Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Mühsam hat Tanne nach Stefans gewaltsamen Tod ins Leben zurückgefunden. Dank ihrer medizinischen Fähigkeiten nimmt sie eine wichtige Position innerhalb der sardischen Streitkräfte ein. Aber es ist schwer für sie, so etwas wie Normalität vorzutäuschen. Einzig das Streben nach Rache an Stefans Mördern hält sie wirklich lebendig. Nur, was kann sie tun, außer Verwundete zu versorgen und Krankheiten zu heilen? Doch da fällt Tanne eine ganz besondere Waffe in die Hände. Wie mächtig diese ist, begreift sie sehr schnell. Endlich kann sie den Feinden wirklich schaden! Heimlich nimmt sie ihren eigenen Kampf gegen die Invasoren auf, immer in Gefahr, entdeckt und als Verräterin angeklagt zu werden. Wird sie einen Weg finden, ohne ihr Leben und die Freundschaft ihrer Kameraden zu verlieren?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 661
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Katas Ellie
Bigfoot
Die Geschichte einer
Heilung
Impressum
Texte: © 2024 Copyright by Katas Ellie
Umschlag: © 2024 Copyright by Katas Ellie
https://www.facebook.com/Katas.Ellie
Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
Verlag: Inga Rieckmann alias Katas Ellie
c/o Block Services
Stuttgarter Straße 106
70736 Fellbach
Der Traum hatte sich verändert.
Wieder war sie gefesselt, aber sie konnte sich bewegen. Das nützte nur nichts. Wie sehr sie sich auch wehrte, gegen die Fesseln aufbegehrte, kümmerte diejenigen nicht, die sie in ihrer Gewalt hatten. Unscharfe, verzerrte Gesichter über ihr, hässliche Fratzen, grausame Stimmen. Schmerz, überall, aber besonders in ihrer Mitte, wie ein Pfeil bohrte er sich in sie hinein. Doch Schmerz konnte sie mittlerweile ignorieren, das war ihr egal. Sie hasste es, derart hilflos, wieder ein Opfer zu sein. Wenn dieser Traum kam, wollte sie ihn mit aller Macht von sich stoßen und sich hinterher nicht mehr daran erinnern.
Denn sie wusste genau, dass er eines Tages Wirklichkeit werden würde.
Es war mitten in der Nacht. Auf ihrer Rettungsmission ritten Tanne und Luca so schnell sie konnten durch die verschneiten Wälder bergan. Im Grunde war es recht einfach. Sie mussten aus ihrem Tal hinauf auf die kargen Hochebenen und dort möglichst lange bleiben, bis sie das Zielgebiet erreichten. Im Tal selber schneite es nach wie vor ohne Unterlass. Gut so, befand Tanne, dann konnte man wenigstens nicht ihren Spuren folgen. Es lag viel Schnee, sehr viel sogar. Aber das tief in die Felsen eingefräste Relief der Straße war gut erkennbar, sodass sie den Weg nicht verloren. Wo es ging, trabten sie, ansonsten arbeiteten die Pferde sich tapfer durch den tiefen Schnee voran.
Tanne wusste, was man für eine Winterreise in die Berge brauchte. Sie hatten ein Notzelt, warme Schlafsäcke und Isomatten dabei. Sofias Pferd trug die Vorräte und das Futter für die Tiere. Luca hatte die Route durchkalkuliert und rechnete damit, dass sie einen kompletten Tag, vielleicht auch zwei benötigten. Vielleicht auch mehr. Er wollte die doppelte Menge mitnehmen, aber Tanne wusste, auf dem Rückweg, wenn es denn einen Rückweg gab, brauchten sie diese nicht mehr. Wenn nicht, dann war eh alles zu spät.
Es war dunkel, der Schnee fiel in dicken, nassen Flocken. Sie hatten ihre Stirnlampen aufgesetzt, auch Ersatz Akkus mitgenommen, die sie am Körper trugen, damit diese in der Kälte nicht leer wurden. Doch je höher sie kamen, desto kälter wurde es. Als sie schließlich die Hochebene erreichten, war es, als hätte jemand einen Vorhang aufgezogen.
»Sieh dir das an!«, rief Luca. Er zügelte sein Pferd und schaltete die Lampe aus und Tanne mit ihm.
»Das ist wunderschön«, sagte sie. Einen Moment staunten sie wie kleine Kinder.
Sie konnten in einem weiten Umkreis sehen. Der Mond schien und beleuchtete die verschneite Landschaft. Brodelnd drängten sich die Wolken an den Hängen ins Tiefland, schafften es aber nicht auf die Ebene hinaus. Hier war die Luft klar und windstill. Ein wunderbarer Sternenhimmel dehnte sich über ihnen.
»Schon alleine deswegen hat es sich gelohnt«, lachte Luca und stieß einen Freudenschrei aus. So war er immer. Egal, wie prekär die Lage war, er fand immer das Schöne am Leben, genoss es. Seine Verletzung hatte ihn das gelehrt, und das war eine beneidenswerte Errungenschaft, dachte Tanne.
»Los, komm, da ist die Straße. Reiten wir zu, schinden wir Zeit.«
Sie kamen rasch voran. Hier oben lag der Schnee sehr viel niedriger, die Pferde sanken kaum bis über die Hufe ein. Die Straße war gut zu erkennen. Solange sie auf der Teerstraße blieben, hatten sie die Leitpfosten zur Orientierung, manchmal auch Leitplanken. Sie konnten sogar galoppieren und machten ordentlich Strecke.
Als sie dann auf eine Piste abbogen, wurde es schwieriger. Tanne hatte die Karten mitgenommen, immer wieder hielten sie an, um sich zu orientieren. Ohne GPS war es bei dem vielen Schnee ziemlich schwierig. Sie wussten, dass sie unbedingt auf den Pfaden bleiben mussten, denn wenn sie in offenes Gelände gerieten, würden sie etwaige Felsen, tiefe Löcher und Spalten nicht erkennen und konnten abstürzen. Von Mauern und verborgenem Stacheldraht ganz zu schweigen. Daher ritten sie vorsichtig, manchmal mit Stangen im Schnee stochernd, um den Weg nicht zu verlieren. War der Verlauf der Piste gut zu erkennen, ritten sie, so schnell es nur irgend ging.
Zum Glück war es windstill, denn bei Sturm wäre es ungleich schwieriger geworden. Sie hatten sich warm eingepackt, sehr warm sogar, Wollsachen in mehreren Lagen, dicke Tücher über Mund und Nase. Ein wenig wie die Schneemenschen sahen sie aus, wie sie so vermummt dahinritten.
Natürlich war die Hochebene nicht wirklich eine Ebene, sondern karges Hochland, kaum bewirtschaftet und von etlichen Hügeln, sogar steilen Berghängen durchzogen. Um die mussten sie herum, und da war es schwieriger. Teilweise türmte sich der Schnee regelrecht. Aber diese Abschnitte waren nur kurz.
Als die Nacht schon weit fortgeschritten war, bogen sie dann von der Piste auf einen fast unsichtbaren Track ab, eine Fahrspur, kaum mehr als solche zu erkennen. Tanne spürte, wie ihre Nervosität stieg. Dieser Track mündete in eine andere Piste, eine, die sie vor fast anderthalb Jahren befahren hatten auf dem Weg in ihre Zuflucht. Sie waren fast da.
Der Track war steil und mühsam. Irgendwann mussten sie wieder absitzen und sich mit den Stangen voran stochern, weil sie nicht mehr wussten, wo es weiterging. Es war nur ein kurzes verschneites Stück, weiter hinten konnten sie den Weg erneut erkennen.
»Ich glaube, hier geht es lang, Tanne«, rief Luca gerade. Er machte einen Schritt vorwärts, doch da knackte etwas, und plötzlich brach mit einem lauten Rauschen die gesamte Schneewehe ab und verschwand in die Tiefe.
»Luca!!« Die Pferde wieherten erschrocken, Tanne konnte ihr Tier gerade noch festhalten. Sie sah, dass Lucas Zügel straff gespannt waren und über eine schroffe Felskante verschwanden. »Festhalten!«, rief sie und näherte sich vorsichtig der Kante.
Keine zwei Meter weiter unten hing Luca auf einem winzigen Felsvorsprung fest, die Augen schreckgeweitet. Unter ihm ging es gar nicht mal so steil bergab und auch nicht besonders weit, aber wer weiß, ob sich da nicht eine tiefe Spalte in dem Schnee verbarg. Er konnte in arge Schwierigkeiten geraten, wenn er abrutschte.
Tanne musste sich schnell etwas ausdenken. Sie band ihr Tier an dem verschreckten Packpferd fest, das seinerseits an Lucas gebunden war. In weiser Voraussicht hatten sie ein Seil mitgenommen. Das löste sie nun vom Packgestell und band das eine Ende daran fest. Das andere warf sie zu Luca runter. »Halt die Zügel weiter fest!«, rief sie und wartete, bis er auch das Seil zufassen hatte. Dann zog sie ihn hoch.
»Scheiße, das war knapp!«, keuchte er erleichtert, als er bei ihr oben ankam.
»Hm…« Tanne half ihm, den Schnee von den Kleidern zu klopfen. »Wir sollten mal eine kurze Pause machen auf den Schreck, sonst halten wir das nicht durch. Lass uns etwas essen. Aber nicht zu lange. Nicht, dass die Tiere auskühlen.«
Sie holten sich etwas aus ihren Packtaschen und setzten sich auf eine Decke. »Hier oben bin ich noch nie gewesen«, sagte Luca, während er mit konzentrierten Bissen einen verschrumpelten Apfel zerlegte und in sich hinein mampfte.
»Ich schon«, sagte Tanne, die an einem Stück Brot knabberte. Ihre Maske hatte sie kurz nach dem Aufbruch abgenommen, denn die störte unter dem dicken Schal ungemein, sie hatte kaum Luft bekommen. Jetzt ließ sie diese einfach fort, und sollte das Luca überraschen, so zeigte er das nicht. Er kannte sie ja von früher, und er wusste von Sofia auch in etwa, wie es um sie bestellt war. Die Dunkelheit und die Kapuze halfen da natürlich.
