Strike - Katas Ellie - E-Book

Strike E-Book

Katas Ellie

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Beschreibung

Lange haben Tanne und Stefan mit sich gerungen, ob sie wirklich reisen sollen, zu beunruhigend ist die politische Lage in Europa und auf der Welt. Doch schließlich schlagen sie alle Warnungen in den Wind und verbringen ihren Urlaub im vermeintlich sicheren Sardinien. Weitab aller Massen, draußen in der Natur, erkunden sie die Insel. Deshalb werden sie vollkommen überrascht vom jähen Umschlagen der Sicherheitslage. Alle Zeichen stehen auf Krieg. Die Grenzen werden geschlossen, der Fährverkehr eingestellt. Zusammen mit Tausenden gestrandeter Urlauber sitzen sie auf der Insel fest, misstrauisch beäugt von den Einheimischen. Nur mit Mühe finden sie einen Platz zum Bleiben und schließen Freundschaft mit den sardischen Bewohnern. Doch dann bricht der Krieg aus. Grausame Invasoren erreichen die Küste, plündern und morden. Die Sarden tun das, was sie bereits seit Jahrtausenden gegen jedwede Art von Invasoren getan haben: Sie ziehen sich in die unzugängliche Bergwelt der Insel zurück und verteidigen ihre Heimat mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Tanne und Stefan helfen, wo sie nur können, um ihre sardischen Freunde gegen die Feinde zu unterstützen. Ein harter Kampf um ihr Überleben beginnt.

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Seitenzahl: 461

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Katas Ellie

Strike

Die Geschichte einer Reise ins

Ungewisse

Impressum

Texte: © 2024 Copyright by Katas Ellie

Umschlag: © 2024 Copyright by Katas Ellie

[email protected]

https://www.facebook.com/Katas.Ellie

Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin

Verlag: Inga Rieckmann alias Katas Ellie

c/o Block Services

Stuttgarter Straße 106

70736 Fellbach

Prolog

Der Traum kam wie immer in den frühen Morgenstunden. Sie wachte auf, doch konnte nichts sehen. Sie wollte sich aufrichten, doch sie konnte ihre Arme und Beine, ihren Kopf nicht bewegen. Der Hals schmerzte, wie Feuer fühlte es sich an, sie schmeckte Blut. Sie wollte schreien, aber es kam kein Laut. Alles war reduziert auf das Gehör und den Schmerz in ihrem Körper. Und jetzt hörte sie, wie jemand zu ihr kam. Das Schnippen eines Feuerzeugs. Ein Zischen, der Geruch von Gas. Ein gurgelnder Schrei entwich ihrem Hals, er klang seltsam tonlos. Doch bevor der Schmerz begann, war der Traum zu Ende. Jedes Mal.

Kapitel 1

Die Sonne ging gerade auf, als Tanne mit einem Ruck erwachte. Sie konnte sich nie ganz daran erinnern, was sie geträumt hatte. Alles, was blieb, war eine unbestimmte Angst, als wenn einem die Kälte den Rücken herunterkroch.

Rasch sah sie zur Seite, auf ihren Mann Stefan, dessen verwuschelter Haarschopf noch so gerade eben unter dem Schlafsack hervorschaute. Wie immer hatte er sich bis zur Nasenspitze eingerollt, egal, wie warm es war. Sie selber hätte sich längst totgeschwitzt, was er auch tat, wie sie wusste, denn sie musste seine Bettwäsche, Decken und alles andere regelmäßig waschen. So war es schon immer gewesen, von Anfang an, die gesamten fünfzehn Jahre, die sie nun zusammen und verheiratet waren.

Stefan wusste nichts von ihren Träumen. Was sollte sie ihm auch sagen? Sie erinnerte sich ja an nichts. Doch es fühlte sich so an, als wären sie absolut real. Dieses Gefühl blieb bis zum Erwachen, das tat es seit Monaten. Es machte sie unruhig.

Leise richtete Tanne sich auf, um ihn nicht zu wecken. Sie krabbelte die Schlafplattform nach hinten und von dort nach unten in den winzig kleinen, aber gemütlichen Wohnraum ihres Reisemobils. Tanne gähnte und reckte sich, versuchte die Steifheit aus ihren Gliedern zu treiben. Dabei stieß sie natürlich an die Grenzen ihres Gefährts.

Alles war hier auf engstem Raum untergebracht: Ein schmaler, einklappbarer Esstisch mit den umgedrehten Fahrer- und Beifahrersitzen, eine Küchenzeile, Nasszelle inklusive Toilette und Schränken, wo sie ihre Sachen lagerten, Kleidung, Vorräte und alles andere. Jeder Hohlraum wohl genutzt, denn sie hatten diesen Ausbau selber gemacht, wie auch den alten 4x4 Truck liebevoll restauriert. Klein, aber fein, wie Stefan immer sagte. Ihr Ziel war es, eines Tages auf ganz große Weltreise zu gehen, ein Sabbatical oder vielleicht auch mehr freie Zeit zu nehmen. Bis dahin machten sie längere oder kürzere Urlaube mit dem Mobil, was sie so gemeinsam und mit viel Überzeugungsarbeit bei ihren Chefs herausschlagen konnten. Wie dieses Mal auch. Der Jahresurlaub plus angesparte Überstunden hatte ihnen eine sechswöchige Pause beschert, die sie nun auf Sardinien verbrachten, abseits aller Massen. Stets Straßen und Pisten fahrend, wo sich kein Wohnmobil oder kleines Campingmobil mehr hin traute. Tagelang irgendwo stehend, wo sonst kein Mensch war, es sei denn ein Bauer ab und an, der nach seinen im Sommer freilaufenden Tieren sah. So hatten Stefan und Tanne es schon immer gehandhabt.

Tanne öffnete die Tür und schaute nach draußen. Es war noch früh, gerade so um und bei halb Sieben, ein schöner klarer Morgen im späten September. Die Temperaturen waren angenehm kühl, nicht mehr so heiß wie noch vor ein paar Wochen. Hier in den Bergen fiel im Winter sogar Schnee in gewissen Höhen, das wusste sie. Jetzt jedoch freute sie sich an der Stille und der weiten Sicht bis hin zur Küste und ans Meer. Sie parkten seit einigen Tagen auf einer Baustelle, wo man wohl irgendwann einmal versucht hatte, Fundamente für Windkrafträder zu bauen. Angefangen und nie fertig geworden, ein fast schon gewohntes Bild in Italien und hier auf Sardinien erst recht. Das Geld war halt knapp oder versickerte in dunklen Kanälen, wer wusste das schon? Da dies nun quasi Niemandsland war, nicht bewirtschaftet, bot es den perfekten Übernachtungsplatz für den Truck, eben und ausreichend groß.

Lange hatten Stefan und Tanne überlegt, ob sie wirklich einen LKW ausbauen sollten oder nicht doch lieber auf ein kleines Mobil, einen VW Bus, Sprinter oder gar einen Jeep ausweichen sollten. Doch da sie langfristig eine Weltreise planten, war ihnen klar, dass ein kleineres Gefährt nicht reichen würde. Sie hatten einen guten Kompromiss gefunden. Ihr Truck war nicht so riesig wie manch anderes Gefährt. Schmal genug, um damit noch durch kleinere Dörfer zu kommen, sonst in Südeuropa immer ein Problem. Innen hatten sie sich die Köpfe zerbrochen, wie sie alles unterbringen sollten, insbesondere die Nasszelle und Küche, doch es war ihnen gelungen. Sie waren beide verdammt stolz auf ihr Gefährt, auf alles, was sie Eigenleistung gebaut hatten. Andere Reisende staunten meistens Bauklötze darüber. Und dass sie unabhängig von Strom lange Zeit in der Weite stehen konnten, ohne Campingplätze mit ihrer wie die Dosenwürste gestapelten Weißware, dicht an dicht, was sie beide gleichermaßen hassten.

Da Stefan noch schlief, nahm sich Tanne Handy und Kamera und lief ein paar Schritte, die umliegenden Berge im Sonnenaufgang zu fotografieren. Unzählige Aufnahmen hatte sie bereits gemacht, morgens, abends und nachts vor allem, mit diesem wunderbar klaren Sternenhimmel, nicht gestört durch irgendwelches Streulicht. Doch heute Morgen checkte sie als erstes ihr Handy auf neue Nachrichten. Sie hatten hier meistens kein Netz, und wenn, dann nur, wenn die Windrichtung stimmte. So auch diesmal. Kein Balken, keine Nachricht.

Tanne seufzte. Dieser Urlaub war anders als alle bisherigen. Sie hatten lange mit sich gerungen, ob sie überhaupt fahren sollten. Die Nachrichten hatten das gesamte Frühjahr und den Sommer über eine derart beunruhigende Tendenz bekommen, dass es einem kalt den Rücken herunterlief. Von Mobilmachung war die Rede im Osten, die Russen drohten mit weiteren Einmärschen und gar Atomschlägen gegen ihre unmittelbaren Nachbarn, alles ehemalige UDSSR Staaten. China und Korea behakten sich und Taiwan auch, der mittlere Osten war ein reines Pulverfass. Die USA mischte munter mit und mit ihr auch die NATO. Flüchtlinge überall, und mittendrin die Europäer, wo die Rechten mehr und mehr an Stärke gewannen. Unser Planet wird zu voll, dachte Tanne nicht das erste Mal und schaute auf die Sonne, die sich über die Berge schob. Sperrt man zu viele Ratten in einen Käfig, fressen sie sich gegenseitig auf.

