Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die 35-jährige Liv hatte einen denkbar schlechten Start ins Leben. Als Waise in einem Heim für verhaltensauffällige Kinder groß geworden, waren ihre Chancen nie besonders gut. Zu klein, klapperdürr und deshalb nicht für voll genommen, das hat sie nicht nur einmal erlebt. Jedoch hat sie es dank ihres unbändigen Lebenswillens, ihrer Intelligenz und der Hilfe treuer Freunde geschafft, zu studieren und Karriere zu machen. Bis ihr Ziehvater und Mentor plötzlich einen Herzinfarkt erleidet und sie beruflich ohne Unterstützer dasteht. Darauf beschließt Liv, sich eine Auszeit zu nehmen. Sie begibt sich auf Wanderschaft an die Südküste Englands, ihr heimliches Traumziel. Diese eigentlich als Selbstfindung gedachte Reise verkehrt sich jedoch sehr schnell ins Gegenteil, als sie dort auf jemanden trifft, der noch mehr unter Vorurteilen zu leiden hat als sie selber und wirklich in Not ist. Eine Begegnung, die ihr gesamtes bisheriges Leben verändern soll.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 623
Veröffentlichungsjahr: 2023
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Katas Ellie
SPLIT
Eine deutsch-britische Geschichte
Texte: © 2023 Copyright by Katas Ellie
Umschlag: © 2023 Copyright by Katas Ellie
Verlag: Inga Rieckmann alias Katas Ellie c/o Block Services, Stuttgarter Strasse 106, 70736 Fellbach
https://www.facebook.com/Katas.Ellie
Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Die Uhr tickt leise. Ich werde von diesem Geräusch und einem Blitzen und entferntem Donnern geweckt. Einen Moment lang bin ich verwirrt, wo ich mich befinde, doch dann fällt es mir wieder ein: auf dem Landsitz. Wie auch immer das geschehen ist.
Gefühlt eine halbe Ewigkeit ist der Tod meines Liebsten, meiner Seelenhälfte jetzt her. Ich vermisse ihn immer noch wie am ersten Tag. Je mehr Freunde und Begleiter mich verlassen, desto schlimmer wird es. Nach seinem Tod habe ich weiter an unserem Lebensprojekt mitgewirkt, so lange, wie es nur irgend ging. Doch nun, mit weit über achtzig Jahren, habe ich nach und nach alle Aufgaben abgegeben, an die Kinder, an die Enkel, und bin nur noch gelegentlich da.
Hier schließlich, bei einem Besuch an seinem Geburtsort, hat mich meine Kraft, diese Lebensenergie und treue Begleiterin über all die Jahre, endgültig verlassen. Sie wollten mich ins Krankenhaus bringen, doch ich habe mich geweigert und bin stattdessen ins Bett gegangen.
In sein Bett.
Die Kinder sind auf dem Weg hierher, mich abzuholen. Aber ich spüre irgendwie, dass sie nicht mehr rechtzeitig kommen werden. Mein Herz stolpert und schlägt sehr schnell, als sei es ganz aufgeregt. Ich habe einen Brief fertig geschrieben, lege ihn nun auf den Nachtschrank und schalte das Licht aus. Es ist ein Abschiedsbrief, es ist Zeit zu gehen. Die Familie muss und wird ohne mich klarkommen, so ist das Leben. Es geht weiter, und wir haben ein gutes Erbe hinterlassen.
Ich schließe die Augen und beginne zu träumen. Vom Anfang, als wir uns kennenlernten, von dieser aufregenden und gleichzeitig so grausamen Zeit, die uns für immer zusammengeschweißt hat.