Luca schaute sie fragend an. »Echt? Wann?«
»Ich bin mit meinem Mann vorletztes Jahr hier durchgefahren. Eine schöne, wilde, aber ziemlich karge Gegend. Wächst nicht viel hier. Eigentlich gar nichts.« Sie schaute auf die Weite der Ebene hinaus. Dort hinten fingen die nächsten Hänge an, es war mehr ein weites Hochtal.
Sie zeigte auf einen Einschnitt, kaum auszumachen in der Dunkelheit. »Da hinten geht es rüber zu der Piste, die in das Tal führt, wo mein Mann und ich vorletztes Jahr Zuflucht gesucht haben. Von da ist es nicht mehr weit bis zu Manolos Weiler.«
Luca nickte vorsichtig. »Du willst ihn also wirklich holen, den Sohn vom Colonnello.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Oh ja. Aber nicht nur das.« Ihr Gesicht lag im Schatten der Kapuze, aber er konnte an ihrer Stimme hören, dass sie grinste.
Lucas Augen wurden groß. »Nein! Sag nicht, du willst Rossi um seine gehorteten Schätze erleichtern?!? Tanne, das wird er niemals zulassen! Das schaffen wir nicht. Der sperrt uns ein!«
»Pah!«, machte sie wegwerfend. »Er wird gar nicht mitbekommen, dass wir dagewesen sind. Lass mich nur machen. Ich weiß, wo wir was finden.« Denn sie hatte ein Geheimnis, und das würde sie ihm nicht verraten. Das stand versteckt in jenem Tal und würde hoffentlich, bitte, bitte, nach all der Zeit noch da sein und nicht geplündert.
Jetzt war Luca erst recht neugierig geworden und wollte sie löchern, aber Tanne ließ sich nichts entlocken. Sie lachte in sich hinein, während sie aß und sinnierend auf die schneebedeckte Landschaft schaute.
Um Luca von sich abzulenken, sagte sie: »Hm… schau dir das an. An diese Felsformationen erinnere ich mich gar nicht.« Sie zeigte auf ein paar schroffe, stark verschneite Felsen, die wie schiefe Obelisken in alle möglichen Richtungen ragten. Merkwürdig, dachte sie, jetzt selber abgelenkt. So etwas hätte sie doch in jedem Fall fotografiert? Denn kuriose Felsformationen, davon gab es einige auf Sardinien. Die gesamte Insel war voll davon. Tolle Fotomotive, immer und zu allen Tages- und Nachtzeiten.
Luca gluckste. »Jaa, die sehen aus, als hätte sie jemand hier hergeworfen. Passen gar nicht in die Gegend. So was habe ich noch nie gesehen. Ob das ein alter Steinkreis ist? Sieht ein wenig so aus, finde ich.«
»Hmm… glaube ich nicht, nicht hier oben. Die Natur formt halt die wundersamsten…« Tanne stutzte mit einem Mal. Sie ließ das Brot sinken. Und dann sprang sie plötzlich auf. »Luca! Siehst du das?«
»Was ist?!« Er fuhr alarmiert hoch. Tanne stand wie erstarrt und antwortete nicht. »Tanne, was ist?!«, rief er noch einmal.
»Guck doch genau hin, Mann! Erinnerst du dich an den Sturm neulich, wo es so fürchterlich gewittert hat? An den lauten Knall?«
Er schüttelte verwundert den Kopf. »Ja, warum? Bin fast aus dem Bett gefallen und…« Jetzt verstummte er. Seine Augen weiteten sich, er keuchte auf.
Tanne nickte. »Das sind keine Felsen. Das sind Trümmer!« Das menschliche Auge sah halt nur das, was es sehen wollte. Schon irre, dachte sie und war einen Moment fasziniert, obwohl es eigentlich grauenvoll war.
»Was meinst du… heilige Scheiße, Tanne!« Jetzt starrte er offenen Mundes auf das Tal. Der Schnee hatte es beinahe vollständig verdeckt, der Wind aus dem Eis bizarre Formationen geschaffen. »Das ist ein Flugzeug!«
»Zwei«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Da hinten am Hang liegt das eine Cockpit, da vorne das andere. Und da die Flügel. Und siehst du, da ist das eine Heck.« Jetzt sortierte ihr müdes Hirn die Formen zusammen. Es waren große Maschinen, vom Militär, ganz eindeutig. »Die müssen bei dem Sturm abgestürzt sein. Sind vermutlich zusammengestoßen.«
»Oh man, wir müssen uns das angucken! Vielleicht finden wir noch etwas, das wir gebrauchen können! Es fliegt ja nur noch das Militär, sonst niemand.«
Tanne schüttelte den Kopf. »Dort rüber, im Dunkeln, bei dem tiefen Schnee? Da brichst du weg. Nein, wenn überhaupt, machen wir das auf dem Rückweg, wenn es hell ist, sonst haben wir keine Chance. Überlebt haben wird das keiner, aber du hast recht, da gibt es bestimmt noch das eine oder andere Brauchbare. Richtig bergen wirst du das aber erst können, wenn der Schnee fort ist. Los komm, es ist nicht mehr weit. Reiten wir zu.«
Jetzt hielt sie nichts mehr. Unerbittlich trieben sie die Tiere voran und unterbrachen den Ritt nur, als vor ihnen auf dem Weg einige deutliche rechteckige Umrisse auftauchten. Kisten, komplett zerbrochen oder halb ausgekippt, kleine runde Hügel ringsherum verstreut.
»Vorsicht, Tanne«, sagte Luca und hielt in gebührendem Abstand an. »Nicht, dass es Minen sind. Lass mich mal schauen.«
»Luca…«, hob sie warnend an, aber er war schon von seinem Tier herunter geglitten, drückte ihr die Zügel in die Hand und humpelte zu den Haufen hinüber.
»Hab ja schon einen Fuß weg. Dann kommt’s auf den anderen auch nicht mehr an«, rief er über die Schulter. Ganz vorsichtig näherte er sich, knipste seine Stirnlampe an, hockte sich hin und blies behutsam den Schnee von einem der Hügel herunter. Gleich darauf atmete er auf und nahm einen an sich. »Granaten. Keine Minen. Hm. Die sehen merkwürdig aus. Kennst du diese Symbole?« Er zeigte es ihr. Auf dem Metall waren Schriftzeichen eingraviert.
»Nein. Sieht irgendwie wie ein Code aus.«
»Was auch immer, hier liegen überall Kisten herum. Die sollten wir später mitnehmen. Dein Kumpel muss uns Pferde leihen.« Luca holte einen Beutel und packte sein Fundstück ein.
Das braucht er hoffentlich nicht, dachte Tanne, aber das sagte sie nicht laut. Sie ritten wieder los, die Kisten vorsichtig umrundend. Als der Weg frei war, trieben sie ihre Tiere an, das Grauen hinter sich zurücklassend.
Erwartungsgemäß lag der Schnee in dem Tal, wo es zu Tannes Ziel ging, wieder höher, denn sie mussten das Hochland verlassen und ein ganzes Stück hinunter. Keuchend kämpften sich die Pferde voran, bauchtief im Schnee. Als die Sterne verblassten, hatten sie sich bis fast ganz hinten durchgearbeitet. Tannes Herz schlug wie verrückt, als sie endlich den Felseinschnitt von der Höhle sah. »Da, da hinten ist es!« Sie trieb ihr Tier an.
Als sie davor absaßen, schaute sich Luca etwas ratlos um. »Was, hier?« Er sah nichts als Geröll. Was wollte sie hier?
Tanne musste lachen, sie konnte gar nicht anders. »Ist gut geworden, nicht?« Sie war erleichtert, denn man konnte sehen, niemand war an dem Haufen dran gewesen, wirklich niemand. Grinsend watete sie durch den Schnee zum Überhang der Höhle und kletterte den Steinberg hinauf. Oben angekommen, sah sie das Dach ihres Trucks. Und das Kabel, das Stefan damals zum Höhlendach gelegt hatte. Es war alles noch vorhanden. Sie stand einen Moment mit Tränen in den Augen da, als die Erinnerungen sie überkamen.
»Tanne, was ist?«, fragte Luca, der jetzt auch unter dem Überhang stand und zu ihr hochsah.
Hastig wischte sich Tanne die Tränen ab. »Komm hoch. Hilf mir mal.«
»Was meinst du…« Er kletterte zu ihr hoch, doch als er sie erreichte, schrie er auf. »Tanne!!«
Sie grinste. »Gut, nicht? Los, komm. Steigen wir ein.«
Sie taten es über die Dachluke. Stefan hatte hier einen Noteinstieg geschaffen, falls sie sich mal aussperrten. Die Elektrik eines solch alten Fahrzeuges war immer etwas eigenwillig, und so brauchen sie in dem Fall kein Türschloss zu zerstören oder eine Scheibe einzuschlagen.
Tanne musste hart schlucken, als sie die Beine durch die Luke schob. Sie sah zu Luca auf, der sie stumm anschaute. Es war jetzt heller geworden, er konnte ihr Gesicht sehen. Sie schien gar nicht zu bemerken, dass sie keine Maske trug. Das war nicht schlimm, fand er. Sie sah halt aus wie Tanne. Wie früher.
»Gib mir einen Moment, ja?«, bat sie leise.
»Ist gut. Ich warte hier«, nickte er.
Gleich darauf lag sie auf der Schlafstätte und heulte, ihr Gesicht in seinen Schlafsack vergraben. Sicherlich, nach all der Zeit roch alles etwas muffig und staubig. Aber auch nach ihm, so sehr nach ihm. Diesen Geruch hatte sie nie ganz aus seiner Wäsche herausgewaschen bekommen, auf Reisen schon gar nicht. Jetzt brachte er ihren Liebsten ein wenig zurück, wenigstens ein kleines Bisschen. Es roch nach Zuhause.
Als Luca schließlich hineinkletterte, saß sie stumm und mit verweintem Gesicht auf dem Beifahrersitz, ein Foto in der Hand. Sie sah nicht auf, als er von der Plattform heruntersprang. »Wow! Tanne, das ist ja ein richtiges Expeditionsmobil!«
Sie schniefte und wischte sich die Tränen ab. »Oh ja«, sagte sie brüchig. Sie atmete tief durch. »Es ist alles noch da. Niemand war hier drin, niemand.« Sie hob das Foto an ihre Lippen, drückte einen Kuss darauf. Dann hängte sie es wieder dorthin, wo es stets gehangen hatte: ans Armaturenbrett. So, dass sie beide es immer sehen konnten, sich selbst, lachend und engumschlungen.
