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Liv und Jake haben sich trotz aller Widerstände ein gemeinsames Leben aufgebaut. Doch die Schatten der Vergangenheit strecken ihre langen gierigen Finger aus und bedrohen alles, was Liv und Jake geschaffen haben. Alte, längst besiegt geglaubte Feinde kehren zurück, und da ist auch noch das ungelöste Rätsel um Livs Herkunft. Plötzlich findet sie eine Spur zu ihrer Familie – nicht ahnend, dass ihr eigener Start ins Leben mit einem Verbrechen begonnen hat. Um jeden Preis wollen die Täter von damals verhindern, dass sie sich an diese Ereignisse erinnert. Damit gerät ihr Leben und das ihrer Familie und Freunde in allerhöchste Gefahr.
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Seitenzahl: 529
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Katas Ellie
Roots
Doch keine deutsch – britische Geschichte
Texte: © 2024 Copyright by Katas Ellie
Umschlag: © 2024 Copyright by Katas Ellie
Verlag: Inga Rieckmann alias Katas Ellie, c/o Block Services, Stuttgarter Str. 106, 70736 Fellbach
https://www.facebook.com/Katas.Ellie
Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Die Zeit dehnt sich. Draußen vor den Fenstern zieht ein Sturm auf. Es ist eine schwülwarme Sommernacht, richtig drückend. Die Vorhänge vor dem Fenster, das einen Spalt weit offensteht, blähen sich im Wind. Es blitzt wieder, und auf einmal merke ich, ich bin nicht mehr allein. Da steht jemand im Zimmer, neben der Tür. Ich richte mich auf. Wieder stolpert mein Herz.
Ich will seinen Namen rufen, bringe aber keinen Laut heraus. Die Gestalt kommt näher, tritt ans Bett heran. Er ist es, aber irgendwie auch nicht. Ich schaue und schaue und schaue, in dieses Gesicht, das so unversehrt und gutaussehend ist, mit einem breiten Lächeln darin. Er streckt die Hand in meine Richtung aus.
Komm mit mir, Liebste. Es wird Zeit.
Es flüstert durch meinen Kopf, und ich kann gar nicht anders. Ich nehme seine Hand in meine und lasse mein altes Leben, alle Wunden und Narben hinter mir.
In der warmen Frühlingsmorgensonne, die durch die hohen Bogenfenster hereinscheint, sitze ich am Küchentresen und schaue mir die neuesten Detailpläne für den Square an. So haben wir unser Areal genannt. Den Square. Weil es so quadratisch ist und alles heißen kann, von Platz zu einem Ort, wo man lebt, sich trifft. Das soll es einmal werden, und die Pläne sind weit gediehen.
Als ich in London bei Jake eingezogen bin, war natürlich erst einmal unser neues Heim von Vorrang. Die dazugehörigen Handwerker habe ich noch im Frühstadium der Schwangerschaft organisiert und mit ihnen unser neues Zuhause geplant und realisiert. Vorbei der zugige, kalte Winter, wo Jake uns nebenan bei MA einquartiert hat, weil es so gefroren hat. Auch vorbei dieser riesige leere Raum, diese Dr. Jake Höhle. Es ist ein warmes, gut isoliertes und vor allem freundlich helles Zuhause geworden. Die Dachterrasse, die wir über den Winter natürlich noch nicht bepflanzen und nutzen konnten, wird als nächstes drankommen. Ich wünsche mir schöne Loungemöbel, ein Sonnendach, Jake sich Hochbeete für Küchenkräuter und Gemüse. Mit jedem Detail wird diese alte Halle mehr zu unserem Heim.
Wir haben nach einer kurzen Verlobungszeit sehr schnell geheiratet, in aller Stille, nur im Kreis unserer Freunde. Natürlich hat die Presse irgendwann erfahren, dass Dr. Jake eine Verlobte hat. So verschwiegen konnten wir gar nicht sein, irgendwer redet immer. Ein Artikel von unserem Journalistenfreund Mike hat die wildesten Spekulationen ausgeräumt, doch uns war klar, würden wir die Hochzeit ankündigen, dann wäre uns ein Medienspektakel erster Güte sicher. Weshalb wir, ganz unkompliziert, all unsere Lieben zu einer kleinen Voreinweihungsparty eingeladen haben, als die Pläne für die Halle fertig waren. Heimlich haben wir MAs Vater, Pfarrer Wilkens, mit ins Boot geholt, der uns dann im Beisein aller, die uns etwas bedeuten, getraut hat. Auch wenn Lady Vi, wie auch ich sie mittlerweile nennen darf, mit uns geschimpft hat, wie wir das nur tun könnten, so ganz ohne Ehevertrag, und uns gleich ihren Anwalt auf den Hals gehetzt hat. Die eine oder andere Träne hat sie dennoch vergossen dabei.
Ich hatte ja so die leise Befürchtung, dass wir hier, in unserem Heim, permanent von irgendwelchen Pressevertretern belagert werden würden. Das jedoch kommt nur sehr, sehr selten vor, und dies liegt auch an dem Viertel, in dem wir wohnen. Sie trauen sich nicht so recht hierher. Eigentlich keine gute Umgebung für eine Frau, schon gar nicht für eine Lady, wie Jake manchmal unkt. Aber er weiß, das schützt mich auch vor derartigen Zudringlichkeiten, denn mit Ivan und seinen Männern, aber vor allem mit seinen Frauen stehe ich mittlerweile auf gutem Fuße. Ich habe sie einfach besucht am Anfang, ganz spontan, auch wenn Jake hinterher die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hat und ausgerastet ist und MA mit ihm. Ich möchte einfach nicht eingesperrt sein, möchte mich frei bewegen können.
Seitdem haben alle in diesem Viertel, die zu Ivans Kreis gehören, aber auch wirklich alle, ein Auge auf mich, was ich sehr zu schätzen weiß. Und die Frauen scheuen sich auch nicht, mich um Hilfe zu bitten, sollten sie diese wirklich einmal benötigen, Abseiten von Jakes Diensten. Wir wissen natürlich, dass wir mit dem Bau vom Square so etwas wie eine Art Gentrifizierung in diesem Viertel einleiten werden. Es werden normale Leute hierherziehen, die Obdachlosen, Junkies und Dealer werden dadurch teilweise verdrängt werden. Wir hoffen jedoch, dass wir damit dem einen oder anderen wieder in ein normales Leben zurückverhelfen können. Wir werden sehen.
Es hat allenthalben für Kopfschütteln gesorgt, dass Dr. Jake und seine Lady ausgerechnet in dieser NO GO Area wohnen wollen. Doch für uns ist es einfach ungeheuer praktisch. Die nach Fertigstellung des Umbaus frisch gegründete Stiftung hat hier ihren Sitz, in Jakes ehemaligen Behandlungsräumen im Untergeschoss. Das ist etwas, da machen wir beide keine Kompromisse. Keine Dealer, keine Obdachlosen und Junkies mehr vor unserer Tür und nachts klingelnd. Wegen mir und der Kinder. Ein Schuppen in Ivans Imperium dient seither als Ausweichquartier für die Praxis.
Seitdem treffen uns die Bauunternehmer, Behördenvertreter, Stadtplaner alle hier. Natürlich ist so eine Stiftung mit viel Bürokratie verbunden. Jake und MA sind beide berufstätig, ich mit den Planungen vollauf beschäftigt. Weshalb wir uns Unterstützung geholt haben von jemandem, der sich mit so etwas bestens auskennt. Unsere Freundin Herzogin May sitzt mit im Vorstand und noch ein paar andere Leute, die sie uns empfohlen hat, und natürlich der Anwalt von Lady Vi. Ich dagegen konzentriere mich mehr auf die praktische Umsetzung der Pläne.
Es hat die Planer und Architekten mehr als erstaunt, dass Ihre Ladyschaft, die Viscountess Liv Corringdon, darauf bestand, höchst persönlich bei den Planungen dabei zu sein. Nach dem ersten Termin haben sie sich ungläubig die Augen gerieben, als sie erfuhren, dass die ersten Entwürfe für dieses Areal von mir stammten. Nach dem zweiten Termin, da ging es bereits um konkrete Details, waren sie nur noch geplättet. Doch irgendwann, als sie sich dann endlich getraut hatten, mich zu fragen, woher ich denn mein ungeheures Fachwissen nehme, da haben wir angefangen, wirklich zusammenzuarbeiten. Ich habe, zusammen mit Jake und MA, das letzte Wort, das ist ihnen klar, aber auch ich muss mich erst einmal in die Bauvorschriften, die Gesetze dieses Landes und dieser Stadt einlesen. Von daher ist es ein Geben und ein Nehmen.
Uns ist klar, so dicht am Wasser werden wir das Land erhöhen müssen. Sicherlich, das Themsesperrwerk liegt flussabwärts und schützt vor den ärgsten Nordseefluten, aber wenn Starkregen hinzukommt, können auch hier die Pegel steigen. Das gilt es zu berücksichtigen. Zum Glück liegt unsere Halle bereits auf einer Warft, das hatten Jakes Vorfahren klug geplant. Das restliche Land jedoch müssen wir anschütten und zu diesem Zweck vorher genau untersuchen lassen, nach Hinterlassenschaften aus dem zweiten Weltkrieg und der vorherigen industriellen Nutzung. Eigentlich eher ein Thema in deutschen Städten, aber auch London ist zumindest in der Anfangszeit des Krieges heftig von der Wehrmacht bombardiert worden, und diese Ecke der Stadt mit ihren Industrieanlagen hat viel davon abbekommen. Weswegen sich Jakes Großvater wohl nie so recht an dieses Grundstück herangetraut hat.