Die Zeit dehnt sich. Es ist einfach irre, wie lang ein Tag sein kann, wenn man ihn einfach nur erlebt. Ohne Termine, ohne Pflichten, ohne Plan. Seit Wochen bin ich auf Reisen und lasse mich treiben von Tag zu Tag, von Ort zu Ort. Mit Rucksack, Zelt und Schlafsack, mal draußen übernachtend, mal in B&Bs, auf Bauernhöfen. In Scheunen, Ställen oder dem Jugendzimmer des Sohnes oder der Tochter, die fern in der großen Stadt studieren. Wie schnell oder wie langsam, ganz egal. Ich habe ein Jahr Zeit, ein ganzes Jahr. Mit Frühlingsbeginn, Anfang März, bin ich mit der Fähre von Hoek van Holland nach Harwich gefahren und von dort nach Dover in Südengland, wo ich losgewandert bin, immer die Küste entlang gen Westen, den Frühling hinter mir herziehend.
Anfangs noch kalt und echt stürmisch, ist es jetzt, Ende Mai, wirklich milde. Wäre ich schnurstracks den Coast Path gelaufen, wäre ich wohl bereits in Devon oder Cornwall unterwegs. Doch mir widerstrebt es, mich ausschließlich auf festgelegten Pfaden zu bewegen, womöglich noch mit Scharen von anderen Touristen. Weshalb ich immer wieder ins Landesinnere abbiege, versteckte Dörfer und Landsitze, alte Abteien und Ruinen erkunde, diese kleinen Schätze hinter hohen Hecken, mit uralten Steinen und wunderschönen Gärten. Gerade jetzt, zu Beginn der Rosen- und Rhododendrenblüte, sind diese eine wahre Pracht.
Es ist ein Privileg, das ich hier erhalten habe, das ist mir klar. Ein Privileg, das ich mir mit viel harter Arbeit erkauft habe. Und Leid, das ist die bittere Wahrheit dahinter. Umso mehr bin ich entschlossen, jede Minute dieses Sabbatjahres zu genießen. Was danach kommen wird, das weiß ich nicht. Dazu soll diese Reise auch gut sein, um zu Atem zu kommen, eine Entscheidung zu treffen. Ich bin 35 Jahre alt und stehe an einem Scheideweg, was mein künftiges Leben angeht.
Soll ich es wagen, mein bisher zumindest einigermaßen gesichertes Leben an den Nagel zu hängen und nur noch von dem zu leben, was ich bisher als Hobby betrachtet habe? Sicherlich, ein seit einigen Jahren finanziell sehr einträgliches Hobby. Zufall oder Vorhersehung, keine Ahnung. Oder bleibe ich lieber beim sehr anstrengenden Job, spare weiterhin Zeit in meinem Lebensarbeitszeitkonto an und betreibe das andere weiterhin nur als Hobby? Wie ich hier so sitze in einem Hängesessel in der warmen Abendsonne, um mich herum der prachtvoll blühende Garten eines kleinen Pfarrhauses, und auf die kaum gefüllten Seiten meines Notizbuches herabschaue, bin ich sehr unsicher. Denn mein Reisetagebuch schreibe ich ausschließlich online, in einem Blog, geteilt nur mit engsten Freunden und Weggefährten und gespickt mit den schönsten Fotos, die ich haufenweise schieße.
Das andere, das Schreiben, das Eintauchen in eine Geschichte, das will mir merkwürdigerweise nur gelingen, wenn ich so richtig unter Dampf stehe. Im Urlaub funktioniert das meistens nicht, irgendwie wollen die Ideen, dieser Strom der Worte nicht kommen. Es ist, als bräuchte ich den Stress, den Frust und die Aufregung, um dafür die richtige Energie aufbringen zu können.
Meine Freundin Anna vergleicht mich immer mit einer Dampflok. Erst wenn sie richtig in Schwung ist, kann sie schwerste Lasten ziehen und dabei auch noch die schönsten Töne von sich geben. Kommt sie zum Stillstand, passiert nicht mehr viel. Von daher beschleicht mich der leise Verdacht, sollte mich der Dampf verlassen, dass dann auch die Quelle meiner Kreativität versiegen wird. Deshalb schiebe ich die Entscheidung lieber noch ein wenig vor mir her. Ich habe ja noch fast ein Jahr Zeit, und finanziell, da drückt mich der Schuh nun gar nicht, Verkäufe ausländischer Lizenzen an Druck- und Filmrechten sei Dank.