Sie stand auf. »Wir haben Manolo und Giulia nie gesagt, wo wir den Truck versteckt haben. Weiß auch nicht, warum. Der Tank ist noch halb voll. Hoffen wir, dass die Kiste anspringt und der Diesel bei der Kälte nicht ausgeflockt ist. Aber erst einmal müssen wir rüber in das andere Tal. Über den Pass. Das werden die Pferde nicht schaffen, der Schnee liegt zu hoch. Wir müssen zu Fuß gehen.«
»Waaas?! Aber wie sollen wir denn…«
»Wir brauchen Schneeschuhe. Los, komm, lass uns den hinteren Teil vom Truck freiräumen. In der Ladeklappe haben wir Werkzeug und alles andere verstaut. Mal sehen, was wir finden.«
Schließlich nahmen sie die Campingstühle auseinander. Die Sitzflächen und die Rücklehnen hatten einen stabilen Rahmen, und der reißfeste Stoff bot hervorragenden Widerstand gegen den Schnee. Mit dem Seil banden sie diese an ihren Stiefeln fest.
»Es funktioniert!« Grinsend stapfte Luca durch den Schnee und sank kaum mehr ein.
»Hier, nimm die.« Tanne warf ihm Stefans Wanderstöcke zu und griff sich ihre eigenen. »Oben wird es sehr steil, da werden wir gehörig ins Rutschen kommen.« Sie hatte sich einen Rucksack gegriffen, packte ein paar Vorräte um. Nach kurzem Überlegen auch die Granate. Die wollte sie Manolo unbedingt zeigen.
Dann brachen sie auf. Als sie den Anstieg auf den Pass begannen, schob sich die Sonne durch die Nebelschwaden am Horizont, es sah wunderschön aus. Ergriffen blieben sie stehen und schauten. »Da vergisst man glatt die ganze andere Scheiße auf der Welt«, sagte Luca.
»Das kannst du laut sagen. Irgendwie tröstlich, nicht? Egal, was passiert, unsere Welt wird die Menschen immer überleben. Immer.« Entschlossen stapfte Tanne wieder los.
Der Weg hinauf verlangte ihnen alles ab. Tanne merkte jetzt erst, wie untrainiert sie war, immer nur auf dem Hof oder im Hospital beschäftigt und wenn unterwegs, dann zu Pferd. »Verdammt, ich komme mir vor wie eine alte Frau!«, keuchte sie schließlich, als sie oben waren, sich schwer auf die Wanderstöcke stützend. Sie schwitzten in der Sonne, obwohl es eigentlich eiskalt war.
»Oh man!«, ächzte Luca. Mit seinem versehrten Fuß hatte er noch mehr zu kämpfen als sie. »Ist das anstrengend! Wir sind voll die Weicheier geworden. Das muss sich ändern, ehrlich, Tanne.«
Sie verpasste ihm mit dem Stock einen Schubser. »Dann hoch mit dir, du Weichei. Ich weiß einen Weg, wie wir schneller runterkommen als rauf.« Grinsend zog sie den Knoten von ihren Schneeschuhen auf.
Gleich darauf sausten sie, jeder auf der Rückenlehne einer Liege sitzend, gen Tal. Schneller und immer schneller wurde es, so schnell, dass Tanne nicht mehr bremsen mochte, sonst hätte sie sich wohl überschlagen. Luca schrie lauthals, es war ein reiner Freudenschrei, sodass es laut durch das andere Tal hallte.
An einer Mauer kamen sie schließlich abrupt zum Stehen und purzelten lachend durcheinander. Hundegebell war zu hören, weit entfernt. »Oh oh, die sind wach geworden!«, japste Tanne. Hastig sprang sie auf und klopfte sich den Schnee aus den Kleidern, wollte nach ihrer Maske greifen und sie hochziehen. Doch diese war nicht mehr da. Erschrocken wollte sie sich den Schal über die Mundpartie ziehen, aber Luca, der jetzt auch aufgestanden war, griff ihre Hand und hielt sie fest.
»Nicht. Das brauchst du doch nicht, Tanne. Das dort sind deine Freunde.« Er sah sie warm an. Stumm schaute Tanne zurück. Sie fühlte einen kurzen Stich der Panik. Aber er fing an zu lächeln, drückte bestärkend ihre Hand. »Lass einfach deine Zähne zusammen, wenn du flüsterst. Dann merkt es keiner, hm?« Die Erleichterung überflutete sie. Sie atmete schluchzend aus und konnte gar nicht anders, sie musste ihn einfach umarmen. Stumm hielt er sie fest. »Schon gut. Ist schon gut, Tanne«, flüsterte er und drückte sie aufmunternd.
Die Bewohner hatte das Hundegebell aus dem Schlaf geholt, wenn sie denn nicht schon wach gewesen waren. Jetzt hörten sie hektische Aktivität im Dorf, Stimmen, Rufe.
»Oh, oh«, machte Luca. »Hoffentlich erschießt uns keiner.« Wie von selber öffnete er seinen warmen Mantel, rückte das Waffenholster zurecht.
»Lass das!«, sagte Tanne. »Los, komm.« So schnell sie konnten, gingen sie den verschneiten, von Mauern begrenzten Feldweg entlang in Richtung Dorf.
Sie hatten die Hunde ausgeschickt. Die Meute raste auf sie zu, bellend und in heller Aufregung. Ganz zuvorderst entdeckte Tanne einen schwarzweißen Shepard. Sie erkannte ihn sofort und pfiff durch die Zähne. Sich hinhockend, streckte sie die Arme aus. »Pepe!« Es war nur geflüstert, aber es genügte. Der Hund erkannte sie, raste jaulend los und warf sie um, ihr begeistert das Gesicht schleckend. Die übrige Hundemeute umkreiste sie, aufgeregt bellend, aber keiner knurrte, denn Pepe freute sich wie verrückt, und das merkten die anderen. Luca hockte sich auch hin, lockte sie zu sich, ließ sie schnuppern, und bald waren sie ganz friedlich.
»Da kommen Leute, Tanne«, sagte er leise. Sie sah auf und entdeckte eine ganze Reihe Gestalten den Weg hinaufkommen.
Luca half Tanne rasch hoch. Die Leute waren alle bewaffnet. Sie hatten noch nicht angelegt, denn die Hunde waren friedlich, aber sie spähten wachsam zu ihnen. Tanne atmete tief durch und wappnete sich, das war für Luca gut zu spüren. Spontan sagte er: »Setz deine Kapuze und deine Mütze ab. Lass sie deine Haare sehen. Dann wissen sie, wer kommt.« Sie sah ihn kurz an. Er nickte. »Mach einfach, vertrau mir. Es wird klappen.«
Sie schluckte, doch dann tat sie, was er sagte. Sie wusste, ihre Haare mussten in der Morgensonne leuchten wie ein helles Signalfeuer. Kaum hatte sie die Mütze abgenommen, blieben die Bewaffneten stehen. Es war einen Moment völlig still. Doch dann stieß einer einen lauten Schrei aus. Die Waffe einfach fallen lassend, rannte er los, und weiter hinten löste sich eine weitere kleine Gestalt aus einer Mauerlücke, er hatte sich heimlich hinterhergeschlichen, natürlich hatte er das, dieser Racker.
Tanne merkte es gar nicht, sie lief selber los. Gleich darauf wurde sie von Manolo in eine knochenbrechende Umarmung gezogen. »Tanne! Cara, wie kommt… wo kommst du denn her?!«, rief er aus. Er schob sie ein Stück zurück, umfasste ihr Gesicht und musterte sie sichtlich entgeistert, doch dann lachte er auf. »Heile und an einem Stück. Oh Cara!« Er drückte ihr einen stürmischen Kuss auf die Stirn, gefolgt von zweien auf jede Wange und dann noch einen auf den Mund. Lachend ließ sie sich das gefallen, und sie staunte, dass es sie nicht störte, kein Bisschen. Im Gegenteil, ihr wurde froh ums Herz, und gleich darauf war die zweite Gestalt heran und Matteo fiel ihr mit einem Jubelschrei um den Hals.
Die Tränen flossen reichlich, bis sie endlich an Giulias Küchentisch saßen und sich glücklich lächelnd an den Händen hielten. Manolo hatte die neugierig zusammengelaufenen Bewohner fortgeschickt. Die meisten kannte Tanne nicht, nur die Flüchtlinge, die sie selber hierhergeschickt hatte. Alle anderen waren später hinzugekommen.
Giulia liefen immer noch die Tränen herunter. Sie hielt Tannes Hände fest umfasst. »Als wir hörten, was passiert ist, da fürchteten wir das Schlimmste, Tanne. Besonders, als Rossi dann noch deinen Bericht verbreitet hat. Erst dein Brief hat uns ein wenig Gewissheit gegeben, dass es dir einigermaßen gut geht. Aber Stefan… und Giorgio…« Sie brach wieder in Tränen aus.
»Schscht, nicht. Ist ja gut«, tröstete Tanne, sie fest an sich drückend. »Es ist vorbei.«
»Haben die bösen Männer dir wehgetan?«, fragte die kleine Lisa. Die Kinder hatten sich nicht wegschicken lassen.
»Hm… ja, Lisa, das haben sie. Aber das ist wieder verheilt. Naja, zumindest fast.«
»Du sprichst so komisch«, sagte Nele. »Warum?«
Tanne beschloss, ehrlich zu sein. »Meine Stimme ist kaputt, Nele. Ich konnte am Anfang gar nicht sprechen. Und schau mal hier.« Sie streckte die Zunge raus, ganz weit. Die Erwachsenen fuhren mit einem Aufkeuchen zurück, völlig entsetzt. Die Mädchen quietschten erschrocken. Aber die Jungen beugten sich vor, sichtlich fasziniert, und das wunderte Tanne. Rasch bewegte sie die beiden Spitzen, getrennt voneinander.
»Wow! Voll cool!«, entfuhr es Marco mit großen Augen, und Matteo rief: »Mach das nochmal!«
Ihre Reaktion brachte Tanne zum Lachen, und auf einmal löste sich die Anspannung, in ihr und auch in den anderen. Die Erwachsenen stießen verblüfft die Luft aus. »Du hörst dich an wie dein Vater, Matteo«, sagte sie warm und lächelte.