Die ersten Sondierungen sind bereits abgeschlossen, und im Sommer soll es dann wirklich losgehen. Das wird dann auch der Zeitpunkt sein, wo Manni für längere Zeit zu uns kommen wird. Er ist tatsächlich in Rente gegangen und teilt sich nun seine Zeit zwischen diversen Urlaubsreisen und den Vorbereitungen für dieses Projekt auf. Ich bin heilfroh darum, denn ich ahne, obschon er meine Räume bei Anna bezogen hat, ist er ein wenig einsam. Ihm ist langweilig in seinem Frührentnerdasein, weshalb unser Projekt für ihn genau das Richtige ist. Und Anna… die wird auch herkommen. Ob für immer… man wird sehen. Mit MA ist sie jedenfalls zusammen. Irgendwie. Manchmal hier, manchmal als Fernbeziehung. Warum das immer noch so ist, darüber schweigen sich die beiden aus, und wir fragen auch nicht. Sie streiten sich, dass die Fetzen fliegen, versöhnen sich wieder. Aber das tun Jake und ich auch, so etwas gibt es in jeder Beziehung.
Fakt ist jedoch, MA ist mir ein weiterer, wahrer Freund geworden, trotz oder gerade wegen seiner lauten Art. Ich habe ihn einfach unwahrscheinlich gerne. Was Jake sehr erleichtert hat. Er war etwas in Sorge gewesen, denn ein leichter Mensch ist MA nicht. Polterig, jähzornig, ein wenig hinterhältig und versaut auch. Ein kleines Schweinchen, und das mit Wonne. Doch das ficht mich nicht an. Er ist kein Kind von Traurigkeit, mit ihm kann man Pferde stehlen, und deshalb passt er auch so gut zu Anna. Er tut ihr gut, ihrem Selbstbewusstsein, ist einfallsreich im Bett, wie sie mir mal in einer Prosecco seligen Minute gestanden hat, und Jake und ich hoffen, dass die beiden sich endlich ein Herz fassen und ein gemeinsames Heim gründen werden.
»Sehr schön«, sage ich mit Blick auf die Pläne, zeichne sie ab und erhalte als Antwort einen wohlplatzierten Tritt in meine Magengegend. »Autsch, Kind, musste das sein?«, frage ich meine Kugel, oder eher eine Tonne ist es jetzt, tadelnd. Die beiden sind muntere Quälgeister, sie halten mich Tag und Nacht auf Trab, es sei denn, Jake ist da und legt seine Hand auf sie. Dann schlafen sie in Windeseile ein. Sie fasziniert mich immer wieder, diese Hand. Weshalb ich in den letzten Monaten meinen Schlafrhythmus mehr oder weniger an Jakes Schichtdienst angepasst habe.
Doch nun muss ich auch dazwischen immer mehr ruhen. Die Männer sind in Sorge um mich. Jake und mein Frauenarzt, sein Kumpel Dan, sind sich nicht sicher, ob ich die Kinder bis zum Ende werde austragen können. Ich bin jetzt am Ende des achten Monats, so genau wissen wir das nicht, und so langsam kommt mir der Verdacht, sie haben recht. Aber jeder Tag, den sie noch in mir sind, hilft. Jede einzelne Stunde. Weshalb ich das drückende Gewicht, die Rückenschmerzen, die ziependen Narben tapfer ertrage.
Weil die Schwangerschaft jetzt so beschwerlich wird, wollten sie mich permanent zur Überwachung in die Klinik einweisen, doch ich habe mich geweigert. Das halte ich nicht aus, getrennt von Jake, auch wenn er mich noch so oft besuchen kommt. Als Kompromiss trage ich einen Alarmknopf um den Hals, wie eine alte Frau, der sich mit Jakes Pieper verbindet und mit Dans auch. Hoffen wir, dass ich ihn nicht brauchen werde.
Bei dem Gedanken schnaube ich. In letzter Zeit traut sich Jake kaum noch aus dem Haus, so sehr ist er in Sorge um mich, er umschleicht mich regelrecht. Nötigt mich, mich hinzulegen, ständig, was ich nur mit einem Augenrollen quittiere, denn ich muss gefühlt alle fünf Minuten auf Klo. Sitzend hochzukommen ist viel einfacher als liegend. Weshalb ich meistens in einem Sessel schlafe, einem, der eine Aufstehhilfe hat. Der stammt von Lady Vi, sie hat ihn mir großzügig überlassen, dieses grottenhässliche Ding. Aber es hilft.
Als ich die Pläne fertig durchgesehen habe, rolle ich mich auf dem Hocker um den Küchentresen herum zu meinem Laptop. Meinen Arbeitsplatz habe ich vom Büro hierher verlegt, permanent, damit ich nicht mehr so weit laufen muss. Ich rufe E-Mails ab, checke die Accounts nach neuen Posts. Avas Follower Anzahl ist im Zuge der #FreeDrJake Kampagne noch gewachsen, was insbesondere Dotty sehr freut und meinen Verleger auch, denn sie liegen in den letzten Zügen mit der Simultanübersetzung für mein neues Buch. Es wird tatsächlich SPLIT heißen und in allen Ländern gleichzeitig erscheinen, in ein paar Monaten. Fast zeitgleich zur Premiere des Kinofilms meines ersten Buches. Das haben sie gut getimed, sehr gut sogar.
Jake weiß von Ava immer noch nichts. Ich habe es ihm nie gesagt. Warum, das kann ich nicht ganz ergründen. Vielleicht, weil wir von so viel anderen Neuem überrannt worden sind. Die Peerage, der Tod seines Vaters und seiner Brüder, unsere Heirat und der Umbau… unser Leben hat sich komplett verändert, und wir sind immer noch dabei, uns zu finden. Nicht unsere Herzen. Aber Gewohnheiten, die eine oder andere Macke, all das, was die Würze in einer Beziehung ist, die haben auch wir, oh ja. Haben gestritten bis aufs Messer, uns wieder versöhnt, Kompromisse gefunden. Witzig, erst darüber zu schreiben und das dann selber zu erleben. Und bald wird eine neue Macht Einzug erhalten und unsere Beziehung auf eine neue Probe stellen. Da würde das Wissen um Ava nur stören.
Am Nachmittag kommt Sybil zu mir, meine Hebamme, mittlerweile auch Freundin und Krankengymnastin. Sie bringt Harriett mit, eine junge Kinderschwester, die mir in den ersten Wochen und Monaten nach der Geburt zur Seite stehen wird. Lange haben Jake und ich mit uns gerungen, ob wir das wirklich machen sollten. Jemand Fremden permanent in unser Zuhause zu lassen, das bedeutet eine offene Flanke in unserer Festung. Dorota, die uns zweimal die Woche den Haushalt macht, ist da die Ausnahme. Sie gehört zur Familie, irgendwie.
Sybil meinte, ich würde nach der Geburt jemanden brauchen, und sie hat uns Harriett empfohlen, ein nettes, unkompliziertes Mädchen. Es ist ihre erste Anstellung, und sie ist beim Vorstellungsgespräch beinahe vor Ehrfurcht im Boden vor uns versunken. Bis MA hereingepoltert kam und irgendein phonstarkes Problem durch den Flur gebrüllt hatte. Da hat sie gemerkt, dass wir gar kein nobler Haushalt sind, sondern eine WG, eine ungewöhnliche zwar, aber dennoch eine, und seitdem ist das Eis gebrochen. Sie kommt jedes Mal mit und freut sich wahnsinnig auf die Geburt.
»Mensch, Liv, du siehst aus, als würdest du bald platzen. Die beiden sind groß, wirklich groß«, meint Sybil kopfschüttelnd nach ihrer Untersuchung. »So langsam mache auch ich mir Sorgen. Eigentlich müssten wir dich schleunigst ins Krankenhaus bringen.«
»Oh nein, nicht du auch noch!«, knurre ich erbost und genieße ihre Berührungen, massierende, erfahrende Hände.
Sybil schnaubt. »Als hätte ich es nicht geahnt! Aber ehrlich Liv, du solltest nicht mehr alleine zuhause sein. Ich habe mit der Klinik gesprochen. Sie könnten Harriett sofort freistellen, damit sie dich in den letzten Tagen unterstützt. Wie wäre das?«
Dieser Vorschlag kommt nicht zum ersten Mal. Zuckerbrot und Peitsche, denke ich gallig. »Herrje«, erwidere ich. »Also schön, wenn ihr mir nicht mehr zutraut, meine Kugel allein zu schieben… aber lasst mich vorher mit Jake sprechen, ja? Ich passe schon auf. Ist ja nur noch heute Nachmittag. Außerdem ist MA auch zuhause.« Sie schnalzt nur mit der Zunge, und ich weiß, heute Abend kann ich mir von Jake etwas anhören, dass ich nicht sofort Ja gesagt habe, denn sie wird ihm alles brühwarm berichten.
»Ich halte auf jeden Fall meine Tasche bereit«, sagt Harriett und lächelt mir zu. Sie ist ein Mädchen mit diesen typischen frischen rotbäckigen Gesichtern und rotblonden Haaren. Weshalb sie mir auch gleich sympathisch war.
»Tu das, Harriett. Ich rede heute Abend mit meinem Mann darüber und lasse dich unsere Entscheidung wissen. Ich merke es ja selber, komme kaum noch hoch«, seufze ich und stöhne erleichtert, als Sybil einen verspannten Muskel lockert.
Kaum bin ich wieder allein bei den Plänen am Küchentresen, rumst es an der Tür. Ein zweiter Rumms, und der Türgriff wird runtergeschlagen, dann noch einer, als der Rollstuhl die Tür aufdrückt, die dann mit einem vierten, der jedoch dank Polster gedämpft, gegen die Wand knallt. Gleich darauf rollt MA herein, auf dem Schoß sein Tablet. »So eine verfluchte Scheiße! Sieh dir das an, Liv!«, dröhnt er.
