Big Ideas. Das Psychologie-Buch - Nigel Benson - E-Book
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Big Ideas. Das Psychologie-Buch E-Book

Nigel Benson

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Beschreibung

Psychologie verstehen – kein Problem! Was macht unsere Persönlichkeit aus, wie treffen wir Entscheidungen und wie prägt unsere Kindheit unser Verhalten? Mit diesen Fragestellungen beschäftigt sich dieses Psychologie-Buch: Über 100 wichtige psychologische Theorien und Konzepte werden hier anschaulich, innovativ und verständlich mit Illustrationen, Diagrammen und Fotografien erklärt sowie die Biografien bedeutsamer Psychologen in Porträts vorgestellt. Ein Titel aus der DK Erfolgsreihe! • Über 100 psychologische Theorien und Konzepte erläutert: In einem klaren, sachlichen Stil hilft das Psychologie-Buch auf wissenschaftlich fundierter Basis, unser Verhalten und das unserer Mitmenschen zu verstehen. Das Buch beantwortet alle wichtigen Fragen zum Thema, es bietet eine spannende Einführung in die Psychologie und ihre unterschiedlichen Fachbereiche – von Konrad Lorenz' "Prägung ist unwiderruflich" über Sigmund Freuds "Das Unbewusste ist das eigentlich reale Psychische" bis zu Stanley Milgrams "Menschen tun, was man ihnen zu tun befiehlt". • Originelle Wissensvermittlung: Mit farbigen Fotos und Illustrationen wunderbar abwechslungsreich gestaltet macht das Nachlesen und Schmökern besonders viel Spaß: Auf jeder Seite gibt es moderne Grafiken und Bilder im jungen, frischen Design zu entdecken, die das Verständnis optimal fördern. Alle psychologischen Grundlagen sind in verständlicher Sprache erklärt. • Clevere Querverweise: Jede Theorie wird durch übersichtliche Querverweise in einen historischen Zusammenhang gesetzt und einem speziellen Ansatz zugeordnet. • Psychologen im Porträt: Porträts wichtiger Psychologen und Biografie-Kästen liefern umfassende Informationen zu ihrem Leben und ihren Hauptwerken. • Umfangreiche Inhalte in sieben großen Kapiteln: Philosophische Wurzeln: Die Entstehung der Psychologie. Behaviorismus: Wie wir auf unsere Umwelt reagieren. Psychotherapie: Das Unbewusste bestimmt das Verhalten. Kognitive Psychologie: Das rechnende Gehirn. Sozialpsychologie: Das Zusammenleben mit den anderen. Entwicklungspsychologie: Vom Säugling zum Erwachsenen. Differenzielle Psychologie: Persönlichkeit und Intelligenz. Das Psychologie-Buch ist das perfekte Nachschlagewerk für Liebhaber der erfolgreichen DK Reihe und alle, die mehr über Psychologie erfahren möchten. Auch ideal als Begleitbuch für Schüler und Studenten geeignet!

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Seitenzahl: 522

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INHALT

EINLEITUNG

PHILOSOPHISCHE WURZELN

DIE ENTSTEHUNG DER PSYCHOLOGIE

Die vier Temperamente

Galen

Eine vernunftbegabte Seele in der Maschine

René Descartes

Schlafen Sie!

Abt Faria

Vorstellungen werden Kräfte, indem sie einander widerstehen

Johann Friedrich Herbart

Das Selbst sein zu wollen, das man in Wahrheit ist

Søren Kierkegaard

Persönlichkeit besteht aus Anlage und Erziehung

Francis Galton

Die Gesetze der Hysterie sind universal

Jean-Martin Charcot

Eigenartige Schwächezustände

Emil Kraepelin

Die Anfänge des psychischen Lebens reichen ebenso weit zurück wie die Anfänge des Lebens überhaupt

Wilhelm Wundt

Solange uns niemand auffordert, Bewusstsein zu definieren, wissen wir, was damit gemeint ist

William James

Die Adoleszenz ist eine Neugeburt

G. Stanley Hall

24 Stunden, nachdem man etwas gelernt hat, hat man zwei Drittel davon wieder vergessen

Hermann Ebbinghaus

Die Intelligenz eines Individuums ist keine fixe Größe

Alfred Binet

Das Unbewusste sieht den Mann hinter dem Vorhang

Pierre Janet

BEHAVIORISMUS

WIE WIR AUF UNSERE UMWELT REAGIEREN

Der Anblick schmackhafter Speisen lässt dem Hungrigen das Wasser im Mund zusammenlaufen

Iwan Pawlow

Verhaltensweisen, die nicht belohnt werden, werden ausgestanzt

Edward Thorndike

Jeder Mensch kann unabhängig von seinem Naturell grundsätzlich zu allem ausgebildet werden

John B. Watson

Dieses große, gottgegebene Labyrinth, das unsere Welt ist

Edward Tolman

Hat eine Ratte erst unseren Getreidesack entdeckt, können wir auf ihre Rückkehr zählen

Edwin Guthrie

Nichts ist natürlicher für die Katze, als die Ratte zu »lieben«

Zing-Yang Kuo

Lernen ist schlicht nicht möglich

Karl Lashley

Prägung ist unwiderruflich!

Konrad Lorenz

Verhalten wird durch positive und negative Verstärkung geformt

B. F. Skinner

Hören Sie auf, sich die Szene vorzustellen, und entspannen Sie sich

Joseph Wolpe

PSYCHOTHERAPIE

DAS UNBEWUSSTE BESTIMMT DAS VERHALTEN

Das Unbewusste ist das eigentlich reale Psychische

Sigmund Freud

Der Neurotiker hat ständig das Gefühl, minderwertig zu sein

Alfred Adler

Das kollektive Unbewusste besteht aus Archetypen

Carl Gustav Jung

Der Kampf zwischen Lebens- und Todestrieb währt ein Leben lang

Melanie Klein

Die Tyrannei der »Solls«

Karen Horney

Das Über-Ich wird erst dann offenbar, wenn es dem Ich feindselig gegenübertritt

Anna Freud

Wahrheit kann nur ertragen werden, wenn man sie selbst entdeckt

Fritz Perls

Es reicht nicht aus, ein Adoptivkind in die eigene Familie aufzunehmen und zu lieben

Donald W. Winnicott

Das Unbewusste ist der Diskurs des Anderen

Jacques Lacan

Die Hauptaufgabe eines jeden Menschen ist, sich selbst zu gebären

Erich Fromm

Das gute Leben ist ein Prozess, kein Daseinszustand

Carl Rogers

Ein Mensch hat die Aufgabe, alles zu sein, was er sein kann

Abraham Maslow

Im Leiden kann ein Sinn liegen

Viktor Frankl

Ohne Leiden keine menschliche Reifung

Rollo May

Rationale Überzeugungen führen zu gesunden Gefühlen

Albert Ellis

Die Familie ist die »Fabrik«, in der Menschen gemacht werden

Virginia Satir

Turn on, tune in, drop out

Timothy Leary

»Einsicht« erzeugt Blindheit

Paul Watzlawick

Wahnsinn muss kein totaler Zusammenbruch sein, er kann auch ein Durchbruch sein

Ronald D. Laing

Unsere Geschichte bestimmt nicht unser Schicksal

Boris Cyrulnik

Nur gute Menschen werden depressiv

Dorothy Rowe

Väter stehen unter einem Schweigebann

Guy Corneau

KOGNITIVE PSYCHOLOGIE

DAS RECHNENDE GEHIRN

Instinkt ist ein dynamisches Verhaltensmuster

Wolfgang Köhler

Wir erinnern uns leichter an Aufgaben, bei denen wir unterbrochen werden

Bljuma Seigarnik

Wenn ein Baby Schritte hört, wird ein neuronales Netz angeregt

Donald O. Hebb

Wissen ist ein Prozess, kein Produkt

Jerome Bruner

Ein Mensch mit Überzeugungen lässt sich nur schwer ändern

Leon Festinger

Die magische Zahl 7 plus/minus 2

George Armitage Miller

Die Oberfläche verrät mehr, als ins Auge fällt

Aaron Beck

Wir können immer nur einer Stimme lauschen

Donald Broadbent

Der Pfeil der Zeit schließt sich zum Ring

Endel Tulving

Wahrnehmung ist von außen geleitete Halluzination

Roger N. Shepard

Wir suchen ständig nach Kausalverknüpfungen

Daniel Kahneman

Ereignisse und Emotionen werden gemeinsam gespeichert

Gordon H. Bower

Emotionen sind wie ein Schnellzug ohne Bremsen

Paul Ekman

Ekstase ist ein Schritt in eine andere Realität

Mihály Csíkszentmihályi

Glückliche Menschen sind sehr gesellig

Martin Seligman

Selbst wenn wir von etwas zutiefst überzeugt sind, ist es nicht zwingend auch wahr

Elizabeth Loftus

Die sieben Gedächtnissünden

Daniel Schacter

Du bist nicht deine Gedanken

Jon Kabat-Zinn

Die Angst, dass die Biologie alles entzaubert, was uns heilig ist

Steven Pinker

Zwangshandlungen sind der Versuch, Zwangsgedanken zu kontrollieren

Paul Salkovskis

SOZIALPSYCHOLOGIE

DAS ZUSAMMENLEBEN MIT DEN ANDEREN

Ein System versteht man erst dann, wenn man versucht, es zu verändern

Kurt Lewin

Wie stark ist der Drang nach sozialer Konformität?

Solomon Asch

Wir alle spielen Theater

Erving Goffman

Je öfter man etwas sieht, umso besser gefällt es einem

Robert Zajonc

Wer mag kompetente Frauen?

Janet Taylor Spence

Blitzlichterinnerungen werden durch hochemotionale Ereignisse ausgelöst

Roger Brown

Es geht nicht darum, Wissen zu fördern, sondern darum, am Wissen teilzuhaben

Serge Moscovici

Wir sind von Natur aus soziale Wesen

William Glasser

Wir glauben, dass Menschen bekommen, was sie verdienen

Melvin Lerner

Menschen, die verrückte Dinge tun, sind nicht unbedingt verrückt

Elliot Aronson

Menschen tun, was man ihnen zu tun befiehlt

Stanley Milgram

Was passiert, wenn man gute Menschen an einen üblen Ort versetzt?

