgeois und Kropotkin.[14]
Auch für Léon Bourgeois geht Solidarität im Wesentlichen auf gegenseitige Abhängigkeit zurück, er spricht wörtlich vom allgemeinen Gesetz »wechselseitiger Abhängigkeit, das heißt der Solidarität«[15]. Bei dieser Solidarität als gegenseitigem Aufeinander-angewiesen-Sein aller spielt auch für Bourgeois die »Teilung der Arbeit«[16] eine nicht unbedeutende Rolle.
Es handelt sich bei diesem Solidaritätsbegriff, ähnlich wie bei dem Durkheims, um das letztlich unentschiedene Lavieren zwischen einer historischen Bestimmung – als Effekt der Arbeitsteilung – und einer gewissermaßen natürlichen, menschlichen Daseinsbedingung, etwa wenn Bourgeois die »Kenntnis der Gesetze der Solidarität der Lebewesen«[17] einklagt. Diese »Gesetze« werden als ahistorische begriffen und die Behauptung ihrer Existenz ist vor allem eine politisch-strategische: Sie dient der Abgrenzung zur Hobbes’schen Vorstellung eines Kampfes aller gegen alle – was Bourgeois auch ganz explizit macht: Der Theorie vom »Kampf ums Dasein« solle eine ihr widersprechende Lehre von der »Solidarität der Wesen« entgegengesetzt werden.[18] Aus dem Rückgriff auf die (vermeintlichen) Naturtatsachen entsteht für Bourgeois, so Hermann-Josef Große Kracht, die »Pflicht zu einer reflektierten […] Intervention«[19] in gesellschaftliche Verhältnisse.
Die anti-Hobbes’sche Motivation teilt Bourgeois ebenso mit Peter Kropotkin wie den interventionistischen Anspruch. Auch Kropotkins Schrift Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt (1902) ist vor allem gegen die Tradition von Hobbes und Darwin gerichtet und versucht, ein humanistisches Menschenbild auf die Annahme prinzipieller Kooperation – statt eines Kampfes jede/r gegen jede/n – zu gründen. Solidarität wird vor allem als Kooperation verstanden, als »gegenseitige Hilfe«.[20] Kropotkin beschreibt das, was Durkheim die »mechanische Solidarität« nennt – eine quasi selbstverständliche gegenseitige Verpflichtung in den Dörfern und Gilden des Mittelalters – als erstrebenswertes Ideal und beklagt dessen Zerstörung durch die Entstehung des modernen Nationalstaates.[21] Auch Kropotkins Verständnis von Solidarität ist universalistisch und umfasst konzeptionell alle Menschen. Und wie jenes von Durkheim und Bourgeois ist Kropotkins Solidaritätsverständnis mal ahistorisch konzipiert – er spricht vom Bewusstsein der Solidarität im »Entwicklungsstadium eines Instinkts«[22], das die Gesellschaft zusammenhalte – und dann wieder historisch gedacht als Produkt des Fortschritts, das sich im Laufe der Menschheitsgeschichte weiterentwickelt. Diese sowohl natürlichen als auch historischen Tendenzen »zu gegenseitiger Hilfe«[23] überleben nach Kropotkin hin und wieder auch die Zerstörungsgewalt des zentralisierten Staates seit dem 19. Jahrhundert. Wie sich diese Hilfe trotz Staatsgewalt weiterentwickeln kann, wie also Solidarität entsteht, beschreibt Kropotkin am Beispiel des Streiks. Er schildert und lobt in Bezug auf die streikenden Arbeiter*innen die gegenseitige Hilfe und den Beistand, »die fortwährend von ihnen geleistet werden«[24].
Auch wenn die anti-sozialdarwinistische Motivation, die dem Solidaritätsverständnis von Durkheim, Bourgeois und Kropotkin zugrunde liegt, sicherlich wertzuschätzen ist, gibt es doch noch einen gewichtigen Einwand dagegen: Die fortschrittsorientierte und zugleich ahistorische Konzeption von Solidarität kann nicht erklären, wieso solidarische Sozialbeziehungen Konkurrenz und Wettbewerb nicht längst zum Verschwinden gebracht haben. Und sie hat auch grundsätzlich zu alltäglicher Niedertracht sowie zu systematischer und struktureller Gewalt bis hin zum Völkermord wenig bis gar nichts zu sagen. Sie kann Gewaltverhältnisse nur als Anormalität und nicht als strukturelles Merkmal moderner Gesellschaften fassen. Nicht zuletzt die sozialen Kämpfe, die Kropotkin am Beispiel des Streiks hervorhebt, sind ja aktive Formen, gegen Gewaltverhältnisse aufzubegehren.