Ich bleibe abwartend auf meiner eigenen rollenden Gehhilfe sitzen, denn auf die lauten Geräusche erhalte ich prompt die Antwort von innen, und nicht nur eine. »Was ist passiert?«
»Hier!« MA sprüht geradezu Feuer. »Die werden Alex Saunders vorzeitig entlassen. Hat ihnen etwas vorgehheult wegen angegriffener Gesundheit und so, dieser Mistsack!«
»Oh nein.« Ich überfliege kurz die Schlagzeile. Nicht die Times, die Blöße hätte sich diese Zeitung nicht gegeben, sondern eines der Schmierenblätter. »Naja, das ist nicht zu ändern, er wäre ja eh bald rausgekommen. Auf jeden Fall kann er sich jetzt einen neuen Job suchen. Den will doch keiner mehr.«
»Wetten, dass Mike seinem Bruderherz erst einmal unter die Arme greift? Geschwisterliebe kann soooo schön sein«, giftet MA und rollt zum Kühlschrank, um sich von dort etwas zu trinken zu holen. Er nimmt einen Schluck aus einer Colaflasche – zuckerfrei – und schaut mich an. »Die Schwester hat gesagt, ich soll dich nicht alleine lassen, bis Jake kommt. Geht bald los, was?«
Ich kann nur die Schultern heben. »Keine Ahnung. Es fühlt sich alles ganz normal an. Schwer. Wie ein Sack Steine. Stell dir vor, du würdest dir einen vollen Kasten Bier vorne vorschnallen. Irgendwie so.«
Er lacht dröhnend. »Nee, lieber nicht. Was ist, Lust auf ein Match?« Er rollt um den Küchenblock herum hin zu unserer Sitzgruppe, löst die Fußstützen und eine Armstütze und stemmt sich mit beiden Armen auf das Sofa.
»Ach nein, lass mal. Ich bin müde. Sybil hat mich ganz schön durchgeknetet. Ich glaube, ich schlafe ein wenig.«
Mit meinem Rollator Schrägstrich Bürohocker begebe ich mich hin zu Lady Vis Monstersessel, einem richtigen Omasessel mit Plüsch-Blümchenbezug, Quasten und allem Drum und Dran. In Rosé. Igitt! Ich habe erst einmal eine Patchworkdecke besorgt, die verdeckt die gröbste Scheußlichkeit. Doch so kann ich mich dank der Aufstehhilfe waagerecht vom Bürohocker darauf rüberschieben, ohne große Anstrengung. Mit Hilfe der Fernbedienung lehne ich mich zurück, bis ich die wenigsten Schmerzen im Rücken verspüre. MA beobachtet mich ganz genau, doch als ich still liege, fläzt er sich zufrieden grunzend aufs Sofa und schaltet den Fernseher ein. Begleitet von dem Gelächter irgendeiner schwachsinnigen Talkshow döse ich weg und schlafe schließlich richtig tief und fest ein.
Es klingelt an der Tür. Wieder und wieder. Warum macht denn keiner auf? Wo ist Jake? Wo ist MA? Mühsam stemme ich mich hoch, komme auf die Füße. Mir den Rücken stützend, watschele ich in Richtung Eingang. Wieder klingelt derjenige, ungeduldig. Wer ist das nur? Ich greife zum Türgriff, doch plötzlich ist das ein anderer. Es ist die Tür unserer Wohnung in Rotterdam, und sie sieht so komisch aus… ich öffne sie. Ein Paketbote steht davor, das Gesicht abgewandt. Kann ich Ihnen helfen, will ich fragen, doch da fährt er herum und packt mich an der Kehle.
»Hallo Liv. Jetzt bekomme ich endlich mein Interview von dir«, sagt Alex Saunders und drückt zu.
Mit einem Schrei wache ich auf, die Hand an der Kehle, wo ich immer noch seinen Griff spüre. Ich höre einen erschrockenen Ruf und sehe, wie Jake in der Tür seine Arzttasche fallen lässt und zu mir rennt.
»Liv, was ist? Haben die Wehen eingesetzt?« Besorgt nimmt er mich in Augenschein, schiebt seine Hand unter meine weite Bluse, fühlt nach.
Doch ich schüttele den Kopf, schwer atmend. »Nein. Es war nur ein Traum. Ein Albtraum. Ich habe von Alex Saunders geträumt und von Julian. Oh Jake!« Schluchzend schlage ich die Hände vor das Gesicht.
»Mensch, MA, musste das sein?!«, grollt Jake erbost und schließt mich tröstend in die Arme, in beide, die Linke hilft. »Sie soll sich doch nicht aufregen.«
»Sorry, Alter«, kommt es von MA mampfend, eine Tüte Chips in Arbeit.
»Ist schon gut«, flüstere ich und rücke Jake ein Stück von mir ab, denn diese Haltung tut meinem Rücken weh. »Es hat wohl unangenehme Erinnerungen zurückgebracht.«
Nur langsam beruhigt sich Jake wieder und auch erst, als er mich noch einmal untersucht hat. »Dan kommt nachher auf ein Bier hierher und schaut dich noch einmal an. Nein, keine Widerrede«, sagt er streng. »Ich habe auch Harriett getroffen. Sie wird morgen hier einziehen und bei dir bleiben. Es macht mich ganz unruhig zu wissen, dass du alleine bist. Das wird ab sofort anders, klar?« Nun kennt er kein Pardon mehr. »Ruh dich aus. Ich mache uns was zu essen. Und hör auf, unsere Chipsvorräte zu killen, MA! Du sollst das nicht mehr, hat dein Arzt gesagt.« Also er selber.
»Jaja«, sagt MA und stemmt sich wieder in seinen Rollstuhl. »Kann ich jetzt gehen? Ich muss mit meiner holden Dame poetische Sätze ins Ohr flöhöööten.«
»Ja, danke, MA«, sage ich und lächele ihm zu, was er mit einem Augenrollen quittiert und dann gegen die Tür polternd von dannen rollt. Kaum ist die Tür zu, schnaube ich. »Als nächstes wird ein Türöffner eingebaut, und zwar schleunigst. Sonst weckt er permanent die Kinder auf. Hätten wir längst machen sollen.«
»Wie so vieles«, meint Jake lakonisch und reibt sich müde den Nacken. »Und? Worauf haben meine kleinen Vielfraße heute Hunger? Sagt es eurem Papa, nun macht schon.« Und er legt sein Ohr an meinen Bauch. »Ah… ja? Na gut.« Er schaut schelmisch grinsend zu mir auf.
Ich ziehe ihn am Ohr. »Du bist ein Quatschkopf, Jake! Wir haben noch Kartoffelpüree von gestern, und Dorota hat uns Eier, Bohnen und Speck mitgebracht.« Er besteht darauf, dass jeden Tag gekocht wird, und da ich das nicht mehr kann, muss er es halt machen, auch wenn sein Dienst noch so anstrengend ist. Damit ich etwas Richtiges zu essen bekomme und kein Junkfood. Es hilft ihm, seine Nervosität abzubauen, etwas für mich tun zu können.
Dan, der kurz nach dem Essen vorbeikommt, gibt sich locker fröhlich, doch seine Besorgnis kann er nicht ganz verbergen. »Ich würde dich gerne mehr überwachen«, sagt er und checkt nochmal die Blutwerte. Harriett hatte mir vorhin Blut abgenommen und ihm mitgebracht. »Alles im grünen Bereich, immer noch. Eine Bilderbuchschwangerschaft. Nur, sie sind zu groß für dich.«
Nicht schon wieder! »Hört endlich auf, ein zartes Pflänzchen in mir zu sehen, das bin ich nicht!«, grolle ich unterdrückt, denn laute Worte regen die Kinder auf.
»Siehst du«, sagt Jake und rollt die Augen, »habe ich dir doch gleich gesagt.«
»Dennoch, lange schaue ich mir das nicht mehr mit an«, sagt Dan und packt seine Sachen zusammen. »Harriett hin oder her, du gehörst bald ins Krankenhaus. Also gib dir endlich einen Ruck, damit Jake wieder ruhig schlafen kann, ja?«
Er weiß ganz genau, welche Saite er bei mir anschlagen muss, denn ich sehe ja selbst, dass Jake ziemlich übernächtigt wirkt. Wegen mir. Später in der Nacht liegt er bei mir, seine Hand auf meinem Bauch, die Kinder beruhigend und einschlafen lassend.
»Ich will euch nicht verlieren«, flüstert er, kuschelt sich an mich und ist binnen Sekunden weg, während ich schlaflos wach liege, immer noch diese leise Angst im Hintergrund, ausgelöst durch meinen Traum. Warum kommt der ausgerechnet jetzt?
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Irgendwann muss ich wohl doch eingeschlafen sein, denn ich werde am Morgen durch Jakes Pager wieder aufgeweckt. »Mist!« Er springt mit einem Fluch auf, guckt auf die Anzeige. »Großeinsatz, höchste Stufe. Sie rufen alle zum Dienst.« Eigentlich hätte Jake heute Spätschicht. Daraus wird nun nichts mehr. Er zieht sich hastig an, eine Katzenwäsche im Bad, dann küsst er mich auch schon und ist fort. Und natürlich sind nun auch die Kinder wach und bedenken mich mit allerlei Tritten und Boxern, sodass ich nicht wieder einschlafen kann. Also hieve ich mich aus dem Bett und watschele ins angrenzende Bad. Das ein oder andere dumpfe Rumsen von nebenan sagt mir, auch MA ist wach – Jake muss ihn geweckt haben - er wird vermutlich gleich bei mir aufschlagen, und richtig, schon kommt er durch die Tür. »Breakfast, my dear!«, ruft er und gähnt.
Harrietts Ankunft erlöst MA bald, der sich gleich wieder ins Bett verkrümelt. Er hat unregelmäßige Arbeitszeiten, um es vorsichtig auszudrücken, da er die meiste Zeit von zuhause arbeitet und nur für gelegentliche Termine in die verschiedenen Kliniken fährt. So kann er sich ruhigen Gewissens wieder aufs Ohr hauen.
Ich zeige Harriett ihr Zimmer, ganz neu eingerichtet und noch nie benutzt. »Oh, sehr schön, ein eigenes Bad und sogar mit Balkon!«, freut sie sich und öffnet die bodentiefen Türen.