Philip Zimbardo

Trauma muss als Effekt der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft begriffen werden

Ignacio Martín-Baró

ENTWICKLUNGSPSYCHOLOGIE

VOM SÄUGLING ZUM ERWACHSENEN

Das Ziel der Erziehung ist, Männer und Frauen zu schaffen, die fähig sind, neue Dinge zu tun

Jean Piaget

Wir werden erst durch andere wir selbst

Lew Wygotski

Ein Kind ist mit keinem bestimmten Elternteil verbunden

Bruno Bettelheim

Alles, was wächst, hat einen Grundplan

Erik H. Erikson

Frühe emotionale Bindungen sind ein integraler Bestandteil der menschlichen Natur

John Bowlby

Körperkontakt ist existenziell wichtig

Harry Harlow

Wir bereiten Kinder auf ein Leben vor, über dessen Verlauf wir nichts wissen

Françoise Dolto

Eine einfühlsame Mutter sorgt für eine sichere Bindung

Mary Ainsworth

Wer lehrt ein Kind, ein Mitglied einer anderen Rasse zu hassen und zu fürchten?

Kenneth Clark

Mädchen bekommen bessere Noten als Jungen

Eleanor E. Maccoby

Die meisten menschlichen Verhaltensweisen werden über Modelle erlernt

Albert Bandura

Moral entwickelt sich in sechs Stufen

Lawrence Kohlberg

Das Sprachorgan wächst wie jedes andere Körperorgan

Noam Chomsky

Autismus ist eine extreme Variante des »männlichen« Gehirns

Simon Baron-Cohen

DIFFERENZIELLE PSYCHOLOGIE

PERSÖNLICHKEIT UND INTELLIGENZ

Nennen Sie möglichst viele Verwendungsmöglichkeiten für einen Zahnstocher

Joy Paul Guilford

Hatte Robinson Crusoe vor Freitags Auftauchen Persönlichkeitsmerkmale?

Gordon Allport

Die allgemeine Intelligenz besteht aus fluider und aus kristalliner Intelligenz

Raymond Cattell

Es gibt eine Verbindung zwischen Genie und Wahnsinn

Hans J. Eysenck

Leistung lässt sich auf drei Hauptbedürfnisse zurückführen

David C. McClelland

Emotion ist ein im Wesentlichen unbewusster Prozess

Nico Frijda

Ohne Hinweise aus der Umwelt wäre unser Verhalten absurd und chaotisch

Walter Mischel

In psychiatrischen Kliniken lassen sich Gesunde nicht von Kranken unterscheiden

David Rosenhan

Die drei Gesichter Evas

Corbett H. Thigpen, Hervey M. Cleckley

ANHANG

GLOSSAR

DANK

EINLEITUNG

Von allen Wissenschaften ist die Psychologie vielleicht die geheimnisvollste und am häufigsten missverstandene. Obwohl psychologisches Gedankengut in die Alltagskultur eingegangen ist, haben die meisten Menschen nur eine verschwommene Vorstellung davon, worum es in der Psychologie geht und was Psychologen eigentlich tun. Manche sehen Männer in weißen Kitteln vor sich, die eine Station für psychisch Kranke leiten oder Laborversuche an Ratten durchführen. Andere stellen sich vielleicht einen älteren Herrn vor, der seine Patienten, die vor ihm auf einer Couch liegen, psychoanalytisch durchleuchtet. Oder, wenn man einschlägigen Drehbüchern Glauben schenken darf, versucht, Macht über deren Gedanken zu erlangen.

Obwohl diese klischeehaften Bilder übertrieben sind, enthalten sie ein Körnchen Wahrheit. Vielleicht ist das riesige Spektrum an Themen, die der Psychologie zugeordnet werden (wie auch die verwirrende Bandbreite von Begriffen, die mit der Vorsilbe »psycho-« beginnen) verantwortlich dafür, dass im Hinblick auf Inhalt und Bedeutung dieser Disziplin Konfusion herrscht. Selbst Psychologen können sich nicht auf eine einheitliche Definition einigen. Das Wort »Psychologie« ist vom altgriechischen psyche – »Seele«, »Hauch«, »Atem« – und von logos – »Lehre«, »Wissenschaft« – abgeleitet. In der modernen Wissenschaftssprache trifft die Formulierung »Wissenschaft vom Erleben und Verhalten des Menschen« den Inhalt vielleicht am besten.

Eine neue Wissenschaft

Die Psychologie kann ebenso als eine Brücke zwischen Philosophie und Physiologie gesehen werden. Während die Physiologie die physikalischen und biochemischen Vorgänge im Körper, also auch im Gehirn und in den Nervenzellen, erforscht, widmet sich die Psychologie den mentalen Prozessen sowie ihrer Manifestation in Gedanken, Sprache und Verhalten. Wo die Philosophie sich mit Gedanken und Ideen beschäftigt, fragt die Psychologie, wie diese Gedanken entstehen und was sie über die Arbeitsweise des Geistes aussagen.

»Die Psychologie hat eine lange Vergangenheit, doch nur eine kurze Geschichte.«

Hermann Ebbinghaus

Alle Wissenschaften sind aus der Philosophie entstanden, und auch philosophische Fragestellungen wurden mit wissenschaftlichen Methoden untersucht. Doch da Untersuchungsgegenstände wie Bewusstsein, Wahrnehmung oder Erinnerung immateriell sind, dauerte es lange, bis die Psychologie den Schritt von der philosophischen Spekulation zur wissenschaftlichen Praxis gemacht hatte. An einigen Universitäten, insbesondere in den USA, wurden die psychologischen Institute in die philosophische Fakultät eingegliedert, an anderen, vor allem in Deutschland, ordnete man sie den Naturwissenschaften zu. Als eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin etablierte sich die Psychologie erst am Ende des 19. Jahrhunderts.

1879 gründete Wilhelm Wundt an der Leipziger Universität das weltweit erste Institut für experimentelle Psychologie. Damit war die Psychologie zur »echten« Wissenschaft geworden. Während des 20. Jahrhunderts entwickelte sie sich weiter. Dennoch sind viele der älteren Theorien auch für die moderne Psychologie von Bedeutung. Manche Themen waren und sind wissenschaftliche »Dauerbrenner«, während andere mal mehr, mal weniger im Fokus standen. Nichtsdestotrotz hatten sie einen bedeutenden Einfluss auf nachfolgende Generationen und ebneten so manches Mal den Weg für neue Forschungsfelder.

Um sich mit der ganzen Bandbreite der Psychologie vertraut zu machen, empfiehlt es sich, ihre Hauptströmungen in grob chronologischer Reihenfolge zu betrachten, so wie dieses Buch es vorschlägt: von den philosophischen Wurzeln über den Behaviorismus, die Psychotherapie, die kognitive Psychologie, die Sozial- und Entwicklungspsychologie bis hin zur differenziellen Psychologie.

Zwei Ansätze

In den USA wurzelt die Psychologie in der Philosophie, was zu einem spekulativen, theoretischen Ansatz führte. Dabei standen Begriffe wie »Bewusstsein« und »Selbst« im Mittelpunkt. In Europa hingegen fußt sie auf den Naturwissenschaften. Ihre Vertreter konzentrierten sich darauf, mentale Prozesse wie Sinneswahrnehmungen und Erinnerungen unter kontrollierten Laborbedingungen zu untersuchen. Pioniere wie Hermann Ebbinghaus bedienten sich dazu der Introspektion und machten sich selbst zu Forschungsobjekten. Viele Psychologen der nachfolgenden Generation fanden dieses Verfahren zu subjektiv und suchten nach objektiveren Untersuchungsmethoden.

In den 1890er-Jahren führte der russische Physiologe Iwan Pawlow Experimente durch, die die Entwicklung der Psychologie sowohl in Europa als auch in den USA entscheidend beeinflussten. Er bewies, dass Tiere so konditioniert werden können, dass sie auf einen willkürlich gesetzten Reiz reflexhaft reagieren. Das war der Beginn des Behaviorismus. Die Behavioristen sahen keine Möglichkeit, mentale Prozesse objektiv zu erforschen. Sie fanden es aber relativ einfach, deren äußere Manifestation, sprich die Verhaltensweisen, zu messen. Sie entwickelten Versuche, die unter kontrollierten Bedingungen durchgeführt werden konnten, zunächst an Tieren, später an Menschen. Dabei konzentrierten sie sich fast nur auf die Frage, wie sich Verhalten durch Interaktion mit der Umgebung formt. John B. Watson machte diese Reiz-Reaktions-Theorie weltweit bekannt.

Praktisch zeitgleich zur Entstehung des Behaviorismus in den USA begann ein junger Neurologe in Wien eine psychologische Theorie zu entwickeln, die sich als revolutionär erweisen sollte. Sigmund Freud, der Vater der Psychoanalyse, setzte statt auf Laborexperimente auf die Beobachtung von Patienten und Fallstudien. Damit sprach er sich dafür aus, zum Studium subjektiver Erfahrung zurückzukehren. Er interessierte sich für die Erinnerungen, die Kindheit und die zwischenmenschlichen Beziehungen seiner Patienten und hob den Einfluss des Unbewussten auf das Verhalten hervor. Obwohl Freuds Fokussierung auf das Triebleben seine Zeitgenossen schockierte, stießen seine Ideen schnell auf Resonanz – der Begriff »Redekur« hat sich in der Psychotherapie bis heute gehalten.

»Die erste und oberste konkrete Tatsache … ist die, dass Bewusstsein irgendwelcher Art stattfindet.«

William James

Neue Forschungsfelder

Mitte des 20. Jahrhunderts rückte das naturwissenschaftliche Studium psychischer Prozesse wieder in den Vordergrund. In den USA entstand eine Forschungsrichtung, die auf der ganzheitlich ausgerichteten Gestaltpsychologie basierte: die kognitive Psychologie. Ende der 1950er-Jahre hatte sie allen anderen psychologischen Strömungen den Rang abgelaufen. Die Kommunikationswissenschaften und die Informatik, die schnell an Einfluss gewannen, lieferten nützliche Analogien: So verwendeten Psychologen Modelle der Informationsverarbeitung, um zu Themenbereichen wie Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Erinnern und Vergessen, Sprache und Spracherwerb, Problemlösung, Entscheidungsfindung und Motivation neue Theorien zu entwickeln.

Selbst die Psychotherapie, die aus der ursprünglich psychoanalytischen »Redekur« hervorgegangen war, wurde von der kognitiven Psychologie beeinflusst. Als Alternativen zur Psychoanalyse entstanden die kognitive Therapie und die kognitive Verhaltenstherapie. Hieraus wiederum entwickelte sich die humanistische Psychologie, die sich auf die vorhandenen Potenziale jedes Einzelnen konzentriert. Im Fokus stand nicht mehr die Heilung von Kranken, sondern die Frage, wie gesunde Menschen sich optimal entfalten und ihrem Leben mehr Sinn geben können.