Damit kommen wir zur zweiten Verständnisweise von Solidarität. Das Beispiel des Streiks ist paradox, denn es widerlegt in gewisser Hinsicht, was gezeigt werden sollte: Ist Kropotkins Begriff von Solidarität eigentlich universalistisch konzipiert und zielt auf alle Menschen gleichermaßen, ist die Solidarität beim Streik eine partikularistische. Sie gilt nur bestimmten Leuten und anderen nicht. Insofern leitet das Streikbeispiel auch über zur zweiten Form von Solidarität, von Solidarität als Soziabilität zu Solidarität als Gemeinschaft.[25] Kropotkins Arbeiter – er spricht nur von Männern – sind eine solche Gemeinschaft, er konzipiert sie in Anlehnung an die mittelalterlichen Dorfgemeinschaften. Das zentrale Band ist geteilte Erfahrung und soziale Nähe: »Unter den Bergleuten und Seeleuten«, schreibt Kropotkin, »erzeugen ihre gemeinsamen Beschäftigungen und ihr tägliches enges Zusammenleben ein Gefühl der Solidarität«.[26] Die Arbeiter*innen sind solidarisch, weil sie sich ähnlich sind und sich aufgrund gemeinsamer Arbeits- und Lebenswelten verbunden fühlen. Die Gemeinschaftssolidarität beruht im Prinzip auf sozialer Nähe. Wo diese Nähe nicht direkt vorhanden ist, wird an ihr gearbeitet: Das ist Aufgabe und Inhalt von Identitätspolitiken, die darauf abzielen, Ähnlichkeiten im kollektiven Erleben hervorzuheben und zu einer gleichermaßen empfundenen wie politisch wirksamen Gemeinsamkeit zu machen. Soll kein Ausschluss produziert werden, wie in nationalistischen Konzepten, geht es bei der Herstellung von Solidarität immer darum, wie Richard Rorty es ausdrückte, »daß wir versuchen müssen, in unser Verständnis von ›wir‹ auch Menschen aufzunehmen, die wir bis jetzt zu den ›sie‹ gezählt haben«[27]. Das gilt für die Inklusion der Leute aus dem nächsten Block, dem nächsten Stadtteil, dem ganzen Land oder, wie bei Rorty, der ganzen Welt. Gegen dieses Konzept der gemeinschaftlich grundierten Solidarität wendet sich nun Diane Elam mit aus unserer Sicht triftigen Argumenten: Diese Vorstellung von sich ausweitender Gemeinschaft ist immer ein (nach dem Muster des US-amerikanischen Liberalismus gestricktes) Inklusionsmodell. Die ›Anderen‹ sollen in ihrer Ähnlichkeit erkannt werden, um in das Wir aufgenommen zu werden. Im Umkehrschluss müssen sie sich ihrerseits also letztlich dem großen Wir angleichen, um Solidarität erfahren zu können. Das meint Elam, wenn sie schreibt, dass für das »radikal Andere« in Rortys Modell kein Platz ist. Damit einhergehend richtet sich die Kritik gegen das Asymmetrische dieses Solidaritätsmodells. Hier wird nicht auf Augenhöhe zwischen Gleichen agiert; dem Versuch, die Anderen in das eigene Wir zu integrieren, haftet unweigerlich etwas Paternalistisches an.
Aber nicht nur der Liberalismus, sondern auch der Marxismus hat in vielen seiner Strömungen die Solidarität innerhalb der Arbeiter*innenklasse größtenteils als eine unter Gleichen und Ähnlichen konzipiert, die sich gegenseitig unter die Arme greifen und damit eine Unterstützung genießen, die anderen definitiv nicht zuteil wird (und auch nicht zuteil werden soll). Der marxistische Historiker Edward P. Thompson hat diese Gemeinschafts-Solidarität unter Arbeiter*innen als eine beschrieben, die immer sowohl eine »solidarity with« (den Genoss*innen) als auch eine »solidarity against« (das Kapital) ist.[28]
Während die Abgrenzung vom Kapital hier zunächst wenig problematisch erscheint, wirft die Frage der partikularen Gültigkeit von Solidarität grundlegende Fragen nach den Ein- und Ausschlussmechanismen auf – wir kommen darauf zurück.
Die Gemeinschaftssolidarität ist im Wesentlichen eine identitätspolitische Form der positiven Bezugnahme: Sie braucht die Behauptung des Gleich- oder Ähnlichseins ebenso wie die Abgrenzung zum Außen.
Während die Gemeinschaftskonzeption insbesondere auch für nationale Identität gilt, existierte in vielen sozialen Bewegungen noch ein anderes Verständnis von Solidarität. Sie basiert nicht auf angenommener und/oder praktisch gelebter Gleich- und Ähnlichkeit, sondern auf Differenz. Kurt Bayertz nennt sie die »Kampf-Solidarität«[29]. Diese Art von Solidarität bezieht sich auf »materielle und symbolische Hilfe für jene […], die für ihre Rechte kämpfen«[30]. Sie kann sich zwar auch auf ein Gemeinschaftsgefühl oder auf eine rationale Bindung an Gemeinschaften gründen, sie muss es aber nicht. Bayertz nennt das Beispiel von weißen Europäer*innen, die während der Apartheid in Südafrika Solidaritätsarbeit für die Schwarzen geleistet haben, die gegen das Regime gekämpft haben. Diese Solidarität basiert gerade nicht auf gleichen Ausbeutungsformen, nicht auf ähnlichen Lebensweisen und sie setzt keine gemeinsame Zughörigkeit voraus. Die Kampf-Solidarität gründet sich auf eine Haltung, die mindestens die Rechte anderer für notwendig und legitim hält und ihnen zur Durchsetzung verhelfen will. »Solidarität in der Sphäre des Rechts«, schreibt auch der argentinisch-mexikanische Philosoph Enrique Dussel in diesem Sinne, »ist die Verantwortung für die, die keine Rechte haben (oder für diejenigen, denen sie nicht gewährt wurden)«[31].
Auch die Seenotrettungsaktionen von Sea-Watch könnten noch als Kampf-Solidarität verstanden werden: Es werden zwar keine aktiven Kämpfer*innen unterstützt, aber doch Menschen, die implizit das Recht auf Migration und zumindest doch das Recht auf Leben einklagen. Aber die kampfsolidarische Haltung kann auch noch mehr umfassen: eine geteilte politische Überzeugung. In den internationalen Solidaritätsbewegungen ab den 1950er- und 1960er-Jahren, die sich in Bezug auf die antikolonialen Kämpfe in Afrika (und zwischen ihnen) entwickelten, in der Solidarität mit der kubanischen Revolution, im globalen feministischen Aufbruch um und nach 1968, in der Solidarität mit den Sandinistas in Nicaragua, in der Solidarität mit dem zapatistischen Aufstand in Mexiko ab 1994 usw. gründete sich die solidarische Haltung auch auf gemeinsame politische Ziele. Damit wurde auch eine Gegenseitigkeit als Anspruch in die Solidarität eingeführt, der durchaus ambivalent ist. Einerseits stiftet die Gemeinsamkeit der Haltung, ähnlich wie bei der Gemeinschaftssolidarität, möglicherweise mehr und stärkeres Engagement und die Verbundenheit im Ziel bildet die einzige Gemeinsamkeit zwischen Menschen, die sonst eben nichts teilen, also etwa zwischen dem deutschen Philosophiestudenten und der nicaraguanischen Bäuerin oder zwischen der christlichen Frauenrechtsaktivistin und der Sexarbeiterin, die für ihre Rechte kämpft. Andererseits aber führt die eingeforderte gegenseitige Beziehung selbstverständlich auch zu Ansprüchen, die enttäuscht werden können. Oft beklagt wurden die Projektionen, mit denen westeuropäische und nordamerikanische Linke die Bewegungen in aller Welt zuweilen überfrachteten. Anders als beim Kampf gegen die Apartheit ist der Kampf für den Sozialismus mit der Erwartung einer (wenn auch oft nicht eingestandenen) Gegenleistung verknüpft. Der in fast allen emanzipatorischen sozialen Bewegungen implizite Anspruch, die Solidarität nicht nur als Mittel bzw. Instrument zu begreifen, sondern viel emphatischer als ein »Stück gelebter Utopie«[32], erweist sich damit als nicht ganz unproblematisch – so wichtig der Anspruch selbst auch immer war.