»Ja, der ist aber noch nicht fertig. Damit fangen wir im Frühjahr an, wenn es wärmer wird. Jedes Zimmer auf dieser Seite hat einen Ausgang darauf. Jake und ich schlafen nebenan, ich komme einfach nicht mehr die Treppen hoch. Nun denn, pack erst einmal aus und richte dich in Ruhe ein.«
Harrietts Unsicherheit ist gut zu spüren. Doch später weiß ich ihr diese zu nehmen. Wir fangen einfach an zu erzählen, von ihrer Familie, alles alteingesessene Londoner, mehr Cockney geht gar nicht. Noch hüte ich mich, allzu viel von mir preiszugeben, und das hat sie auch gar nicht erwartet. Aber ich zeige ihr die Pläne für den Square, wo ich gestern Abend noch ein Update bekomme habe und diese nun mit dem Plotter ausdrucke. Auf Papier ist mir das allemal lieber als am Bildschirm. Sie staunt, als sie die Ansichten sieht.
»Wow, das ist toll! Und dort am Wasser, da gibt es ja sogar einen Park. Oh man, die Leute werden euch die Bude einrennen! Viel Geld könnt ihr für solche Wohnungen nehmen, sehr viel Geld«, sagt sie, und sie klingt neidisch.
»Was, viel Geld? Nein, wie kommst du darauf?«, frage ich verwundert, und nach einigem Nachfragen geht mir auf, sie weiß gar nichts von unserem Projekt, von der Stiftung. Und anscheinend die Leute in ihrer Umgebung auch nicht. Das wundert mich, denn die Presseberichterstattungen waren doch sehr umfangreich. Aber anscheinend in den falschen Kanälen, wie ich gerade erkenne. Das sollten wir ändern.
Da ist es mir doch eine Freude, sie aufzuklären, und sie gerät völlig aus dem Häuschen, als sie davon hört. »Für Leute wie uns? Oh, das ist…«
Hinten rumst es an der Tür. MA stößt sie auf. »Liv, eben kam ein Anruf, ich muss ins Krankenhaus, da haben sie anscheinend Probleme!«, brüllt er den Gang hinunter. Harriett fällt fast vom Stuhl vor Schreck. »Kommt ihr zwei klar soweit?«
»Ja, fahr ruhig!«, gebe ich zurück und tätschele beruhigend Harrietts Hand.
»Dauert auch nicht lange«, ruft er über die Schulter, und die Tür knallt wieder zu.
»Daran wirst du dich gewöhnen müssen«, sage ich leise zu Harriett. »Die nächste Anschaffung ist ein Türöffner. Ganz sicher.«
»Puh, der ist echt laut. Aber ganz nett«, meint sie lächelnd, denn sie hat MA ja schon kennengelernt.
»Ja, und ein Schlawiner, also pass auf, dass er dich nicht in sein Bett lockt.« Denn mit MAs Enthaltsamkeit, Anna hin oder her, ist es nicht weit gediehen, das habe auch ich schon mitbekommen. Solange sie nicht da ist…
Harriett wird rot und kichert, und spätestens jetzt legt sie ihre Verlegenheit ab. Müde recke ich mich. »Ich glaube, ich würde mich gerne noch ein wenig hinlegen, ja? Nimm dir einfach ein Buch oder mach den Fernseher an, das stört mich nicht. Ganz wie du magst.«
»Ist gut. Warte, ich helfe dir. Auf den Sessel da, ja?« Schon bald liege ich warm eingepackt in einer Decke und schlummere weg.
Es klingelt an der Tür, einmal, zweimal und das dritte Mal länger. Oh nein, nicht schon wieder dieser Traum, denke ich im Halbschlaf und versuche, ihn abzustreifen wie die Decke, die Harriett arg fest um mich herum gestopft hat. Doch dann höre ich leise Schritte zur Tür gehen, sie öffnet. Es klingelt wieder.
»Harriett, guck erst durch die Kamera!«, will ich rufen, doch es verkommt zu einem schlaftrunkenen Flüstern. Ich schrecke hoch, streife hastig die Decke ab. Das weckt auch die Kinder, die nun in mir zucken und treten. »Schscht, nicht«, flüstere ich und rufe lauter: »Harriett?« Vom Sessel aus sehe ich, die Tür ist nur angelehnt. Ich greife nach der Fernbedienung, fahre die Aufstehhilfe hoch. Hieve mich rüber auf den Drehhocker. »Harriett!«
Von unten höre ich ein leises Geräusch, ein Quietschen. Oder war es ein Schrei? Jetzt bin ich wirklich beunruhigt. Ich rolle mich auf die Haustür zu, doch da höre ich Schritte die Treppe hochkommen. Schwere Schritte. Das ist nicht Harriett. Das ist jemand anderes. In einem Bruchteil von einer Sekunde versuche ich einzuschätzen, ob ich die Tür noch vor dem Fremden erreichen, sie zuschlagen kann. Nein, keine Chance, ich bin zu langsam. Wohin… ich brauche etwas… im letzten Moment rolle ich mich zur Seite, zu unserem Kamin. Da hängt an Haken das Kaminbesteck. Als sich eine Hand durch die Tür schiebt, stemme ich mich hoch und lehne mich davor an die Wand. Mein Herz schlägt wie verrückt, und die Kinder, die sind auf einmal ganz starr.
Die Tür schwingt auf, ein Mann steht darin. Es ist ein mir nur allzu bekanntes Gesicht mit einer Kameratasche über der Schulter, und ich will gerade erleichtert die Luft ausstoßen, da macht er die ersten zwei Schritte durch die Tür.
Er hinkt nicht.
Mike hatte sich nach seinem ersten Bänderriss sehr bald einen zweiten zugezogen, in der Hektik, zu einem Interviewtermin zu kommen. Damit hat er bis heute zu tun, trägt immer noch die Schiene. Dieser Mann hier jedoch nicht. Er schaut auf, sieht mich – und drückt mit einem breiten Grinsen die Tür zu.
»Alex Saunders.« Ich kann es nur wispern. Meine Hand legt sich zwischen meine Brüste, erstastet den Notfallknopf. Drückt ihn dreimal, das Zeichen, dass ich in Not bin. So haben es Jake und ich vereinbart. Einmal – die Wehen haben angefangen. Zweimal – sie sind sehr stark. Und dreimal – höchste Eile geboten. Oh bitte, kommt schnell!, flehe ich innerlich.
Alex Grinsen wird bereiter. »Hallo Liv. Kluges Mädchen. Jetzt bekomme ich ja doch noch mein Interview mit dir«, gluckst er und kommt langsam näher. Er zückt sein Handy, wählt eine Nummer. »Ja, ich bin bei ihr. Nein, sie war nicht allein, aber kein Problem. Die andere wird so schnell nicht wieder aufstehen.«
Oh Gott, Harriett, denke ich erschrocken und taste mit meiner linken Hand unauffällig an der Wand hinter mir entlang, bis ich den Griff des Schürhakens zwischen den Fingern spüre. Auf dem Sessel höre ich mein Handy brummen, ganz leise unter der Decke. Ich hatte es stumm geschaltet, weil ich schlafen wollte. Oh, hoffentlich hört er das nicht!
Alex geht zum Küchentresen, stellt seine Tasche darauf ab. »Warte, ich schalte das Video an und dich auf Lautsprecher. Das wird eine Überraschung. Hey Liv, rate mal, wer dich gleich begrüßen wird!«
Schwindel überkommt mich. »Julian.« Ich bringe nur noch ein heiseres Flüstern heraus.
Das überrascht Alex. Er kneift die Augen zusammen. »Woher weißt du das?« Hastig sieht er sich um, doch in der Wohnung ist niemand.
»Ich habe von euch beiden geträumt gestern«, sage ich und richte mich auf. In mir ist die absolute Gewissheit, dass dies nicht gut für mich ausgehen wird. »Als ich dich gesehen habe, da wusste ich es einfach. Na los, schalte ihn auf Lautsprecher, mach das Video an, und dann seht mir ins Gesicht, ihr kranken Arschlöcher!«, speie ich aus und umfasse den Griff des Schürhakens fest mit der Linken, immer noch hinter meinem Rücken verborgen.
»Oooh, das ist meine Liv, wie sie leibt und lebt!«, kommt Julians Stimme aus dem Lautsprecher. Sehen kann ich ihn nicht, und seine Stimme klingt etwas blechern, offenbar ist das Netz schlecht dort, wo er ist, aber sie reicht dennoch aus, um mir die Knie weich werden zu lassen. Übelkeit steigt in mir auf und die Angst, die ich schon lange geglaubt überwunden zu haben. Mit aller Macht dränge ich sie zurück. Es gilt zwei Leben zu schützen. Ich bin nicht wichtig. Aber die Kinder. Für sie würde ich alles tun.
»Guck sie dir an«, sagt Alex, lehnt das Handy gegen eine Schale. »Wie schön sie ist, so voller Zorn. Doch das wird nicht so bleiben, nein, nein.« Jetzt kichert er wie der Wahnsinnige, der er eigentlich ist. Schon damals gewesen ist, wie ich erkenne.
»Ich sehe fast nichts«, sagt Julian hörbar enttäuscht, »nur verzerrte Bilder. Meine Datenrate ist zu schlecht für eine Aufnahme. Verdammter Keller!« Er seufzt. »Schade, da kann man nichts machen. Also wirst du für mich übernehmen müssen, mein Freund.«
Alex grunzt nur. Er öffnet seine Tasche, holt ein kleines Stativ heraus und eine richtige Videokamera, baut sie auf.
Zeit gewinnen, Liv, denke ich hektisch und drücke unauffällig den Notfallknopf noch einmal dreimal. Halte sie beschäftigt. »Was hat euch zwei wohl zusammengebracht, über zwei Länder hinweg und im Gefängnis? Krankhafte Geltungssucht? Insiderartikel aus dem Knast heraus?«
»Haha, da liegst du gar nicht so falsch«, sagt Julian.