Während sich die Psychologie zu Beginn ihrer Geschichte vor allem auf das Seelenleben und das Verhalten von Individuen konzentriert hatte, rückte nun die Frage in den Mittelpunkt, wie wir mit unserer Umgebung und anderen Menschen interagieren. Dieses Feld beackerte die Sozialpsychologie. Wie die kognitive Psychologie hatte sie der Gestaltpsychologie viel zu verdanken, vor allem dem Psychologen Kurt Lewin, der in den 1930er- Jahren aus NS-Deutschland in die USA geflohen war. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ergaben die Forschungen interessante Erkenntnisse über unsere Einstellungen und Vorurteile, unsere Neigung zu Gehorsam und Konformität und die Gründe für Aggression und Altruismus – Eigenschaften, die in der modernen Gesellschaft immer wichtiger wurden und der Sozialpsychologie einen Boom bescherten.

Freuds Einfluss kam insbesondere in der Entwicklungspsychologie zum Tragen. Das Interesse verlagerte sich von der kindlichen Entwicklung auf die gesamte Lebensgeschichte von der Kindheit bis ins hohe Alter. Psychologen ergründeten die Methoden des sozialen, kulturellen und moralischen Lernens und erforschten, wie wir Bindung aufbauen. Die Entwicklungspsychologie beeinflusste die Pädagogik und – wenn auch nicht ganz so offensichtlich – das Nachdenken über den Zusammenhang zwischen kindlicher Entwicklung und späteren Einstellungen zu Rasse und Geschlecht.

Fast jede psychologische Schule hat sich auf irgendeine Weise mit der Einzigartigkeit des Individuums beschäftigt, doch erst Ende des 20. Jahrhunderts entstand daraus eine eigenständige Disziplin: die differenzielle Psychologie. Sie beschäftigt sich mit der Frage, was die Persönlichkeit eines Menschen ausmacht, wie sie sich messen lässt, aus welchen Bestandteilen sich Intelligenz zusammensetzt, welche Maßstäbe für Normalität und Abnormalität gelten und in welchem Maß individuelle Unterschiede auf Umwelteinflüsse und/oder das genetische Erbe zurückzuführen sind.

»Der Schreibtischstuhl, dessen Lehne dem Schreibenden […] den Rücken stärkte, wird abgelöst durch die ›Couch des Psychiaters‹ …«

Marshall McLuhan

Eine einflussreiche Wissenschaft

Die moderne Psychologie deckt alle Facetten des menschlichen Innenlebens und Verhaltens ab. Ihr Anwendungsbereich überschneidet sich inzwischen mit dem vieler anderer Disziplinen, darunter Medizin, Physiologie, Neurowissenschaften, Informatik, Pädagogik, Soziologie, Anthropologie, Politik, Wirtschaftswissenschaften und Jura.

Noch immer beeinflusst sie andere Wissenschaften und wird von ihnen beeinflusst, vor allem auf den Gebieten der Neurowissenschaften und der Genetik. Francis Galtons These, dass die biologische Veranlagung die individuelle Entwicklung stärker formt als die Erziehung, wird bis heute diskutiert. So versucht die Evolutionspsychologie psychische Merkmale als ererbte biologische Phänomene zu erklären, die den Gesetzen der Genetik und der natürlichen Auslese unterliegen.

Die Psychologie ist ein weites Feld, und ihre Erkenntnisse betreffen jeden Einzelnen. Auf die eine oder andere Weise begründet sie viele Entscheidungen, die von Regierungen und Unternehmen sowie im Bereich Werbung und Massenmedien getroffen werden. Sie wirkt auf Gruppen und auf Individuen ein und trägt zur öffentlichen Diskussion über Gesellschaftsstrukturen genauso viel bei wie zur Diagnose und Behandlung psychischer Erkrankungen.

»Das Ziel der Psychologie besteht darin, uns von den Dingen, die wir am besten kennen, eine ganz neue Vorstellung zu geben.«

Paul Valéry

Psychologische Theorien sind Teil unserer Alltagskultur geworden. Das geht sogar so weit, dass viele Erkenntnisse über das menschliche Verhalten und über psychische Prozesse inzwischen einfach als Produkte des »gesunden Menschenverstands« angesehen werden. Doch während manche Thesen unsere instinktiven Annahmen bestätigen, sorgen andere für Kopfzerbrechen. Psychologen, deren Forschungsergebnisse feststehende Überzeugungen erschütterten, schockierten die Öffentlichkeit häufig und brachten sie gegen sich auf.

Selbst während ihrer nur kurzen Geschichte hat die Psychologie unsere Denkweisen stark verändert und viel dazu beigetragen, dass wir uns selbst, andere Menschen und die Welt, in der wir leben, besser verstehen. Sie hat tief verwurzelte Überzeugungen infrage gestellt, unangenehme Wahrheiten ans Licht gebracht und auf komplexe Fragen spektakuläre Antworten gegeben. Dass sie als Studienfach immer populärer wird, zeugt nicht nur von ihrer großen Bedeutung für die moderne Welt, sondern auch von der Inspiration, die mit der Erforschung der geheimnisvollen menschlichen Psyche in all ihren Facetten noch immer einhergeht.

PHILOSOPHISCHE WURZELN

DIE ENTSTEHUNG DER PSYCHOLOGIE

1649

René Descartes publiziert Les Passions de l’âme (Die Leidenschaften der Seele) und behauptet, Körper und Seele seien zwei verschiedene Substanzen.

1816

Johann Friedrich Herbart beschreibt in seinem Lehrbuch zur Psychologie eine dynamische Seele mit einem Bewusstsein und einem Unbewussten.

1859

Charles Darwin veröffentlicht On the Origin of Species (Über die Entstehung der Arten) und propagiert, dass all unsere Eigenschaften vererbt werden.

1869

Francis Galton schreibt in Hereditary Genius (Genie und Vererbung), dass die Vererbung wichtiger sei als die Erziehung.

1812

José Custodio de Faria (Abt Faria) erforscht in seinem Buch De la cause du sommeil lucide ou Étude de la nature de l’homme die Hypnose.

1849

Søren Kierkegaards Buch Die Krankheit zum Tode markiert den Beginn der Existenzphilosophie.

1861

Der Neurochirurg Pierre Paul Broca entdeckt, dass die rechte und die linke Gehirnhälfte unterschiedliche Funktionen haben.

1872

Jean-Martin Charcot publiziert seine Leçons sur les maladies du système nerveux (Klinischen Vorträge über Krankheiten des Nervensystems).

1874

Carl Wernicke beweist, dass die Schädigung eines bestimmten Gehirnareals den Verlust bestimmter Fähigkeiten nach sich zieht.

1883

Emil Kraepelin veröffentlicht das Compendium der Psychiatrie.

1887

Granville Stanley Hall bringt die erste Nummer des American Journal of Psychology heraus.

1890

William James, der »Vater der Psychologie«, publiziert das Werk Principles of Psychology (Psychologie).

1879

Wilhelm Wundt gründet in Leipzig das erste Institut für experimentelle Psychologie.

1885

Hermann Ebbinghaus schildert in seinem Buch Über das Gedächtnis seine Versuche mit dem Erlernen sinnloser Silben.

1889

Pierre Janet postuliert, dass Hysterie mit Dissoziation und Persönlichkeitsspaltung einhergeht.

1895

Alfred Binet eröffnet das erste Labor für psychologische Diagnostik.

Viele Fragen der modernen Psychologie beschäftigten lange vor der Entstehung dieser Wissenschaft die Philosophen. Schon im antiken Griechenland versuchten sie Klarheit darüber zu gewinnen, wie die Welt um uns herum beschaffen ist, wie wir denken und uns verhalten. Seither ringen wir mit Dingen wie Bewusstsein und Selbst, Seele, Geist und Körper, Wissen und Wahrnehmung und mit der Frage, wie man eine Gesellschaft am besten aufbaut und ein »gutes Leben« führt.

Die verschiedenen Wissenschaftszweige, die aus der Philosophie hervorgingen, entwickelten ab dem 16. Jahrhundert eine Eigendynamik, die im 18. Jahrhundert in eine »wissenschaftliche Revolution« mündete: Das Zeitalter der Vernunft begann. Viele Fragen zur Welt, in der wir leben, konnten nun beantwortet werden, aber wie die Psyche funktioniert, war nach wie vor ein Buch mit sieben Siegeln. Wissenschaft und Technik erarbeiteten jedoch Modelle, die als Ausgangspunkt genutzt werden konnten, um die richtigen Fragen zu formulieren und Theorien durch das Sammeln von Daten zu überprüfen.

Trennung von Seele und Körper

Eine der Schlüsselfiguren der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts, der Philosoph und Mathematiker René Descartes, traf eine Unterscheidung, die sich als entscheidend für die Entwicklung der Psychologie erweisen sollte. Er behauptete, jeder Mensch habe einen maschinenähnlichen Körper und eine immaterielle, denkende Vernunftseele. Spätere Philosophen, darunter Johann Friedrich Herbart, waren noch radikaler und beschrieben mentale Prozesse als das Wirken der Maschine Gehirn.

Die Frage, inwieweit Psyche und Körper voneinander getrennt sind, wurde zum Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen. Wie viel Körper besitzt der Geist, und wie stark wird er durch die Umwelt geformt? Die Debatte über die Bedeutung der Vererbung im Verhältnis zur Erziehung, die der britische Naturforscher Charles Darwin mit seiner Evolutionstheorie befeuerte und die von Francis Galton aufgegriffen wurde, rückte Untersuchungsgegenstände wie den freien Willen, die Persönlichkeit sowie Fragen der Entwicklung und des Lernens in den Fokus. Sie waren von den Philosophen nicht erschöpfend behandelt worden.

Zwischenzeitlich geriet die geheimnisvolle Natur der Psyche über das Phänomen Hypnose wieder stärker ins Blickfeld. Immer mehr ernst zu nehmende Wissenschaftler erwogen, dass das Geistes- und Seelenleben nicht nur aus unmittelbar zugänglichen bewussten Gedanken bestand. Sie begannen das Wesen des »Unbewussten« und seinen Einfluss auf das Denken und Verhalten zu erforschen.

Die Geburt der Psychologie

Vor diesem Hintergrund entstand die moderne Psychologie. 1879 gründete Wilhelm Wundt an der Universität Leipzig das weltweit erste Forschungslabor für experimentelle Psychologie, an europäischen und US-amerikanischen Universitäten wurden neue psychologische Institute eingerichtet. Wie die Philosophie entwickelte sich die Psychologie in unterschiedliche Richtungen: In Deutschland arbeiteten Psychologen wie Wilhelm Wundt, Hermann Ebbinghaus und Emil Kraepelin streng naturwissenschaftlich und experimentell. In den USA hingegen verfolgten William James und seine Nachfolger an der Harvard University einen eher theoretischen und philosophischen Ansatz.

Zudem entwickelte sich eine einflussreiche Strömung in Paris. Sie basierte auf dem Werk des Neurologen Jean-Martin Charcot, der Hysterikerinnen mit Hypnose behandelt hatte, und zog Psychologen wie Pierre Janet in ihren Bann, dessen Auffassung vom Unterbewussten Freuds psychoanalytische Theorien vorwegnahmen.