Ihre Eltern hatten sie inständig bekniet, nicht zu fahren, genauso wie Stefans. Doch sie hatten schließlich entschieden, sich nicht durch die ewig schlechten Nachrichten aufhalten zu lassen. Wie viele andere Reisende auch. Die Straßen waren voll gewesen, gerade zum Ende der Sommerferien, wo die Familien nach Hause zurückkehrten, aber dafür die Rentner und die Kinderlosen wie Stefan und Tanne erst aufbrachen. Auf der Insel war es nicht viel besser. Die Fähre übervoll, an der Küste stapelten sich die Wohnmobile, und auch im Landesinneren an den Sehenswürdigkeiten war meist kein Durchkommen. Nein, da blieben sie doch lieber im Hochland, abseits der Massen.

»Hey, gut geschlafen?«, fragte Stefan hinter ihr.

Tanne wandte sich um und musste lächeln, wie er da in Shorts und denkbar zerzaust in der Tür lehnte und gähnte. »Geht so. Bin heute Nacht ein paar Mal wach geworden. Ich weiß auch nicht. Konnte irgendwie nicht richtig schlafen.« Sie zuckte mit den Schultern.

»Hach, das schreit ja geradezu nach einer Latte. Ich mache eine für uns, ja?«

Tanne musste lachen. »Die Latte oder die andere?« Sie grinste und ging auf ihn zu. Als sie die Tür erreichte, umfasste sie ihn und gab ihm einen langen Kuss auf den Mund.

»Ganz wie du willst«, flüsterte er und zog sie mit sich nach drinnen und zurück auf die Schlafplattform.

Später, zufrieden vor der Zweitlatte sitzend und ein paar selbst gebackene Brötchen essend, checkte Tanne erneut ihr Handy.

»Netz?«, fragte Stefan und trank noch einen Schluck.

»Nee. Echter Mist. Dabei steht der Wind eigentlich richtig. Warum das wohl wieder nicht klappt?« Tanne schaltete ihr Handy aus. Sie hatten zwar ausreichend Strom durch die Solarpanelen auf dem Dach, aber sparten dennoch, wo sie nur konnten.

»Unruhig, was? Geht mir auch so. Wir sollten mal wieder in die nächste Stadt fahren, Vorräte aufbunkern. Da haben wir bestimmt Netz. Was denkst du?«

Statt einer Antwort holte Tanne die Landkarte aus dem Handschuhfach. Diese war schon ziemlich zerknittert, aber für einen groben Überblick war ihr das allemal lieber als jeder Computerbildschirm, der immer nur einen Ausschnitt zeigte. Sie breitete die Karte auf ihrem Campingtisch aus, nachdem Stefan etwas Platz geschaffen und die Lebensmittel beiseitegestellt hatte.

»Hm… da waren wir ja schon mal. Aber schau mal hier, die Stadt kennen wir noch nicht. Oder wohl mehr ein Dorf. Da hinten ist wieder ein Naturschutzgebiet, davor könnten wir uns irgendwo einen Spot zum Übernachten suchen. Es gibt ein paar Wanderwege dort, die auch in unserem Führer sind.« Die hatte sie vor der Reise in die Karte eingezeichnet.

»Klingt gut«, erwiderte er kauend und spülte den letzten Bissen seines Brötchens mit dem Macchiato herunter. »Eine Tanke gibt es auch. Da machen wir nochmal voll, und zwar richtig. Sicher ist sicher.« Das zeigte Tanne, auch er war unruhig und längst nicht so gelassen, wie er meistens tat. Locker, fröhlich, mit dem Schalk im Nacken, so war Stefan für gewöhnlich. Nicht aus der Ruhe zu bringen, ganz im Gegensatz zu Tanne, die sich gerne einmal aufregte und auch explodierte, wenn man sie weit genug triebt. Seine kleine böse Hexe nannte Stefan sie manchmal neckend. Dass er jetzt auf ihren Kurs einschwenkte, gab ihr zu denken. Ihr letztes Telefonat mit der Familie war drei Tage her, und beide Elternpaare hatten sie angefleht, den Urlaub abzubrechen und lieber nach Hause zu kommen. Doch das hatten sie ignoriert und die Besorgnis abgetan und stattdessen die herrliche Natur ringsherum genossen.

Aber das wollte ihnen nun irgendwie nicht mehr gelingen, weshalb sie ihr für gewöhnlich ausgedehntes Frühstück rasch beendeten und zusammenpackten. Das war auch in einem Reisemobil mit fester Schlafstätte mit einigem Aufwand verbunden. Sie hatten es sich von Anfang an angewöhnt, jedwedes Gepäck zu sichern und nichts offen herumliegen zu lassen. Wegen der schlechten Pisten, die sie oft fuhren, und weil sonst beim Bremsen und in den Kurven alles durcheinanderflog. So war es bereits mittags, als sie im nächsten Dorf ankamen.

Am Ortseingang fanden sie gleich die Tankstelle, diese typischen Automatenstationen, nur eine Säule für jedes Produkt, das war’s. Am Super bereits ein Ausverkauft-Schild, aber Diesel gab es noch. »Guck dir den Preis an!«, rief Tanne. »Der ist ja viel höher als noch letzte Woche. Oh je.«

»Was soll’s, wir müssen tanken«, grollte Stefan. Doch als er die Karte in den Automaten schob, gab es eine Fehlermeldung. Maximal fünfzig Euro erlaubt. Das war bei den Preisen natürlich gar nichts an Litern, schon gar nicht für ihren Truck. Also nahmen sie einfach alle Karten und tankten sie nacheinander ab. Das reichte zwar immer noch nicht, den Tank voll zu machen, aber immerhin.

Als sie in den Ort fuhren, fiel ihnen sofort auf, dass die Straßen merkwürdig leer waren. Das sonst übliche Parkchaos auf den Durchfahrtsstraßen der Dörfer fehlte. Nur hier und da ein Fahrzeug, und nur wenige Menschen, die ihnen irgendwie merkwürdig hinterher schauten. Es stimmte sie bedenklich, von daher sahen sie zu, dass sie den Supermarkt erreichten. Doch dort erwartete sie eine böse Überraschung. Er war geschlossen, regelrecht verrammelt. Die Regale, die sie durch das Fenster erspähen konnten, leer.

»Mist. Den gibt es schon länger nicht mehr«, sagte Tanne. Sie konsultierte die Karte und zückte auch das Handy. »Verdammt, was ist denn das, immer noch kein Netz!«, schimpfte sie.

»Hmm, lass mich mal die POIs ins Navi einblenden. Die habe ich offline«, beruhigte Stefan sie und nahm die Einstellungen vor. Sie hatten ein Toughbook als Navigationsgerät, einen Laptop, der sich in ein Tablet umwandeln ließ, das dann in einer Halterung auf dem Armaturenbrett befestigt wurde. So konnte man es auch während der Fahrt bedienen. »Ah, hier im nächsten Ort gibt es noch einen Supermarkt. Lass uns dorthin fahren«, sagte er.

Keine Viertelstunde später gelangten sie dorthin. Auch hier waren die Straßen merkwürdig leer, aber immerhin, der winzig kleine Supermarkt hatte noch geöffnet. Die Regale allerdings sahen aus, als wären die Räuber hindurchgezogen. Hinter der Kasse saß eine alte Frau, die Miene bitter, regelrecht finster. Sie grüßte nicht, als Tanne mit dem üblichen Buongiorno eintrat. Tanne erschrak doch ein wenig, wie desaströs der Laden aussah. Rasch suchte sie die Dinge zusammen, die Stefan und sie als nötig aufgeschrieben hatten. Als sie alles beisammenhatte, waren die Regale fast komplett leer. Sie trug alles zur Kasse, doch die alte Frau machte keinerlei Anstalten zu kassieren. Sie sah Tanne nur mit Tränen in den Augen an und winkte sie durch.

»Was?«, fragte Tanne. »Nein, nein, ich habe Geld, ich bezahle. Hier…« Sie holte zwei Fünfzig Euro Scheine heraus.

»Non, non! La guerra sta arrivando. Portalo con te«, sagte sie und winkte Tanne fort.

Das hatte Tanne nicht verstanden, denn ihr Italienisch reichte gerade mal für eine Bier- und Pizzabestellung, aber die Geste sehr wohl schon. Sie schüttelte den Kopf. »Och nein, das geht doch nicht. Prego, Signora. Baggiare l’alimentari. Prego.« Und sie legte die Scheine auf den Kassentresen. Die alte Frau schüttelte nur den Kopf, stand auf und fing an, Tannes Einkäufe in ein paar letzte Plastiktüten einzupacken. Gab ihr sogar noch einen Stapel Süßigkeiten, Bonbons und Kaugummi, obendrauf. Und zwei Stangen Zigaretten.

Sie sah Tanne mit einem ganz merkwürdigen Blick an. »Guidare rapidamente sulla costa, al porto. Non stare qui.« Und sie drängte Tanne jetzt regelrecht zur Tür, deren Fünfzig Euro Scheine in eine der Tüten stopfend. Kaum hatte Tanne einen Schritt davor gemacht, ging die Tür hinter ihr zu. Das Schloss wurde mit hörbarem Klacken vorgelegt, und nach einem erneuten Blick und einer abwehrenden Handbewegung das Rollo heruntergelassen.