Egal, ob als sozialer Zusammenhalt, Gemeinschaft oder als Kampfsolidarität: Solidarisches Commitment wird entweder als soziale Anpassungsleistung oder als Resultat einer rationalen Entscheidung definiert, der ein Reflexionsprozess vorausgeht. Als Grundlage für den Entschluss, für eine Überzeugung einzustehen und sich mit anderen solidarisch zu zeigen, werden universelle Werte wie Gerechtigkeit und Gleichberechtigung angeführt, also abstrakte moralische Normen, denen man sich verpflichtet fühlt. Die gewählte Formulierung macht jedoch auf einen Widerspruch aufmerksam: Die Verpflichtung wird »gefühlt« und ist nicht etwa nur gedacht. Serhat Karakayali betont, dass »jeder Diskurs über ›Solidarität‹ bereits Worte enthält, die auf Emotionen verweisen, worauf schon die Redewendung ›sich solidarisch fühlen‹ hindeutet.«[33] Auch die Begriffe »Gerechtigkeitsempfinden« und »Moralempfinden« verweisen auf diese Verschränkung. Wer von Solidarität redet, spricht schließlich oft von großen Gefühlen. Vom Begehren nach einer besseren Welt etwa, von tief empfundenem Unrecht oder einer leidenschaftlich verteidigten politischen Utopie.
Greta Thunbergs wütende UN-Rede, bei der sie den politisch Verantwortlichen ein »How dare you!« entgegenschleuderte, ist ein Beispiel für diese affektive Wirkung. Ihr passioniertes Begehren nach Klimagerechtigkeit wirkt vor allem deshalb so ansteckend, weil Thunberg nicht nur unwiderlegbare Fakten zur Klimakrise vorbringt – das tun viele andere auch seit vielen Jahren –, sondern weil sie bei ihren Auftritten das Publikum direkt mit ihrer ungehaltenen Frustration konfrontiert.
In der politischen Kommunikation von Parteien und im Campaigning ist das emotionale Framing politischer Botschaften längst Tagesgeschäft. Und dabei geht es nicht nur um manipulativen Populismus, Politik ist unweigerlich eine leidenschaftliche Angelegenheit und hat auch ohne Spindoctor*innen viel mit Gefühlen zu tun.
Das gilt auch für unbedingte Solidarität, die – so unsere These – nicht nur viel mit Emotionen zu tun hat, sondern den etablierten Gegensatz zwischen Vernunft und Gefühl überhaupt suspendiert. Bereits 1751 verfasste der Empirist David Humes seine Untersuchungen über die Prinzipien der Moral[34], in denen er die Relevanz von Gefühlen für moralisches Urteilen hervorhebt. Heute widmet sich die relativ junge Disziplin der Affect Studies der Frage, wie Affekte auf einer unbewussten Ebene unsere Wahrnehmungen, moralischen Urteile und eben auch politischen Haltungen beeinflussen. »Der Affekt ist wie unser menschliches Gravitationsfeld und was wir unsere Freiheit nennen, sind seine relationalen Wendungen«[35], so Brian Massumi. Dass Empathie und Emotionen ethisches Handeln beeinflussen, ist auch moralpsychologisch gut belegt. Denn ohne beteiligte Emotionen werden moralische Entscheidungen rein utilitaristisch, also nur im Hinblick auf das Ergebnis getroffen.[36] Die klassischen moralischen Dilemmata, die bei moralpsychologischen Versuchsanordnungen präsentiert werden, sind ohne Gefühlsinvolviertheit plötzlich gar keine mehr. Zehn Menschen in einem Flugzeug gezielt abschießen, das ansonsten zu detonieren und Hunderte in den Tod zu reißen droht? Ein Baby buchstäblich zum Schweigen bringen, das zu weinen beginnt und damit das Versteck einer ganzen Gruppe flüchtender Menschen verraten wird, denen die sofortige Exekution droht?[37] Das Opfer ist zur Abwehr des größeren Übels jeweils vertretbar, lautet das gnadenlose Urteil von Menschen mit neurologischen Schädigungen der Gefühlszentren im Gehirn. In der Kontrollgruppe hingegen gibt es immer auch Proband*innen, die z. B. das Töten von Menschen kategorisch ablehnen, ungeachtet aller Konsequenzen.[38]
Der Verweis auf emotionale Motive, auf die Rolle von mitunter unbewussten Gefühlsregungen für das Zustandekommen solidarischer Aktion widerspricht allerdings dem traditionell männlich geprägten Verständnis von Solidarität. Das maskuline Fahnenwort[39] der solidarischen Brüderlichkeit sieht zwar durchaus Pathos und Herzblut für die gemeinsame Sache vor, ist sonst aber nicht sonderlich gefühlsselig, sondern ähnelt oft eher einer Art soldatischen Solidarität. Diese ist von Heroismus und kämpferischer Entschlossenheit geprägt, denn historisch waren Treue, Loyalität und Pflichtbewusstsein assoziierte Attribute von Freundschaft und Kameradschaft, die traditionell eng mit dem Konzept von Solidarität verknüpft und dementsprechend männlich entworfen wurden. So unterscheidet auch Siegfried Kracauer in seinem Werk Über die Freundschaft[40] die reine »Gemütsfreundschaft« streng von geistiger Verbundenheit, die für ihn wahre Freundschaft auszeichnet. (Wir ahnen es: Frauenfreundschaften rechnet Kracauer zur ersten Kategorie.) Solidarität ist also in erster Linie mit Rationalität verknüpft, Gefühle standen bei Solidaritätskonzeptionen höchstens an zweiter Stelle und umfassten dann vornehmlich ›männliche Tugenden‹ wie Kampfgeist und Mut. Solidarität als »Zärtlichkeit der Völker«, von der Che Guevara gesprochen hat und damit von der feinfühligsten aller Liebesbekundungen, erinnert dabei an die Praxis des sozialistischen Bruderkusses, an das Küssen und Umarmen, mit dem solidarische Verbundenheit zum Ausdruck gebracht wurde. De facto entsprach dieses Verbrüderungsritual jedoch auch symbolisch mehr einem männlichen Schulterklopfen als einer zärtlichen Liebkosung. Auch der seit Ende des 19. Jahrhunderts gebräuchliche sozialistische ›Freundschaftsgruß‹ weist in diese Richtung. Wer sich mit einem gebrüllten »Freundschaft!« begrüßt, appelliert nicht ans zärtliche Gefühl, sondern an politisches Gewissen und Gesinnung. Von der solidarischen Männerfreundschaft zum Männerbund, von der Gemeinschaft zur Gefolgschaft ist es dann kein weiter Weg mehr.