In den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wuchs die Bedeutung der Psychologie. Zum ersten Mal wurden naturwissenschaftliche Methoden auf Fragen der Wahrnehmung, des Bewusstseins, der Erinnerung, des Lernens und der Intelligenz angewandt. Beobachtungen und Experimente führten zu vielen neuen Theorien.

Obwohl diese Theorien oft auf introspektiv gewonnenen Einsichten oder höchst subjektiven Patientenberichten basierten, beflügelten sie zur Jahrhundertwende eine neue Generation von Psychologen. Diese hatten sich der Entwicklung einer objektiven Geistes- und Verhaltensforschung verschrieben und wollten ihre neu gewonnenen Erkenntnisse einsetzen, um psychische Störungen zu behandeln.

DIE VIER TEMPERAMENTE

GALEN (UM 129–201)

IM KONTEXT

ANSATZ

Vier-Säfte-Lehre

FRÜHER

um 400 v. Chr. Der griechische Arzt Hippokrates behauptet, dass sich die Eigenschaften der vier Elemente Erde, Luft, Feuer und Wasser in den Körperflüssigkeiten widerspiegeln.

um 325 v. Chr. Der griechische Philosoph Aristoteles nennt vier Quellen des Glücks: Lust, Besitz, Tugend und Vernunft.

SPÄTER

1543 Der Anatom Andreas Vesalius veröffentlicht in Italien das Buch De humani corporis fabrica (Anatomia). Es zeigt Galens Irrtümer auf, Vesalius wird wegen Ketzerei angeklagt.

1879 Wilhelm Wundt führt die Ausprägung der Temperamente darauf zurück, wie stark die Gefühle sind und wie schnell sie wechseln.

Der griechische Philosoph und Arzt Galen teilte die Menschen auf Grundlage der antiken Vier-Säfte-Lehre in vier Persönlichkeitstypen ein. Diese Lehre geht zurück auf den griechischen Philosophen Empedokles (um 495–435 v. Chr.), laut ihm bestehen alle bekannten Stoffe aus den vier Grundelementen: Erde (kalt, trocken), Luft (warm, feucht), Feuer (warm, trocken) und Wasser (kalt, feucht). Darauf beruht auch das medizinische Modell des Hippokrates (460–370 v. Chr.), er ordnete die Eigenschaften der Elemente den vier Körperflüssigkeiten zu, die »Säfte« genannt wurden.

Galen wandte die Vier-Säfte-Lehre darüber hinaus auf die Psyche an: Er sah eine direkte Verbindung zwischen der Vorherrschaft eines Saftes und bestimmten Verhaltensneigungen – den Temperamenten. Galen identifizierte vier davon: Sanguiniker, Phlegmatiker, Choleriker und Melancholiker. Sanguiniker haben seiner Auffassung nach zu viel Blut (lat. sanguis), sind warmherzig, fröhlich, optimistisch und selbstbewusst, können aber auch egoistisch sein. Phlegmatiker (von griech. phlegma – Hitze, Entzündung, Schleim) hingegen sind ruhige, freundliche, kühle, rationale und beständige Persönlichkeiten, die zu Langsamkeit und Schüchternheit neigen. Choleriker (von griech. chole – Galle) haben ein hitziges Temperament und zu viel gelbe Galle. Im Gegensatz dazu leiden Melancholiker (von griech. melancholia – schwarze Galle) an einem Überschuss an schwarzer Galle, sie gelten als Künstlernaturen, die oft von Traurigkeit und Angst heimgesucht werden.

Ein Ungleichgewicht der Säfte ist ausschlaggebend für den Persönlichkeitstypus und die Neigung zu bestimmten Erkrankungen.

Ungleichgewicht der Säfte

Nach Galen haben manche Menschen eine Disposition für ein bestimmtes Temperament. Damit einhergehende psychische Probleme werden seiner Auffassung nach durch ein Ungleichgewicht der Säfte verursacht. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass dieses Ungleichgewicht durch eine Ernährungsumstellung und Bewegungsübungen ausgeglichen werden kann. In schweren Fällen empfiehlt er Einläufe und Aderlässe als Therapeutika. Der Blutüberschuss eines Sanguinikers wird zum Beispiel durch eine Einschränkung des Fleischkonsums oder durch Aderlass kuriert.

Galens Lehren dominierten die Medizin bis zum Beginn der Renaissance; von da an begann sein Stern zu sinken. 1543 stellte der in Italien praktizierende Arzt Andreas Vesalius (1514–1564) mehr als 200 Irrtümer in Galens anatomischen Beschreibungen fest. Obwohl die medizinischen Ausführungen Galens zunehmend in die Kritik gerieten, beeinflussten sie die Psychologie bis ins 20. Jahrhundert. 1947 behauptete Hans Jürgen Eysenck, dass das Temperament genetisch bedingt sei und die von ihm identifizierten Persönlichkeitsdimensionen – Neurotizismus und Extraversion – die alten Temperamente widerspiegelten.

Auch wenn die Vier-Säfte-Lehre in der Psychologie keine Rolle mehr spielt, basiert so manche moderne Therapieform auf Galens Gedanken, dass viele Krankheiten psychosomatisch bedingt sind.

Galen

Galenus von Pergamon war ein griechischer Arzt, Chirurg und Philosoph. Sein Vater Aelius Nikon, ein wohlhabender Architekt, ermöglichte ihm eine gute Ausbildung und gab ihm Gelegenheit zum Reisen. Galen ließ sich in Rom nieder und diente mehreren Kaisern als Leibarzt, unter anderem Marc Aurel. Bei der Behandlung von Gladiatoren lernte er viel über die Therapie von Traumata. Er schrieb über 500 medizinische Bücher und hielt das Sezieren von Tieren und das Studium der Anatomie für die besten Methoden, um sich medizinisches Wissen anzueignen. Obwohl Galen die Funktionen vieler innerer Organe entdeckte, glaubte er irrtümlich, dass Tiere wie Affen oder Schweine dem Menschen anatomisch gleich seien. Sein Todesdatum ist umstritten, Galen wurde aber auf jeden Fall über 70 Jahre alt.

Hauptwerke

um 190De temperamentis

um 190De naturalibus facultatibus

in mehreren TeilenMethodi medendi (16 Bücher zu verschiedenen Medizinbereichen)

EINE VERNUNFTBEGABTE SEELE IN DER MASCHINE

RENÉ DESCARTES (1596–1650)

IM KONTEXT

ANSATZ

Dualismus von Körper und Seele

FRÜHER

4. Jh. v. Chr. Der griechische Philosoph Platon behauptet, der Körper entstamme der materiellen Welt, die Seele hingegen der immateriellen Welt der Ideen.

4. Jh. v. Chr. Der griechische Philosoph Aristoteles sagt, dass die Seele nicht ohne den Körper existiert; sie bewegt und formt den Leib.

SPÄTER

1710 In Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis schreibt der irische Philosoph George Berkeley, dass der Körper nur eine Wahrnehmung der Seele sei.

1904 In seinem Essay Does ›Consciousness‹ exist? führt William James aus, dass das Bewusstsein eine Funktion bestimmter Erfahrungen sei.

Der Gedanke, dass Seele und Leib getrennt voneinander sind, geht auf Platon und die alten Griechen zurück. Doch René Descartes gebührt das Verdienst, die Beziehung zwischen Körper und Vernunftseele erstmals im Einzelnen beschrieben zu haben. 1633 verfasste er seine erste philosophische Abhandlung, die später unter dem Titel Traité de l’homme (Über den Menschen) erschien und in der er den Dualismus zwischen Seele und Körper darstellte: Während die immaterielle Vernunftseele in der Zirbeldrüse sitze und das Denken besorge, sei der Körper wie eine Maschine, die von »Lebensgeistern« angetrieben werde. Diese strömten durch das Nervensystem, um Bewegung zu erzeugen. Einen ähnlichen Gedanken hatte im 2. Jahrhundert n. Chr. schon Galen formuliert, doch Descartes war der Erste, der ihn in allen Einzelheiten ausformulierte.

In einem Brief an den französischen Philosophen Marin Mersenne stellte Descartes dar, dass die Zirbeldrüse der Sitz des Denkens und damit auch der Vernunftseele sein müsse, denn das eine lasse sich nicht vom anderen trennen. Diese Erkenntnis erschien ihm deshalb so wichtig, weil es andernfalls zwischen Vernunftseele und Körper keinerlei Verbindung gäbe.

Descartes war der Ansicht, dass Körper und Vernunftseele über die im Körper zirkulierenden Lebensgeister interagieren. Werde die Vernunftseele sich dieser Lebensgeister bewusst, entstehe eine bewusste Wahrnehmung. Auf diese Weise könne der Körper Einfluss auf die Vernunftseele nehmen. Umgekehrt beeinflusse diese den Körper, indem sie die Lebensgeister in bestimmte Körperregionen schicke und damit eine Tätigkeit auslöse.

»Ich bemerke nämlich, dass … ein großer Unterschied zwischen Seele und Körper ist …«

René Descartes

Descartes fand, die Zirbeldrüse sei ideal platziert, um die Eindrücke der paarigen Sinnesorgane Auge und Ohr zu einer einzigen Wahrnehmung zu verschmelzen.

Der Geist ist wie ein Brunnenmeister

Inspiriert von den Brunnen in der Parkanlage des Versailler Schlosses, verglich Descartes in Über den Menschen die Lebensgeister, die Nerven und Muskeln antreiben, mit der Wasserkraft, die ein Quellmeister kontrolliert und in die richtigen Bahnen lenkt: »Und wenn schließlich eine vernunftbegabte Seele in dieser Maschine sein wird, wird sie ihren Hauptsitz im Gehirn haben und dort wie ein Quellmeister sein, der den Verteiler, an dem alle Röhren dieser Maschinen zusammenkommen, bedienen muss, wenn er in irgendeiner Weise ihre Bewegungen beschleunigen, verhindern oder verändern will.«

Während Philosophen bis heute darüber streiten, ob Geist und Gehirn zwei getrennte Einheiten sind, setzen die meisten Psychologen die Psyche mit der Gehirntätigkeit gleich. In praktischer Hinsicht ist zwischen seelischer und körperlicher Gesundheit oft nur schwer zu unterscheiden: Psychischer Stress kann körperliche Erkrankungen auslösen, und eine Störung der chemischen Prozesse im Körper kann sich auf das Gehirn auswirken.