Erschrocken stolperte Tanne zum Truck zurück. Stefan machte ihr schon die Tür auf. »Was ist passiert?«

»Was Gruseliges. Ich hab’s nicht richtig verstanden, aber ich glaube, sie will, dass wir verschwinden. Sie sagte was von Krieg und Küste und Hafen. Stefan, lass uns ins Tiefland fahren, wo wir Netz haben, und zwar schnell!«

Da erschrak auch er, und zwar richtig. Hastig verstauten sie die Vorräte und starteten den Truck wieder. Sie wählten eine Route, die sie schon kannten, und fuhren eine Landstraße im Hochland entlang, die an einer steilen Abbruchkante unmittelbar in vielen, vielen Serpentinen hinab ins Tiefland führte. Schon auf dem Weg dorthin fiel ihnen auf, kein Auto weit und breit, keine Camper, nichts. Das war vor ein paar Wochen, als sie diese Straße das letzte Mal gefahren waren, noch ganz anders. Einheimische, Urlauber, Wohnmobile, Motorräder, die durch die Serpentinen dröhnten, das volle Programm. Sie hätten es sich damals leerer gewünscht, doch nun war ihnen diese Leere unheimlich.

An der letzten Kehre, bevor die Serpentinen begannen, gab es einen Aussichtspunkt ins Tiefland, oft und gerne von Touristen frequentiert. Dort hielten sie an. Erschrocken schauten sie auf ein ausgebranntes Fahrzeugwrack, noch leise vor sich hin schwelend.

»Fernglas«, sagte Stefan und stieg kurzerhand damit auf das Dach des Trucks. Tanne nahm sich stattdessen ihren Fotoapparat, der mit dem 600er Tele auch nicht viel schlechter unterwegs war. »Oh man, Tanne, komm rauf und sieh dir das an!«, rief Stefan schon, da hatte sie die Kamera noch nicht einmal um ihren Hals gehängt, um die Leiter aufs Dach zu erklimmen.

»Was ist?«, rief sie und begann zu klettern.

»Da unten brennt’s! Nicht nur an einer Stelle und… oh nein! Im Hafen voll das Chaos. Da liegt eine Fähre. Nur eine. Alles voller Weißware davor. Guck!« Er reichte ihr das Fernglas, als sie sich neben ihm aufrichtete.

»Die Ladeklappen sind zu. Aber… oh Gott, da sind Massen an Menschen an Bord, alles voll! Was ist passiert?! Wir brauchen Netz, unbedingt!« Tanne wurde ganz übel bei dem Anblick.

»Wenn wir da runterfahren, geraten wir voll in das Chaos«, sagte Stefan, ihr das Fernglas aus der Hand nehmend. »Da ist überall Polizei. Da rennen Leute herum, sie plündern. Nein, die nehmen unseren Truck auseinander! Hast du Netz?«

In ihrer Hast hatte Tanne das Handy natürlich unten vergessen, sodass sie nochmal runter kletterte und keuchend wieder zu Stefan aufs Dach zurückkam. »Ja! Zwei Balken, E-Netz. Für einen Anruf wird es reichen.« Sie hatte schon Wiederwahl geklickt, da versuchte ihr Verstand noch zu begreifen, was dort geschah.

»Tanne!« Abgehackt und mit einigen Unterbrechungen kam die Stimme ihrer Mutter zu ihr durch. »Wir versuchen euch…   zu …. reichen. Ihr müsst … hause kommen. So schnell… öglich…«

»Mutti, stop, stop! Was ist passiert? Wir wissen von nichts, hier ist voll das Chaos. Mutti?« Tanne setzte sich auf die Dachbox, weil ihre Knie weich wurden.

»… Regierung… alle Staatsbürg… nach Hause. Hörst du? Es wird Krieg… Frank bereits einberuf… Grenzen zu. Kommt nach Hause…«

»Mutti? Mutti??!?«, rief Tanne ins Handy. Doch die Verbindung war weg, das Symbol zeigte kein Netz.

»Was? Sag schon!«, drängelte Stefan ungeduldig.

»Ich hab’s nur undeutlich verstanden. Anscheinend rufen sie alle deutschen Staatsangehörigen nach Hause. Die Grenzen werden geschlossen. Und Frank wurde bereits einberufen. Scheiße, Stefan!« Ihre Stimme zitterte. »Scheint, als würde es wirklich ernst. Was tun wir denn jetzt?«

»Sie haben deinen Bruder einberufen? Oh verdammt!« Stefan wusste genauso gut wie sie, dass in normalen Zeiten es äußerst unwahrscheinlich war, dass Reservisten jemals wieder einberufen wurden. Tannes Bruder Frank war ehemaliger Bundeswehrsoldat, war auch im Kosovo und in Afghanistan gewesen. Dass dies geschah, bedeutete nichts Gutes.

»Was tun wir jetzt, Stefan?«, fragte Tanne erneut.

Er schaute auf das Chaos unten an der Küste und drückte ihre Schulter. »Auf jeden Fall nicht dort runter. Das kann nur böse für uns enden. Nein, wir verkrümeln uns. Wenn wir unterwegs was finden, bunkern wir weiter auf. Suchen uns einen Spot, wo wir nicht so ganz ab vom Schuss sind, sondern ein Dorf erreichen können, wenn es nötig ist. Los, komm. Sonst fackeln sie uns noch den Truck ab.«

Also fuhren sie zurück. An der Tankstelle, wo sie am Morgen aufgetankt hatten, zapften sie die restlichen Liter Diesel ab, dann ging die Säule auf Störung. Aber immerhin, der Strom war noch da. Sie schauten sich in der Straße um, doch dort war niemand. Stefan zögerte nicht, er zückte sein Multitool. »Los, komm, da vorne ist ein Büro. Vielleicht haben sie Internet. Wir brechen die Tür auf.«

Gesagt, getan. Tanne staunte, wie schnell er das hinbekam. »Schlosserlehre«, sagte er nur schulterzuckend und sah sich suchend im Büro um. Oh ja, da standen zwei Computer, und sie hatten ein LAN Kabel. »Ha!«, rief er und stöpselte den Laptop an.

Die Verbindung war noch da. Sie gingen Online. Dutzende Emails in ihren Posteingängen, alle von besorgten Freunden und Verwandten. Noch schlimmer sah es auf ihrer Facebookseite aus, die sie für die Reise eingerichtet hatten, die war regelrecht explodiert.

»Schreib, dass wir hier festsitzen, es uns aber gut geht, und dass wir uns wieder melden werden, wenn wir einen Plan haben. Wir gehen erstmal in Deckung«, sagt Stefan und schob ihr das Tablet rüber. Im Tippen war sie wesentlich schneller als er. Diesen Text kopierte sie an zahlreiche Freunde, Verwandte, Kollegen und ihre Arbeitgeber und jagte ihn raus.

Dann versuchten sie, die Eltern über Skype zu erreichen, bekamen aber keine Verbindung. Sie surften zur Webseite des Auswärtigen Amtes, doch es schien, als wäre die zusammengebrochen. »Die werden den Zugriff ihres gesamten Daseins gehabt haben«, knurrte Stefan. »Mach mal die Tagesschau auf oder eine der größeren Zeitungen. Oh ja, die geht noch und… oh Gott!« Sie starrten ungläubig auf ein Bild ganz oben. Es zeigte einen Atompilz.

»Ist das… ein altes Bild?«, ächzte Tanne.

»Wollen wir es hoffen«, flüsterte Stefan und griff ihr über die Schulter, um nach unten zu scrollen. Er seufzte erleichtert. »Alt, oh ja. Sie drohen. Noch.« Mit zusammengekniffenen Augen lasen sie die Nachrichten durch.

»Die Welt ist so abgefuckt geworden. Ganz ehrlich, unserem Planeten würde es guttun, wenn sich die Menschheit auf einen Schlag ausradieren würde. Dann wäre Ruhe«, sagte Tanne.

»Wenn es soweit kommt, dann hoffe ich, dass uns die Bombe direkt auf den Kopf fällt und wir das nicht überleben werden«, knurrte Stefan. »Welche Seiten nehmen wir offline?«

»Alle deutschen Zeitungen. Ein paar von den Briten und den Amis sollten wir auch holen. Und die Regierung. Die Fähren brauchen wir wohl erstmal nicht. Mach schon.« Unruhig stand Tanne auf und spähte nach draußen, doch da war nach wie vor niemand. Es war geradezu unheimlich still.

Hastig nahm Stefan die Downloads vor, synchronisierte auch sämtliche Emailkonten. Tanne überlegte: »Wir sollten eine Umleitung installieren, auf die Accounts von unseren Eltern. Und eine Abwesenheitsnotiz. Nur für alle Fälle. Und ihnen eine Vollmacht über unsere Konten und das Haus ausstellen, was meinst du? Damit sie das regeln können, wenn wir nicht zurückkehren. Wir schreiben es hier und fotografieren es ab. Und wir sollten ein Bild von uns auf die Facebook Seite stellen. Damit sie es haben, eine Erinnerung. Wer weiß, was noch passiert.«

Stefan sah sie einen Moment mit einem langen Blick an. »Okay…« Aber er tat, was sie sagte. Tanne schrieb die Vollmachten, über ihre Konten und den Besitz. Sie mailten dies mit einer Erklärung an ihre Eltern. Alle beide Paare wohnten in der Kreisstadt, während Stefan und Tanne einen Resthof etwas außerhalb besaßen, geerbt von Tannes Großeltern. Der Geburtsort ihrer Mutter, ein Zufluchtsort, sollte es hart auf hart kommen.

»Haben die hier Telefon?«, fragte Stefan plötzlich, mit gerunzelter der Stirn auf eine E-Mail starrend.

Tanne sah ihn mit großen Augen an. »Du meinst… oh! Warum haben wir nicht gleich danach gesucht? Bestimmt!« Und tatsächlich, auf einem der hinteren Schreibtische stand tatsächlich ein Festnetztelefon. Gleich darauf hatte Tanne ihre weinende Mutter am Apparat. »Schscht, Mutti, nicht. Uns geht es gut. Wir bringen uns in Sicherheit, hörst du? Das sitzen wir aus. Es kann aber sein, dass wir uns einige Zeit nicht melden werden. Hör auf zu weinen! Oder gib mir Papa!«, sagte sie streng. Sie spürte irgendwie, dass ihr die Zeit davonlief.