Der Historiker Christian Koller analysiert die Rolle von Emotionen in sozialen Bewegungen und geht dabei insbesondere der Frage nach, welche Rolle Gefühle bei der Herausbildung von Solidarität spielen. Denn die historische Protestforschung habe den »emotional turn« noch nicht vollzogen und unterliege einem »rationalistischen Vorurteil«[41]. Infolgedessen werde die Genese sozialer Bewegungen als weitgehend emotionslose Geschichte beschrieben. Dass etwa kollektive Wut nicht selten der Anlass für Spontankundgebungen ist, würde zwar konstatiert, aber analytisch nicht weiter berücksichtigt. »Der Einbezug der emotionalen Dimension in die historische Protestforschung zielt im Wesentlichen auf eine Aufbrechung der Dichotomie zwischen Vernunft und Gefühlen«[42] ab, eine Dichotomie, für die Koller historisch viele Beispiele findet. Etwa wenn 1918 in der Arbeiter-Zeitung über einen Streikabbruch berichtet wird: Der »proletarische Geist der Solidarität und der Disziplin« sei stärker »denn alle Leidenschaft«[43], heißt es. Der Begriff der Solidarität wurde also eng mit Disziplin verknüpft und jenem der Leidenschaft gerade entgegengesetzt.[44]
Koller kommt zu einem ganz anderen Schluss: Den Ausgangspunkt für die Mobilisierung und bei der Formierung von Protestbewegungen bilden oft Emotionen wie Empörung, Wut, aber auch Furcht oder Sorge. Solidarität ermögliche aber die Kanalisierung und Kristallisierung dieser Gefühle: »Sie verstärken und perpetuieren die in der Formations- bzw. Mobilisierungsphase sozialer Bewegungen einsetzende Bündelung individueller Emotionen durch das Konzept der Solidarität und ihre Transformation in kollektive Gefühle der Stärke und des sinnvollen Engagements«[45]. Und weiter: »Das Schlüsselkonzept scheint hier die Solidarität zu sein und als Kristallisationskern einer emotional verwurzelten und begründeten Protestkultur zu fungieren«[46]. Doch wie unterscheiden sich diese zur Solidarität geronnenen Emotionen von der ›emotion work‹, von politischer Manipulation? Also dem Schüren von Emotionen, das mit viel Pathos arbeitet und durch Inszenierungen und Ritualisierungen wie gemeinsamem Singen, choreografierten Aufmärschen[47], politischen Signifikanten und Symbolen auf derselben Klaviatur spielt, die auch erfolgreiche emanzipatorische Protestbewegungen bedienen?
Hier wie dort kann das Ergebnis mitunter an religiöse Ergriffenheit erinnern. Entsprechend verweist Koller darauf, dass Zusammenkünfte von streikenden Textilarbeiter*innen mit Gottesdiensten verglichen wurden, »bei denen allerdings im Unterschied zur katholischen Praxis die Kommunikation nicht hierarchisch monopolisiert, sondern in demokratischer Wechselwirkung gelaufen« sei[48]. Koller konstatiert außerdem, dass bei emotional induzierter Solidarität »die Bündelung der Emotionen zu kollektivem Handeln […] nicht personen-, sondern konzeptbezogen« erfolge und sie auch »nicht zwingend mit einem Verlust an Individualität und Rationalität« einhergehe.
Doch so einfach lässt sich die zentrale Frage nach der fragilen Abgrenzung zwischen solidarischer Emotion und emotionaler, populistischer Manipulation wohl nicht aus der Welt schaffen. Denn jedes Kollektiv braucht ein konstituierendes Außen, gegen das es sich zusammenschließt, also die bereits erwähnte ›solidarity against‹, und jede kollektive Solidarisierung ist auf sogenanntes ›Othering‹ angewiesen. Auch dieses Othering ist ein hochgradig emotionaler Prozess, der immer die Gefahr mit sich bringt, dass er in einer ausschließenden, aggressiven Form exklusiver Solidarität resultiert.
Diese Ambivalenz macht auch die Studie Politische Emotionen der US-amerikanischen Philosophin Martha C. Nussbaum deutlich. Ihre zentrale These darin: Nicht nur in Diktaturen werden Emotionen politisch instrumentalisiert. Ausnahmslos jede Gesellschaft ist für Stabilität und Gerechtigkeit unbedingt auf Gefühle angewiesen. Allerdings sind es die positiven Gefühle, auf die Nussbaum den Fokus richtet. Sie stellt die programmatische Frage, warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist. Ihre Antwort: Eine gerechte Gesellschaft muss positive Emotionen aus zwei Gründen fördern. Erstens, um gesamtgesellschaftliche Vorhaben durchzusetzen, die Altruismus erfordern, wie zum Beispiel Umverteilung und die Inklusion marginalisierter Gruppen. Zweitens, um »das fragile Ich« vor den Angriffen und der Erniedrigung durch andere zu schützen und so Abscheu, Neid und Missgunst – das »radikale Böse«, wie Nussbaum es mit Kant nennt – zurückzudrängen.[49] Es brauche tatsächlich Liebe zu den geteilten politischen Zielen, denn rein auf Prinzipien basierende Überzeugungen seien zu »lau«. Ohne Liebe wären auch Kindern moralische Grundregeln nicht vermittelbar.