René Descartes

René Descartes wurde in La Haye (Touraine) geboren. Seine Mutter infizierte ihn mit Tuberkulose und starb kurz nach seiner Geburt. Mit acht Jahren kam er aufs Jesuitenkolleg von La Flèche (Anjou), wo er es sich angewöhnte, wegen seiner schwachen Gesundheit jeden Morgen zu »meditieren« – über Philosophie, Wissenschaft und Mathematik. Von 1612 bis 1628 unternahm er zahlreiche Reisen. 1649 lud Königin Christina von Schweden ihn ein, sie zu unterrichten, doch die frühmorgendlichen Audienzen und das raue Klima ruinierten seine Gesundheit endgültig. Er starb am 11. Februar 1650. Offizielle Todesursache: eine Lungenentzündung. Einige Historiker glauben aber, dass Descartes vergiftet wurde, weil er die protestantische Königin davon abhalten wollte, zum Katholizismus überzutreten.

Hauptwerke

1637Discours de la méthode

1664Über den Menschen (geschrieben 1633)

1647Beschreibung des menschlichen Körpers

1649Die Leidenschaften der Seele

SCHLAFEN SIE!

ABT FARIA (1756–1819)

IM KONTEXT

ANSATZ

Hypnose

FRÜHER

1027 Der persische Philosoph und Arzt Avicenna (Ibn Sina) schreibt in seinem Buch der Heilung über die Trance.

1779 Der deutsche Arzt Franz Anton Mesmer publiziert seine Abhandlung über die Entdeckung des thierischen Magnetismus.

SPÄTER

1843 Der schottische Chirurg James Braid prägt in seinem Buch Neurypnology den Begriff »Neurohypnotismus«.

1880er-Jahre Der französische Psychologe Émile Coué entdeckt den Placeboeffekt und seine Bedeutung.

1880er-Jahre Sigmund Freud beschäftigt sich mit der Hypnose und setzt die hypnotische Suggestion als therapeutisches Mittel ein.

Das Erzeugen von Trancezuständen zu therapeutischen Zwecken ist kein Phänomen der Moderne. Schon für die alten Ägypter und Griechen war es völlig normal, sich in »Schlaftempel« zu begeben, wo sie von Priestern in einen schlafähnlichen Zustand versetzt und mithilfe von Suggestion behandelt wurden. 1027 beschrieb der persische Philosoph und Arzt Avicenna die Wirkung der Trance. Lange wurde sie vernachlässigt, bis der deutsche Arzt Franz Anton Mesmer sie im 18. Jahrhundert erstmals wieder zu Therapiezwecken einsetzte. Mesmer behandelte seine Patienten, indem er mit Magneten und Energieübertragung auf den »animalischen Magnetismus« im menschlichen Körper einzuwirken versuchte. Manche Patienten bekamen nach dieser »Mesmerisierung« einen Krampf. Anschließend fühlten sie sich angeblich besser.

Ein paar Jahre später studierte der in Indien geborene portugiesische Abt Faria Mesmers Werk und kam zu dem Schluss, dass der Gedanke, Magnete seien für den Heilungsprozess entscheidend, vollkommen absurd sei. Tatsächlich verfüge jedes Individuum selbst über die Fähigkeit, in Trance oder »luziden Schlaf« zu fallen. Entscheidend sei allein die Macht der Suggestion, besondere Kräfte seien nicht notwendig.

Luzider Schlaf

Faria wollte seinen Patienten helfen, in den dafür richtigen Geisteszustand hineinzufinden. In De la cause du sommeil lucide ou Étude de la nature de l’homme beschrieb er seine Methode: »Nachdem ich geeignete Patienten ausgewählt habe, bitte ich sie, sich in einem Sessel zu entspannen, die Augen zu schließen und an Schlafen zu denken. Wenn sie ruhig auf weitere Anweisungen warten, sage ich sanft oder bestimmt: ›Schlafen Sie!‹, und sie fallen in luziden Schlaf.«

Franz Anton Mesmer versetzte seine Patientinnen in Trance, indem er ihnen Magnete auflegte. Das sollte den Körper wieder in ein harmonisches Gleichgewicht bringen.

»Nichts kommt vom Magnetiseur, alles kommt vom Subjekt und findet in seiner Vorstellung statt.«

Abt Faria

Abt Faria

José Custódio de Faria wurde in der portugiesischen Kolonie Goa geboren. Als sich seine Eltern trennten, er war gerade 15, reisten er und sein Vater nach Portugal – in der Tasche Empfehlungsschreiben für den portugiesischen Hof. Beide schlugen die Priesterlaufbahn ein. Als der junge Faria dort in der Privatkapelle der Königin predigte, geriet er in Panik. Doch sein Vater flüsterte ihm zu: »Das sind alles Strohköpfe, drisch das Stroh!« Daraufhin sprach Faria flüssig weiter. Später fragte er sich, wieso dieser einfache Satz ihn so schnell hatte beruhigen können. Später zog er nach Frankreich, nahm an der Revolution teil und landete im Gefängnis, wo er die Technik der Autosuggestion verfeinerte. Später wurde er Professor für Philosophie, doch seine öffentlichen Demonstrationen zum »luziden Schlaf« untergruben seinen Ruf. 1819 starb er an einem Schlaganfall, er wurde anonym auf dem Montmartre in Paris begraben.

Hauptwerk

1819De la cause du sommeil lucide ou Étude de la nature de l’homme.

VORSTELLUNGEN WERDEN KRÄFTE, INDEM SIE EINANDER WIDERSTEHEN

JOHANN FRIEDRICH HERBART (1776–1841)

IM KONTEXT

ANSATZ

Strukturalismus

FRÜHER

1704 Der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz setzt sich in seinen Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand mit »petites perceptions« (Bewusstseinsdifferenzialen) auseinander.

1869 Der deutsche Philosoph Eduard von Hartmann publiziert sein viel gelesenes Werk Philosophie des Unbewussten.

SPÄTER

1895 Sigmund Freud und Josef Breuer veröffentlichen mit ihren Studien über Hysterie das erste Werk der Psychoanalyse.

1912 Carl Gustav Jung entwickelt in seinem Werk Wandlungen und Symbole der Libido seine Theorie vom kollektiven Unbewussten, das er als psychisches Erbe der Menschheit betrachtet.

Der deutsche Philosoph Johann Friedrich Herbart beschäftigte sich unter anderem mit der Frage, wie der Geist arbeitet, insbesondere damit, wie er mit »Vorstellungen« umgeht. Obwohl jeder Mensch im Lauf seines Lebens unzählige Vorstellungen hat, entsteht daraus keine zunehmende Verwirrung. Wie kann das sein? Herbart kam zu dem Schluss, dass der Geist über eine Art Differenzierungs- und Speichersystem verfügen müsse. Auch wollte er zeigen, dass manche Vorstellungen jenseits des Bewusstseins existieren. Gottfried Wilhelm Leibniz hatte im 18. Jahrhundert als Erster die Existenz solcher Vorstellungen vermutet und sie »petites perceptions« genannt – wörtlich: kleine Wahrnehmungen. Unter anderem hatte er dargelegt, dass wir uns häufig an bestimmte Details eines Geschehens erinnern können, selbst wenn wir sie gar nicht bewusst wahrgenommen haben.

Gedanken und Gefühle enthalten laut Herbart Energie. Ähnliche Vorstellungen ziehen einander an, unterschiedliche stoßen einander ab.

Dynamische Vorstellungen

Vorstellungen bilden sich Herbart zufolge, indem sich Sinneswahrnehmungen verbinden. Sie umfassen Gedanken, innere Bilder und Gefühlszustände. Herbart sah sie nicht als statische, sondern als dynamische Elemente, die interagieren können. Vorstellungen, so meinte er, können wie Magnete einander anziehen und sich mit anderen Vorstellungen oder Gefühlen verbinden oder einander abstoßen. Ähnliche Vorstellungen wie etwa Farbe und Farbton ziehen einander an und verschmelzen zu einer komplexeren Vorstellung.

Unähnliche Vorstellungen können ohne Verbindung nebeneinander bestehen. Mit der Zeit verblassen sie, bis sie schließlich unter die »Schwelle des Bewusstseins« sinken. Treffen einander widersprechende Vorstellungen direkt aufeinander, entsteht ein Gegendruck, und »aus Vorstellungen werden Kräfte, indem sie einander widerstehen«. Die Abstoßungsenergie drängt eine der beiden Vorstellungen ins Unbewusste ab, wie im Lehrbuch zur Psychologie zu lesen ist: »Das heißt, das wirkliche Vorstellen verwandelt sich in ein Streben vorzustellen.«

Für Herbart war das Unbewusste schlicht ein Speicher für schwache oder gegenläufige Vorstellungen. Indem er das Bewusstsein in zwei Teile spaltete, getrennt durch eine »mechanische Schwelle«, beantwortete er die Frage, wie eine gesunde Psyche mit Vorstellungen umgeht, auf strukturelle Weise. Sigmund Freud erkannte in der Psyche ein viel komplexeres und aufschlussreicheres Phänomen. Er verarbeitete Herbarts Ansatz in seinen eigenen Theorien über das Unbewusste und schuf so die Basis für die wichtigste Therapieform des 20. Jahrhunderts: die Psychoanalyse.

Johann Friedrich Herbart

Johann Friedrich Herbart wurde in Oldenburg geboren. Er wurde bis zu seinem 13. Lebensjahr von seiner Mutter unterrichtet, im Anschluss daran besuchte er zunächst die Oldenburger Lateinschule und studierte dann an der Universität Jena unter anderem Philosophie. Drei Jahre lang war er als Hauslehrer tätig, anschließend promovierte er an der Göttinger Universität und lehrte Philosophie. 1809 wurde er als Professor für Philosophie und Pädagogik auf den früheren Lehrstuhl Immanuel Kants nach Königsberg berufen. Dort lernte er die Engländerin Mary Drake kennen, die er im Jahr 1811 heiratete. 1833 kehrte er nach Auseinandersetzungen mit der preußischen Regierung zurück an die Göttinger Universität. Dort wirkte er als Professor für Philosophie, bis er im Alter von 65 Jahren an einem Schlaganfall starb.

Hauptwerke

1808Allgemeine praktische Philosophie

1816Lehrbuch zur Psychologie

1824Psychologie als Wissenschaft

DAS SELBST SEIN ZU WOLLEN, DAS MAN IN WAHRHEIT IST

SØREN KIERKEGAARD (1813–1855)

IM KONTEXT

ANSATZ

Existenzphilosophie

FRÜHER

5. Jh. v. Chr. Sokrates sieht die Entdeckung des »wahren Selbst« als Schlüssel zum Glück.

SPÄTER

1879 Wilhelm Wundt setzt die Selbstanalyse als Mittel psychologischer Forschung ein.

1913 John B. Watson kritisiert die Anwendung der Selbstanalyse in der Psychologie.

1951 Carl Rogers publiziert Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie; 1961 erscheint Entwicklung der Persönlichkeit.

1960 Ronald D. Laing definiert in Das geteilte Selbst den Begriff »Wahnsinn« neu und propagiert die Daseinsanalyse als Therapiemethode.