Es gibt nur fünf Menschen auf der ganzen Welt, die wissen, wer hinter dem Pseudonym Ava Anndaers steckt. Eine ist meine beste Freundin und Mitbewohnerin Anna, mein Ziehvater Manni, und die anderen sind mein Verleger, meine Lektorin und meine Social Media Agentin. Sonst niemand. Nie hätte ich damit gerechnet, dass diese Geschichte, innerhalb weniger Wochen zusammengeschrieben und als Schnapsidee nach einem weinfröhlichen Abend von Anna im Selbstverlag veröffentlicht, ein solch durchschlagender Erfolg werden würde. Erst im deutschsprachigen Raum, doch der große Durchbruch kam mit der Übersetzung ins Englische und später in andere Sprachen. Ich hatte eine Geschichte ersonnen von einer Frau, die dem Auslöser eines großen Unglücks auf die Spur gekommen war, es aber nicht verhindern konnte. Jahre später liest sie auf einer Reise einen verstörten Mann auf, der sich als ehemaliger Ersthelfer dieses Unglücks entpuppt und immer noch unter den Erinnerungen leidet. Eine tragische und auch romantische Geschichte, doch dass sie einen derartigen Nerv trifft, damit hätte ich niemals gerechnet.
Meine Anonymität war mir in dem Fall das Wichtigste, aus gutem Grund. Zum Glück gab es einen Verlag, der sich darauf eingelassen hat. Ich habe eine Social Media Agentin, welche den Webauftritt für mich managed. Das ging nur mit einer fetten Beteiligung an den Einnahmen des Buches, sodass von den deutschsprachigen Erlösen nicht viel übriggeblieben ist.
Das änderte sich jedoch, als die englischen Buchrechte verkauft wurden, und vor allem, nachdem das Buch wochenlang auf den Bestsellerlisten gestanden hat, die Filmrechte. Mehrere Firmen hatten angefragt, unter anderem die ganz großen Blockbusterverfilmer und Streamingdienste, doch ich habe mich lieber für eine britische Literaturfilmerin entschieden, die zwar schon mehrere Oskars eingeheimst hat, aber nicht annähernd diese riesigen Beträge aufrufen konnte. Mir war es zu dem Zeitpunkt egal, ich war – und bin es noch – auf diese Einnahmen nicht angewiesen. So ist wenigstens sichergestellt, dass kein Hollywood-Kitsch, sondern ein reelles Drama dabei herauskommt. Sie drehen gerade – und haben mir über den Verlag eine Einladung zu den Dreharbeiten zukommen lassen, die ich jedoch ignoriert habe. Ich will nicht an die Öffentlichkeit gezerrt werden, habe das schon im Job gehasst, bin lieber im Hintergrund tätig.
»Liv? Lihhiiiv!«, ruft eine junge Stimme.
»Ich bin hier«, gebe ich mich zu erkennen und richte mich im Hängesessel auf. Gleich darauf erscheint ein roter Wuschelschopf mit zahlreichen Sommersprossen und ausgeprägten Segelohren in meinem Blickfeld. Es ist der Sohn des Pfarrers.
»Ma sagt, das Essen ist gleich fertig. Kommst du auch?« Er hüpft ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, hungrig wie immer.
»Ist gut, ich komme gleich«, erwidere ich und packe meine Sachen zusammen. Drei Tage habe ich in dieser Pfarrei verbracht und die Gegend einschließlich des Landsitzes, zu dem die Pfarrei und die große Abtei gehören, ausgiebig erkundet. Für die Gastfreundschaft habe ich mich beim Pfarrer und dem Landlord mit einem schönen Set von Fotos bedankt.