Mit Rekurs auf den Psychoanalytiker Donald Winnicott macht Nussbaum das »einfühlsame Zusammenspiel« zwischen Menschen als Grundlage jeder gelingenden sozialen Beziehung aus. Erst Mitgefühl und Liebe würden den für das Gemeinwohl nötigen Respekt vor anderen mit Leben erfüllen. Die Erziehung zu moralischer Integrität habe also auch durch die politische Kultur zu erfolgen, die einen gemeinsamen, quasi geliebten Wertekanon etablieren müsse. Nicht nur politische Reden – Nussbaum analysiert exemplarisch etwa Martin Luther Kings »I Have a Dream« – würden Hingabe und Leidenschaft an geteilte Ideale transportieren, auch Musik, etwa Nationalhymnen, könnte dies leisten und dadurch maßgeblich zur politischen Herzensbildung beitragen. Es sei demnach Aufgabe des Staates, auch mithilfe von Kunst Symbole im öffentlichen Raum zu installieren, die eine ethisch motivierende Kraft entfalten können.
Den Ausführungen Nussbaums kommt das grundlegende Verdienst zu, Emotionalität als relevante politische Größe zu würdigen und damit die Leerstelle bei Durkheim, Bourgeois und Kropotkin zu füllen, die alle keine überzeugende Antwort auf die Frage geben können, was konkret denn die Gelingensbedingungen für solidarisches Handeln sind, und bloß vage auf die menschliche Natur verweisen. Problematisch ist jedoch auch bei Nussbaum der Biologismus und Determinismus, der in ihren mit vielen Beispielen aus dem Tierreich exemplifizierten moralpsychologischen Exkursen durchscheint. Das größte Problem ihrer Theorie ist jedoch, dass darin sowohl Nation als auch Patriotismus eine zentrale Rolle zukommen. Nussbaum spricht zwar »vom janusköpfigen Charakter des Patriotismus«[50], gewinnt ihm dessen ungeachtet aber sehr ansprechende Züge ab. Sie argumentiert, dass die Nation ein »notwendiger ›Hebel‹ für die Entwicklung einer globalen Perspektive ist«[51]. Die Nation würde dem/der Einzelnen einen weiteren Denkhorizont vermitteln, der »Betroffenheitsradius«[52] könne so vergrößert und Narzissmus und Egoismus könnten überwunden werden. Dieselbe Argumentation also, die auch Rorty bemüht, wenn er für ein stets auszuweitenden ›Wir‹ plädiert, und die Diana Elam berechtigterweise wegen des Assimilationsdruck scharf kritisiert, den dieses Konzept implizit enthält.
Warum dieser Denkhorizont und Radius überdies statt national nicht auch lokal bzw. transnational sein kann, bleibt bei Nussbaum unbeantwortet. Ebenso unberücksichtigt bleibt die grundsätzliche Kritik an Nationalismus als einem notwendigerweise immer aggressiv ausschließenden Identitätskonstrukt, dessen Emotionalisierung bzw. sogar Erotisierung[53] allzu leicht zu Fanatismus führt. Eine eindringliche Warnung, wonach die Liebe zur Nation immer an Hass auf die ›Anderen‹ gekoppelt ist, die die nationale Einheit vermeintlich bedrohen, formuliert auch Sara Ahmed in The Cultural Politics of Emotion.[54]
Aber zurück zur Fragestellung, inwieweit Liebe bzw. Empathie für ethisches Handeln erforderlich sind. In Eine andere Stimme argumentiert die Psychologin Carol Gilligan gegen eine ihnen von der psychoanalytischen Theorie unterstellte moralische Unreife von Frauen. Vielmehr hätten Frauen eine eigene »Care-Ethik« ausgebildet, eine Ethik der Anteilnahme und Fürsorge, bei der nicht objektive Regeln und Rechte, sondern vielmehr die gelebte Beziehung im Mittelpunkt stehe. Diese Care-Ethik grenzt sie von einer Ethik der Gerechtigkeit ab, die für sie männlich konnotiert ist. »Während eine Ethik der Gerechtigkeit von der Prämisse der Gleichberechtigung ausgeht, dass alle gleich behandelt werden sollen, basiert eine Ethik der Anteilnahme/Zuwendung/Fürsorge auf der Prämisse der Gewaltlosigkeit, dass niemand Schaden erleiden sollte«[55].
Carol Gilligans Studie wurde nicht nur wegen methodischer Schwächen kritisiert, sondern auch wegen des vermeintlichen Essenzialismus ihrer binären Einteilung. Allerdings lässt sich Gilligans Entwurf ohne Weiteres auch als Einsatz für eine gänzlich geschlechtsneutrale Ethik interpretieren, die der Rolle, die Emotionen beim moralischen Urteilen und Handeln generell zukommt, im moralphilosophischen Diskurs endlich Rechnung trägt.
Jürgen Habermas zufolge wäre diese Care-Ethik sogar mit Solidarität gleichzusetzen, denn er bezeichnete »Solidarität als das Andere der Gerechtigkeit, als ihre Kehrseite.«[56] Diese hierarchisierende Gegenüberstellung folgt der traditionellen Abwertung einer empathischen Anteilnahme, die als affektive Solidarisierung einem »reflexiven Solidaritätsbegriff« untergeordnet wird.[57] Doch unbedingte Solidarität suspendiert den Gegensatz zwischen Vernunft und Gefühl. Denn auch wenn solidarisches Handeln von Emotionen motiviert sein kann, erfordert unbedingte Solidarität die kritische Reflexion dieser Gefühle. Die Gefahr, die Emotionalisierung ohne Kritikfähigkeit birgt, ist angesichts von Nationalismus und irrationalem, ideologischem Wahn offensichtlich.