»Tanne! Was ist mit euch, wo seid ihr? Kommt nach Hause!«, rief ihr Vater aufgeregt.

»Das können wir im Moment nicht mehr, Papa, hier herrscht voll das Chaos, da wollen wir nicht reingeraten. Nein, wir machen Folgendes…« Nur mit Mühe bekam Tanne ihre Eltern soweit beruhigt, dass sie sie dazu bewegen konnte, die Emails abzurufen und die Vollmacht zu drucken. Tanne erklärte ihnen, weshalb sie das machte. »Und jetzt sagt mir, was ihr wisst. Wir haben die Nachrichten gescannt, aber noch nicht wirklich einen Durchblick.«

Einen Moment lang ist es still in der Leitung.

»Mutti? Papa?«, fragte Tanne vorsichtig.

Sie hörte, wie ihre Mutter schniefend Luft holte. »Frank hat heute Morgen angerufen. Er sagt, wir sollen uns im Keller eine Schlafstätte herrichten und Vorräte dort einlagern. Wasser, alles haltbare Lebensmittel. Und die Fenster verrammeln. Noch heute.« Tanne stockte der Atem. So schlimm?

»Wir… wir glauben, es wird schlimm. Und ihr könnt wirklich nicht…«

»Nein«, erwiderte Tanne und fing an zu schluchzen. Stefan legte ihr den Arm um die Schultern. »Wir verstecken uns. So wie schon den gesamten Urlaub. Wir haben Vorräte, haben vollgetankt. Uns wird es gut gehen. Macht euch keine Sorgen. Hier auf der Insel ist es vermutlich sicherer als bei euch. Und ihr, packt eure Sachen, fahrt zu unserem Hof. Der ist viel sicherer als euer Haus in der Stadt. Der Garten ist voll, erntet ihn ab, und ihr werdet genug zu essen haben. Tut es einfach. Ich… Mutti, ich muss jetzt Schluss machen. Stefan will seine Eltern anrufen. Ich habe euch lieb, und sagt Frank, ich bete für ihn!« Und sie legte auf, bevor sie noch ganz außer sich geraten konnte. »Scheiße!«, schniefte sie und hielt ihm den Hörer hin.

Stefans Telefonat war genauso schmerzhaft und kurz wie das von Tanne. Anschließend riefen sie noch ihre Nachbarn und beste Freunde an, baten sie, ein Auge auf den Hof zu haben und teilten ihnen mit, welche Vollmachten sie den Eltern gegeben hatten und dass sie vielleicht dorthin flüchten würden. Auch Stefans Schwester riefen sie an und ein paar Freunde. Alle in heller Aufregung, aber einige sagten auch, dass die Insel vermutlich sicherer war als das europäische Festland.

Mitten im letzten Telefonat hörten sie plötzlich einen langgezogenen Ton, weit entfernt, aber dennoch. »Das ist eine Sirene! Los, Tanne, lass uns abhauen!« In aller Hast durchsuchten sie noch die Büroräume nach Lebensmitteln, fanden ein paar Sixpacks mit Getränken, Kaffee, Kekse und Dosenmilch. Das nahmen sie alles mit, desgleichen die erste Hilfe Box und noch ein paar andere nützliche Dinge, vor allem aus Küche und Bad. Ließen stattdessen die einhundert Euro aus dem Supermarkt auf dem Tresen zurück. Dann fuhren sie in die Berge.

Sie nahmen die kleinsten Straßen, die sie finden konnten. Ihnen war klar, sie mussten in der Nähe einer Quelle kampieren, und nicht so weit oben, denn da bestand die Gefahr, im Winter eingeschneit zu werden. Schließlich fanden sie einen verlassenen Weiler, bestehend nur aus ein paar Ruinen von Hütten in einem abgeschiedenen kargen Tal, das steil und tief eingeschnitten war. Von Weitem nicht zu sehen und ideal, sich zu verstecken. Sogar ein paar freilaufende Tiere sahen sie, lebende Vorräte, wie Stefan sagte. Weiter unten gab es einen Wald, verkrüppelte Kiefern und Eichen, Kork- und Steineichen. Genügend Brennholz falls nötig. Ihr Truck hatte einen mobilen Backofen, den konnte man mit winzig kleinen Stücken heizen.

Bevor sie sich unter einem Felsüberhang einen festen Standort suchten, erkundigten sie erst einmal die nähere Umgebung. Sie stellten fest, dass das Tal über einen steilen Pass in ein weiteres mündete. Oben auf dem Pass konnten sie durchs Fernglas eine Siedlung erkennen, weit unten. Dort gab es einige Gebäude, mehr Sommerferienhäuser oder Schäferhütten denn Wohnhäuser. Niemand war dort, aber sie sahen Stromleitungen und Satellitenschüsseln und auch die oder andere Warmwassertherme, was darauf schließen ließ, dass die Gebäude zumindest zeitweise bewohnt waren.

»Wenn das Chaos da unten an der Küste sich ausweitet, wird nicht nur einer sich in die Berge zurückziehen«, sagte Stefan und nahm das Fernglas herunter. »Dann werden wir sehr schnell Besuch bekommen.« Er drehte sich abrupt um und kletterte wieder ins Tal hinab. Tanne folgte ihm verwundert. Was hatte er vor? Beim Truck angekommen, hörte sie ihn drinnen rumoren. Verwundert schaute sie hinein und sah, dass er eine Wandpaneele abgenommen hatte. Dahinter zog er einen schmalen Kasten aus einem Hohlraum hervor. Tanne schnappte nach Luft. So etwas hatte sie schon einmal gesehen, bei Frank. Das war ein Waffen-Case.

Stefan trug es zum Tisch und klappte es auf. Darin lag in einem Futteral eine Pistole, kein Revolver, sondern ein modernes schlankes Modell, sowie einige Magazine mit Munition.

»Stefan! Die haben wir die ganze Zeit mit uns herumgefahren?!«, rief Tanne entsetzt.

»Hm… ja. Frank hat sie mir vor unserem Aufbruch gegeben. Er meinte, es wäre besser, wenn wir eine bei uns hätten. Wir haben auch noch mehr Munition. Die werde ich ab sofort tragen. Sicher ist sicher.« Er ging wieder zum Paneel, griff in den Hohlraum dahinter und zog einen Gürtel mit Waffenholster heraus.

»Ich fasse es nicht!«, explodierte Tanne förmlich. »Wann wolltest du mir das denn sagen? Und redet eigentlich auch mal einer von euch mit mir?!«

»Du hättest es abgelehnt«, beschied Stefan knapp und fädelte den Gürtel durch seine Hosenschlaufen.

Tanne sank auf den Beifahrersitz. »Aus gutem Grund! Wenn das die Zöllner entdeckt hätten! Na, hoffentlich hat er dir auch gezeigt, wie man damit umgeht.«

»Oh ja.« Stefan atmete tief durch und warf ihr einen ungeduldigen Blick zu, als er ihre gerunzelte Stirn sah.

»Alles hinter meinem Rücken…« Sie wusste nicht, was sie empfinden sollte. Da diskutierten sie über einen simplen Urlaub, und die Männer bereiteten sich auf den Krieg vor.

»Wir wollten dich nicht beunruhigen.« Selbst in Stefans Ohren klang das mehr als lahm.

»Ha!« Tanne verschränkte die Arme, jetzt ernsthaft sauer. »Glaubst du, mich in Watte packen zu müssen? Was denkt ihr euch nur dabei?«

»Dass wir dich beschützen wollen?« Stefans Worte waren leise, aber scharf. Er trat auf Tanne zu, umfasste ihr Gesicht. »Wir wollen nicht, dass dir etwas passiert.« Er lehnte seine Stirn gegen ihre.

»Ich kann selbst auf mich aufpassen, verdammt! Passt besser auf euch auf!«, grollte sie, aber sie legte ihre Hände auf seine. Sie umarmten sich, und Tanne schloss einen Moment die Augen, genoss diese Nähe. Schließlich drückte er ihr seufzend einen Kuss auf die Stirn.

»Wir schaffen das, Tannchen. Du wirst sehen. Lass sich die Lage erstmal beruhigen, und dann schauen wir, wie es weiter geht.«

»Bleibt uns wohl nichts anderes übrig.« Tanne ließ ihn los. »Komm, lass uns einmal sichten, was wir noch an Vorräten haben. Kalkulieren, wie lange die ausreichen, und wie wir sparen können.« Sie fuhren nie leer in die Berge, hatten immer eine Notreserve an Lebensmitteln dabei. Instantnudeln, Tütensoßen, richtig ungesundes Zeug, falls sie mal irgendwo festsaßen und auf Hilfe warten mussten. Was bei einem Offroader durchaus mal vorkommen konnte, bei einem so alten wie ihrem erst recht. Genauso, wie sie immer ausreichend Wasser an Bord hatten.

»Also, Wasser ist hier wohl kein Problem. Da können wir aus dem Vollen schöpfen«, sagte Stefan mit Blick auf die Quelle.

Tanne sichtete ihre Schränke, schrieb Listen. Und begann zu rechnen. Als Kind hatte sie, obschon in der Kreisstadt aufgewachsen, jede freie Minute bei ihren Großeltern verbracht. Alle Wochenenden, die Ferien, was nur ging. Ihre Großmutter hatte auf dem Hof einen Hofladen geführt, mit eigener Schlachterei, Wurst, Käse, selbst angebautem Obst und Gemüse. Dass keines ihrer Kinder oder Enkel diesen Betrieb hatte fortführen wollen, war für die Großeltern bitter gewesen. Doch jetzt waren der Laden und die Ländereien verpachtet und sicherten der hochbetagten Großmutter, die in einem Heim lebte, die Rente ab.