Der Junge erstarrte förmlich. Wie ein in die Enge getriebenes Tier saß er plötzlich da. Alle sahen fragend von Tanne zu ihm. Sie nahm seine Hand, drückte sie. »Keine Angst, Matteo. Ich kann verstehen, dass du geschwiegen und niemandem hier gesagt hast, wer dein Vater ist.« Er schluckte sichtlich.
»Was… was hat das zu bedeuten, Tanne?«, fragte Manolo.
Sie holte tief Luft. »Ich bin hier, um Matteo zu ihm zu bringen. Er ist sehr krank, es steht schlecht um ihn. Ich will Matteo mitnehmen und die richtige Medizin für ihn. Damit er wieder gesund wird.«
»Papa lebt?! Aber er ist krank?«, flüsterte Matteo. Seine Augen füllten sich mit Tränen.
»Ja, sehr. Aber wenn wir uns beeilen, können wir ihm vielleicht noch helfen.«
»Aber… aber Tanne, wir haben nichts, was wir dir mitgeben könnten«, stammelte Giulia. »Rossi hält alles unter Verschluss. Der hat Maria förmlich eingesperrt und bewacht sie Tag und Nacht, damit sie nichts heimlich rausgeben kann. Wir haben nichts mehr, rein gar nichts.«
»Nein, das glaube ich«, sagte Tanne. »Drüben ist es auch nicht besser, wir haben keine Medikamente mehr. Aber ich habe noch welche, und die werde ich jetzt Matteos Vater bringen. Er ist bei deinem Onkel Nik, Matteo. Der kümmert sich um ihn und hält ihn am Leben.«
»Er ist bei Onkel Nik?!« Auf einmal sprang er auf, und seine Augen leuchteten. »Oh, lass uns reiten, Tanne, ganz schnell! Onkel Nik!« Er stieß einen Jubelschrei aus und rannte hinaus.
Die Erwachsenen schauten verblüfft. »Wer ist Matteos Vater, Tanne?«
Luca schüttelte unmerklich den Kopf in Tannes Richtung, doch das sahen die anderen nicht. Sie vertraute ihm da blind, er bekam viel mehr aus der Armee mit als sie selber. »Besser, ihr wisst das nicht, denn dann kann Rossi euch nicht anzählen«, sagte er.
»Pah, Rossi!«, meinte Manolo, und sie hörte, wie er zornig wurde.
Sie ging nicht darauf ein, sondern stand auf. »Manolo, ich werde deine Hilfe benötigen.« Sie ruckte mit dem Kopf hinaus. Das sollten die Kinder nicht mitbekommen. Sie zogen sich in Manolos Werkstatt zurück, und er schloss energisch die Tür.
»Also, was hat das zu bedeuten?«, fragte er und verschränkte die Arme.
»Matteo ist der Sohn von Colonnello Lussu, Manolo«, sagte Tanne.
»Waas?!«, rief Manolo und senkte seine Stimme gerade noch rechtzeitig zu einem Flüstern.
Luca nickte ernst. »Der ist nicht gut Freund mit Rossi. Wenn Rossi das gewusst hätte, dann hätte er den Jungen eingesperrt. Als Druckmittel. Rossi ist da ein ganz harter Hund…«
»Da erzählt ihr mir nichts Neues«, spuckte Manolo aus. »Der hat sich hier aufgeführt wie ein kleiner Diktator. Hat alle Ortschaften durchsucht, hat alles einkassiert. Unsere Spritvorräte, die Fahrzeuge, alles. Vorräte auch. Wir leben von der Hand in den Mund und bekommen nichts, rein gar nichts.«
»Das ist im Süden etwas anders«, sagte Tanne. »Der Colonnello und die anderen Befehlshaber teilen alles auf. Beschlagnahmen auch, klar. Aber wer Not leidet, dem wird gegeben. Alle halten zusammen und teilen. Und sie sind auf Rossi nicht gut zu sprechen, gar nicht gut.«
»Sie arbeiten mit ihm nur zusammen, weil er die nördliche Front hält«, ergänzte Luca. »Uns gehen langsam die Waffen aus, aber Rossi, der hat noch reichlich, sagen die Soldaten. Der hat die Bestände der Brigata einkassiert, aus Sassari, bevor die Feinde eingefallen sind. Und gibt nichts davon raus. Aber das«, er wechselte einen raschen Blick mit Tanne, und sie nickte, »wird ihm jetzt zum Verhängnis. Schau mal.«
Er öffnete den Rucksack und holte das Päckchen mit der Granate heraus. Als er es auswickelte, entfuhr Manolo ein fassungsloser Laut. »Bei allen Heiligen… wo habt ihr das her?!«
Sie erklärten es ihm. »Wir brauchen eine Starterbatterie, Manolo.«
Sein Kopf fuhr hoch. »Du willst deinen Truck holen und die Waffen bergen? Wir haben nie nach ihm gesucht, Tanne. Das wollten wir nicht, wegen Stefan, wegen dir. Denn das hätte Spuren hinterlassen, und die hätten Rossis Leute womöglich gefunden. Sie suchen gezielt nach solchen Verstecken und sind ziemlich gut, sie zu finden.«
Tanne erschrak. »Oh nein, dann hast du gar keine…«
Da grinste Manolo. »Sie sind gut, aber nicht gut genug. Natürlich habe ich noch eine. Kommt mit.«
Keine halbe Stunde später waren sie wieder unterwegs, nach einer tränenreichen Verabschiedung von Giulia und den Kindern.
Manolo, Matteo, Tanne und Luca gingen zu Fuß. Manolo hatte sich die Batterie auf den Rücken geschnallt, Matteo hatte sein Bündel dabei, es war nicht viel, aber Tanne hatte einen großen Rucksack auf und Luca auch. Es waren Stefans und ihre Sachen, die Giulia und Manolo all die Zeit für sie gehütet und vor Rossis Zugriff geschützt hatten. Sogar ihre Wanderschuhe, die sie damals bei Maria zurückgelassen hatte, hatten irgendwie den Weg hierher zurückgefunden. Dankbar genoss Tanne das lang vermisste Gefühl, endlich Schuhe an den Füßen zu tragen, die ihr auch wirklich passten.
Manolo und Matteo hatten sich wie Tanne und Luca die Sitzflächen von ein paar alten Stühlen unter die Füße geschnallt. So kamen sie gut voran und waren binnen einer Stunde drüben auf der anderen Seite.
»Ich muss schon sagen…« Breit grinsend sah Manolo auf die Höhle. »Da hätten wir lange suchen können! Den hätten wir nie gefunden, und Rossis Leute auch nicht, Tanne. Da bin ich aber gespannt.«
Gemeinsam räumten die die Felsen fort, und bald stand der über und über verstaubte Truck vor ihnen. »Ein altes Armeemodell?«, fragte Manolo und begutachtete ihn begeistert.
»Rettungsfahrzeug«, verbesserte Tanne. Sie langte unter die Stoßstange, fühlte in ein Versteck und fand gleich darauf den Schlüssel. »Wir haben ein Solarpanel nach oben aus der Höhle rausgelegt, aber ich weiß nicht, ob das gereicht hat, um die Batterien am Leben zu erhalten. Wartet mal.« Probeweise drehte sie den Schlüssel im Türschloss, aber wie sie es schon geahnt hatte, es tat sich nichts. Keine Zentralverriegelung. »Ich muss mal schauen, was mit dem Panel ist.« Vorsichtig kletterte sie mit Luca die Felsen hoch, bis sie es oben fanden. Es war voller Schnee und Eis. »Kein Wunder, dass kein Saft mehr da ist. Nein, da muss Manolos Batterie herhalten.«
Sie bauten das Panel wieder an seinen ursprünglichen Platz, nicht ohne es sorgfältig gesäubert zu haben. Manolo fummelte bereits an den Kabeln, Tanne hatte ihm die Motorhaube geöffnet. »So, jetzt. Versuch’s mal, Cara.«
Sie drehte den Schlüssel im Zündschloss. Es klackte zweimal, aber nichts geschah. »Anlasser«, sagte Tanne, schnappte sich einen Hammer aus dem Werkzeugkasten und kam zu Manolo an die offene Motorhaube. Mit zwei, drei gezielten Schlägen an eine bestimmte Stelle hoffte sie, das Problem behoben zu haben.
»Wow, warum machst du das?«, fragte Luca, der mit Matteo die Steine aus dem Weg räumte.
»Der Anlasser hat einen Magnetschalter. So richten sich die Moleküle wieder aus. Also gut. Spring an! Spring an!« Sie drehte wieder den Zündschlüssel, und endlich, mit einem gut zu hörenden Würgen, tat sich was. Stotternd sprang der Motor an, gefolgt von einer riesigen Rußwolke und jede Menge blauem Dunst. Er rotzte das Zeug regelrecht heraus, als Tanne im Leerlauf aufs Gaspedal drückte. Der Jubelschrei der Jungs ging in einem Hustenanfall über, und sie mussten schleunigst aus der Höhle flüchten.
»Wir werden Schneeketten brauchen«, sagte sie schließlich, nachdem sie den Truck mühevoll aus der Höhle manövriert hatten. Er lief immer noch, Tanne wollte ihn nicht abstellen, damit er die Batterien möglichst schnell wieder volllud. Mit Manolos und Lucas Hilfe hatte sie die Ketten bald aufgezogen, auch wenn das bei den großen LKW Reifen eine echte Schinderei war.
Schließlich hieß es Abschied nehmen. Manolo stand mit Tränen in den Augen da, gab Tanne einen festen Kuss. »Pass auf dich auf, Cara. Und wenn es zu arg mit den Leuten dort wird, dann komm zurück zu uns, ja?«
»Das könnte durchaus passieren, Manolo. Der Dottore wird stinksauer auf mich sein. Aber hier, nimm dies.« Sie reichte ihm ein kleines Päckchen. »Das ist für euch, falls jemand krank wird. Nimm es, ich habe genug für Matteos Vater.« Denn Stefans eiserne Reserve war von ihrem Bruder aufgestockt worden. Das hatte sie entdeckt, als sie die Wandverkleidung nochmal abgenommen hatte, auf der Suche nach seinem Medikamentenvorrat. Armeeware, ganz eindeutig.