Schon immer habe ich gerne und viel fotografiert, eine Tätigkeit, die auch in das Buch eingeflossen ist, denn meine Heldin ist freischaffende Fotografin. Ich habe anscheinend Talent, denn die Bilder finden bei meinen Gastgebern großen Anklang. Seit einigen Wochen werde ich von Landsitz zu Landsitz, von Pfarrei zu Pfarrei und Dorf zu Dorf weitergereicht. Weshalb meine ursprüngliche Route immer an der Küste entlang bereits zahlreiche Schlenker und Schleifen bekommen hat, teilweise bis tief ins Landesinnere. So habe ich ausgiebig Kent und East Sussex erkundet und bin jetzt in den Downs unterwegs und bewege mich mehr oder weniger um den South Downs Wanderweg herum.
Die mit Ferienorten zubetonierte Küste rings um Brighton, gerade in diesem Abschnitt besonders schlimm, meide ich tunlichst, und ich werde mich eher nördlich der Küste halten, die alte Bischofsstadt Winchester besuchen und dann durch den New Forest an die Küste zurückkehren. Hinter Bournemouth beginnt dann Englands längster und berühmtester Wanderweg, der South West Coast Path. Den will ich unbedingt wandern, und zwar in Gänze. Nur wie, das lasse ich noch offen.
Der Abend vergeht in fröhlicher Unterhaltung. Der Pfarrer hat in jungen Jahren genauso wie ich an zahlreichen Orten überall auf der Welt gearbeitet, und so tauschen wir lustige Geschichten über unsere Erfahrungen aus, denen die Kinder des Ehepaares mit großen Augen lauschen.
»Mein Kollege fragt, ob du auf dem Weg zurück zur Küste in St. Andrews vorbeischauen könntest«, sagt er schließlich und bietet mir noch einen Schluck Wein an, den ich jedoch dankend ablehne. Da halte ich mich sehr zurück, besonders, wenn es am nächsten Tag anstrengend wird. »Sie feiern nächstes Jahr 800-jähriges Bestehen der Kapelle und würden sich über ein paar schöne Bilder sehr freuen.«
»Wo liegt denn St. Andrews?«, frage ich interessiert.
Also wird die Karte hervorgeholt, und er zeigt mir einen kleinen Flecken irgendwo zwischen Winchester und dem New Forest, fernab aller großen Straßen und Orte. »Na, das passt doch, da komme ich auf jeden Fall vorbei«, stelle ich zufrieden fest. »Ein paar Tage brauche ich aber noch, denn Winchester will ich mir unbedingt anschauen, vor allem die Kathedrale.«
»Die lohnt sich auf jeden Fall, und ich kann dir auch ein paar andere schöne Dinge nennen. Willst du da übernachten? Dann fragen wir einen Freund von uns, der hat bestimmt ein Zimmer für dich. Die Hotels und B&Bs dort sind echt teuer.«
Und so habe ich wieder einen Kontakt bekommen, oder sogar zwei. Sie geben mir auch einige Tipps, wo man an der Küste gefahrlos und unabhängig vom Tidenhub übernachten kann, denn dieser ist an diesem Küstenabschnitt echt heftig, ganz anders, als wir das in den flachen Küstengewässern Deutschlands oder Nordhollands kennen. Wenn man da zur falschen Zeit am falschen Ort ist, hat man Pech und kann sich nur auf irgendwelche Felsen retten und dort die nächsten paar Stunden ausharren, so man denn klettern kann. Daher habe ich den Tidenkalender fest in meinem Handy eingespeichert. Hinter Bournemouth und der vorgelagerten Isle of Purbeck muss ich eh schauen, ob ich dort entlang kann, denn es ist militärisches Sperrgebiet, der Küstenpfad nur außerhalb der Manöver geöffnet. Vielleicht bleibe ich lieber gleich im Hinterland und stoße nach dem Sperrgebiet an die Küste, die auch als Jurassic Coast bekannt ist, wegen der vielen versteinerten Tiere, die man dort im Kalkstein findet. Von denen möchte ich unbedingt einige sammeln und nach Hause schicken, für die Sammlung von Kuriositäten, die ich von überall auf der Welt zusammengetragen habe.