Aber Tanne war, obschon sie beruflich eine ganz andere Richtung eingeschlagen hatte, weiterhin begeisterte Hobbygärtnerin geblieben. Von daher lag ihr das Wirtschaften im Blut. Sie buk auch auf Reisen das Brot stets selbst, mit Sauerteig, von dem sie immer einen Grundstock mit sich führte, denn dieses pappige Weißbrot, das man sonst überall im Ausland bekam, war nichts für sie und Stefan. So hatten sie einen guten Vorrat an Mehl und anderen Backzutaten immer dabei. Auch das eine oder andere selbst Eingemachte fand sich noch in ihren Schränken.

Doch wie streng sie auch kalkulierte, das Ergebnis war niederschmetternd. »Wenn wir keine Lebensmittel von außen dazu bekommen, maximal vier Wochen. Eher weniger. Wir haben einfach zu wenig Platz. Wir sollten schauen, ob wir nicht irgendwo Obst finden und einmachen können. Ich habe noch jede Menge Schraubgläser auf dem Dach gebunkert.« Die hob sie immer auf. Verschwendung war ihr ein Gräuel, genauso wie diese riesigen Müllberge überall auf der Insel. Stefan zog sie regelmäßig damit auf, dass sie so gar nichts wegwerfen konnte. Doch jetzt könnte es ihre Lebensversicherung sein.

»Wir sollten wandern gehen«, seufzte sie. »Alles zusammensuchen, was wir finden können. Alte Obstbäume, die Gärten drüben im Dorf anschauen. Wenn da keiner ist, bekommt auch keiner mit, wenn wir was aufsammeln. Das koche ich ein. Vielleicht gibt es auch Hühner.«

»Meinst du nicht, dass es zu riskant ist?«, fragte Stefan, stirnrunzelnd auf ihre Liste hinabschauend. In diesen Dingen vertraute er ihr blind. Er wusste, wenn sie kalkulierte, stimmt das Ergebnis meistens bis auf den letzten Cent.

»Wir können ja die doofen Touristen spielen, die noch von gar nichts wissen«, meinte sie schulterzuckend.

»Na schön. Irgendwann müssen wir es ja wagen, und je eher, desto besser. Vielleicht ist ja keiner da.« Also legten sie ihre Wanderausrüstung an. Rucksäcke, Stöcke, Kamera, Sonnenkäppi und -brille. Die Handys, eine Wanderkarte. So richtig Touri halt. Das Waffenholster verbarg Stefan unter einem weit fallenden Hemd.

Keine halbe Stunde später erreichten sie die Ausläufer des kleinen Weilers. Stille empfing sie hier. Die Häuser, meistens Ferienhütten, das hatten sie durch das Fernglas ja schon gesehen, waren größtenteils verrammelt, die Fensterläden zu. Die Gärten, so man sie denn so nennen könnte, einfache Wiesen. Kein Obst, nichts. Enttäuscht liefen sie einen Feldweg entlang. Doch dann kamen diese typischen, mit Steinmauern umfriedeten Landparzellen, darin Korkeichen, die eine oder andere Wiese oder ein Stück Acker. Nicht bestellt, denn es war Herbst, und nach dem trockenen Sommer würde das erst nach den ersten Regenfällen erfolgen.

Aber immerhin: »Hier wirtschaftet noch jemand. Los, komm, lass uns mal gucken, ob wir jemanden treffen«, sagte Tanne und schritt aus mit mehr Enthusiasmus, als sie innerlich fühlte. Was sollten ihnen die Dorfbewohner schon tun?, redete sie sich ein. Mehr als fortjagen konnten sie die beiden Touristen nicht.

Doch auch im Dorf war es fast totenstill, nur durchbrochen vom Glöckchengebimmel der Kühe und Ziegen, die überall frei herumliefen. Langsam bewegten sich Tanne und Stefan auf der Straße entlang.

»Oh, guck mal!«, rief Tanne plötzlich und lief auf einen Baum zu. Darunter lagen jede Menge Kastanien, und sie freute sich, dass sie sich nicht vertan hatte: Das waren Maroni, Esskastanien. Rasch füllte sie einen Beutel damit.

»Da sitzt noch jede Menge drauf. Wir sollten wiederkommen«, meinte Stefan und grinste. »Weißt du, wie man die haltbar macht?«

»Ich… hm…ja. Ich glaube, schon. Man muss sie trocknen, aber vorher ein paar Tage in kaltes Wasser einlegen. Man kann sogar damit backen, habe ich gelesen, wenn man es mit anderem Mehl mischt. Sehr schön!« Zufrieden tat Tanne den vollen Beutel in ihren Rucksack. Hier würden sie auf jeden Fall nochmal herkommen.

Dann entdeckten sie auch schon den nächsten Schatz, Obstbäume. Zahlreiches Fallobst, das meiste schon sehr vergammelt und von den Tieren angefressen, aber sie fanden auch noch etliches, das sie verarbeiten konnten. So arbeiteten sie sich den Pfad hinunter, doch auf einmal blieben sie beide abrupt stehen.

Vor ihnen bekamen die Häuser mehr bäuerlichen Charakter. Einzelne Gehöfte, weit verstreut. Und aus dem letzten, ganz hinten im Tal liegend, hörten sie ein leises Ding, Ding, als wenn jemand mit einem Hammer Metall bearbeitete. »Da ist irgendwer«, wisperte Tanne, Stefans Arm wie von selbst umklammernd. Sie sahen sich zögernd an. Sollten sie…?

Die Entscheidung wurde ihnen abgenommen. Ein lautes Krachen und ein schmerzhafter Aufschrei hallten zu ihnen herüber. »Scheiße!« Stefan rannte schon los, auf die Hofstelle zu, wo das Gatter weit offenstand. Tanne folgte ihm, so schnell sie konnte, aber mithalten tat sie mit seinen langen Beinen nicht.

Als sie schließlich das Haus umrundete und auf den eigentlichen Wirtschafshof einbog, half Stefan gerade einem Mann auf, von dem er anscheinend einige Trümmer heruntergezerrt hatte, die von der Ladefläche eines Pickups gefallen waren. Ein Hund, ein schwarz-weißer Shepard, sprang aufgeregt bellend um sie herum. Tanne sah zerbrochenes Holz, Kartonage und andere Verpackungen. »Hilf mir mal!«, rief Stefan.

»Geht schon!«, ächzte der Mann zu ihrer Überraschung auf Deutsch. Er hatte einen starken bayrisch-italienischen Akzent. Mit einem scharfen Pfiff brachte er den Hund zur Räson. »Pepe!«, rief er, und der Hund zog sich grollend zurück.

Tanne trat nun näher. »Das sieht mir aber gar nicht so aus. Lassen Sie mich mal sehen.« Sie half Stefan, den Mann zu einer Bank zu bringen. Er stützte sich schwer auf sie beide und ließ sich mit einem Stöhnen darauf sinken.

»Meine Frau hat eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht«, sagte Stefan. »Lassen Sie sie nur machen. Wie ist das passiert?«

»Ach.« Der Mann winkte ab. »Missgeschick. Wollt das Zeug abladen und hab das falsche Brett gelöst, gelt? Wie immer bei sowas.« Er verzog schmerzhaft das Gesicht, als Tanne sein Knie befühlte.

»Nur aufs Bein oder auch auf den Körper?«, fragte Tanne.

»Nur aufs Bein«, sagte Stefan, und der andere nickte mit schmerzverzerrtem Gesicht.

»Das Knie wird schon dick«, meinte Tanne. Sie befühlte die Knochen des Beines, dann das Knie. »Da haben Sie aber schön was abbekommen. Ich beuge es mal… ja, das reicht. Tut das innen weh oder nur oben drauf?«

»Oben…aah! Verdammt.« Der Mann zog zischend die Luft ein. »Alles geht schief dieser Tage!«

»Scheint nur geprellt zu sein. Ein Eisbeutel, das wäre das Richtige. Und jetzt der Fuß… der ist gut, nicht? Habt ihr Strom? Gefrierschrank?«

Der Mann lachte auf. »Wo denkt ihr hin! Guckt doch mal auf den Pickup. Was seht ihr da?«

Stefan richtete sich interessiert auf und ging hinüber. Hob die Plane auf der Ladefläche an. »Greentime, ha! Das große Modul, Speichereinheit und sogar die Windeinheit. Fein, fein. Mitgebracht, was? Wir verkaufen noch nicht ins Ausland.«

»Ach nee«, sagte Tanne und musste grinsen. Zu dem Mann sagte sie: »Sein Arbeitgeber.«

»Da schau einer an! Ha, da habe ich ja gleich jemanden, der mir zeigen kann, wie das Ding zusammengehört, nicht? Was macht ihr denn hier? Seid ihr gar nicht auf dem Weg nach Hause?«

Tanne und Stefan wechselten einen raschen Blick, doch da gab sie sich einen Ruck. »Das ging nicht mehr. Hast du in letzter Zeit Nachrichten aus dem Tiefland und von außerhalb bekommen? Übrigens, wir sind Tanne und Stefan.« Sie reichte ihm die Hand. Er war ungefähr Mitte bis Ende dreißig, ein drahtiger, braun gebrannter Südländer, ein ganzes Stück kleiner als sie.

»Giorgio. Aber meine bayrischen Freunde nennen mich Schorsch. Ich bin seit sechs Wochen hier, wollte das Ding mit meinem Bruder aufbauen. Das ist sein Hof. Aber der ist los, seine Verwandten aus Livorno holen, mit der Fähre.«

»Das wird er wohl nicht mehr schaffen«, sagte Stefan, kam wieder zu ihnen herüber, setzte sich und gab ihm ebenfalls die Hand. Er erzählte Schorsch, was sie erlebt hatten.