»Was… nein, oh nein Tanne, das werde ich nicht annehmen.« Er schüttelte den Kopf und gab es ihr zurück. »Wenn Rossi das findet, dann nimmt er uns den Hof. Er hat schwerste Strafen darauf ausgesetzt, Medikamente zu horten. Die Batterie, dafür würde er uns einen Klaps auf den Finger geben. Aber das hier… nein. Nimm es mit, du kannst es besser einsetzen. Nein, Cara, keine Widerrede.« Er umarmte sie noch einmal fest, gab ihr einen Kuss auf die Wange und ließ sie dann los. Auch Matteo drückte er an sich. »Pass auf sie auf, Junge, machst du das?«
»Mach ich, Manolo. Ciao.« Matteo machte sich sofort wieder los. Ungeduldig trat er von einem Fuß auf den anderen. »Können wir?«
Tanne musste lachen. »Oh ja, können wir. Los, rein mit euch. Ciao, Manolo. Gib Giulia einen Kuss von mir und Maria auch, ja?« Ihm noch einmal zulächelnd, kletterte sie hinter das Steuer, schloss die Tür.
»Okay Jungs. Wie wäre es mit ein wenig Musik? Was hört ihr denn gerne?«, fragte sie.
Die beiden wechselten einen Blick. Dann grinsten sie. »Alles«, sagten sie wie aus einem Mund. Tanne fuhr lachend los.
Der Weg hinaus aus dem Tal war beschwerlich. Es war ja keine richtige Piste gewesen, mehr ein Pfad. Oft mussten Luca und Matteo vorweg gehen und mit den Stöckern alles absuchen, damit der Truck nicht in eine Vertiefung geriet und womöglich umkippte. Manchmal lagen die Schneewehen auch zu hoch, und trotz der großen Bodenfreiheit fuhren sie sich fest und mussten mit Schaufeln arbeiten, um den Truck wieder frei zu bekommen. So war es weit nach Mittag, bis sie aus dem Tal heraus waren. Doch dann ging es voran. Wegen der hinten angebundenen Pferde konnten sie nicht allzu schnell fahren, aber das war bei den Witterungsbedingungen okay. Die Jungs fanden eine Packung alter Kekse in einem Schrank und eine vergessene Dose Cola und saßen vergnüglich mampfend neben ihr, Luca auf dem Beifahrersitz, Matteo auf der Mittelkonsole, während Tanne den Truck durch die verschneite Weite lenkte. Es störte sie nicht, dass Luca und Matteo in den Schränken stöberten. Sie waren neugierig, wer konnte es ihnen verdenken? Nur aus ihren Klamotten, da sollten sie die Finger raushalten, wies sie die beiden an.
Erstmals wirklich anhalten mussten sie, als sie an den Abschnitt mit den verstreut liegenden Kisten kamen. »Die müssen wir alle vom Weg holen, Tanne, sonst jagen wir uns selbst in die Luft«, sagte Luca.
»Wir sollten das alles mitnehmen. So viel wie möglich«, sagte Tanne. »Bevor Rossi etwas mitbekommt. Also gut.« Sie kontrollierte die Batterieanzeige, und diese zeigte bereits wieder einen guten Ladestand. Auch das Solarpanel funktionierte einwandfrei. Tanne stellte den Truck aus. Augenblicklich war es wieder still, totenstill. Kein Motor, keine Musik. Keine Geräusche, nicht einmal Wind. Einen Moment saß sie stumm da. Dann sagte sie: »Ich muss gestehen, den Lärm habe ich nicht wirklich vermisst. Gar nicht.«
Luca nickte. »Ich weiß, was du meinst. Los, kommt, schauen wir uns die Sache einmal an.«
Es waren zahlreiche Kisten, die auf oder im Bereich der Piste lagen. Behutsam, als würden sie rohe Eier in den Händen halten, sammelten sie die Granaten ein, verstauten sie in den dazugehörigen Vertiefungen und trugen alles in den Truck. Bald war ihr enger Innenraum gestapelt voll.
»So, das muss reichen«, ächzte Luca, sich den Schweiß von der Stirn wischend. Die Straße lag wieder frei. »Den Rest holen wir später.«
Tanne kletterte nach vorne, zurück auf den Fahrersitz. Doch bevor sie den Motor wieder anwerfen konnte, kam Matteo angerannt. »Tanne! Komm schnell!« Er war bleich im Gesicht. Alarmiert folgten sie ihm die Straße hinunter bis zu einer Stelle mit ein paar Felsen. »Schau«, sagte er und zeigte dazwischen.
»Verflucht!«, kam es von Luca, und Tanne hätte Matteo am liebsten die Augen zugehalten. Doch dafür war es eh zu spät. Da lag ein Toter, ein Soldat, mit Kampfhelm und Visier, ganz blau gefroren. Ein Pilot, so viel konnten sie schon sehen.
»Geh, steig in den Truck, Matteo«, sagte sie und schob ihn zurück. Ausnahmsweise widersprach der Junge nicht, sondern schlich sich davon.
Luca hatte sich über den Mann gebeugt und klappte jetzt das Visier seines Helmes hoch. Sie schauten in ein fremdartiges Gesicht. »Das… der ist Asiate. Wie kommt der hierher?«
Tanne fasste unter den Kragen des Mannes, holte seine Erkennungsmarke heraus. Fremde Schriftzeichen waren darauf zu sehen und ein Code. Sie riss sie ab. »Die nehmen wir mit. Und das Emblem auf seiner Uniform auch. Vielleicht kann der Kommandant etwas damit anfangen.« Sie durchsuchte noch die Taschen. Fand ein Kampfmesser, eine Waffe, Munition. Das nahmen sie alles mit. Eine Brieftasche mit einem Ausweis und dem Foto von einer hübschen Frau mit einem niedlichen kleinen Baby. »Korea«, las sie vom Ausweis ab. Den nahm sie auch mit, das Foto jedoch steckte sie ihm zurück in die Tasche. »Damit du sie nicht verlierst«, sagte sie leise.
»Hier liegt noch einer, Tanne. Der ist Amerikaner.« Er deutete auf einen Ring an dem Daumen der rechten Hand des Toten mit einer US Flagge darauf. »Und schau mal…« Nur mit Mühe schaffte Luca es, den steif gefrorenen Arm des Mannes zu bewegen. Er trug eine Handschelle, an der eine lange Kette befestigt war.
»Was ist das?«, fragte sie. Luca zog, und die Kette kam vollständig aus dem Schnee hervor. An ihrem anderen Ende hing sie fest, an einem großen Koffer. Kopfschüttelnd lief Tanne dorthin. »So was haben normalerweise nur Geldtransporter. Oder Agenten. Was ist da drin?«
»Finden wir es heraus. Das Ding hat ein Schloss. Aber keins mit Schlüssel«, stellte Luca gleich darauf fest. Ratlos starrten sie darauf herab.
Tanne berührte es vorsichtig. Augenblicklich spürte sie, dass sich da etwas bewegte. Es kribbelte an ihrem Finger. »Oh, das ist ein Scanner! Und er hat sogar noch Strom. Wie das?« Sie sah auf den Soldaten. Außer durch den Ring gab es keinen Hinweis auf seine Nationalität, keine Erkennungsmarke, kein Ausweis. Er hatte nicht einmal eine Waffe. Sehr merkwürdig. »So, Kumpel, und nun verrat uns mal, was da gescannt werden muss von dir. Retina oder Fingerabdruck?«
»Wenn wir das Ding so versuchen aufzumachen, wird es sich bestimmt selbst zerstören oder so was«, sagte Luca unbehaglich.
»Könnte passieren. Also, probieren wir es aus.«
Es war wesentlich leichter, den Toten zu dem Koffer zu zerren als umgekehrt. Der Koffer war höllenschwer. Gleich darauf fanden sie heraus, es war der Daumen. Mit einem leisen Summen und einem deutlichen Klacken entriegelte sich das Schloss. Vorsichtig klappte Luca den Koffer auf.
»Ein Waffen Case«, sagte Tanne sofort, als sie den dicken grauen Schaumstoff sah.
»Eine Waffe, an die man nur mit einem High-Tech Scanner rankommt? Was für eine Waffe soll das sein?«, schnaubte Luca, aber er klang genauso neugierig wie sie.
Tanne hob vorsichtig den Schaumstoff hoch. Darunter kamen einige Vertiefungen zum Vorschein. »Akkus«, erkannte sie, als sie die dicken Blöcke und das Ladegerät sah. Es waren drei an der Zahl, und sie waren schwer. »Wow, fass mal an. Einer wiegt bestimmt fünf Kilo. Kein Wunder, dass der Kasten so riesig ist.«
»Da ist was drunter«, sagte Luca und holte einen nach dem anderen heraus. Dann konnte sie die nächste Lage des Schaumstoffes und ein weiches Tuch entfernen. Gespannt beugten sie sich vor. »Was zum Henker…«
Vor ihnen lag eine Waffe, das war Tanne sofort klar, in drei Teilen. Aber eine solche hatte sie noch nie gesehen. »Das ist ein Scharfschützengewehr«, sagte sie mit Blick auf das Zielfernrohr und das kleine Dreiecksstativ. Das wusste sie, weil ihr Bruder in seinen Einsätzen oft eines benutzt hatte. Er hatte sie sogar einmal damit schießen lassen, auf dem Schießstand. Dosenschießen aus anderthalb Kilometer Entfernung. Wie lange das her war!
»Kann nicht sein. Da ist ja nichts, wo man die Munition einführen kann«, wandte Luca ein. »Und der Lauf sieht so merkwürdig aus. Der hat ja nur ein ganz, ganz schmales Rohr. Es gibt nur…« Sie sahen beide auf die Akkus.
Tanne hob das Gewehr vorsichtig heraus. In die metallene Oberfläche war etwas hineingefräst, eine Codierung. Sie sah eine komplizierte Buchstaben-Zahlenkombination mit einem Namen am Ende. TLR Prototype. »Eine neue Art von Waffe. Ein Prototyp. Aber was für einer? Gib mir mal die anderen Teile, Luca.« Sie baute das Gewehr zusammen. Das war einfach, denn es bestand ja nur aus dreien. So war es relativ leicht. Das Stativ kam genau in die Mitte, wunderte sie sich. Als sie durch das Fernrohr schaute, sah sie nichts als Schwärze. »Das… das ist kein optischer Sucher, das ist ein elektronischer. Gib mir mal einen Akku, Luca.«
Sie mussten ein wenig herumprobieren, doch dann fanden sie einen passenden Anschluss. Gemeinsam stellten sie das Gewehr auf. Doch es rührte sich nichts, als sie durch den Sucher schauten. »Muss man es anschalten?«, wunderte sich Luca.