Seufzend betrachte ich die Karte. »Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich den SWCP im Sommer, in der Hochsaison, bewandern sollte. Juni mag ja noch gehen, aber Juli und August? Das ist doch bestimmt mega voll.«
Die Pfarrersfrau, selber passionierte Wanderin, lacht. »Oh ja, aber sobald du ein paar Schritte gehst, wird es wieder leerer. Übernachten wird dann allerdings ein Problem, und sie kontrollieren auch die Strände und Buchten stärker wegen der vielen illegalen Partys und so. Auf den Müll hat halt keiner Lust, das Meer schwemmt auch so schon genug an. Ich an deiner Stelle würde die Küste im Südwesten in den Sommermonaten komplett meiden und eher durch das Landesinnere Richtung Wales schwenken. Die Küste dort ist nicht minder schön, aber bei weitem nicht so überlaufen. Dann kannst du im Herbst wieder in Richtung Süden.«
»Hmm… mal sehen. Ich wandere erst einmal hier weiter, und wenn es mir zu voll wird, haue ich gen Norden ab.«
Zufrieden und ausgestattet mit einer ganzen Reihe neuer Kontakte und Tipps mache ich mich am nächsten Morgen nach einem reichhaltigen B&E Frühstück – Bacon and Eggs – wieder auf den Weg.
Tage später erreiche ich dann die Gegend um St. Andrews. Das ist einer jener Weiler, zu denen man als Autofahrer nur durch schmalste Heckenwege gelangt, wenn man bereit ist, jede Menge Kratzer im Lack und Dellen im Spiegel zu riskieren. Also perfekt für jemanden wie mich. Solche Orte, an die sich normale Touristen selten verirren, bieten manchmal richtige Überraschungen, und so ist es auch hier. Diesmal schieße ich eine ganze Fotoserie von einem uralten, pittoresk überwucherten Steinkreuz an einem Wasserfall. Den Ornamenten nach zu urteilen stammt es noch aus Zeiten vor dem Eroberer. Ich muss den Pfarrer oder Vikar fragen, die wissen das bestimmt. Einerseits ist es schade, dass nicht mehr Menschen diesen Ort kennen, aber andererseits auch nicht. Touristen bedeuten meistens jede Menge zerstörte Natur und Müll. Den sammle ich immer auf, Plastik vor allem, wenn ich ihn finde, auch Masken. Nur Feuchttücher, die aus guten Gründen nicht, der Ekelfaktor ist mir zu hoch. Was mir von den Locals viel Anerkennung, aber auch so manches Kopfschütteln eingebracht hat.
»Ein zartes Mädchen wie du mit dem schweren Rucksack unterwegs und dann schleppste auch noch einen gefüllten Müllbeutel mit dir rum?! Well, Lad, pass auf, dass du nicht zusammenbrichst!« So oder so ähnlich geht das, vor allem von den Männern. Das ist mir schon immer so ergangen, mein ganzes Leben lang. Ich bin nicht besonders groß und ziemlich zierlich, obschon ich viel Sport mache, klettere vor allem. Doch diese Kraft sieht man mir nicht an, das hat man noch nie. Bis die Männer – meistens sind es die – Bekanntschaft mit meiner scharfen Zunge und meinen Ecken und Kanten machen. Livs Ellenbogen nennt das Manni. Manchmal muss man halt ein Aas sein, um sich durchzusetzen. Besonders als Frau in einem Männerberuf, und als Geschlagene in einer Beziehung erst recht.
Rasch schiebe ich den Gedanken von mir. Es ist vorbei. Er kann dir nichts mehr tun, schon lange nicht mehr. Er kommt nie wieder frei. Das ist mein Mantra, vor allem, wenn nachts die Träume kommen und ich schweißgebadet aufwache.