Als Schorsch das hörte, fluchte er nicht nur einmal und bekreuzigte sich auch. »Wir haben hier oben selten Netz, und der Strom ist seit vorgestern auch weg. Ich habe das Dach der Scheune repariert, damit es die Solaranlage tragen kann, und war daher nie im Tiefland. Mein Bruder ist mit seiner Frau und seinem Sohn los, ihre Eltern herzuholen. Wir haben seit Wochen versucht, einen Techniker zu finden, der uns das installiert. Aber vergebens. Und ich konnte hier nicht weg, weil wir die Anlage so schon nur mit Mühe auf dem Pickup über die Pisten her bugsiert haben und mein Bruder den kleinen Jeep genommen hat. Da dachte ich, ich versuch’s mal selber mit dem Abladen. Tja.«

»Tja. Wir sind geflüchtet, stehen da hinten im Nachbartal. Da kommt man außer mit einem Offroader wie unserem nicht hin, da wohnt niemand. Wir wollten gucken, ob wir hier Vorräte finden«, gab Tanne ganz offen zu. »Unsere reichen nicht für ewig. Irgendwelche nicht geernteten Früchte, so etwas. Nicht in den Häusern, bewahre. Aber vielleicht in den Hecken, auf den Wiesen.«

»Ha. Die wenigsten bauen hier noch an, mein Bruder und zwei andere noch, und er und seine Familie und der Nachbar dort hinten wohnen als einzige permanent hier. Manolo ist los, nach Olbia, seine Familie holen. Das war vor drei Tagen. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört, verdammter Mist!« Er seufzte und zeigte um sie herum. »Die Ernte ist lange vorbei. Aber schau ruhig, was du findest. Kannst du mir mit der Anlage helfen?«, fragte Schorsch Stefan.

»Klar«, sagte der.

»Aber erst, wenn dein Knie wieder einigermaßen ist«, mahnte Tanne. »Komm, ich mache dir einen kalten Wickel, der hilft auch. Hoch das Bein, und dann erzähl mal, was du so weißt. Wir wissen nämlich nicht viel.«

Sie ließen sich in der Küche nieder. Der Nachmittag verging mit den düsteren Nachrichten der vergangenen Wochen, denn Schorsch war mehr oder weniger genauso ahnungslos wie sie. Gemeinsam konsultierten sie auch das Tablet, das Stefan im Rucksack mitgenommen hatte, und lasen sich durch die Schreckensbotschaften der letzten Wochen.

»Verflixt noch eins!«, entfuhr es Schorsch nicht nur einmal.

»Hast du Familie in Bayern? Frau? Kinder?«

»Nee, nur ne Freundin, gelt? Sie wollte nicht, dass ich fahre. Gab richtig Streit.«

»Genauso wie bei uns«, sagte Tanne. »Was macht das Knie?« Neben dem kalten Wickel hatten die Männer auch eine Flasche Schapps am Start, selbstgebrannt von Schorschs Bruder.

»Puckert, aber nicht mehr so schlimm. Wird schon. Aber ehrlich, euer Gedanke mit den Vorräten ist gar nicht so schlecht. Wenn die da unten wirklich am Plündern sind, sollten wir einlagern, was nur geht, denn der Winter hier oben, der ist nass und kalt. Wisst ihr, wie so etwas geht? Ich habe keine Ahnung, aber meine Schwägerin hat unten einen Keller, da lagert sie einiges.«

»Tanne kann so etwas, von ihrer Oma, die hatte einen Bauernhof. Dann bauen wir die Anlage auf und sie schaut sich mal an, was sie so einkochen kann. Okay?«

Schorsch grinste. »Okay. Hälfte-hälfte, ich weiß ja nicht, ob und wann die anderen Bewohner wiederkommen. Die meisten Häuser ringsherum sind Ferienhäuser, nur diese zwei Gehöfte werden noch bewirtschaftet.«

»Dann werden sie gewiss dankbar sein, wenn wir in der Zwischenzeit retten, was zu retten ist«, sagte Tanne. »Lasst mich nur machen, und so stehe ich euch nicht im Wege herum, gelt?«, zwinkerte sie, und Schorsch lachte.

Da es nun langsam dunkel wurde, lud Schorsch sie ein, bei ihm auf dem Sofa zu übernachten, was eine ziemlich durchgesessene Angelegenheit war, aber das war ihnen egal. Viel mehr wog, dass sie zumindest für die nächste Zeit einen Zufluchtsort hatten und einen Plan. Etwas tun zu können, half, die Unruhe zu betäuben, und so schliefen sie beide tief und fest nach diesem mit Schrecken durchzogenen Tag.

Die folgenden Tage wurde ihnen nicht langweilig. Sie richteten sich ein. Bei Sonnenaufgang aufstehen, frühstücken und dann über den Pass zu Schorsch ins Dorf hinab und bei Sonnenuntergang wieder zurück zum Truck, das machten sie nur ein paar Tage, denn es wurde Herbst, die Tage kürzer. Es dauerte einfach zu lange, und wer weiß, vielleicht war Schorsch abends einfach langweilig so ganz allein.

Also schloss Schorsch ihnen eine der Gästehütten auf, die sein Bruder im Sommer an Touristen vermietete. Tanne und Stefan zogen komplett um. Den Truck allerdings ließen sie in dem anderen Tal, denn sie fanden keinen befahrbaren Weg zum Dorf hinüber. Sie hätten ihn weit hinunter ins Tiefland bewegen müssen und dann wieder hinauf, und das wollten sie aus verständlichen Gründen nicht. Ganz einfach so stehen lassen wollten sie ihn aber auch nicht. Daher parkten sie ihn um, hinein in eine Höhle. Den Zugang tarnten sie, schichteten Steine ringsherum auf, auch wenn das ein irrer Aufwand war, und packten Buschwerk und Holzreste darüber, sodass der Truck von außen nicht mehr zu sehen war. Das Solarpanel jedoch schraubte Stefan vom Dach. Oben in der Höhle gab es eine Öffnung, durch die Sonnenlicht fiel. Dort platzierte er es und legte ein langes Kabel, das sie aus Schorschs Beständen organisiert hatten, hinunter in den Truck. So standen sich die Batterien über die lange Standzeit nicht leer, hoffte Stefan. Ihre Klamotten, Lebensmittel und was sie sonst noch so zum täglichen Leben brauchten, zogen sie um in die Hütte. Der Rest blieb in ihrem Gefährt.

Zunächst reparierten die beiden Männer weiter das Dach der Scheune, doch schon bald waren sie dabei, die ersten Module zu installieren. Tanne fiel ein wenig verwundert in die alte, klassische Rolle zurück, sich um Haushalt und Hof kümmern zu müssen, obschon sie auch bei der Solaranlage ab und an mal mit anfasste. Zuhause hatten Stefan und sie sich die Hausarbeit stets geteilt. Beide waren sie Vollzeit berufstätigt, da war das nur fair. Stefan kümmerte sich um die Technik, Tanne um den Garten. So hatten sie es immer gehandhabt.

Aber hier machte ihr diese Einteilung nichts aus, denn das hatte sie ja von klein auf gelernt. Sie kochte, buk und putzte. Schorsch machte beinahe einen Kniefall vor ihr, als sie ihm nach ein paar Tagen deutsches Sauerteigbrot kredenzte.

Wenn das erledigt war, kümmerte Tanne sich um die Vorräte und das Brennholz. Obwohl sie jetzt Strom hatten, war es nicht so viel, dass sie alle technischen Geräte damit betreiben konnten. Kochen, backen und heizen, die stromintensivsten Verbrauchsarten, taten sie nach wie vor mit Holz.

Um die Vorräte war es da etwas besser bestellt. Obschon nicht bewirtschaftet, etliche Obstgärten hatten die Vorfahren dieser Leute angelegt, und einiges hatte die Zeiten überdauert. Tanne weckte ein, kochte Obstmus, verarbeitete Gemüse, alles, was sie so fand. Trocknete Maroni und Nüsse, Pilze, welche sie identifizieren konnte, und Pinienzapfen, so viele sie finden konnte, wegen der Kerne. Hob jede Menge Saat auf und trocknete sie, für das nächste Frühjahr. Wenn sie Dinge brauchte, Gewürze, Salz, Gefäße, schloss Schorsch ihr die Häuser der Nachbarn auf, er hatte die Schlüssel. So wuchs der Bestand in ihrem Lagerkeller an, sodass sie bald ausweichen musste.

Sie fing auch freilaufende Tiere ein, eine Kuh und vor allem Hühner, sodass sie mit ausreichend Milch und Eiern versorgt waren. Liebend gerne hätte sie Käse hergestellt, doch dafür fehlte ihr die wichtigste Zutat, das Lab. So ließ sie es erstmal und molk nur diese eine Kuh. Die anderen ließen sie weiterhin im Umkreis freilaufen. Es bleib auch so genug zu tun, und sie fielen abends meistens todmüde in ihre Betten.

Ein wenig, so resümierten Stefan und Tanne des Öfteren nachts, wenn sie im Bett lagen, betäubten sie sich auch mit der Arbeit. Und aneinander, um sich abzulenken. Ihre Beziehung bekam eine Intensität, wie sie es noch nie erlebt hatten. Vielleicht auch, weil Schorsch ein wenig an Tanne herumgrub. Sehr subtil, nie offensichtlich, aber sie spürte es dennoch, und mit ihr auch Stefan. Er zeigte nicht, dass er davon wusste, denn mit Schorsch war er mittlerweile ziemlich bester Kumpel, aber Tanne merkte es daran, wie er sie nachts liebte. Sehr besitzergreifend. Aufmerksam, nie so hastig wie früher im Alltag zuhause, und jeden Moment auskostend. Als wenn ihr Leben bald vorbei sein könnte. Was ja vielleicht auch so war, wer wusste das schon? Vermutlich war das auch der Grund, dass Schorsch sie mit einiger Aufmerksamkeit bedachte. Es gefiel Tanne, aber das zeigte sie nicht. Sie behandelte beide Männer einfach wie immer.