Alex hat die Kamera aufgebaut und eingeschaltet. Wieder öffnet er seine Tasche, holt verschiedene andere Sachen heraus. Stricke. Klebeband. Und ein langes scharfes Messer. Mir wird ganz anders, als ich das sehe. »Ja, es ist schon ein angenehmes Leben, so als inhaftierter Journalist. Ich habe angefangen, einen Artikel über Massenmörder zu schreiben. Und stell dir vor, Julian hat sich für mich als Goldgrube erwiesen. Er wollte dich unbedingt noch einmal sehen. Und es mit mir zu Ende bringen. Reicht deine Datenrate, mein Freund, um wenigstens etwas zu sehen? Ich habe die Digicam an, die wird uns 1a Material liefern!«
»Oh ja.« Ich kenne diesen Ton. So hat er immer mit mir gesprochen, bevor er angefangen hat, mir wehzutun. Wie kann der im Gefängnis an ein Handy kommen?!?, frage ich mich entsetzt.
Alex nimmt nun die Stricke und das Messer. »Wir beide, wir werden uns jetzt hinlegen. Und als allererstes werde ich dich von diesen monströsen Missgeburten, die dir dein famoser Ehegatte beschert hat, befreien. Vielleicht überlebst du das. Vielleicht auch nicht. Es ist auch egal. Denn so oder so habe ich die Story des Jahrzehnts. Massenmörder steuert Ermordung aus dem Gefängnis. Justizversagen, oooch, und eine junge Viscountess und ihre ungeborenen Bälger sind die Opfer. Die ganze tragische, tragische Geschichte. Und niemand, wirklich niemand, wird auf mich kommen. Und weißt du auch, warum?« Jetzt lacht er irre auf. Und kommt näher. »Weil ich noch immer im Gefängnis sitze. Oder besser gesagt, mein wertes Bruderherz. Der vollkommen wahnsinnig geworden ist. Ausgetickt. Mit der richtigen Dosis geht alles, darüber hat er ja selber geschrieben, der Gute! Die sperren ihn in die Psychiatrie. Julian hat mir gesagt, wie ich das anstellen muss. Er kennt sich da gut aus, sogar sehr gut!« Über das Telefon kommt Gelächter. Es klingt, als würde sich Julian förmlich kringeln vor Lachen. Hinter mir summt mein Handy wieder, doch es hört auf, als die Mailbox rangeht.
Alex kommt noch näher heran. Immer noch zu weit weg für mich, aber ich wappne mich. »Streck die Arme nach vorn, Herzchen. Nun mach schon! Du kannst mir eh nicht entkommen, und das weiß du auch. Ich will dich nackt sehen. Und blutend. Mit all deinen Narben und dem, was ich dir noch zufügen werde.« Jetzt glitzern seine Augen voller boshafter Gier. Ich sehe, wie es sich in seinem Schritt wölbt, wie er steif wird, und muss die Übelkeit herunterschlucken, die mir in der Kehle aufsteigt.
»Niemals! Du wirst mich schon holen müssen, du Ungeheuer! Und hör auf zu lachen, Julian, du hörst dich an wie eine schwule Schweinebacke!«, speie ich in seine Richtung hinterher.
Augenblicklich verstummt das Gelächter auf dem Handy. »Mach schon!«, knurrt Julian. »Pack sie, und dann bring es zu Ende! Aber lass sie hübsch leiden, ja?«
Alex macht einen großen Schritt auf mich zu, hebt das Messer. Offener Arm, offene Flanke, hat mein Trainer immer gesagt. Ich handele blitzschnell, schmettere den Schürhaken auf ihn, treffe ihn auf dem Oberarm. Es knirscht ganz fürchterlich, er kreischt auf, das Messer fällt ihm aus der Hand, doch er ist schnell, holt aus und schlägt mir mit voller Wucht mit dem anderen Handrücken ins Gesicht. Es fühlt sich an wie ein Hammerschlag, es holt mich von den Füßen, ich stürze und pralle auf dem Boden auf. Etwas reißt in mir, heftiger Schmerz durchzuckt mich, dass mir ganz schwarz vor Augen wird, doch da sehe ich Alex, wie er erneut das Messer greift mit der anderen Hand und sich wieder auf mich stürzen will.
Nein! Er darf nicht an meine Kinder kommen! Ich packe den Schürhaken, Schmerz im Handgelenk, zerre ihn unter mir hervor, und im letzten Moment, bevor Alex bei mir ist, habe ich ihn frei und schlage zu, auf seinen Kopf. Es gibt ein dumpfes, unangenehmes Knirschen, er bricht zusammen, prallt auf mich, wieder Schmerz. Er beginnt zu schreien, dann verkommt es zu einem Gurgeln, sein ganzer Körper zittert. Hastig stemme ich ihn weg, ich will ihn nicht auf mir haben. Er rollt herum, und jetzt sehe ich die Spitze vom Schürhaken in seiner Schläfe stecken. Er verdreht die Augen, es ist nur noch das Weiße darin zu sehen. Mühsam krieche ich zurück, ich will weg, hinter die Ecke des Tresens, wo das Handy mich nicht erfassen kann, doch mir fehlt die Kraft.
»Liv… Lihiiiiv…« säuselt Julians Stimme über das Handy, »warum läufst du mir immer davon, Kleines, he? Du bereitest mir Freude, solche Freude. Du ahnst gar nicht, wie sehr. Das macht mich an, so an! Lass ihn da verrecken, doch du, du wirst nun die Beine breit machen für mich und deine Bälger hervorbringen, und ich werde das ins Netz stellen, auf alle Plattformen, und ein Vermögen damit verdienen, eines, das mich von hier befreit. Es wird ein wenig verzerrt sein, aber weißt du was, so wirkt es nur authentischer. Und dann werde ich dich holen kommen, endgültig, und deine Freundin auch. Wie findest du das? Ich sehe dich. Es läuft bereits aus dir heraus, merkst du es?« Jetzt lacht er wirklich, und ich spüre, wie es feucht zwischen meinen Beinen wird, als das Fruchtwasser abgeht, die zweite Fruchtblase, denn die erste ist bereits fort, wie ich erschrocken entdecke. »Soll ich die Aufnahme starten? Na? Nahaaa?«
»Nein…«, flüstere ich, und dann nochmal lauter: »Nein!«
Woher ich die Kraft nehme, ich weiß es nicht. Ich rolle mich herum, von Alex fort. Komme auf alle Viere, krieche zum Küchenblock. Ziehe mich dort hoch, mit letzter Kraft. Und schaue ins Handy. »Du wirst mich nie wieder missbrauchen! Nie wieder!«, fauche ich, packe das Handy und schmettere es auf den Tresen. Julians Gelächter verstummt, es wird still. Ich will nach der Videokamera greifen, sie ebenfalls abschalten, doch da jagt eine neue Schmerzwelle durch mich, wie ich so aufrecht dastehe, etwas sackt in mir nach unten. Ich spüre, wie ich reiße, wie etwas mit Macht aus mir herausdrängt, eine Macht so alt wie das Leben.
»Oh Gott!«, keuche ich und versuche, mich am Tresen festzuhalten, doch ich schaffe es nicht, ich breche auf die Knie. Wieder drücke ich auf den Notrufknopf, einmal, zweimal, dreimal, viermal und immer und immer wieder, doch es ist still, niemand kommt. Da beginnt mir zu schwanen, dass ich allein sein werde, ganz allein. Dass niemand kommen wird.
Die Kinder, du musst sie retten! Jakes Kinder! Denk nach, Liv, denk nach! Was hat er gesagt? Heißes Wasser, eine Schere, Handtücher und Klemmen. Alles steril. Jakes Vorbereitung war allumfassend und detailliert. Und sehr, sehr grausam. Die Erfahrung aus vielen, vielen Jahren, in denen er Kindern im Krankenwagen, gar auf der Straße auf die Welt geholfen hat. Dieses Wissen werde ich jetzt brauchen.
Mühsam ziehe ich mich auf Knien um den Küchentresen herum, eine neue Wehe durchfährt mich, wieder drängt es in mir. Keine Chance, den Wasserkocher zu erreichen. Ich ziehe Schubladen auf, reiße Handtücher heraus. Eine Schere aus der Besteckschublade. Gefrierbeutelklemmen, die müssen reichen. Dann lande ich auch schon auf dem Boden, eine Schmerzwelle, so stark, dass mir schwarz vor Augen wird, doch nur kurz. Ich drehe mich auf den Rücken, schneide mir die Unterhose herunter, spreize die Beine. Und fange an zu pressen. Es kommt mit Macht, ich reiße weiter auf, und dann glitscht etwas zwischen meine Beine, es ist warm. Ich will danach fassen, aber mein Bauch ist im Weg, daher drehe ich mich auf die Seite, krümme mich, es tut weh, so weh. Ich ertaste etwas mit der Hand, ein Köpfchen, einen Arm, einen warmen Körper. Lebendig. Die Arme zappeln, und dann höre ich einen zaghaften Schrei, ein leises Wimmern. Ich fasse zu, ziehe es zu mir, auf mich und schaue in ein verschmiertes, runzeliges, denkbar erschrocken aussehendes Gesichtchen, das sich nun empört verzieht und richtig losschreit.
»Pst, alles ist gut«, keuche ich und will gleichzeitig lachen und schluchzen, doch dazu lasse ich mir keine Zeit. Mit zitternden Fingern taste ich nach der Klemme, drücke die Nabelschnur ab, schneide sie durch. Decke dieses winzig kleine Wesen mit den Handtüchern zu, damit es warm bleibt. Das Köpfchen sinkt nach unten, auf meine Brust. Es schnüffelt, sucht und findet, fängt an zu saugen. Ich liege da und spüre diese Wärme, das Atmen, die Berührung.