»Ich sehe keinen Schalter. Warte mal… das ist irgendwie unpraktisch.« Denn der Akku am Ende zog das gesamte Gewicht nach unten. Da das Stativ eher mittig angebracht war, musste man, wenn man zielen wollte, das Gewehr mit dem vollen Gewicht hochdrücken. Da fehlte irgendwie… »Gibt mir mal den zweiten Akku. Ja, hier gehörst du rein«, sagte sie zufrieden und hörte ein Klacken, als sie es in eine Vertiefung vor dem Stativ steckte.
»Oh ja!«, rief Luca. »Guck, hier ist noch eine Vertiefung. Da kommt der dritte Akku rein. Und schau mal, hier ganz vorne kann man noch zwei Stützen ausklappen.«
»Ja, jetzt passt es«, sagte Tanne. Das Gewehr stand stabil. Und nun hatte sie auch ein Suchfeld in dem Sucher. Es war automatisch angegangen. Sie richtete das Gewehr aus auf das Wrack des Flugzeuges, das am gegenüberliegenden Ende des Tales im Berghang steckte. »Mal sehen, wie stark der Sucher ist. Könnte locker…« Mit einem lauten Keuchen zuckte Tanne zurück.
»Was ist?!«, rief Luca beunruhigt.
»Scheiße. Oh Gott.« Sie hatte sich furchtbar erschrocken. Noch einmal schaute sie durch den Sucher und erkannte, sie hatte recht. »Komm her, sieh dir das an.« Sie machte Luca Platz.
Er fuhr fluchend zurück, sobald er auch nur einen kurzen Blick hindurch geworfen hatte. »Heilige… das müssen mindestens anderthalb Kilometer sein da rüber, wenn nicht mehr.«
»Ja. Und dennoch sieht man die Pupille des Toten in Großaufnahme«, flüsterte Tanne. »Das Ding hat eine ungeheure Reichweite. Viel, viel weiter als alles Herkömmliche.«
»Oh man! Das nehmen wir mit! Das müssen wir ausprobieren!«, rief Luca aus.
»Jaaa… aber nicht hier. Und nicht jetzt. Los, komm, lass uns fahren. Die Zeit drängt.« Sie nahmen die Teile einfach mit, wickelten sie in das Tuch. Erst überlegten sie, ob sie das Case auch mitnehmen sollten. Doch eine kurze Untersuchung zeigte ihnen, unter den eigentlichen Einbuchtungen für die Waffe waren große Pakete angebracht. Sprengstoff, mit einem weiteren Akku. Der war mit dem Scanner verbunden, ganz, wie sie es schon vermutet hatten. Davon ließen sie lieber die Finger und schlossen den Deckel wieder.
Matteo war natürlich mehr als neugierig, was sie anschleppten. Da sie aber selber noch nicht genau wussten, womit sie es zu tun hatten, sagten sie ihm einfach, sie hätten noch eine Waffe gefunden, die aber lieber eingepackt, damit sie nicht kaputt ginge. Die Waffe selber versteckten sie oben auf der Schlafplattform unter einer dicken Lage Schlafsäcke. Dann fuhren sie wieder los.
»Wir müssen uns überlegen, wie wir fahren wollen«, sagte Tanne nach einiger Zeit. »Es ist so still hier oben. Unser Fahrzeug ist weithin zu hören, und die Front ist nahe. Nicht, dass man uns bemerkt. Ich würde lieber nachts fahren, ohne Licht und wenn es ein wenig windig ist. Das übertönt die Geräusche.
Sie hielten nochmal an und konsultierten die Karte. »Da«, sagte Luca und zeigte auf einen Abschnitt. »Der ist am gefährlichsten. Siehst du diesen Hügel hier? Da müssen wir östlich herum und kommen damit in den Hörbereich der Front, wer weiß, vielleicht sogar in den Sichtbereich. Nein, da können wir nur nach dem Dunkelwerden lang. Ich glaube, es wird windiger. Siehst du die Wolken? Das heißt meistens, dass etwas aufzieht.«
»Alles klar.« Sie startete wieder. »Fahren wir, soweit es geht. Dann machen wir Pause. Ich bin kaputt, das kann ich euch sagen!«
Schließlich hielten sie am späten Nachmittag im Licht der tiefstehenden Sonne an. Tanne ließ den Motor ausgehen und saß einen Moment lang mit geschlossenen Augen hinter dem Lenkrad. »Puh!«, machte sie schließlich. Luca gähnte ganz ungeniert. »Nein, das geht nicht. Wenn ich jetzt einschlafe, wache ich bis morgen früh nicht wieder auf. Kommt, lasst uns etwas essen. Und die Beine vertreten, damit wir wieder wacher werden.«
Es half ein wenig. Da der Innenraum so vollgestellt war, konnte Tanne nichts kochen, aber Giulia hatte ihnen ein Essenspaket gepackt, und sie hielten sich an Brot, Käse und Wurst.
Dann stiegen sie alle drei auf den nächstbesten Hügel, um sich das Umland anzuschauen. »Du hast recht, Tanne. Dort bei den Hügeln läuft die Front entlang. Das gehört gerade noch zu unserem Gebiet. Dahinter geht es zu Rossis Stellungen.«
Die Sonne stand schon ziemlich tief. Tanne spähte hinüber und meinte, ein kleines Licht in der Ferne auszumachen.
»Da ist jemand«, flüsterte Matteo, als könnte man sie hören.
»Bestimmt. Die halten Wache.« Tanne überlegte. »Was ist, Luca, wollen wir unseren Fund ausprobieren?«
»Au ja!«, rief Matteo, und Luca verwuselte ihm grinsend das struppige Haar. »Na dann, los, Kamerad, holen wir das Schätzchen her.«
Das überließ Tanne nur zu gerne den beiden. Sie setzte sich auf ihren warmen Mantel in die untergehende Sonne und genoss den Moment der vollkommenen Stille. Sie war so beschäftigt gewesen, dass sie gar nicht mehr daran gedacht hatte, was jetzt vor ihr lag. Würden sie rechtzeitig kommen, um Anda zu helfen? Und egal, wie es ausging, sie würde sich auf jeden Fall auf eine gewaltige Auseinandersetzung mit Seiner Hoheit, Il Dottore Nik, vorbereiten müssen. Denn der, so viel stand fest, würde stinksauer sein. Allein, daran zu denken, ließ Tanne kalt werden. Doch dann fiel ihr Manolos Versprechen ein, und ihr wurde etwas leichter ums Herz. Sie hatte noch eine Zuflucht, auch wenn sie das wieder in den Bereich von Rossi brachte, dem Sausack, wie Anda stets sagte.
Bei dem Gedanken hörte sie Schritte und keuchenden Atem auf sich zukommen. »Verflucht, sind die Dinger schwer!«, ächzte Luca.
»Warte, gib her.« Sie nahm einen Akku an sich. Matteo kam mit den leichteren Teilen hintendrein, und er hatte sich ein Fernglas um den Hals gehängt. Das stammte aus dem Fahrerhaus des Trucks, es war Stefans.
Im Handumdrehen hatten sie das Gewehr wieder aufgebaut. Es funktionierte tadellos. Tanne brauchte einen Moment, bis sie es so ausgerichtet hatte, dass sie die Stelle mit dem kleinen Licht in der weißen Weite wiedergefunden hatte. Die Jungs hatten ihr großmütig ihre Mäntel überlassen, damit sie nicht im kalten Schnee liegen musste. »Oh ja, da ist eine Stellung. Sie haben sich eine Schießscharte gebaut und eine Art Unterstand. Das… oh, das ist Flavio! Der schiebt hier Dienst? Da wird seine Mama aber nicht begeistert sein und… igitt! Jetzt bohrt er sich in der Nase! Guckt mal!«
Die Jungs kicherten los und drängelten sich, auch mal durchschauen zu können, denn durch das Fernglas sahen sie nicht viel. Allerlei freche Bemerkungen flogen hin und her. »Aber Tanne, wie schießt das Ding denn nun?«, fragte Matteo.
»Lasst es uns herausfinden, aber tunlichst nicht bei unseren eigenen Leuten, um Himmels willen! Lasst mich mal schauen.« Bereitwillig machten die beiden ihr Platz, blieben aber bei ihr liegen. Tanne verstellte die Rädchen an dem Stativ, veränderte den Neigungswinkel. »Dann wollen wir doch mal sehen, wie weit du wirklich ins Umland reichst, TLR«, flüsterte sie und begann zu suchen.
Sie war überrascht, dass sie irgendwann grün-braunes Tiefland vor sich hatte. »Da unten liegt fast kein Schnee mehr«, sagte sie. »Es taut.« Sie suchte weiter, ganz behutsam drehte sie das Rädchen. Sie fand die Dächer eines Dorfes, eingestürzt und verbrannt, eine Straße, alles weit, weit entfernt. Und dann, kaum noch auszumachen in all dem Braun, eine lange Reihe marschierender Gestalten. Das waren keine Soldaten, erkannte sie. Abgerissen und dürr wie Gespenster wankten sie auf der Straße dahin, alle mit einer Hacke oder einer Schaufel auf der Schulter. Viele hatten nicht einmal Schuhe an, und das bei der Kälte! Wachen liefen mit erhobenen Gewehren hintendrein. Weiter vorne sah sie die Umrisse eines großen Gebäudes mit Wachen oben auf dem Eingang. Ein Gefangenenlager. Ein LKW stand davor, daneben ein mobiler Dieseltank, aus dem er gerade befüllt wurde. Oh, wenn sie den doch nur treffen könnte!, dachte sie. Vielleicht würde das den Gefangenen helfen.
Ohne einen bewussten Entschluss gefasst zu haben, hatte Tanne ein wenig den Abzug gedrückt. Das Display ihres Suchers erwachte zum Leben. Marking stand da plötzlich, gefolgt von einem Fadenkreuz. War das jetzt eine Aufforderung an sie? »Was willst du von mir, du blödes Ding?«, flüsterte sie unhörbar für die Jungs. Sie krümmte den Finger ein wenig stärker. Der Tank erhielt einen roten Punkt. Calculating ersetzte das andere Wort, gefolgt von einem Ladebalken. Tanne war verblüfft. Dann erschien plötzlich ein grüner Ring um den roten Punkt. Target identified, stand da. Also gut, dann mal los. Vielleicht kann ich ihnen ja ein Loch in den Tank verpassen, dachte sie. Sie drückte ab.