Wie anders das wohl wäre, wenn hier mehr Leute wären, dachte Tanne öfter. Denn sie hörten und sahen aus dem Umland nichts. Keine Leute kamen, es gab kein Netz. Es war unheimlich. Als wären sie die einzigen Menschen auf der Welt. Auch Schorsch bereitete das zunehmend Sorgen, immer öfter sahen sie ihn unruhig an der Piste stehen und in die Ferne starren. Was wohl mit seiner Familie geschehen war? Sie selber sehnten sich ja auch nach einer Nachricht von zuhause. Doch es kam nichts. Rein gar nichts.

Kapitel 2

Tanne und Stefan lebten nun bereits ein paar Wochen bei Schorsch, und der Oktober neigte sich dem Ende entgegen. Da hörten sie plötzlich weit entfernte Stimmen, sie kamen aus dem Dorf. Beunruhigt ließen die Männer ihre Werkzeuge liegen und eilten zur Straße, Stefan nicht, ohne seine Waffe zu entsichern. Doch da hätte er sich keine Sorgen zu machen brauchen. Plötzlich stieß Schorsch einen Schrei aus. »Manolooo!« Er rannte los.

Tanne und Stefan sahen ihn auf einen untersetzten Mann zulaufen. Die Männer umarmten sich, klopften sich auf die Schulter. Dabei standen eine Frau und zwei Kinder, vielleicht zehn oder elf Jahre alt. Sie alle machten einen ziemlich abgekämpften Eindruck, hatten Rucksäcke auf und waren mit Taschen beladen. Die Frau bekam von Schorsch Küsschen links und rechts auf die Wange, und sie sprachen aufgeregt mit den für Italiener so typischen beredten Gesten aufeinander ein, während zwei Hunde undefinierbarer Farbe und Rasse um sie herumsprangen.

Zögernd waren Tanne und Stefan stehen geblieben, doch nun zeigte Schorsch auf sie und winkte sie heran. »Kommt, kommt!«, rief er. Als sie herankamen, sagte er: »Das ist unser Nachbar Manolo und seine Schwester Giulia und ihre Kinder Marco und Ella.« Und er sagte ein paar schnelle Sätze auf Italienisch, worin ihre Namen und die Begriffe Technik und Solar und Ingenieur drin vorkam.

»Ahhh, ihr habt Strom?«, rief Manolo aufgeregt aus. Seine Erschöpfung legte sich sichtlich.

Das brauchte Schorsch nicht einmal zu übersetzen, das verstanden Stefan und Tanne auch so. »Kommt doch erstmal herein«, sagte Tanne auf Englisch. »Ich mache euch einen Tee oder Kaffee und was zu essen, ganz wie ihr wollt.«

»Oh, das wäre wunderbar!«, seufzte Giulia, ebenfalls auf Englisch. »Wir sind seit Tagen unterwegs. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was in der Stadt los ist. Dort wollten wir nicht bleiben.«

Langsam liefen sie auf den Hof zu. Schorsch zeigte auf die Windkraftanlage und die Solarpanels, erklärte Manolo vermutlich, dass die Energie auch für zwei Gehöfte reichen würde. Draußen vor der Tür hatte Tanne Tücher ausgebreitet, wo ihre neuesten Schätze in der Sonne trockneten. Giulia klatschte erfreut in die Hände, als sie das sah.

Bei einer großen Kanne Kaffee und belegten Broten ließen sie sich am Küchentisch nieder und begannen zu erzählen. Manolo konnte kein Deutsch und kein Englisch, Giulia dafür Englisch, aber kein Deutsch, aber irgendwie mit Händen und Füßen und Schorschs Hilfe schafften sie die Übersetzung.

»Am Anfang, als die Fähren noch fuhren, da sind alle rüber aufs Festland, entweder zu ihren Verwandten oder um sie zu holen. Es hieß ja, dass die Insel nicht versorgt werden würde. Aber dann hieß es plötzlich, dass es keine Fähren mehr geben würde. Da begann das Chaos«, erzählte Giulia düster.

»Ja, das haben wir gesehen«, sagte Tanne. »Wir wollten da nicht reingeraten.«

»Man gut«, sagte Giulia. »Die Leute sind in Panik geraten. Alle Läden wurden geplündert. Die Polizei hat sogar scharf geschossen, als es zu schlimm wurde. Feuer sind ausgebrochen, der Strom ist ausgefallen und die Wasserversorgung auch, es gab niemanden mehr, der das löschen konnte. Die Touristen, die es nicht mehr auf die Fähre geschafft haben, haben sich auf den Campingplätzen zusammengeschlossen und regelrechte Wagenburgen gebildet aus den zurückgelassenen Fahrzeugen und sich dort verbarrikadiert. Mein Mann…«, jetzt wischte sie sich die Tränen ab, »war auf Geschäftsreise auf dem Festland. Er ist nicht zurückgekommen. Das Telefon ist ausgefallen, das Internet auch. Es gab wohl Hackerangriffe, war das, was ich als Letztes im Netz lesen konnte. Die haben die Infrastruktur lahmgelegt, anders kann es gar nichts sein. Nichts funktioniert mehr, auch nicht die Navis, die Schiffe, Flugzeuge, nichts. Und es gibt auf der gesamten Insel keinen Sprit mehr. Die Raffinerie im Süden ist abgebrannt, genauso wie das Kraftwerk. Man spricht von Sabotage.«

»Was ist mit Luigi und Anna?«, fragte Manolo Schorsch. Sein Bruder und dessen Frau, wussten Tanne und Stefan mittlerweile.

»Nichts«, sagte Schorsch düster. »Stefan und Tanne konnten immerhin noch einmal mit ihren Familien telefonieren am letzten Tag und ihnen sagen, wo sie stecken. Aber die anderen? Funkstille. Was ist mit deinen Kindern?«

»Nichts. Der letzte Anruf kam eine Woche, bevor die Grenzen zu gingen. Da waren sie gerade in Rom, bei ihren Eltern.« Manolo lebte von seiner Frau getrennt, und sie teilten sich das Sorgerecht, hatte Schorsch ihnen irgendwann über den Nachbarn erzählt. »Ich wollte eigentlich so lange an der Küste bleiben, wie es ging, aber… wir mussten abhauen. Unser Auto mussten wir stehen lassen, kein Benzin mehr«, berichtete Manolo weiter. »Wir hatten es die ganze Zeit versteckt, denn die haben fahrende Fahrzeuge sofort geplündert. Sind bei Nacht und Nebel los, aber der Sprit hat nur bis zum Pass gereicht, dann war Schluss. Warum habe ich nicht nochmal getankt, verdammt?!« Er schmetterte die Faust auf den Tisch, was ihm einen strafenden Blick von Giulia einbrachte, denn die beiden Kinder waren zusammengezuckt.

»Und nach dem Pass? In den Dörfern? Wie sieht es da aus?«, fragte Schorsch.

»Da sind die meisten wieder da, aber längst nicht alle. Viele haben wie wir den Kontakt zur restlichen Familie verloren. Keiner weiß, was los ist. Sie ernten, legen Vorräte an, wie hier.« Giulia lächelte Tanne zu. Natürlich wussten die Neuankömmlinge Bescheid, dass Tanne auch auf ihrem Hof alles an sich genommen hatte, was sich irgendwie verwerten ließ. Das hatten die beiden mit Erleichterung aufgenommen, und auch mit Dankbarkeit. So würden sie alle genug zu essen haben.

»Gut, dass wir nicht auch noch aufgebrochen sind«, sagte Stefan, und Schorsch nickte. »Sonst wäre der Jeep wohl jetzt hin. Nein, den lassen wir hübsch hier.«

»Ich bin froh, dass ihr hier seid. Es gibt ein paar Dinge, die kann ich nicht«, gab Tanne offen zu und lächelte Giulia an. »Ich würde gerne Käse machen, hab aber nicht alle Zutaten. Könnt ihr schlachten?« Denn die wichtigste Zutat neben der Milch, das Lab, wurde aus Tiermägen gewonnen, das wusste sie.

Manolo prustete los, und auch Giulia kicherte, wobei sich bei ihr Tränen und das eine oder andere Schniefen daruntermischten. »Und das fragst du die Kinder eines Bauern?«, lachte Manolo und drückte Giulia tröstend an sich.

Tanne musste auch lachen. »Nun, das bin ich ja auch und hab ab und an mal zugeschaut, aber allein habe ich mich da nicht rangetraut. Es wäre einfach Verschwendung gewesen. Aber jetzt seid ihr ja da.«

Es erleichterte Tanne auch ein wenig, wie sie Stefan gestand, die Verantwortung für die Vorräte mit jemandem teilen zu können, mit einer Frau, die zudem hier heimisch war. Die gemeinsamen Aktivitäten und auch die Mahlzeiten verlegten sie rüber auf Manolos Hof, denn dort wohnten ja nun die meisten Personen, und das Haus war auch wesentlich größer.