1996 Rollo May bezieht sich in seinem Buch The Meaning of Anxiety auf Kierkegaards Werk Der Begriff Angst.

Die Frage »Wer bin ich?« beschäftigte schon die alten Griechen. Sokrates (470–399 v. Chr.) sah die Aufgabe der Philosophie darin, durch Selbsterkenntnis die Glückseligkeit zu fördern. »Das Leben, das nicht einer Prüfung unterzogen wird, ist für einen Menschen nicht lebenswert«, lautet einer seiner berühmtesten Sätze. Für Søren Kierkegaard war die Selbstanalyse ein Mittel zum Verständnis der Verzweiflung, die seiner Ansicht nach nicht aus der Depression, sondern aus der Selbstentfremdung resultiert, wie er in seinem Buch Die Krankheit zum Tode (1849) darlegte.

Napoleons Machtgier, auf dem Gemälde als riesiger Schatten dargestellt, führte dazu, dass er sein wahres Selbst und seine Grenzen aus den Augen verlor und verzweifelte.

Kierkegaard beschrieb in seinen Ausführungen mehrere Ebenen der Verzweiflung. Die niedrigste und allgemeinste habe ihren Ursprung in der Unwissenheit: Der Mensch habe eine falsche Vorstellung vom Wesen des »Selbst« und sei sich seiner Möglichkeiten noch nicht bewusst. Ob dieser Zustand angesichts seiner Banalität den Namen Verzweiflung überhaupt verdiene, ließ Kierkegaard offen. Echte und tiefe Verzweiflung entstand seiner Ansicht nach erst mit zunehmender Selbsterkenntnis. Wenn, so schrieb er, ein junges Mädchen aus Liebe verzweifle, so verzweifle sie in Wahrheit nicht über den Verlust des Geliebten, sondern über sich selbst. Dieses Selbst wird ihr nun »zur Plage« – sie will es loswerden und verzweifelt, weil ihr dies nicht gelingt.

Sich selbst loswerden

Was genau Kierkegaard damit meint, erklärt er am Beispiel eines Herrschsüchtigen, »dessen Losung heißt: ›entweder Cäsar oder nichts‹«. Er legt dar, dass hinter dem Streben dieses Mannes der Wunsch stehe, sich selbst aufzugeben oder »loszuwerden« – ein Ding der Unmöglichkeit. »Wenn er Cäsar geworden wäre, so wäre er sich verzweifelt losgeworden; nun ward er aber nicht Cäsar und kann verzweifelt sich nicht loswerden. Wesentlich ist er gleich verzweifelt, denn er hat sein Selbst nicht, er ist nicht er selbst.«

Nach Kierkegaards Ansicht gibt es hierfür eine Lösung. Wenn der Mensch den Mut aufbringe, so zu sein, wie er wirklich ist, könne er Frieden und innere Harmonie finden, denn: »Das Selbst sein zu wollen, das er in Wahrheit ist, das ist ja gerade das Gegenteil von Verzweiflung.« Wenn wir damit aufhörten, unser wahres Selbst zu leugnen, und unsere wahre Natur zu entdecken und zu akzeptieren versuchten, löse sich die Verzweiflung auf.

Da Kierkegaard die Verantwortlichkeit des Individuums für das eigene Leben so stark betonte, gilt er oft als Begründer der Existenzphilosophie. Die von R. D. Laing eingeführte existenzielle Therapie und die humanistische Therapie, die von klinischen Psychologen wie Carl Rogers praktiziert wurde, sind direkt von Kierkegaard beeinflusst.

Søren Kierkegaard

Søren Kierkegaard wurde in Kopenhagen geboren und wuchs in materiell gesicherten Verhältnissen auf. Er wurde streng pietistisch erzogen. Als er anfing zu studieren, entschied er sich zunächst für die Theologie, dann wechselte er zu Philosophie. Nachdem er von seinem Vater ein beträchtliches Vermögen geerbt hatte, beschloss er, sein Leben ganz der Philosophie zu widmen. 1840 verlobte er sich mit Regine Olsen, löste aber die Verlobung ein Jahr später wieder auf, weil er glaubte, nicht für die Ehe zu taugen. Sein melancholisches Wesen prägte sein gesamtes Leben. Er war ein Einzelgänger, der gerne in den Straßen herumlief, sich mit Fremden unterhielt oder allein in der Gegend herumfuhr. Kierkegaard brach am 2. Oktober 1855 auf der Straße zusammen und starb am 11. November im Frederiks-Hospital in Kopenhagen.

Hauptwerke

1843Furcht und Zittern

1843Entweder – Oder

1844Der Begriff Angst

1849Die Krankheit zum Tode

PERSÖNLICHKEIT BESTEHT AUS ANLAGE UND ERZIEHUNG

FRANCIS GALTON (1822–1911)

IM KONTEXT

ANSATZ

Biologische Psychologie

FRÜHER

1690 Der englische Philosoph John Locke postuliert, dass der Geist von Neugeborenen ein unbeschriebenes Blatt sei, alle werden also gleich geboren.

1859 Der Naturforscher Charles Darwin behauptet, dass jede menschliche Entwicklung aus der Anpassung an die Umwelt resultiere.

1890 William James äußert, dass alle Menschen genetisch vererbte individuelle Neigungen oder »Instinkte« haben.

SPÄTER

1925 Der Behaviorist John B. Watson sagt, dass es so etwas wie die Vererbung von Fähigkeiten, Talenten, Temperament oder einer geistigen Verfassung nicht gebe.

1940 Die Nationalsozialisten entwickeln ihre Rassenlehre auf Grundlage der Eugenik.

Francis Galton hatte eine illustre Verwandtschaft. Der Naturforscher Charles Darwin, der sich mit der Evolution beschäftigte, war sein Cousin. Daher überrascht es nicht, dass Galton sich für die Frage interessierte, ob menschliche Fähigkeiten angeboren sind oder erlernt werden. Er war der Erste, der »Anlage« und »Umwelt« als zwei getrennte Einflussgrößen betrachtete und behauptete, sie allein seien für die Ausprägung der Persönlichkeit verantwortlich. Um herauszufinden, welche Merkmale vererbt werden, nahm er den Stammbaum seiner eigenen Familie sowie die Stammbäume von Richtern, Staatsmännern, Feldherren, Wissenschaftlern, Literaten, Wahrsagern, Ruderern und Ringern unter die Lupe. Die Ergebnisse veröffentlichte er in seinem Buch Hereditary Genius (1869, Genie und Vererbung). Wie vorauszusehen, war er in bestimmten Familien auf mehr hochbegabte Individuen gestoßen als im Bevölkerungsdurchschnitt. Dass für eine optimale Entwicklung der »Geisteskräfte« auch ein privilegiertes häusliches Umfeld von Vorteil ist, räumte Galton ein.

»… charakteristische Merkmale [haften] an Familien …«

Francis Galton

Eine notwendige Balance

Galton führte eine Reihe weiterer Studien durch. Unter anderem befragte er die Mitglieder der Royal Society per Fragebogen über ihre Interessen und Neigungen. Diese Ergebnisse finden sich in seinem Buch English Men of Science. Er kam zu dem Schluss, dass stets die Natur triumphiere, wenn die Erziehung im Widerspruch zu den Anlagen stehe. Die »tieferen Merkmale des individuellen Charakters« seien unauslöschlich. Allerdings könne auch ein großes natürliches Talent regelrecht ausgehungert werden, wenn die richtige Geistesnahrung fehle. Intelligenz sei zwar vererbt, müsse aber durch entsprechende Pädagogik gefördert werden.

1875 untersuchte Galton dann 159 Zwillingspaare. Er fand heraus, dass sie einander entweder extrem ähnlich oder extrem unähnlich waren, daran änderte sich auch nichts. Galton hatte angenommen, dass unähnliche Zwillinge, die in derselben Familie aufwuchsen, einander ähnlicher würden. Doch er musste feststellen, dass dies keineswegs so war. Die Erziehung schien überhaupt keine Rolle zu spielen.

Francis Galton prägte den Begriff »Eugenik«. Noch heute glauben manche, dass Menschen sich wie Pferde »züchten« ließen. Andere sind der Auffassung, der Geist eines Neugeborenen sei eine »Tabula rasa«, ein unbeschriebenes Blatt, und folgern daraus, dass wir alle gleich geboren werden. Die meisten modernen Psychologen erkennen indessen an, dass die individuelle Entwicklung sowohl von der Veranlagung als auch von Umwelteinflüssen abhängt und dass beide Faktoren auf komplexe Weise ineinandergreifen.

In seiner Zwillingsstudie suchte Galton nach Ähnlichkeiten, etwa bei Größe, Gewicht, Augenfarbe und gewissen Anlagen. Was Zwillinge immer unterschied: die Handschrift.

Francis Galton

Sir Francis Galton war ein Universalgelehrter, der sich unter anderem zu anthropologischen und kriminologischen Fragen (Klassifizierung von Fingerabdrücken) äußerte. Auch mit Geografie, Meteorologie, Biologie und Psychologie beschäftigte er sich eingehend. Er wurde in Birmingham in eine wohlhabende Quäkerfamilie hineingeboren und konnte angeblich schon im Alter von zwei Jahren lesen. Zunächst studierte er Medizin, dann wandte er sich der Mathematik zu. Während des Studiums litt er unter psychosomatischen Symptomen, die sich durch den Tod seines Vaters im Jahr 1844 noch verschlimmerten. 1853 heiratete Galton Louisa Jane Butler, die Ehe blieb kinderlos. Galton widmete sein Leben der Wissenschaft und dem Schreiben. Er erhielt viele Preise und Ehrungen, darunter mehrere Ehrendoktorwürden. Im Jahr 1909 wurde er in den Adelsstand erhoben.

Hauptwerke

1869Genie und Vererbung

1874English Men of Science: Their Nature and Nurture

1875The History of Twins

DIE GESETZE DER HYSTERIE SIND UNIVERSAL

JEAN-MARTIN CHARCOT (1825–1893)

IM KONTEXT

ANSATZ

Neurowissenschaft

FRÜHER

1900 v. Chr. Auf dem ägyptischen Papyrus Kahun ist zu lesen, dass Verhaltensstörungen bei Frauen durch ein »Umherschweifen« der Gebärmutter verursacht würden.

um 400 v. Chr. Der griechische Arzt Hippokrates verwendet in seinem Buch Die Frauenkrankheiten den Begriff »Hysterie« für bestimmte Frauenleiden.

SPÄTER

1883 Alfred Binet folgt Charcot an das Hôpital de la Salpêtrière in Paris und beschreibt später, wie dieser Hysterikerinnen mit Hypnose behandelte.