»Du lebst. Das ist schön, so schön«, schluchze ich und schreie im nächsten Moment auf, denn eine neue Schmerzwelle erfasst mich, schlimmer noch als die erste. Etwas dreht sich in mir, jetzt kommt das zweite, doch diesmal merke ich, das ist nicht gut, gar nicht gut. Es wird feucht zwischen meinen Beinen, ich sehe Blut. Es wird immer mehr. Nein, denke ich, nicht mein Kind. Egal, was mit mir ist, das muss leben, es muss einfach! Also nehme ich die restliche verbleibende Kraft zusammen und drücke, so stark ich kann. Und wieder gleitet es fast wie von selber aus mir heraus, sein Geschwisterchen hat ihm ja den Weg bereitet. Es tut nicht einmal mehr allzu weh, weil etwas anderes in mir viel größere Schmerzwellen aussendet, etwas in meinem Bauch. Oh Gott, was ist das?, denke ich zitternd und ziehe mit letzter Kraft auch mein zweites Kind zu mir, binde es ab, wickele es ein. Mein Herz schlägt immer schneller, pocht laut, es dröhnt mir in den Ohren.
Ich höre ein Geräusch durch das Dröhnen, erst undeutlich, doch dann kommt es zu mir durch. Sirenen. Jake kommt, er wird gleich da sein, mache ich mir Mut, doch ich merke, mir wird schwummerig, mein Blick verschwimmt. Zu meinen Füßen breitet sich ein dunkelroter See aus, er wird größer und größer. Da ist etwas kaputt, denke ich noch, dann verliere ich das Bewusstsein.
Hände sind auf mir, viele, sehr viele, Stimmen schreien auf mich ein. Ich will wach werden, schaffe es aber nicht richtig. »Nein, Liv, nein!!! Bleib bei mir! Hörst du? Nicht gehen, bleib bei mir!« Das ist Jake, ganz dicht an meinem Ohr. Mein lieber Jake. Ich will lächeln, ihn an mich ziehen, aber ich bin so schwach, ich kann mich nicht mehr bewegen. »Nein, Liv, nicht… bitte nicht…bitte…« höre ich nur noch seine sich entfernende Stimme, dann ist es still.
Ich beginne zu schweben. Schön ist es hier, ganz ruhig. Keine Gefahr, keine Schmerzen. Ich ruhe mich aus, will hier verweilen. Für immer. Doch da ist etwas, das zerrt an mir. Es ist stark, ein Band, das mich an jemanden bindet, an etwas, das tief mit mir verwachsen ist. An mein Herz. Es ist warm, wie ein Strom. Es gehört zu jemandem. Ich merke, ich kann nicht in dieser Stille bleiben, denn dieser Jemand leidet, er hat furchtbare Angst. Und er trauert. Nein, das darf ich nicht tun. Das wäre feige, und egoistisch zudem. Ich muss zurück, auch wenn es schwer wird, dort die Schmerzen und die Angst warten, diese furchtbare Angst. Seine, aber auch meine. Nur dass meine unwichtig ist. Ich muss es für ihn tun.
Ein leises Piepsen weckt mich langsam auf. Es ist langsam und stetig, und es kommt in einem Rhythmus, den ich auch in mir selber spüre. Das ist mein Herz, erkennt mein müder Verstand. Ich bin im Krankenhaus. Also ist Jake gekommen. Gut! Mit der Gewissheit dämmere ich wieder weg.
Etwas später werde ich erneut wach, wieder weckt mich etwas. Doch diesmal ist es nicht das Piepsen, das ist eher einschläfernd. Nein. Etwas hat mich gehauen, auf meine Wange. Mühsam versuche ich, die Augen zu öffnen. Es gelingt mir erst nach einigen Anläufen. Ich schaue an eine gelbweiße Decke. Eierschalenfarben. Das ist wirklich das Krankenhaus.
Wieder spüre ich etwas an meiner Wange. Ich drehe den Kopf, ganz langsam, und finde mich einem kleinen Gesichtchen gegenüber. Es ist wach. Dunkelblaue Augen, noch ziemlich verkniffen, krause, dunkle Haare. Jake im Kleinformat, mit diesem zerknautschten Gesichtchen allemal. »Hallo«, wispere ich und will meine Hand heben, doch die ist in einem Grips und hängt an Kabeln fest. Ich bekomme sie nicht hoch. Die andere jedoch, die ist frei, und mit der strecke ich nun den Finger aus, streiche über diese winzige Faust, die mich eben geweckt hat. Prompt fasst sie zu, und ich sehe so etwas wie Überraschung auf dem Gesichtchen, das Kind rudert mit den Armen. »Wer bist du denn?«
Ein Bändchen ist um den Arm gewickelt. Ich sehe den Buchstaben V, strecke die Finger aus, ziehe es etwas herum. Victoria steht da. »Och nein, haben sie dir den Namen von Lady Vi verpasst?« Ich muss lächeln. Wir hatten uns nie über einen möglichen Namen unterhalten, Jake meinte, das bringe Unglück. Also hat er sie ausgesucht. »Hallo Vicky, schön, dich kennenzulernen.«
Ich würde sie gerne in den Arm nehmen. Der Wunsch kommt so übermächtig in mir hoch, dass ich schlucken muss. Doch wie…? Vorsichtig hebe ich den Kopf an. Es geht ganz gut. Mit ihr so dicht neben mir wage ich keine großen Verrenkungen, aber es gelingt mir, die Decke etwas anzuheben, darunter zu schauen. Oh je!, denke ich bei dem Anblick. Ein dicker Verband um meinen Bauch. Wundschläuche ragen daraus hervor, drei an der Zahl. Also wieder ein Gemetzel, den Anblick kenne ich und auch, wie es sich nach einer OP anfühlt. Ich drücke mich mit den Ellenbogen ein wenig hoch. Es geht ganz gut, keine Schmerzen weiter unten. Was mich wundert. Wie lange war ich weg?
Mit der verkabelten Hand taste ich suchend nach der Fernbedienung für das Kopfteil des Bettes und finde sie. Die Kleine mit der freien Hand stützend, fahre ich das Kopfteil vorsichtig hoch, bis ich merke, jetzt fängt es an zu schmerzen. Also wieder ein Stückchen nach unten. Ich schlängele den Arm um die Kleine, ziehe sie dichter an mich und schiebe die Ellenbogenbeuge ganz vorsichtig unter das Köpfchen. Nun kann ich sie anheben, und es geht gut, staune ich. Gleich darauf liegt sie dicht an mich gekuschelt, und prompt fängt sie an zu schmatzen, sie sucht, und ich denke, warum nicht, mal sehen, ob was kommt. Was es erstaunlicherweise auch tut. Meine Brüste sind prall und voll, sie schmerzen sogar etwas. Die eine Brust, wo sie anliegt, mehr als die andere. Haben sie mich abgepumpt? So etwas muss es sein, die entsprechenden Utensilien liegen auf dem Nachtschrank. Jetzt entdecke ich auch ein zweites Bett neben meinem, dicht daran gestellt und mit einer zerwühlten Decke und zerknautschtem Kissen. An der Wand zwei Kinderbettchen, beide leer. Victoria Liv Corringdon steht auf dem einen, und auf dem anderen Jonathan Jakob Corringdon. Geburtstag, die Uhrzeit mit einem Fragezeichen. Gewicht. Wow! Beide an die 3000 g. Kein Wunder, dass es sich angefühlt hat, als würde ich gleich…
Ich zucke zusammen. Plötzlich kommen die Erinnerungen mit Macht zurück. Ich keuche auf, mir wird kalt. Und schlecht. Nein, du darfst nicht… du hast die Kleine im Arm! Reiß dich zusammen! Nur unter Aufbietung aller Kraft gelingt es mir, und ich merke, mir laufen die Tränen herunter. Wo ist Jake, warum ist er nicht hier? Ach, wie sehr wünschte ihn jetzt, gerade in diesem Moment, bei mir! Ich bette Vicky anders hin, sodass sie auf mir liegt, und lange mit der Hand rüber auf das andere Bett, ziehe sein Kissen zu mir. Atme tief ein und merke, sofort werde ich ruhiger, denn es riecht nach ihm. Nach Krankenhaus und nach ihm, also genauso, als wenn er gerade vom Dienst kommt. Wie tröstlich das ist! Ich schaue auf die Decke, dann auf meine. Weg damit! Gleich darauf habe ich seine Decke auf mich gezogen, werde regelrecht eingehüllt in seinen Duft. Das Kissen ziehe ich neben meine Brust, denn Vicky ist gerade eingeschlafen. So kann ich sie gut bei mir halten, ohne dass es zu anstrengend wird. Prompt fallen auch mir die Augen zu.
Ein Geräusch vor der Tür weckt mich wieder auf. Noch immer spüre ich das warme Bündel neben mir und den vertrauten Geruch, und ich entspanne mich sofort. Leise Stimmen sind vor der Tür zu hören, dann wird sie aufgemacht. Ich höre, wie jemand überrascht die Luft einzieht, dann geht die Tür wieder zu. »Jake! Komm schnell!« Das ist Anna, doch sie kommt nicht herein. Stattdessen ist es jemand anderes, ich spüre, wie sich jemand neben mich legt, ganz vorsichtig die Kleine anhebend. Eine Hand, die tastet. Warm. So vertraut.
»Wach auf, Liv. Wach doch auf, Liebes«, flüstert er.
»Du brauchst nicht zu flüstern, ich bin wach«, sage ich und mache die Augen auf. Ich finde sein Gesicht dicht neben mir, an meiner Schulter. »Jake…«
»Es ist alles gut. Keine Angst, hab keine Angst. Niemand wird dir mehr etwas tun. Oh Liv.« Jetzt fängt er an zu zucken, ich spüre, wie es feucht an meiner Schulter wird, als er den Kopf an meine Halsbeuge schmiegt, mich vorsichtig umarmt, als sei ich zerbrechlich.
»Schscht, nicht.« Ich bin es, die ihn tröstet, nicht umgekehrt. Er lässt nun alles heraus, was sich in ihm angestaut hat, mag sich gar nicht mehr beruhigen. Doch irgendwann, da halte ich ihn fest umfasst, liegt er schließlich ruhig. »Ich habe dich gespürt, als ich dort war, in dieser Stille. Du hast mich festgehalten, die ganze Zeit, nicht?«, flüstere ich leise in sein Ohr.