Ihr Display flackerte, es zischte leise. Sie spürte so etwas wie Wärme an ihrer Wange. Dann ging das Display aus. »Wow, was war das denn?!«, rief Luca.
Sie sah auf, aber da war nichts mehr zu sehen. »Was meinst du?«
»Da vorne am Lauf hat es geblitzt, ganz kurz nur.«
»Echt? Oh nein! Dann haben wir die Munition übersehen oder einen Rohrkrepierer. Da müsste ja sonst ein Projektil oder so etwas rausgekommen sein. Der Lauf ist vermutlich beim Absturz verzogen. Ach, schade«, seufzte Tanne und schaute durch den Sucher. Das Bild erwachte flackernd wieder zum Leben. Sie sah erneut auf das Gefängnis. Dort wurden die Gefangenen mit brutalen Schlägen hinter das Tor getrieben. Die Wachen verriegelten es. Feierabend, das sah sie deutlich, denn jetzt lachten sie, klopften sich auf die Schulter. Einer zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, bot seinem Kameraden eine an. »Jaah, reiß das Streichholz an, am besten direkt neben dem Zapfhahn, du Bastard!«, zischte sie böse. Kaum hatte das letzte Wort ihren Mund verlassen, wurde ihr Display weiß, fast gleißend hell. Sie fuhr zurück, ansonsten hätte sie sich wohl die Augen verblitzt.
Matteo und Luca schrien auf. Hinten am Horizont, kaum auszumachen, war eine Explosion zu sehen, ein Feuerball stieg in den Himmel. »Was ist das?!«, riefen sie. Es dauerte ein paar lange Sekunden, dann war auch ein entfernter Knall zu hören.
Tanne blieb die Luft weg. Hastig schaute sie wieder durch das Zielfernrohr. Konnte das sein? Sie sah, dass die Tore und der vordere Teil der Gefängnismauern eingestürzt waren. Jetzt strömten die Gefangenen heraus, sie hatten sich mit allem bewaffnet, was nicht niet- und nagelfest war. Einer trieb sie alle an, brachte sie in Stellung. Der Anführer. Tanne drehte den Sucher ein wenig weiter. Oh nein, da hinten kamen zwei LKW voller Wächter, sie hatten schon die Gewehre angelegt und schossen.
»Marking«, flüsterte sie und krümmte den Finger. »Calculating…« Sie krümmte weiter… »Target identified!« Sie zog durch. Es war ein bewegliches Ziel. Von ihrem Bruder wusste sie, dass der Schütze das mit einkalkulieren musste, je weiter das Ziel entfernt war, desto mehr, und je schneller das Ziel fuhr, auch. Das brauchte viel Erfahrung, Erfahrung, die sie nicht hatte. Konnte das Ding dies für sie errechnen? Die Antwort erhielt sie wiederum nach langen Sekunden des Wartens. Wieder wurde ihr Sucher weiß, als eine Explosion den LKW in die Luft jagte. Trümmer flogen in einem weiten Umkreis und erfassten auch den zweiten.
Sie drehte den Sucher etwas zurück. Die Gefangenen schwärmten aus, brachten Waffen unter ihre Kontrolle. Sie sah den Anführer alarmiert in eine Richtung zeigen. Sie drehte den Sucher dorthin. Wie schwierig das war, den Überblick zu behalten mit einem so begrenzten Suchfeld! Jetzt sah sie einen weiteren LKW, gefolgt von einem Jeep, aus einer seitlichen Straße auf das Gefängnis zurasen. »Na los, TLR, zeig, was du kannst!« Calculating dauerte diesmal etwas länger. Aber als sie schoss, gab es dasselbe Ergebnis. Es war ein Treffer. Dann flackerte der Sucher. Low battery stand da plötzlich, dann ging er aus.
Die Jungen hatten noch gar nicht bemerkt, dass etwas geschehen war. Das war Tanne ganz recht, denn ihr liefen die Tränen herunter. Oh bitte, lieber Gott, dachte sie, lass sie entkommen! Mach, dass sie sich zu uns durchschlagen und wir ihnen helfen können!
»Tanne, was hast du?«, fragte Luca neben ihr und rüttelte sie an der Schulter.
»Wow, die sind ja voll aus dem Häuschen!«, rief Matteo. Er hatte das Fernglas vor der Nase und spähte zur Stellung hinüber. »Jetzt funkt einer. Die haben das gesehen. Da muss was richtig Großes in die Luft geflogen sein. Mehrere große Sachen.« Er klang schadenfroh.
Lucas Augen weiteten sich. Offenen Mundes starrte er auf das Gewehr, sah dann Tanne fassungslos an. Sie legte den Finger an die Lippen, nickte zu Matteo hinüber. Der durfte das nicht erfahren. Er würde das in seiner Aufgeregtheit brühwarm an seinen Vater weitergeben. Luca kniff die Augen zusammen. Doch dann nickte er.
»Was auch immer das war, ich hoffe, es sind viele dabei verreckt«, sagte Tanne und stand auf. »Tja, schade. Dieses Ding ist unbrauchbar. Aber die Akkus können wir gut im Labor verwenden, als Speichereinheit. Los, kommt, es wird dunkel. Lasst uns zurückgehen. Und merkt ihr was? Es wird windig. Da kommt tatsächlich etwas auf uns zu.«
Bis es dunkel wurde, legte sich Tanne hin, auf die Schlafplattform und die Einzelteile des Gewehrs neben sich. Ihr liefen die Tränen hinunter, sie liefen und liefen. Jetzt, so wusste sie, hatte sie einen Weg gefunden, wie sie ihre Rache üben konnte.
Spät in der Nacht fuhren sie wieder los, als der Mond aufgegangen war. Der Wind hatte an Stärke zugenommen. Keine Wolken standen am Himmel, aber die Sicht war trotzdem schlecht, denn der Wind trieb den Schnee wie einen Sandsturm vor sich her. Das verpasste Tanne die beste Tarnung, um ungesehen mit dem Truck an den Stellungen vorbeizukommen.
Als sie ins Tal hinabfuhren, ließ der Wind sofort nach. Doch dafür lag hier der Schnee umso höher, es hatte ja wieder kräftig geschneit. Sie mussten sehr, sehr langsam fahren, dass sie sich nicht festfuhren, und manchmal taten sie es doch.
»Herrje, wie einfach ist das doch mit einem Pferd!«, schimpfte Tanne, als sie wieder einmal zurücksetzen musste, um den Truck dann mit Schwung und allen Sperren durch die Schneewehe zu bringen. Das war mühselig. Luca musste aussteigen, die Pferde losbinden, warten, bis sie weiterfahren konnten, und er tat es mit allen Sinnen die Umgebung erforschend.
Ihnen war klar, in dem engen Tal würde man ihren Truck womöglich noch weiter hören können als auf der Hochebene, durch den Widerhall an den Felsen. Er ließ von Zeit zu Zeit Druckluft ab, das knallte regelrecht. Deshalb wurden Tanne und Luca auch stetig nervöser, je weiter sie ins Tal vordrangen, denn es konnten ihnen jederzeit bewaffnete Soldaten auflauern. Er hatte sich das Fernglas geschnappt und mit Matteo die Plätze gewechselt, saß auf der Mittelkonsole und klebte an der Windschutzscheibe, angestrengt in die Dunkelheit spähend. Der Junge war dagegen auf dem Beifahrersitz eingeschlafen, völlig erledigt von dem aufregenden Tag.
Doch irgendwann ging das Licht des Mondes weg. Jetzt waren sie beinahe blind, und es war klar, sie mussten mit der Weiterfahrt warten, bis es hell wurde. Sonst wären sie ein hervorragendes Ziel, würden selber aber gar nichts sehen. Fest in ihren Mantel gewickelt, schlief Tanne auf dem Fahrersitz ein, und sie wurde erst wieder wach, als Luca sich mit einem Mal aufrecht hinsetzte und laut fluchte. »Merda! Tanne, wach auf! Da sind sie!«
Die Gestalten strömten in der Morgendämmerung die verschneiten Hänge hinab, und auch weiter vorne kamen sie jetzt die Straße hoch. Also hatte man sie in der Nacht gehört, anders konnte es gar nicht sein. »Mach du, Luca. Wenn ich aussteige, werden sie mich für einen Serben halten mit den blonden Haaren und gleich erschießen.«
»Ich komme mit«, wisperte Matteo, aber Luca hielt ihn fest und schüttelte den Kopf.
»Bleib in Deckung. Sie sind nervös und könnten jederzeit schießen.« Er öffnete die Tür, die Hände weit nach oben gestreckt. »Nicht schießen!«, rief er laut.
»Aussteigen! Vor den Wagen! Auf die Knie und Hände hinter den Kopf!«, bellte eine befehlsgewohnte Stimme, dass es laut durch die Schlucht hallte. Das war der Kommandant, erkannte Tanne. Herrje, da hatten sie gleich alle zusammengeholt. Sie konnte es verstehen. Es war sicherlich ein ganzes Jahr her, dass ein motorisiertes Fahrzeug diese Straße befahren hatte, wenn nicht gar länger.
Luca trat vor den Truck, machte ein paar Schritte und kniete sich hin. »Nicht schießen. Wir gehören zu euch!«, rief er laut und zog ganz langsam die Kapuze herunter und die Mütze vom Kopf.
Erstaunte Ausrufe folgten dieser Handlung. »Es ist das Hinkebein! Hey, Luca, was machst du denn hier?«, rief einer.
»Schnauze!«, bellte der Kommandant. »Alle im Wagen, raus! Sofort!«
Da blieb Tanne keine Wahl, aber sie schlug vorsichtshalber die Kapuze hoch. Die Hände erhoben, sprang erst sie, dann Matteo aus dem Wagen.
»Wir sind nur zu dritt, Kommandante«, rief Luca, doch er wurde einfach ignoriert. Mit den Waffen im Anschlag umstellten die Männer den Truck, ganz besonders aber Tanne, weil sie so groß war.