1895 Sigmund Freud, ein ehemaliger Student Charcots, publiziert seine Studien über Hysterie.

Der französische Arzt Jean-Martin Charcot, der als Begründer der modernen Neurologie gilt, interessierte sich für den Zusammenhang zwischen Psychologie und Physiologie. In den 1860er- und 1870er-Jahren erforschte er die Hysterie. Mit diesem Begriff wurden damals Verhaltensauffälligkeiten bezeichnet, die nur bei Frauen auftraten und auf Probleme des Uterus (griech. hystera) zurückgeführt wurden. Exzessives Lachen oder Weinen, wildes Um-sich-Schlagen, Ohnmachtsanfälle, Lähmungen, Krämpfe und zeitweilige Blind- und Taubheit galten als typische Symptome.

Nachdem er viele Fälle von Hysterie am Hôpital de la Sâlpetrière in Paris beobachtet hatte, glaubte Charcot, gewisse Gesetzmäßigkeiten ableiten zu können. Er behauptete, die Hysterie sei eine Erbkrankheit, deren Symptome durch Schock ausgelöst würden. 1882 schrieb er: »Bei einem hysterischen Anfall läuft alles immer nach demselben Muster ab. Es gilt für alle Länder, für alle Epochen, für alle Rassen, kurz gesagt: Es ist universal.« Die Suche nach einer biologischen Ursache schien ihm daher sinnvoll, doch seine Zeitgenossen lehnten seine Thesen ab. Manche glaubten gar, dass Charcots »Hysterikerinnen« sich nur hysterisch verhielten, weil er es ihnen suggeriert hatte. Einer seiner Studenten jedoch war von Charcots Forschungen fasziniert: Sigmund Freud. Die Beschäftigung mit der Hysterie brachte ihn schließlich zu seiner Theorie der Psychoanalyse.

Charcot hält in der Salpêtrière eine Vorlesung über Hysterie. Seiner Ansicht nach verlief sie stets in geordneten, klar strukturierten Phasen und ließ sich durch Hypnose heilen.

EIGENARTIGE SCHWÄCHEZUSTÄNDE

EMIL KRAEPELIN (1856–1926)

IM KONTEXT

ANSATZ

Klinische Psychiatrie

FRÜHER

um 50 v. Chr. Der römische Dichter und Philosoph Lukrez bezeichnet mit dementia einen Zustand des Außer-sich-Seins.

1874 Wilhelm Wundt, Kraepelins Mentor, publiziert Grundzüge der physiologischen Psychologie.

SPÄTER

1908 Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler prägt den Begriff »Schizophrenie« (griech. schizein für »spalten« und phren für »Geist, Gemüt«).

1948 Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nimmt Kraepelins Klassifizierung psychischer Erkrankungen in ihre Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD) auf.

1950er-Jahre Chlorpromazin wird als erstes Neuroleptikum zur Behandlung von Schizophrenie eingesetzt.

Der deutsche Arzt Emil Kraepelin gilt als Begründer der modernen klinischen Psychiatrie. Er führte die meisten psychischen Erkrankungen, die er in seinem Compendium der Psychiatrie (1883) sehr detailliert klassifizierte, auf biologische Ursachen zurück. Unter anderem grenzte er die Dementia praecox – die vorzeitige Demenz – von später auftretenden Demenzerkrankungen wie z. B. der Alzheimer’schen Erkrankung ab.

Schizophrenie

1893 beschrieb Kraepelin die Dementia praecox, die heute Schizophrenie genannt wird, als »eine Reihe von Krankheitsbildern […], deren gemeinsame Eigentümlichkeit der Ausgang in eigenartige Schwächezustände bildet«. Später unterteilte er sie in vier Unterkategorien: Die erste Stufe, die Schizophrenia simplex, geht mit schleichendem Verfall und sozialem Rückzug einher. Die zweite Stufe, die Paranoia, manifestiert sich in Angstzuständen und Verfolgungswahn; Betroffene fühlen sich bespitzelt und sehen sich als Opfer übler Nachrede. Auf sie folgt die Hebephrenie, sie ist durch eine unzusammenhängende sprachliche Artikulation sowie häufig unangemessene emotionale Reaktionen und Verhaltensweisen gekennzeichnet, etwa lautes Lachen bei einem traurigen Anlass. Bei der vierten Stufe, der Katatonie, sind Bewegungen und Ausdruck extrem eingeschränkt. Die Patienten verharren oft stundenlang in derselben Position oder führen ständig die gleichen Bewegungen aus.

Kraepelins Klassifikation dient noch heute als Grundlage für die Diagnose von Schizophrenie. Durch Untersuchungen hat sich inzwischen bestätigt, dass die Gehirne Schizophrener biochemische und strukturelle Anomalien sowie Funktionsstörungen aufweisen. Kraepelins These, dass viele psychische Erkrankungen rein biologisch bedingt sind, hat die Psychiatrie stark beeinflusst. Bis heute werden viele psychische Erkrankungen mit Medikamenten behandelt.

DIE ANFÄNGE DES PSYCHISCHEN LEBENS REICHEN EBENSO WEIT ZURÜCK WIE DIE ANFÄNGE DES LEBENS ÜBERHAUPT

WILHELM WUNDT (1832–1920)

IM KONTEXT

ANSATZ

Experimentelle Psychologie

FRÜHER

5. Jh. v. Chr. Gemäß den griechischen Philosophen Aristoteles und Platon haben Tiere, anders als Menschen, keine Vernunftseele.

1859 Der britische Naturforscher Charles Darwin behauptet, dass Menschen und Tiere gemeinsame Vorfahren haben.

SPÄTER

1949 Konrad Lorenz schildert in Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen, wie ähnlich sich Mensch und Tier sind, und verändert damit unsere Sicht auf Tiere.

2001 Der amerikanische Zoologe Donald Griffin schreibt in Animal Minds, dass Tiere eine Vorstellung von der Zukunft, ein komplexes Erinnerungsvermögen und vielleicht sogar ein Bewusstsein haben.

Die Vorstellung, dass Tiere eine Seele haben und zu einer bestimmten Art von Denken fähig sind, reicht zurück bis zu den antiken Philosophen. Aristoteles unterschied drei Seelen: die Pflanzenseele, die Tierseele und die menschliche Seele, sie sind jeweils mit bestimmten Fähigkeiten ausgestattet. Während die Pflanzenseele ausschließlich auf Wachstum, Ernährung und Fortpflanzung ausgerichtet ist, kann die Tierseele darüber hinaus Schmerz, Freude und Begehren empfinden. Die menschliche Seele ist zudem zur Vernunft fähig. Gemäß Aristoteles sind also nur Menschen zur Selbsterkenntnis und zu komplexeren intellektuellen Leistungen in der Lage. Im 15. Jahrhundert vertrat der französische Philosoph René Descartes die Auffassung, dass Tiere schlicht reflexgesteuerte Maschinen seien. Hätte er recht, könnten wir aus der Beobachtung von Tieren nichts über unser eigenes Verhalten lernen.

Rund 200 Jahre später fand Charles Darwin heraus, dass Menschen und Tiere gemeinsame Vorfahren haben. Er folgerte daraus, dass selbst niedere Organismen eine Art Bewusstsein besitzen. Diese Ansicht vertrat auch der deutsche Arzt, Philosoph und Psychologe Wilhelm Wundt. In seinem Buch Grundzüge der physiologischen Psychologie schrieb er, dass alle lebenden Organismen seit Beginn des Evolutionsprozesses ein Bewusstsein besäßen: »Die Annahme, dass die Anfänge des psychischen Lebens ebenso weit zurückreichen wie die Anfänge des Lebens überhaupt, muss daher vom Standpunkte der Beobachtung aus als eine durchaus wahrscheinliche bezeichnet werden. Die Frage nach dem Ursprung der geistigen Entwicklung fällt auf diese Weise mit der Frage nach dem Ursprung des Lebens zusammen.« Selbst einfache Organismen wie Protozoen sind laut Wundt mit einer Art Geist ausgestattet. Eine überraschende These, die vor mehr als hundert Jahren sicher noch sehr erstaunte.

»Eine erste Scheidung der psychischen Funktionen vollzieht sich schon bei [bestimmten] Protozoen.«

Wilhelm Wundt

Wundt war ein Verfechter des Experiments und wird oft als »Vater der experimentellen Psychologie« bezeichnet. 1879 gründete er an der Leipziger Universität das weltweit erste Institut für experimentelle Psychologie. Sein Ziel bestand darin, die menschliche Psyche und das menschliche Verhalten systematisch zu erforschen. Zunächst wandte er sich der Untersuchung grundlegender Wahrnehmungsprozesse zu.

Verhaltensbeobachtung

Für Wundt konnte der Sinn und Zweck der experimentellen Psychologie nur darin bestehen, das Bewusstsein exakt zu beschreiben. Er definierte Bewusstsein als »innere Erfahrung« und wollte herausfinden, wie sich diese Erfahrung manifestierte. Was lag da näher, als das menschliche Verhalten zu studieren? Schließlich ließ es sich direkt beobachten und auch quantifizieren.

Sogar Einzeller haben laut Wundt eine Art Bewusstsein. Ihm zufolge weist die Fähigkeit der Amöbe, sich Nahrung einzuverleiben, auf eine Abfolge geistiger Prozesse hin.

Wundt unterschied zwei Arten der Beobachtung: die von außen und die nach innen gerichtete (Introspektion). Erstere dient dazu, Ereignisse in der äußeren Welt zu erfassen und bestimmte Beziehungen zu beurteilen, etwa das Ursache-Wirkung-Prinzip. Wenn z. B. bei einem toten Frosch eine bestimmte Nervenfaser elektrisch stimuliert wird, beginnen die entsprechenden Muskeln zu zucken: Die Beine bewegen sich. Daraus lässt sich schließen, dass manche Bewegungen ohne Bewusstsein möglich sind. Heute nennen wir solche Bewegungsreaktionen Reflexe. So ziehen wir beispielsweise reflexhaft die Hand zurück, wenn sie mit etwas Heißem in Berührung kommt.

Bei der »Introspektion« oder »Selbstbeobachtung« geht es hingegen um die Wahrnehmung von Ereignissen, die sich in unserem Innern abspielen, z. B. um Gedanken und Gefühle. Die Introspektion liefert also Informationen darüber, wie die Psyche funktioniert. Wundt interessierte sich vor allem für die Beziehung zwischen Innen- und Außenwelt, die er für wechselseitig hielt. So begann er, die menschlichen Wahrnehmungen zu erforschen, etwa die Wahrnehmung von Licht, weil seiner Ansicht nach die Sinneswahrnehmungen das Bindeglied zwischen der äußeren (physischen) und inneren (seelischen) Welt darstellten.