Tanne lernte eine Menge von Giulia, mit der sie sich auf Anhieb verstand. Viele Früchte, die es hier gab, waren in Deutschland nur im Supermarkt zu bekommen und wurden schon gar nicht haltbar gemacht. Das lernte sie jetzt, aber auch Giulia zeigte sich offen für neue, andere Methoden und Rezepte, und so wurden sie beide richtig kreativ. Giulia zeigte Tanne, wie man das hauchdünne Pane Karasau buk, das Hirtenbrot, das sich über Monate hielt. Tanne wandelte das Rezept ab, sodass sie am Ende bei sehr leckerem Knäckebrot landeten, das den entscheidenden Vorteil hatte, nicht so leicht zu zerbrechen.

Dank Giulia lernte Tanne auch einiges über die Kräuter und Gewürze, die hier wild wuchsen, und sie fanden ein Buch über Heilpflanzen in Manolos Haus. Auf Italienisch, aber das machte nichts, die lateinischen Namen sagten ihr etwas, und wenn sie was nicht identifizieren konnte, fragte sie einfach Giulia oder Schorsch. So war sie rundherum beschäftigt.

Auch mit den Kindern wurden Tanne und Stefan sehr schnell warm. Der kleine Marco war ein Technik Freak, wie es im Buche stand, wo er bei Stefan natürlich an der richtigen Adresse war. So schwand auch die Sprachbarriere schnell, denn Marco hatte noch kein Englisch in der Schule gehabt, weshalb Stefan so schnell Italienisch und auch Sardisch lernte, dass er selber manchmal staunte.

Tanne tat sich da etwas schwerer, denn Giulia sprach ja Englisch, doch irgendwann bat Tanne ihre Freundin, einfach Italienisch und Sardisch mit ihr zu sprechen und Ella auch, sodass sie beides rasch lernte, wenn auch nicht so schnell wie ihr Mann. Stefan machte sich manchmal einen Spaß daraus, sie auf Italienisch zu foppen, weil sie ihn noch nicht verstand.

Überhaupt lachten sie viel mehr als in den Wochen zuvor. Der Grund waren vor allem die Kinder, die mit allerlei Spielen beschäftigt werden wollten, und Giulia. Die Freundin war manchmal von einer überschäumenden Fröhlichkeit. Das wunderte Tanne, denn Giulias Mann war immer noch verschollen. Sorgte sie sich denn gar nicht?

»Doch«, sagte Manolo, als Tanne das Thema ansprach. »Aber ihren Kummer macht sie stets mit sich aus, so war sie schon immer. Sie trägt das nie nach außen und genießt jeden fröhlichen Moment, den sie bekommen kann. Auch wegen der Kinder.«

Eine bewundernswerte Eigenschaft, dachte Tanne. Sie selber war da ganz anders drauf, trug ihre Gefühle stets nach außen, oft auch auf der Zunge. Das würde sie nicht aushalten, diese immer in sich einzuschließen. Aber um der Kinder Willen riss sie sich zusammen, und die Männer auch. Die lachten hauptsächlich über sich selber, denn Stefan und Schorsch mussten nun, da die Technik installiert war, mit Manolo die Felder beackern, düngen vor allem, und stellten sich dabei ziemlich ungeschickt an. Der Traktor wurde angeworfen, gepflügt, Wintergetreide gesät. Zum Glück hatte Manolo ein Dieselfass auf dem Hof und Schorschs Bruder auch, sodass für den Sprit gesorgt war.

Bei den Oliven, die jetzt im späteren Herbst erntereif wurden, mussten dann alle mit anfassen, vor allem in der Ölmühle, wo die Früchte zu Brei zermahlen wurden, mit den Kernen, und dann Presse gegeben. Da beides per Hand bedient werden musste, war das eine echte Plackerei. Hinterher fühlten sich Tannes Arme an, als wäre sie einmal über den Ärmelkanal geschwommen, und sie konnte nicht einmal mehr Brotteig kneten. Aber immerhin, sie bekamen eine stattliche Menge Öl zusammen. Spontan beschlossen sie, für nächstes Jahr einen elektrischen Antrieb in die Ölmühle einzubauen.

Tanne wusste, dass die Männer heimlich darüber diskutierten, ob sie den Jeep nehmen und in den nächsten Ort fahren sollten. Nachsehen, was dort vor sich ging und ob sie etwas Neues erfahren konnten. Das taten sie, wenn sie dachten, dass Tanne und Giulia nichts mitbekamen. Aber die beiden Frauen waren ja nicht dumm.

Doch die Spritvorräte der beiden Höfe waren begrenzt. Sollten sie diese für eine unnötige Fahrt riskieren? Und was, wenn sie nicht zurückkehrten? Dann wäre ihr letztes Fahrzeug hin. Es war ein Dilemma. Je stärker die Temperatur fielen, desto hitziger wurden die Diskussionen.

Morgens lag jetzt manchmal Raureif auf den Feldern, und auf den höheren Bergen in der Ferne zeigte sich der erste Schnee. Richtig schneien würde es hier auch, sagten Schorsch und Manolo, aber der Schnee würde nicht lange liegen bleiben, dafür lagen sie zu niedrig. Aber frostig würde es werden. Tanne und Stefan waren froh, dass sie wärmere Kleidung mit auf die Reise genommen hatten. Nicht für die Insel, aber für die Alpenüberquerung auf dem Rückweg, denn dort konnte es im Oktober bereits empfindlich kalt sein. So mussten sie wenigstens nicht frieren.

Als die Adventszeit begann und sie sich langsam aber sicher der Weihnachtszeit und damit der Jahreswende näherten, überkam Tanne manchmal das heulende Elend. So gar nichts von Zuhause zu wissen, das war beinahe unerträglich. Wie gerne hätte sie jetzt ihr Haus geschmückt, den jährlichen Adventskalender für Stefan gebaut, Weihnachtsmärkte besucht. Licht und Freude in ihr Leben gebracht. Hier behalfen sie sich mit einem einzelnen Teelicht, das sie noch irgendwo im Truck gefunden hatten und das sie ein paar kostbare Minuten jeden Abend entzündeten. Giulia kramte von irgendwoher eine uralte Familienkrippe mit Holzfiguren hervor, die gehörte in der Vorweihnachtszeit unbedingt für die Sarden dazu.

Weihnachten machten sie dennoch zu einem Fest, für die Kinder. Das mussten sie einfach, auch wenn Tanne und Stefan so gar nicht danach war. Sie dachten sich etwas Besonderes aus, schmückten das Haus mit den riesengroßen Kiefernzapfen, die Tanne mit einigen Papierresten festlich dekoriert hatte. Ein paar letzte Süßigkeiten wurden zu Päckchen geschnürt, Maroni und Mandeln geröstet und Pabassinas, die sardischen Mürbeteigkekse, gebacken. Ein Huhn musste zur Feier des Tages auch dran glauben, wenn auch keine Gans.

Stefan schenkte Tanne eine Kette mit einem besonderen Stein, einer Pfeilspitze, die er draußen auf den Feldern gefunden hatte. Sie war entzückt und freute sich riesig. Da kam ihr das eigene Geschenk an ihn richtig mickrig vor. Sie hatte ihm aus ein paar Lederresten eine Messerscheide für seinen Waffengurt genäht, damit er immer eines bei sich tragen konnte, worüber er sich jedoch wirklich freute. Für die Kinder hatte sie aus Wollresten Schals und Mützen gestrickt und für Giulia auch. Die Städter hatten keine Winterausstattung, und Stricken, das konnte Tanne im Schlaf.

Zum Jahreswechsel machten sie ein Feuer im Hof. Das ersetzte das Feuerwerk, und Tanne kochte Glühwein aus ihren letzten Restbeständen an Wein. Das war etwas, das die Sarden nicht kannten und wirklich lecker fanden und was sie alle am Ende ziemlich betrunken in ihre Betten torkelten ließ.

Dann, an einem trüben, bedeckten Tag im Januar, da waren sie gerade gemeinsam dabei, eine neue Ladung Brennholz zu sägen und weg zu stapeln, wurde der bleigraue Winterhimmel plötzlich merklich heller, geradezu irritierend hell.

Verwundert hielten sie inne und hoben die Köpfe. »Was zum…?«, hob Tanne an, doch da zuckten Lichtwellen über die Wolkendecke, es sah beinahe aus wie ein Nordlicht, nur so grell, dass es fast weiß war und sie geblendet die Augen zusammenkneifen mussten.

»Merda!«, entfuhr es Manolo.

Stefan zog scharf die Luft ein. »Ins Haus! Alle! Sofort!« Er rief es auf Deutsch, doch das musste er nicht übersetzen. Sie rannten los, die Kinder, die erschrocken aufschrien, einfach hinter sich herzerrend.

Sie flüchteten in den Vorratskeller, verriegelten ihn, hockten sich in die von der Tür entfernteste Ecke. »Was ist das, Mama?«, schniefte Ella.

»Schscht, nicht. Das erklären wir dir gleich. Warten wir erstmal ab, was passiert«, sagte Giulia mit brüchiger Stimme, sie an sich drückend. Auch Marco drängte sich zu ihr, sichtlich zitternd. Manolo hockte mit geballten Fäusten und Tränen in den Augen in der Ecke. Tanne ahnte, dass er betete, dass seine Kinder mit seiner Exfrau noch rechtzeitig aus Rom weggekommen waren. Sie selber machte sich ja auch Sorgen, aber ihre Eltern waren vermutlich in Sicherheit auf ihrem Hof. Aber er, er wusste gar nichts, genauso wenig wie Schorsch. Sie konnten nur hilflos dasitzen und abwarten, ob auch hier ein Sturm losbrach.

Doch nichts geschah. Kein Sturm, kein Feuer. Als sie nach einiger Zeit wieder nach draußen sahen, flirrten immer noch diese Lichter über den Himmel, aber sonst… nichts. »Mama! Was ist das?«, drängte Ella jetzt vehement.