Emotion und Rationalität sind überdies nicht das einzige Gegensatzpaar, das unbedingte Solidarität transzendiert bzw. überbrücken kann. Wenn es um die Legitimation moralischer Entscheidungen geht, werden auch der Dualismus von subjektiven versus objektiven Beweggründen bzw. überhaupt jener zwischen Partikularismus versus Universalismus gegeneinander ins Feld geführt. Doch die postmoderne Kritik hat nicht nur die stabile Trennschärfe von Rationalität und Emotionalität dekonstruiert, sondern auch den Andro- und Eurozentrismus vermeintlicher Objektivität entlarvt, die sich nicht selten einfach als Deutungsmacht erweist. Unbedingte Solidarität darf sich deshalb weder auf einen naiven Objektivitätsbegriff noch auf ein universelles Regelwerk beziehen. Sie sollte sich andererseits aber auch nicht im Subjektiven und Partikularen erschöpfen. Vielmehr kann sie vom Singulären ausgehen, um dabei auf das Allgemeine abzuzielen, und einen zunächst partikularistischen Kampf für universelle Gleichheit führen, wie das etwa viele als Identitätspolitik gelabelte emanzipatorische Bewegungen tun.[58]
Eine weitere Unterscheidung, die für solidarisches Handeln relevant ist, dekonstruiert Judith Butler in ihrem aktuellen Buch Die Macht der Gewaltlosigkeit. Während Gilligan eine »weibliche« von einer »männlichen« Ethik (Gewaltlosigkeit versus Gerechtigkeit) unterscheidet, versucht Butler, die beiden Prinzipien Gleichheit und Gewaltlosigkeit miteinander zu verknüpfen. Für Butler entsteht die »Pflicht, einander nicht zu zerstören«[59] ebenfalls aus einer prinzipiellen Interdependenz, der Tatsache also, dass Menschen grundlegend aufeinander angewiesen und voneinander abhängig sind. Jedes Leben sollte, folgert Butler normativ, gleichermaßen schützenswert und betrauerbar sein. Gewaltlosigkeit muss sich daher an einer fundamentalen Gleichheit orientieren, »die politische Verteidigung der Gewaltlosigkeit [habe] ohne eine Verpflichtung auf Gleichheit keinen Sinn«[60].
Die unhintergehbare Interdependenz und Vulnerabilität aller Menschen (sie ließe sich auch klimapolitisch und tierrechtsethisch erweitern auf alle Lebensformen, mit denen wir in Solidarität koexistieren sollten) hatte Butler bereits in Kritik der ethischen Gewalt zur Grundlage ihrer Moralphilosophie gemacht. Darin hatte Butler ein »fragiles und fehlbares Subjekt der Ethik«[61] entworfen, das mehr durch seine Grenzen denn durch seine Souveränität gekennzeichnet ist.
Butler hat den Begriff der Interdependenz im Kontext ihrer Auseinandersetzung mit Gewaltfreiheit nun auch in die Debatte um Solidarität eingebracht. Sie schlägt eine Positionierung »zwischen einer psychoanalytischen und einer gesellschaftstheoretischen Auffassung von Interdependenz«[62] als gegenseitiger Abhängigkeit vor, die sie als notwendige Voraussetzung für »eine andere Sicht von gesellschaftlicher Solidarität«[63] starkmachen möchte. Butler spricht einerseits von Interdependenz als Abhängigkeit jeder und jedes Einzelnen, der/die ohne andere nicht existieren kann, als auch makropolitisch von einer »globalen Interdependenz«[64] aller Menschen (und Tiere), die auf der gemeinsamen ökologischen Grundlage fußt. Wegen dieser gemeinsamen Grundlage spricht sie von Gleichheit als einem »Merkmal sozialer Beziehungen«, die auf der »zunehmend anerkannten Interdependenz«[65] beruhe. Erkennen wir diese grundlegende Gleichheit an, so das Argument, wird Gewaltlosigkeit »zu einer bindenden ethischen Pflicht, eben weil wir aneinander gebunden sind«[66]. Solidarität wird damit gewissermaßen auf die Einsicht in grundlegende Gleichheit und Abhängigkeit gegründet.
Zugleich aber hebt Butler immer wieder hervor, dass diese Gleichheit in der Realität von Ungleichheiten und Differenzen durchbrochen wird. Es gibt eine massive Ungleichverteilung von Ressourcen und eine »Ungleichheit von Betrauerbarkeit«[67], also eine höchst ungleiche Wertschätzung anderen Lebens. Anders gesagt: Eine Bewegung wie »Black Lives Matter« wäre nicht entstanden, wenn jedes Leben tatsächlich gleich viel zählen würde. Deshalb kann sich unbedingte Solidarität unseres Erachtens nur in dem Sinne auf Gleichheit beziehen, dass sie diese als moralischen Maßstab einklagt, nicht aber als Ausgangspunkt für ihr Entstehen voraussetzt. Denn es braucht eine Erklärung, wie aus dieser Conditio humana der Interdependenz solidarische Praxis wird. Die Vorstellung, dass dies notwendigerweise geschieht, die Butler letztlich mit Durkheim teilt, hat sich historisch als wenig plausibel erwiesen. Unbedingte Solidarität sollte stattdessen diese allgemeine Gleichheit einklagen, braucht aber die Vermittlung über die Differenzen, d.h. sie muss von den realen Unterschieden zwischen Menschen ausgehen (und von diesen ausgehend gedacht werden).
Die sogenannte Care Revolution könnte als politisches Programm einer solchen Care-Ethik betrachtet werden, das Differenzen berücksichtigt und den Gedanken wechselseitiger Abhängigkeit mit der Utopie einer durch Gleichheit geprägten Gesellschaft verbindet, die ein gutes Leben für alle ermöglicht. Aktivist*innen dieser feministischen Transformationsstrategie entwerfen ebenfalls eine auf Beziehungen gründende Ethik und streben eine solidarische Care-Ökonomie an. Unbezahlte und bezahlte Arbeit sollen dabei radikal neu verteilt und die Bedürfnisse und Beziehungen von Menschen in den Mittelpunkt gestellt werden. Was auf der Makroebene Klimagerechtigkeit und solidarische ökonomische Beziehungen mit den Ländern des globalen Südens bedeuten würde, findet sein Vorbild auf der Mikroebene in Sorge-Beziehungen, die sich als oft wenig spektakuläre, aber deswegen nicht weniger solidarische Praxis überall finden. Es gab und gibt sie in Form explizit politischer Programme wie beim »Free Breakfast for School Children« der Black Panther Party, in den von Frauen organisierten Gemeinschaftsküchen in vielen lateinamerikanischen Städten, in informellen Care-Netzwerken oder in Form von Nachbarschaftshilfe während der Pandemie[68]. All diese Formen machen menschliche Interdependenz sichtbar und räumen mit der (maskulinistischen) Illusion von Autonomie auf.