»Oh ja. Die ganze Zeit, selbst im OP. Sie wollten mich rausschmeißen, da bin ich ausgerastet und habe sie angebrüllt. Ich habe gemerkt, dass ich dich nicht allein lassen durfte. Und dabei warst du es, ganz allein, du musstest es allein durchstehen. Oh du lieber Himmel, Liv! Solche Angst habe ich noch nie ausgestanden, noch nie! Der Pieper ging die ganze Zeit, aber da war so viel Verkehr, es wurde immer schlimmer…«
»Schscht, nicht. Es ist vorbei. Wie lange war ich… es fühlt sich an, als wäre es schon eine Weile her. Ganz anders als das letzte Mal, als er mich…«
»Nicht!« Das knurrt er fast. »Sprich es nicht aus! Du lagst ein paar Tage im Koma, und wir wussten anfangs nicht, ob du es schaffen würdest. Es ist jetzt zehn Tage her. Das waren die schlimmsten Tage meines ganzen Lebens, Liv.« Nun hebt er ein wenig den Kopf, schaut mich an. Erschrocken sehe ich, wie grau er auf dem Schopf geworden ist, diese vielen neuen Fäden. Sanft streiche ich mit der freien Hand darüber, und er nimmt sie in seine und küsst sie.
»Deshalb also. Es tut kaum noch weh. Nun ja, jedenfalls nicht so wie das letzte Mal. Was war passiert?« Ich schaue ihn an, fordernd, und sehe, wie er die Zähne zusammenbeißt.
»Deine Gebärmutter ist gerissen und ein paar alte Narben ebenfalls, bei dem Sturz vermutlich, so genau wissen wir das nicht. Dan spricht immer noch von einem Wunder, dass du das überlebt hast. Sie haben alles rausnehmen müssen, wirklich alles, sonst hättest du das nicht überlebt. Als ich das Video gesehen habe… ich hätte einen Mord begehen können.«
Mir wird kalt. »Stattdessen habe ich einen begangen. Ich wollte unbedingt die Kinder schützen, unbedingt. Alles andere war mir in dem Moment egal. Habe ich es richtig gemacht? Jake! Habe ich es richtig gemacht?«
In seiner Miene zerbricht etwas, er birgt wieder den Kopf an meiner Schulter. »Oh Gott, wie kannst du nur fragen?! Natürlich hast du. Es war mit den gegebenen Mitteln und unter den Umständen mehr als perfekt. Was musst du für Schmerzen gehabt haben… die beiden waren nicht mal unterkühlt, als wir kamen. Das hast du gut gemacht. Meine tapfere Liv.« Es nützt nichts, er fängt wieder an zu heulen, und ich lasse ihn. Ich dagegen liege lächelnd da und schaue auf Vicky, die wieder wach ist und den Rücken ihres Vaters betrachtet, als gäbe es da etwas Faszinierendes zu sehen.
Schließlich liegt Jake ruhig, schöpft auch Kraft, das merke ich. »Sieh mal, da ist jemand wach. Und magst du mir einmal die andere Hälfte von unserem Nachwuchs vorstellen? Die kenne ich noch gar nicht.«
»Was… oh ja!« Nun hat er sich wieder im Griff. Geschickt nimmt er die Kleine auf den Arm, reicht sie mir. Ich ziehe wieder das Kissen zurecht, lege sie darauf und an mich. »Da draußen warten ein paar Leute, die wollen dich unbedingt sehen«, sagt er mit einem kleinen Lächeln. »Aber erst einmal hole ich unseren Sohnemann her, damit ihr euch in Ruhe kennenlernen könnt, nicht?«
Gleich darauf ist er wieder da und hat ein weiteres Bündel im Arm, eines, das ziemlich empört ist und kräftig schreit. »Er hat Hunger«, sagt er mir über den Lärm hinweg. Etwas umständlich wechseln wir die Kinder, und ich lege ihn gleich an. Augenblicklich herrscht Ruhe, nur durchbrochen von zufriedenen Schnaufern. Jake betrachtet uns, sein Blick schimmert dabei.
Ich streife die Decke zurück, in die das Kind eingewickelt ist, betrachte dieses kleine Gesichtchen. »Oh je, du bist ja ein fast völliger Kahlkopf!«, entfährt es mir. Hätte ich nach Vicky gar nicht gedacht. Nur ein leichter blonder Flaum ist zu sehen, ganz zart.
Jake lacht unterdrückt. »Er kommt nach dir, ganz sicher. Er ist ein paar Zentimeter größer als sie und viel dünner. Liv, kannst du mir sagen, wer von den beiden…« Ich schaue auf. Er spannt sich an, das ist gut zu sehen, will es aber unbedingt wissen. Weil ihre Geschichte sonst unvollständig ist.
»Vicky. Sie war zuerst da. Aber das müsst ihr doch wissen? Das Video…«
»Nein.« Seine Miene verdüstert sich. »Du bist nur zu hören, aber nicht zu sehen. Deshalb wussten wir nicht, welches zuerst da war. Aber jetzt wissen wir es.« Er langt zu den Bettchen, zieht die Kärtchen heraus und schreibt zwei Uhrzeiten drauf. 08:31 und 08:33.
»Nur zwei Minuten?«, flüstere ich getroffen.
»Oh ja. Die beiden waren echt schnell. Kein Wunder, dass es dich förmlich zerrissen hat. Auch das ist zu hören… Liv… ich…« Er presst die Lippen zusammen.
»Was ist?«, frage ich erschrocken und wappne mich.
Er strafft sich und schaut mich an. »Die Polizei hat das Video beschlagnahmt, aber die niederländischen Behörden haben es nicht geschafft, das Handy von Julian zu finden. Sie wissen nicht, ob da noch etwas drauf ist oder nicht und ob er das ins Netz gestellt hat. MA hat gesucht und gesucht, aber…«
Ich schließe die Augen. »Nein, hat er nicht. Er konnte keine Aufnahme machen, hat nicht einmal alles übers Handy sehen können, die Datenrate war zu schlecht. Er saß in einem Keller, daher, sie sollen da suchen. Nein, mach dir keine Sorgen. Aber Jake, das andere Video… die Polizei… ich habe jemanden umgebracht!«
»Nein, Liv!«, faucht er fast. Ich zucke zusammen, und auch die Kinder. Sofort nimmt er sich zurück. »Sag das nie wieder! Du hast um dein Leben gekämpft, um ihr Leben. Das war Notwehr, und so steht es auch in den Akten der Polizei. Sie werden deine Aussage noch aufnehmen, denn der Anfang ist ja nicht drauf, und auch Harriett konnte ihnen nicht viel mehr sagen, er hat sie an der Haustür niedergeschlagen.«
»Sie lebt? Oh gut!«, flüstere ich erleichtert und drücke Jonathan dichter an mich. Er gluckst leise, ein zufriedener Laut. Mir wird warm ums Herz, die Anspannung verfliegt.
»Ja, aber es hat sie wirklich mitgenommen. Sie macht sich solche Vorwürfe, dabei sind wir ihm alle auf den Leim gegangen. Der Anruf auf meinem Pager, der bei MA, das war alles fingiert. Bis wir in der Klinik waren und die Sache aufgeklärt, da hast du schon den Notrufknopf gedrückt. Da wusste ich, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Wir sind sofort los, Dan auch, und haben auch die Polizei gerufen. Oh Gott, und als dann immer mehr deiner Notrufe kamen… und wir dich fanden… es war, als hätte er mir das Messer ins Herz gerammt und nicht dir, wie er das eigentlich vorgehabt hat. Ich dachte, ich sterbe gleich…« Jetzt weint er wieder, er kann es einfach nicht verhindern. Ich lasse ihn. Das muss er rauslassen. »Du sahst aus, als wärest du zerfetzt. Warst du ja auch.«
Ich strecke die Hand aus, fasse nach seiner freien Hand, der Linken. »Ja, das stimmt. Ich bin fast zerbrochen dabei. Aber ich werde wieder zusammenwachsen, das tue ich immer, und weißt du warum? Weil meine Liebe zu dir, zu euch allen, viel stärker als alles andere. Es wird alles wieder gut werden.«
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3 Monate später
Ich habe Jonathan bequem auf das Stillkissen gebettet und warte darauf, dass mein gieriger kleiner Geselle endlich fertig wird und seine Schwester ranlässt, die langsam unruhig wird und auch ihren Teil von der mütterlichen Zuwendung abhaben will. Die beiden haben sich perfekt aufeinander abgestimmt. Er, immer noch dünn und schmal und ein fast völliger Kahlkopf und mir sehr ähnlich, macht stets den Anfang. Denn er ist wirklich wählerisch, nimmt die Nahrung ausschließlich von mir. Sie dagegen ist ein richtiger Brocken, kräftig und mit einer dunklen Lockenpracht gesegnet. Sie nimmt den Rest, dafür aber auch alles, was sie kriegen kann, ob Brust, ob Flasche. Schon merkwürdig, wie unterschiedlich diese beiden sind, selbst in dem Alter bereits gut zu erkennen.
Einige Tage habe ich noch im Krankenhaus verbracht, bis die Wundschläuche entfernt werden und ich mich wieder einigermaßen bewegen konnte. Einerseits ist es traurig, dass nichts mehr in mir ist, aber andererseits erleichtert mich das auch. Denn so laufe ich nicht wieder Gefahr, schwanger zu werden. Jake jedenfalls ist richtig froh darum.
Seit einigen Wochen bin ich nun wieder zuhause und versuche, in so etwas wie einen Alltag hineinzufinden. Anfangs wollte mir das nicht wirklich gelingen. Zum einen war permanent jemand um mich herum. Die Kinderschwester, nicht Harriett, denn die ist immer noch nicht genesen von dem Schlag, den Alex Saunders ihr verpasst hat. Die Hebamme kam oft, eine Krankengymnastin, eine Physiotherapeutin. Eine Haushaltshilfe. Die Polizei, die auch, die hatten viele Fragen. Anna ist da, und Manni hat jetzt auch seine Zelte bei uns aufgeschlagen, denn das Projekt geht bald los. Jake und ich hatten kaum einen Moment für uns. Und dabei hätten wir es wirklich nötig, alle beide. Um uns wiederzufinden, um eine Familie zu werden.