Einmal bat Wundt seine Probanden, ihre Wahrnehmungen zu schildern, während ihnen ein Lichtsignal gezeigt wurde. Farbe, Helligkeit und Dauer dieses Signals waren immer gleich. Durch dieses Vorgehen wollte er sicherstellen, dass jeder Versuchsteilnehmer jeweils exakt den gleichen Stimulus erhielt, sodass die Antworten vergleichbar waren und das Experiment, falls erforderlich, zu einem späteren Zeitpunkt wiederholt werden konnte. Wundt setzte mit diesem Verfahren den Standard für alle folgenden psychologischen Versuche.

Wundts Labor diente psychologischen Instituten weltweit als Vorbild. Seine Experimente verankerten die Psychologie in der Naturwissenschaft.

Mit seinen Versuchen zur Wahrnehmung wollte Wundt das menschliche Bewusstsein als messbare Größe beschreiben. Die Vorgänge im Innern als eine unfassbare, subjektive, individuelle Erfahrung zu betrachten, das lehnte er ab.

Bei seinen Lichtexperimenten interessierte ihn insbesondere, wie viel Zeit zwischen einem Reiz und der Reaktion darauf vergeht. Um dies herauszufinden, setzte er unterschiedliche Instrumente ein, mit denen er die Reaktionen messen konnte. Dabei ging es ihm sowohl darum, Gemeinsamkeiten festzustellen, als auch darum, individuelle Unterschiede bei den Probanden auszumachen.

Reine Sinneswahrnehmungen bestehen nach Wundt aus drei Komponenten: der Qualität, der Intensität und dem Gefühlston. Ein Parfüm beispielsweise kann einen süßlichen (Qualität), diskreten (Intensität) und angenehmen Duft (Gefühlston) verströmen, während eine tote Ratte einen Übelkeit erregenden (Qualität), heftigen (Intensität) Gestank (Gefühlston) absondert.

»… die exakte Beschreibung der Tatsachen des Bewusstseins [ist] das einzige Ziel der experimentellen Psychologie.«

Wilhelm Wundt

Unsere Sinne informieren uns über Form, Größe, Farbe, Geruch und Textur eines Gegenstands. Diese Details verdichten sich laut Wundt zu komplexen Vorstellungen, z. B. der eines Gesichts.

Wundt ging davon aus, dass die Sinneswahrnehmungen an sich den Ursprung jeden Bewusstseins bilden. Sie werden aber nicht als »reine« Daten erfasst, sondern schon vorbewusst zu Vorstellungen zusammengefügt, z. B. zu dem Bild einer toten Ratte. Wundt nannte diese Vorstellungen »Bilder eines Objekts oder eines Vorgangs in der äußeren Welt«. Wenn wir beispielsweise bestimmte Gesichtszüge wahrnehmen – also Mundform, Augenfarbe, Nasengröße und Ähnliches –, können wir anhand dieser Merkmale erkennen, ob uns eine Person bekannt ist.

Kategorien des Bewusstseins

Aus seinen Experimenten zu den Sinneswahrnehmungen leitete Wundt ab, dass das Bewusstsein sich aus drei Elementen zusammensetzt: aus Vorstellungen, Beweggründen und Gefühlen, die gemeinsam den Eindruck eines einheitlichen Ereignisflusses erzeugen.

Als Vorstellungen definierte Wundt zum einen Wahrnehmungen – geistige Repräsentanzen von Objekten der Außenwelt (z. B. eines sich in Sichtweite befindenden Baums). Zum anderen fasste er darunter Anschauungen, die eine subjektive Aktivität repräsentieren (z. B. die Erinnerung an einen Baum). Den Vorgang der Bewusstwerdung einer Wahrnehmung oder Anschauung nannte Wundt »Apperzeption«. Einen plötzlich auftretenden Lärm beispielsweise apperzipiert der Mensch als ein Warnsignal. Das kann z. B. bedeuten, dass ein Fußgänger erkennt, dass er von einem Auto erfasst werden könnte, wenn er nicht schnell genug aus dem Weg geht.

Die »Beweggründe« beziehen sich auf die Art und Weise, wie jemand in die äußere Welt eingreift. Sie sind Ausdruck unserer Willenskraft, ob es nun darum geht, dass wir einen Arm heben oder ein rotes Kleid tragen. Diese Form des Bewusstseins entzieht sich der experimentellen Kontrolle oder Messung.

Wundt fand heraus, dass sich aber das dritte Bewusstseinselement, das Gefühl, bewerten ließ, und zwar einerseits anhand der subjektiven Berichte von Probanden, andererseits durch die Messung von Spannungs-, Entspannungs- oder Erregungsintensitäten.

Die Völkerpsychologie

So wie Wundt es sah, wird die psychische Entwicklung eines Menschen aber nicht allein durch Sinneswahrnehmungen geprägt. Darüber hinaus wirken komplexe soziale und kulturelle Einflüsse auf den Einzelnen ein, die sich nicht experimentell erfassen lassen. Zu diesen Einflüssen zählte er Religion, Sprache, Mythen, Geschichte, Kunst, Gesetze und Bräuche. Sie stehen im Mittelpunkt seines zehnbändigen Werks Völkerpsychologie, an dem er während seiner letzten 20 Lebensjahre arbeitete.

Die Sprache hielt Wundt für ein besonders wichtiges Element der Bewusstseinsbildung: Für ihn beginnt jede verbale Kommunikation mit einem »allgemeinen Eindruck« oder einer Vorstellung dessen, was wir vermitteln wollen. Nachdem uns dies bewusst geworden ist, kleiden wir unsere Vorstellung in Worte. Während wir sprechen, prüfen wir, wie treffend wir das, was wir unserem Gegenüber sagen wollen, zum Ausdruck bringen. Vielleicht unterbrechen wir uns selbst: »Nein, das trifft es nicht ganz, ich meine …« Dann suchen wir nach einem anderen Wort oder einen anderen Satz, um uns besser verständlich zu machen. Unser Gesprächspartner muss verstehen, was wir ihm mitteilen möchten. Dabei können die Wörter durchaus eine untergeordnete Rolle spielen, vor allem wenn starke Gefühle im Spiel sind. Als Beweis für seine These führte Wundt an, dass wir uns oft gut an die grundlegende Bedeutung einer Aussage erinnern, auch wenn wir den genauen Wortlaut des Gesagten schon vergessen haben.

»Im Verlaufe der normalen Rede ist fortwährend die Hemmungsfunktion des Willens dahin gerichtet, Vorstellungsverlauf und Artikulationsbewegung miteinander in Einklang zu bringen.«

Wilhelm Wundt

Die Fähigkeit, in einer »echten« Sprache statt lediglich mit einem beschränkten Repertoire an Zeichen und Signalen zu kommunizieren, gilt vielen Psychologen heute als entscheidendes Kriterium für die Abgrenzung zwischen Mensch und Tier.

Haben Tiere ein Bewusstsein?

Was Bewusstsein denn nun genau ausmacht, wird in der Wissenschaft immer wieder und immer noch diskutiert. Bis heute ist Wundts Definition jedoch nicht grundlegend geändert worden. Inwieweit Tiere über ein Bewusstsein verfügen, konnte bislang nicht eindeutig geklärt werden. Auch deshalb gibt es weiterhin Tierversuche, Massentierhaltung und blutige »Sportarten« wie die Fuchsjagd und den Stierkampf. Empfinden Tiere Unbehagen, Angst und Schmerz auf eine dem Menschen ähnliche Weise? Haben sie ein (Selbst-)Bewusstsein? Diese Fragen sind noch immer unbeantwortet. Doch nur wenige moderne Psychologen würden selbst Protozoen ein Bewusstsein zubilligen, wie Wundt es tat.

Wilhelm Wundt

Wilhelm Wundt wurde in Neckarau (heute ein Stadtteil von Mannheim) geboren. Sein Vater war evangelischer Pastor. Als Kind hatte Wundt nur wenig Zeit zum Spielen. Mit 13 Jahren wurde er auf eine streng katholische Schule geschickt. Er studierte in Berlin, Tübingen und Heidelberg Medizin und promovierte 1856 über das Verhalten der Nerven.

Zwei Jahre später wurde er Assistent des Physiologen und Physikers Hermann von Helmholtz, den seine Forschungen zur visuellen Wahrnehmung berühmt gemacht hatten. In Heidelberg hielt Wundt die weltweit erste Lehrveranstaltung zu experimenteller Psychologie ab und eröffnete 1879 das erste psychologische Institut. Wundt publizierte mehr als 490 Bücher und Aufsätze und war seinerzeit wahrscheinlich der produktivste Wissenschaftsautor der Welt.

Hauptwerke

1863Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele

1874Grundzüge der physiologischen Psychologie

1896Grundriss der Psychologie

SOLANGE UNS NIEMAND AUFFORDERT, BEWUSSTSEIN ZU DEFINIEREN, WISSEN WIR, WAS DAMIT GEMEINT IST

WILLIAM JAMES (1842–1910)

IM KONTEXT

ANSATZ

Bewusstseinsanalyse

FRÜHER

1641 René Descartes definiert das Selbstbewusstsein als Denkvermögen.

1690 Der englische Philosoph und Physiker John Locke definiert Bewusstsein als Wahrnehmung dessen, was einem durch den Kopf geht.

1781 Der deutsche Philosoph Immanuel Kant behauptet, dass das Bewusstsein die Einheit des Mannigfaltigen stiftet.

SPÄTER

1923 Max Wertheimer zeigt in seinen Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt, dass die Psyche Bilder aktiv interpretiert.

1925 John B. Watson erklärt, dass das Bewusstsein kein geeignetes Konzept für die Psychologie sei.

Als Bewusstsein bezeichnen wir normalerweise das Gewahrsein unserer Gedanken, Empfindungen, Gefühle und Erinnerungen. Diesen Zustand halten wir in der Regel für selbstverständlich, es sei denn, wir können uns nicht mehr konzentrieren, z. B. weil wir übermüdet sind. Doch wer das Bewusstsein näher in Augenschein nimmt, dem wird klar, dass sich die Inhalte stets verändern. Beim Lesen dieses Buchs gehen Ihnen vielleicht Erinnerungen oder Zukunftspläne durch den Kopf, die Sie ablenken. Unsere Gedanken scheinen sich allerdings nicht nur zu wandeln, sondern auch zu vereinigen oder zu vermengen und sich dann kettenartig weiterzuentwickeln.

Der amerikanische Psychologe William James verglich dieses Phänomen, das wir alle täglich erleben, mit einem Strom, der unablässig fließt: »Ein ›Fluss‹ oder ein ›Strom‹, das sind die Metaphern, durch welche [das Bewusstsein] am natürlichsten versinnbildlicht wird. Wir wollen es also, wenn wir von nun an davon sprechen, den Strom des Denkens, des Bewusstseins oder des subjektiven Lebens nennen.«

»Das Bewusstsein erscheint sich … nicht als in Stücke zerhackt … Es besteht nicht aus verbundenen Gliedern; es fließt.«

William James