Bislang war hier vor allem von positiven Gefühlen wie Empathie und Liebe die Rede und es leuchtet unmittelbar ein, dass solche Emotionen solidarisches Handeln begünstigen. Solidarische Aktion ist außerdem oft vom Wunsch nach Anerkennung und Zugehörigkeit zu einer Gruppe motiviert. Auch das überschwängliche Hochgefühl, gemeinsam etwas Gutes bewirken zu können, wirkt identitäts- und solidaritätsstiftend. Dass jedoch auch die geächteten Gegenspieler all dieser positiven Gefühle Solidarisierungen ermöglichen können, ist auf den ersten Blick viel weniger einsichtig. Doch insbesondere Wut kann bei Solidarisierungsprozessen eine entscheidende Rolle spielen.
Die hierarchisierte Dichotomie zwischen Verstand und Gefühl korreliert mit der tradierten asymmetrischen Binarität von männlich und weiblich. Um die Verknüpfung von Weiblichkeit und Gefühl zu veranschaulichen, verweist Sara Ahmed auf die geteilte etymologische Wurzel der Worte »passive« und »passion«, die beide auf das lateinische Wort »passio«, also »suffering« (leiden) zurückgehen. Gefühl sei als Passivität kategorisiert und dem aktiven, schöpferischen Geist untergeordnet. Diese Unterordnung setze sich fort in der Kategorisierung von Emotionen in niedere und höhere, sprich kultiviertere Gefühle.
Zu diesen als ›niedere‹ Gefühlsregungen klassifizierten, negativ konnotierten Emotionen gehören auch Wut bzw. Ärger.[69]
In ihrem Aufsatz »The Uses of Anger« weist Audre Lorde die Gegenüberstellung von Rationalität und Emotionalität ebenfalls zurück. »Denn es ist genau diese Unterscheidung, die ein System aufrechterhält, in dem Frauen als emotional abgewertet werden und Vernunft als männliche Eigenschaft den Platz einer überlegenen Perspektive einnimmt. Aber Wut steht nicht im Gegensatz zu Vernunft, sie ist nicht Ausdruck von Partikularinteressen, sondern ist Ausdruck eines ungerechten Allgemeinen.«[70] Wut, so Lordes eindringliche Argumentation, sei ein wichtiges Vehikel der Befreiung, eine Emotion, die ihr beim Kampf für Gleichberechtigung und Gerechtigkeit unschätzbare Dienste geleistet habe: »I want to speak about anger, my anger, and what I have learned from my travels through its dominions.«[71] Gelernt habe sie, so Audre Lorde weiter, dass Wut ein Werkzeug sein kann, das befreiend und klärend wirkt: »[A]nger expressed and translated into action in the service of our vision and our future is a liberating and strengthening act of clarification.«[72]
Es ist nicht in erster Linie ihr Ärger auf institutionalisierten Rassismus, auf rassistische Staats- und Polizeigewalt, von dem Lorde hier spricht. Vielmehr – und das macht ihre Ausführungen für die Frage nach ›negativen‹ Emotionen und ihrem möglichen Nutzen für Solidarität so relevant – adressiert sie insbesondere die feministische Bewegung bzw. die Ignoranz weißer Frauen gegenüber ihrem eigenen internalisierten Rassismus. Denn der Ausdruck von Ärger innerhalb sozialer Bewegungen wird in aller Regel als spaltend und zerstörerisch erlebt. Kaum etwas wird mehr gefürchtet als plötzlich aufbrechende Konflikte über intersektionale Trennlinien, über Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen innerhalb der eigenen identitätspolitischen Community. Schließlich verhindern diese zermürbenden Auseinandersetzungen Geschlossenheit und gemeinsames Handeln, so die weitverbreitete Einschätzung. Doch Lorde behauptet das Gegenteil: »For anger between peers births change, not destruction, and the discomfort and sense of loss it often causes is not fatal, but a sign of growth.«[73] Audre Lorde grenzt diese Wut von destruktivem Hass ab: »This hatred and our anger are very different. Hatred is the fury of those who do not share our goals, and its object is death and destruction. Anger is the grief of distortions between peers, and its object is change.« Ungerechtigkeit, die Menschen von vermeintlich ›Gleichgesinnten‹ widerfährt, ist besonders schmerzhaft und die Wut (die zugleich Trauer ist, wie Lorde sagt) über rassistische, sexistische, homofeindliche etc. Verletzungen innerhalb der eigenen Community entsprechend groß. Diese Emotionen sind Reaktionen »auf die Schwierigkeit und die Notwendigkeit, unter extrem ungleichen Bedingungen gemeinsam handeln zu können.«[74] Doch der gerechte Zorn will Veränderung: Der Ärger über Ungleichheit und Ungerechtigkeit ist ein unverabschiedbares Korrektiv, das betont Audre Lorde, wenn sie schreibt, dass Wut Anlass für Wachstum sei.
Sie ist kein destruktives Wüten, das verbrannte Erde hinterlässt und Beziehungen beendet, sondern diese Wut zielt darauf ab, Beziehungen symmetrisch zu machen. Diese Wut hat mehr mit Liebe als mit Hass zu tun, sie ist »keine kuschlige Wir-sind-alle-einer Meinung-Liebe, sondern eine konfrontative Liebe-heißt-keinem-Konflikt-aus-dem-Weg-gehen-Liebe«[75], wie Mithu Sanyal in Identitti schreibt. Aber sie fordert auch den Wütenden ab, in Beziehung zu bleiben und die Allianz mit solidarischen Allys nicht aufzugeben, wie es etwa bei der Abwendung der Black-Power-Aktivist*innen von den gemeinsam mit Weißen geführten Kämpfen gegen Rassismus der Fall war – laut dem (Schwarzen) Historiker Clayborne Carson zum Schaden der ganzen Bewegung.[76]
Doch diese wichtige Funktion von, auch negativen, Emotionen bei der Entstehung von Solidarisierungen wird nicht nur unterschlagen, ›Gefühle‹ werden sogar oft für das Scheitern von Solidarität verantwortlich gemacht. Die identitätspolitische ›Gefühligkeit‹ sei ein Grund für die von Andreas Reckwitz proklamierte »Gesellschaft der Singularitäten«[77], eine Gesellschaft, in der jede/r in nur mit der jeweils eigenen Diskriminierungserfahrung beschäftigt sei. Reckwitz reproduziert so implizit die tradierte (männliche) moralphilosophische Abwertung von Emotionen, wenn er von einer neuen Überempfindlichkeit des Subjekts spricht, einer »Sensibilisierung des Selbst«[78], das jede Negativität und Ambivalenz vermeiden wolle.