Fast bin ich versucht, aber nur fast, Lady Vi anzurufen und sie zu fragen, ob sie nicht irgendwo ein Haus am Meer besitzt, eines, wohin wir uns zurückziehen können, wenigstens eine Weile. Eine WG ist schön und gut, aber in solchen Zeiten nervt sie einfach.
Doch nun wird es langsam besser, je kräftiger ich werde. Ich mache Rückbildungsgymnastik. Auch ein wenig Sport, ganz vorsichtig. Ich konnte Jake überzeugen, dass die permanente Haushalthilfe nicht mehr nötig ist. Dorota reicht. Mit der Krankengymnastin und der Physiotherapeutin habe ich einen Plan ausgearbeitet, den ich abarbeite. So brauchen sie nicht mehr so oft zu kommen. Die Kinderschwester kommt gar nicht mehr, ich versorge die Kleinen nun selber, das ist mir viel lieber. Sie schlafen beide durch, ein echter Segen. Das hat die Schwester ihnen fein beigebracht. Ich fange wieder an zu kochen, auch wenn meine Kochkünste bei weitem nicht an Jakes heranreichen. Sitze wieder über den Plänen für den Square, mit Manni und alleine. Nach und nach erobere ich mir mein altes Leben zurück, mit Argusaugen überwacht von Jake, dass ich mich auch ja nicht überanstrenge.
Ich seufze und bette Jonathan, oder JJ, wie wir ihn bereits nennen, anders hin. Sie haben nie wirklich herausgefunden, wie Alex Saunders es geschafft hat, das Handy in Julians Reichweite zu schmuggeln, in die Wäscherei, um genau zu sein. Es waren etliche größere Abhebungen auf seinem Konto zu sehen, Bestechungsgelder, wie man vermutet. Auch an einen Techniker in der Leitstelle, der sich von falschen Versprechungen hat verleiten lassen und die fingierten Meldungen an Jake und MA abgesetzt hat, damit niemand zuhause war. Nur mit Harriett hat Alex nicht gerechnet, und das hat mir den entscheidenden Spielraum verschafft. Julian sitzt nun in Isolationshaft, für den Rest seines Lebens, was mir eine nicht geringe Genugtuung bereitet zu wissen.
Alex Bruder Mike konnte dagegen aus seiner misslichen Lage befreit werden, aber er ist immer noch nicht genesen von dem Zeug, dass Alex ihm verpasst hat, und von dem Schlag, den die Tat und der Tod seines Bruders für ihn bedeuten. Er meinte, er wüsste jetzt, wie es Jake nach seinem Überfall ergangen sei.
Bei dem Gedanken muss ich an mein neues Buch denken. Bis zur Filmpremiere ist es nicht mehr lange hin, und das neue Buch erscheint kurz danach. Ein echter Marketingcoup, freuen sich Hans und Leonore, die sich schon in Erwartung sprudelnder Einnahmen die Hände reiben. Und Dotty erst recht. Die hat eine ganze Kanonade an Posts vorbereitet.
Ich selber jedoch möchte bis dahin so fit wie möglich sein, denn Fakt ist, es wird auch hier zuhause ein Sturm losbrechen. Denn dieses Buch wird eine Widmung tragen. Und jeder, der auch nur irgendwie mit uns zu tun hat, wird sie erkennen. Ich will es Jake als Geschenk machen. Ein klein wenig Angst vor seiner Reaktion habe ich schon. Aber ich konnte mir nicht anders helfen. Denn es ist wahr, was darin steht, und ich finde, er sollte es endlich wissen.
Der Türsummer geht, Anna und MA kommen herein. »Wir haben Futter mitgebracht!«, dröhnt MA lautstark und rollert zum Küchentresen, eine große Tüte abstellend.
»Oh, Junkfood?«, frage ich hoffnungsvoll. Auf das habe ich in letzter Zeit einen gesunden Appetit entwickelt. Jake besteht immer noch auf das abendliche Kochen, aber tagsüber ist er meistens nicht da, und deshalb können wir drei ungehindert dem Laster frönen. Gleich darauf schiebe ich mir genüsslich Fingerfood rein, während JJ beschließt, dass es jetzt genug ist, und mir seine übliche Portion Sabber aufs Stilltuch spuckt. Doch nach einem lautstarken Bäuerchen ist er zufrieden und schlummert ein. Nun ist seine Schwester dran, und die legt sofort derart los, dass ich mir manchmal vorkomme wie das Opfer eines Vampirs.
Manche Zwillingsmütter schaffen es, ihren Nachwuchs zeitgleich zu stillen, doch das ist mir nie gelungen. Ich bin einfach zu schmal, und mein Handgelenk, gebrochen von dem Sturz beim Überfall, ist immer noch sehr empfindlich. Ich kann sie einfach nicht beide halten, je schwerer sie werden, desto unmöglicher wird es.
»Brauchst du noch die Flasche?«, fragt Anna von der Küche her, wo sie am Tresen hockt und sich dort die Teilchen einverleibt.
»Ja, wäre gut. Ich habe nicht mehr viel. Vicky ist echt gierig. Genauso wie dein Vater«, flüstere ich ihr zu. Denn seit einiger Zeit nähert sich Jake mir wieder an. Es ist die Sehnsucht, die ihn treibt. Noch haben wir nicht miteinander geschlafen, aber es wird Zeit. Die monatelange Abstinenz macht auch mir zu schaffen, und ich spüre, wenn wir das erst einmal wieder tun, dann wird auch der Rest sehr viel einfacher.
Hmm… vielleicht wird es Zeit, das wirklich einmal in die Tat umzusetzen. Ich ertappe mich ja manchmal schon dabei, wie ich gedankenverloren an mir selber herumspiele. Besonders an den Brüsten, die sind wirklich, wirklich empfindlich. Hmm…
Am Abend, nachdem Jake die beiden zu Bett gebracht hat und sich Anna, MA und Manni verabschiedet haben, sind wir endlich allein. Jake steht am Küchentresen, räumt die Reste unserer Mahlzeit zusammen. Ich entscheide es ganz spontan, trete von hinten an ihn heran, umfasse ihn mit beiden Armen. Er hält sofort inne, legt seine Hände, alle beide, auf meine. »Mühe, hmm?«, brummt er.
»Oh nein«, sage ich leise und lasse meine Hände wandern. Die eine Hand nach oben, aber die andere nach unten.
Er zieht sofort scharf die Luft ein. »Liv…«
»Ich glaube, es wird Zeit für ein Experiment, Dr. Jake«, sage ich, ziehe ihn zu mir herum und küsse ihn, etwas, dem er nicht widerstehen kann.
In Windeseile sind wir dabei, uns geradezu zu verschlingen. Ich merke, wie ich feucht werde, und er stöhnt leise. »Bist du sicher?«
»Lass es uns doch einmal probieren«, flüstere ich an seinem Mund, lege die Hände auf den Tresen und stemme mich hoch. Ich habe ein Kleid an, trage fast nichts anderes, und wie es der Zufall so will, auch nichts darunter.
»I..ichwilldirnichwehtun..« Es verkommt zu einem Wort, doch ich schüttele nur den Kopf, fasse nach unten, befreie ihn und dirigiere ihn zwischen meine Schenkel. Doch jetzt fasst er selber zu, schiebt meine Hände beiseite, will sich vollkommen unter Kontrolle halten. »Sag mir, wenn es nicht mehr geht«, befiehlt er schwer atmend. Ich lege die Arme um seinen Hals, schaue ihm tief in die Augen, in beide. Unsere Münder sind sich ganz nah, als er beginnt, sich in mich zu schieben, ganz langsam.
Es fühlt sich merkwürdig an, staune ich. Ganz anders als früher, ein wenig, als würde er sich seinen Weg erst suchen und alles etwas zurechtrücken müssen. Aber es tut nicht weh, es reibt nur irgendwie. Jake beobachtet mich genau, während er sich immer weiter vorschiebt, bis tief in mich hinein. Und dann, am letzten Punkt, da trifft er mich.
Ich stöhne auf. »Oh ja! Das ist nicht weg… mach weiter!«, rufe ich, biege mich nach hinten und lege ihm die Beine um die Hüften. Er zögert, das ist gut zu merken, doch ich lasse ihm keine Chance. Ich bin es, die sich bewegt, und ich packe seine Hände, lege sie auf meine Brüste, neue erregende Berührung. Ich komme in Windeseile, mit einem Schrei, den hat man bestimmt noch nebenan gehört. Hoffentlich werden die Kinder nicht wach oder die anderen kommen rüber, denke ich, atemlos auf der Arbeitsplatte liegend.
»Meine Güte! Du hattest wirklich Bedarf«, keucht Jake. Er ist immer noch in mir, immer noch hart, hält sich zurück.
»Oh ja. Und ich bin noch nicht fertig mit dir, Dr. Jake. Noch lange nicht. Und du auch nicht, das spüre ich«, sage ich, setze mich auf und lege die Arme um ihn. Ein langer Kuss, dann grinst er erleichtert.
»Ich bitte doch sehr darum, Madam. Aber nicht hier. Ich will dich, in unserem Bett. Endlich.« Er umfasst mich, hebt mich hoch. Und trägt mich, während ich die Beine um ihn geschlungen habe und wir immer noch miteinander verbunden sind, ganz mühelos hinauf ins Schlafzimmer, wo wir von jetzt an wieder viele gemeinsame Stunden verbringen werden.
Zwei Wochen später sitzen Anna, Manni und ich vor dem Fernseher und schauen uns die Premierenfeier zur Verfilmung meines Buches an. Die Kinder sind längst im Bett, denn es spät in der Nacht. Unsere Männer jedoch sind arbeiten, Jake hat Dienst, und MA hat sich in seine Tüfteleien vergraben, ist schon seit Stunden verschwunden.