Schützend legte Tanne Matteo den Arm um die Schultern, die andere Hand immer noch erhoben, und ging dann dem Kommandanten entgegen. Es war klar, dass er sie nicht erkannte, und sie konnte sich von so weit weg auch nicht verständlich machen.
Doch da entfuhr einem der Männer hinter dem Kommandanten ein erstaunter Ausruf. »Matteo! Mein Gott, es ist Matteo!«
Der sackte spürbar erleichtert in Tannes Arm zusammen. »Hallo Tenente. Wir bringen Hilfe für meinen Vater.«
»Ja, das tun wir«, sagte Tanne und schlug ihre Kapuze zurück. Die Augen der Männer weiteten sich, und sie ließen die Waffen sinken. »Wir wären ihnen dankbar, wenn Sie uns Geleitschutz geben würden. Nicht, dass uns noch einer abschießt.«
Eine dichte Reihe Männer ritt vor und hinter ihnen die Straße herab. Aus den Häusern strömten sämtliche Bewohner herbei, aufgeweckt durch das ungewöhnliche Geräusch. Als Tanne sich dem zentralen Platz näherte, konnte sie nur noch Schrittgeschwindigkeit fahren. Alle hatten sich versammelt, die Soldaten vor der Kommandantur, die Mannschaft vom Hospital oben vor dem Portal und so viele Bewohner, dass es eine richtige Menschenmenge war. Tanne entdeckte Nik sofort, in seinem weißen Arztkittel stand er da, die Arme verschränkt. Und nicht aufgeregt wie die anderen, sondern finster, richtig finster dreinblickend. Selbst auf diese Entfernung sah sie es. Er musste ja ahnen, wer am Steuer des alten LKW, der zum Reisemobil ausgebaut war, saß. Nein, dachte sie, eine Szene wollte sie jetzt nicht haben.
»Matteo, schau, wer da oben auf der Treppe steht. Siehst du ihn?«, sagte sie.
Er jauchzte freudig auf. »Onkel Nik! Er ist es!« Er drängte sich schon an Luca vorbei zur Tür.
»Nimm das mit, Matteo, gib es ihm sofort. Das ist für deinen Papa«, sagte Tanne und reichte ihm das Päckchen mit den Medikamenten. »Lauf!«
Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Mit einem Satz war er aus dem fahrenden Truck hinaus und rannte quer über den Platz. »Onkel Nik, Onkel Nik!«, schrie er lauthals, sauste die Treppe hoch und fiel ihm um den Hals. Tanne konnte sehen, wie der ihn auffing, auf seine Arme hob, wiegte. Dann kniete er sich hin, fasste Matteo bei den Schultern, überschüttete ihn vermutlich mit Fragen, aber der Junge hielt ihm das Päckchen hin, sprach aufgeregt auf ihn ein. Nik riss es ihm sofort aus der Hand, öffnete es, schaute hinein. Gleich darauf packte er Matteos Hand und zerrte ihn mit sich.
Das Ganze dauerte nur wenige Sekunden. Gut, dachte Tanne voller Erleichterung. Anda lebte noch. Sie bog zur Kommandantur ab und brachte den Truck dort zum Stehen. Alle hatten sich versammelt, zu dem hohen Fahrzeug hinaufspähend. Da drückte Tanne doch lieber die Innenverriegelung für die Seiten- und Hintertür. »Besser ist das«, sagte sie zu Luca und öffnete die Fahrertür.
Die Kommandanten hatten sich auf der Treppe versammelt, wie es auch die Helfer des Hospitals getan hatten, und sahen ihr mit verschränkten Armen entgegen. Noch hatten sie Tanne nicht erkannt. Als sie die Kapuze zurückschlug, stutzten sie gut sichtbar. Doch mit ihrer Haltung war es vorbei, als sie sagte: »Signori, ich habe Ihnen etwas mitgebracht.«
Stechenden Schrittes marschierte Nik zur Kommandantur hinüber. Er hatte getan, was in seiner Macht stand. Jetzt konnte nur noch die Zeit Anda helfen und das Medikament in seinem Blut, das hoffentlich die Krankheit zurückdrängen würde. Und sein Sohn, der nun dicht an ihn gedrängt schlief, völlig fertig von dieser Reise durch die Nacht. Viel hatte Nik aus Matteo nicht herausbringen können, denn der Junge hatte in einem fort geweint. Das war ihm peinlich gewesen, hatte Nik sehen können, getroffen davon, wie Matteo gewachsen war in dem vergangenen Jahr, vor allem innerlich. Fast schon ein junger Mann war er jetzt.
Daher hatte Nik ihn in Ruhe gelassen. Für Fragen war später Zeit. Zumindest bei ihm. Bei einer anderen Person jedoch nicht.
Der Truck parkte immer noch vor dem Gebäude, aber die Menschenmenge hatte sich zerstreut. Nur ein paar Soldaten standen neugierig herum, der eine oder andere zog sich auch mal hoch und versuchte, ins Innere zu spähen.
»Finger weg von dem Truck!«, blaffte Nik sie an und schickte sie mit einer rüden Handbewegung fort. In wenigen Sätzen war er die Treppe hinauf, hatte die Eingangshalle durchquert und betrat den Hauptraum.
Die Kommandanten hatten sich um einen Tisch versammelt. Luca stand zwischen ihnen mit einem Zeigestock, den Blick auf eine Karte gerichtet. »…kommt von seiner Seite nicht mit Fahrzeugen heran. Das geht nur von hier. Die Sachen sollten so schnell wie möglich geborgen werden, bevor er etwas mitbekommt.«
»Nun, wir haben ja jetzt wieder ein fahrtüchtiges Fahrzeug«, sagte der Kommandant zufrieden. »Das sollte kein Problem sein.«
»Bei allem Verlaub, Kommandante, das wird nicht gehen. Das Fahrzeug ist zu klein«, erwiderte Luca. »Da oben liegt viel herum, auch schweres Gerät. Wir brauchen einen großen LKW, vorzugsweise einen mit einem Ladekran. So einen Holzlaster oder einen Schrottlaster mit Mulde und mindestens einem Anhänger. Und jede Menge Fuhrwerke außerdem, so viel ist es. Tanne sagte mir, sie hätte noch einen halb vollen Dieseltank. Den können wir abpumpen. Sie bittet nur darum, dass das Fahrzeug auf den Hof gebracht wird, damit sie ihre persönlichen Sachen ausräumen kann. Dann stellt sie ihn uns zur Verfügung oder dem Hospital.«
Nik näherte sich dem Tisch. Darauf lagen ein paar Karten, Granaten einer Gattung, die er nicht kannte, eine Erkennungsmarke und Rangabzeichen einer Uniform. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte er. Alle wandten sich zu ihm um. Ein rascher Blick in die Runde, und er sah, sie war nicht dabei.
»Wie geht es dem Colonnello? Wird er es schaffen?«, fragte der Kommandant.
»Ungewiss«, erwiderte Nik knapp. »In den nächsten 24 Stunden wissen wir mehr. Also? Was hat das zu bedeuten?«
»Tja«, der Kommandant kratzte sich an seinem Bart und musste grinsen, »sieht so aus, als hätte uns der liebe Herrgott Hilfe vom Himmel gesandt. Hier, schauen Sie.« Er hielt eine Granate hoch. Stirnrunzelnd nahm Nik sie in die Hand. »Das ist eine taktische Granate, Dottore«, erläuterte der Kommandant, »versehen mit einem individuellen Zeitzünder. Gibt es auch mit Fernbedienung. Man bringt sie heimlich hinter die feindlichen Linien und zündet sie mit Verzögerung, wenn man längst fort ist. Das ist High-Tech Material, und es liegt dort oben herum, bereit, von uns eingesammelt zu werden. Da sind zwei Militärtransporter abgestürzt, Dottore, auf Rossis Gebiet. Aber er kommt nicht an sie heran. Wir aber schon. Weswegen wir uns den Kuchen schnappen werden.«
Tanne kniete unterdessen in der Kapelle. Sie hatte irgendwie das Bedürfnis verspürt zu beten. Obschon nicht wirklich gläubig und schon gar nicht in der Kirche, fand sie, dass sie manchmal Zwiesprache mit Gott halten sollte. Ihre Liste mit Bitten war lang.
Um Andas Leben bat sie, aber auch um Vergebung für das, was sie bald zu tun gedachte. Sie würde Menschenleben nehmen, eine Menge. Sicherlich, es war das Leben schlechter Menschen, aber wer weiß, ob nicht auch Unschuldige umkommen würden. Es war eine mächtige Waffe, wie mächtig, das konnte sie noch gar nicht ermessen.
»Bitte lieber Gott, mach, dass ich das Richtige tue. Dass ich unsere Leute damit beschützen kann«, bat sie. »Hilf den Gefangenen, hierherzukommen. Dass sie wieder gesund werden können, nicht nur körperlich, auch seelisch. Sie haben Furchtbares erduldet.« Und so weiter und so weiter. Für jeden einzelnen Freund und Kameraden. Auch für Nik. Und für ihre Familie zuhause. All das flüsterte sie nur, kaum hörbar. Es war egal. Als sie sich erhob, natürlich ohne sich zu bekreuzigen, fühlte sie sich dennoch getröstet und ruhig.
Auf Umwegen kehrte sie ins Hospital zurück, den großen Platz mied sie. Sie wusste, ihr Erscheinen hatte für einiges an Aufsehen gesorgt. Weshalb sie sich verborgen unter der Kapuze durch die steilen Gassen schlich und durch einen Hintereingang in den Keller des Gebäudes. Am liebsten wäre sie gleich zum Hof gegangen, aber nicht, ohne vorher nach Anda gesehen zu haben.
In der Küche war ausnahmsweise einmal niemand. Erleichtert schlüpfte Tanne nach einem vorsichtigen Blick durch den Türspalt in die angrenzende Kammer. Sie musste lächeln, als sie die beiden Gestalten auf dem Bett sah. Matteo schlief, dicht an seinen Vater gekuschelt, den Arm um ihn geschlungen. Der Anblick machte Tanne froh, so froh. Vor allem, dass die Schatten um Andas Augen verblasst waren. Sie setzte sich zu ihm auf die Liege, fühlte die Stirn. Ja, das Fieber sank, und auch sein Atem schien ihr schon etwas tiefer. Es wirkte, er kam durch! Prompt stiegen ihr die Tränen in die Augen.