Von ›Snowflakes‹ oder ›Kampfmimosen‹ ist in den Feuilletons seit Jahren aufgeregt die Rede, die sich in einem beständigen ›Opfercontest‹ über ›Microaggressions‹ empörten und sich mithilfe von ›Cancel Culture‹ am liebsten nur noch in ihre ›Safe Spaces‹ zurückziehen würden. Bezeichnenderweise gehen diese Angriffe oft mit einer paradoxen Blindheit für die eigenen identitätspolitischen Interessen und auch die eigenen Empfindlichkeiten einher. Das bekanntlich leicht verletzbare und äußerst fragile Ego des ›alten, weißen Mannes‹ erlebt jede Infragestellung als tiefe Kränkung. Doch als bislang unmarkierter Standard mit Universalismusanspruch genießt es das Privileg, jede Kritik als vermeintlich identitätspolitischen Partikularismus verurteilen zu können.
Auch wenn selbstverständlich nicht alles an dieser vielstimmigen Kritik falsch ist, die Pauschalverurteilungen von Identitätspolitik sind es. Denn Identitätspolitiken sind Reaktionen auf Diskriminierungen, sie nehmen eine gesellschaftliche Zuschreibung zum Ausgangspunkt, um sich gegen die mit solch kollektiven Identifizierungen einhergehenden Ungleichbehandlungen zur Wehr zu setzen. Deshalb sind emanzipatorische Identitätspolitiken immer durch die Ambivalenz von Ablehnung und Affirmation von Identität charakterisiert.
Unbedingte Solidarität richtet sich zwar dezidiert gegen essenzialistische Grundlagen von Solidarität, aber nicht grundsätzlich gegen identitätspolitische Formierungen. Im Gegenteil, emanzipatorische Identitätspolitiken können der Ausgangspunkt für eine Erweiterung und Ausweitung solidarischer Praktiken und schließlich auch die Vorboten einer solidarischen Gesellschaft sein.
Denn wütende Kritik will für gerechte Verhältnisse auch in der eigenen politischen Peergroup sorgen und schützt durch diese Disruption und Dissonanz linke Protestbewegungen und Politik vor Dogmatismus. Sie klagt in den eigenen Reihen volle Partizipation und Egalität ein, wo diese noch nicht realisiert ist. Solch wütende Anklagen mögen in ihrer Vehemenz im Einzelfall überzogen und ungerechtfertigt sein und selbst der begründetste Ärger hatte und hat weiterhin immer wieder heftige Konflikte und Kämpfe zur Folge. Sie kosten mitunter viel Kraft, die an anderen Fronten dringend gebraucht würde. Doch auf lange Sicht hat der traditionsreiche ›Streit um Differenz‹ Demokratisierungsprozesse gewaltig gestärkt. Es war dieser Streit, der die Linke wie ein ewiges Grundrauschen begleitet und dadurch dazu veranlasst hat, die eigene Politik fortwährend infrage zu stellen und Unterdrückung in all ihren Erscheinungsformen zu bekämpfen – und so Gerechtigkeit für immer mehr Menschen zu fordern und Schritt für Schritt auch zu realisieren. Konflikt und solidarische Kritik sind damit unverabschiedbare Kräfte im Kampf für eine bessere Welt.
Aus diesem Grund darf emanzipatorische Politik Unterschiede weder negieren, noch sie notwendigerweise als trennend und sprengend bewerten, sie muss Differenz und Dissonanz stattdessen als konstituierendes und konstruktives Merkmal bejahen. Audre Lorde hat in Sister Outsider den Erfolg feministischer Politik explizit daran gekoppelt, Differenz als eine wesentliche Stärke anzuerkennen:
»Als Frauen wurden wir gelehrt, unsere Unterschiede entweder zu ignorieren oder eher als Ursache für Trennung und Verdacht anzusehen, denn als Kraft für Veränderung. Ohne ›community‹ gibt es keine Befreiung, nur den höchst verletzlichen und zeitweiligen Überlebenskampf zwischen einer einzelnen und ihrer Unterdrückung. Aber Bewegung muss weder ein Verstecken unserer Unterschiede bedeuten noch das pathetische So-tun-als-Ob unsere Unterschiede nicht existieren. Diejenigen unter uns, die außerhalb der gesellschaftlich akzeptierten Definition von ›Frau-Sein‹ stehen; diejenigen unter uns, die in die Fangarme von Differenz gedrängt wurden; diejenigen unter uns, die arm, lesbisch, schwarz oder alt sind, wissen, dass Überleben keine akademische Fähigkeit ist. Es ist vielmehr ein Wissen darum, unsere Unterschiede in Stärken umzuwandeln.«[79]
Die Lesben von LGSM haben mit ihrer Abspaltung auf unbedingte Solidarität gepocht und von den Schwulen, die ihren Anteil an der patriarchalen Dividende auch in der Queer Community abschöpfen, feministische Solidarität gefordert. Diese Solidarität wurde ihnen verwehrt, mit dem Vorwurf, sie selbst würden sich spalterisch und unsolidarisch verhalten. Diese perfide Schuldumkehr ist eine langerprobte Strategie, die auch im Rahmen der aktuellen Angriffe auf Identitätspolitik Konjunktur hat. Ein solidarischer Schulterschluss wird dabei ausgerechnet von jenen eingefordert, die ihn selbst am dringendsten bräuchten und der ihnen genau mit dieser Forderung verweigert wird. Es sind stets diejenigen, die noch in Solidaritätsbewegungen und -bündnissen marginalisiert und diskriminiert werden, die ihre eigenen Emanzipationskämpfe für die gemeinsame Sache zurückstellen sollen und denen obendrein unsolidarischer Separatismus vorgeworfen wird, wenn sie das nicht tun.