Meine Erfahrungen habe ich in einem weiteren Roman verarbeitet, anderes Pseudonym, aber nicht minder erfolgreich in Europa wie mein erstes Buch. Nur den Sprung über den großen Teich hat es nicht geschafft. Die Amis stehen eher auf Romantik denn auf solche ernsten Beziehungsdramen. Mir soll’s egal sein. Ich habe damit einen Schlussstrich unter dieses Kapitel gezogen, eines nur wenige Monate dauernden Kapitels. Bei dem Gedanken daran läuft es mir immer noch kalt den Rücken herunter. Es hat mein Leben verändert, auf immer, und nicht nur meines.
Das Wetter bleibt mir bis zum Eintreffen in St. Andrews hold. Es ist sonnig und mild, nicht zu warm und ab und an durchbrochen von einem heftigen Frühlingsschauer. Diese Stimmungen liebe ich, sie sind viel interessanter als ein wolkenloser blauer Sommerhimmel. Wenn die Gebäude, die Felsen, die Wälder von der Sonne in warmes Licht getaucht werden und sich im Hintergrund die dunklen Wolken ballen, dann wirken die Farben sehr viel intensiver.
Einen ganzen Spätnachmittag und Abend verbringe ich in und um die Kapelle und die Vikarage herum, mache auch Nachtaufnahmen. Der Vikar bestätigt meine Annahme mit dem Alter des Steinkreuzes. Angeblich hat Edward der Bekenner es im elften Jahrhundert als Dank für die Rettung vor Räubern aufstellen lassen. Eine zu schöne Geschichte, um nicht Eingang in meinen Blog zu finden. Den schreibe ich jeden Tag, aber ich poste die Beiträge immer mit einer Zeitverzögerung von mehreren Tagen. Da bin ich sehr, sehr vorsichtig. Zwar teile ich ihn nur mit einigen sehr engen Freunden und Weggefährten, aber man weiß nie, wo diese ihn lesen und wer ihnen da vielleicht über die Schulter schaut. So wird der Abschnitt über das Kreuz erst nächste Woche hochgeladen, wenn ich schon weit, weit fort bin. Das Allerletzte wäre für mich, dass mein Pseudonym geknackt werden würde. Das wäre für mich der blanke Horror.
Diese Nacht verbringe ich im Zelt im Garten der Vikarage, denn ein Gästezimmer, so etwas gibt es in dem winzigen Haus nicht. Nach einem herzhaften Frühstück werde ich mit großem Dank und besten Wünschen verabschiedet, und ich mache mich auf nach Südwesten, hin zum New Forest.
Leider ist es Wochenende, als ich den New Forest erreiche, sodass ich diese schönen Wälder und Heideflächen mit Scharen von Wochenendausflüglern aus London teilen muss. Ich habe gehörig zu tun, mir ein verschwiegenes Fleckchen für mein Zelt zu suchen. Nicht ganz ungefährlich als allein reisende Frau, ich weiß.
Der zweite Tag, ein Sonntag, ist nicht minder voll, und ich konsultiere gerade frustriert die Wanderapp, ob ich nicht Wege Abseiten aller Parkplätze finde, da klingelt mit einem Mal mein Handy. Das tut es selten, weshalb ich meistens gleich drangehe, denn das kann nur wichtig sein. Erstaunt sehe ich eine unbekannte Nr. mit einer +49 40 am Anfang, also aus Hamburg.
»Hallo?« Lieber erst einmal ohne Namen melden, sicher ist sicher.
»Liv, ich bin’s, Leonore.« Meine Lektorin.
»Hi, von wo rufst du denn an? Die Nummer kenne ich gar nicht.«
»Oh man, kannst du auch nicht. Du ahnst ja nicht, was passiert ist! Sie haben im Verlag eingebrochen, mitten am Tag, und ganze viele Dinge mitgenommen. Wir hatten gerade eine Firmenfeier und waren draußen, da sind sie ins Büro rein. Das muss jemand von intern gesteuert haben, anders kann es gar nicht sein. Sie haben uns richtig ausgeräumt, unter anderem auch mein Handy, den Laptop, das Tablet.«
Ich fahre auf vor Schreck. »Oh nein, sag nicht…«
»Nur das Gerät, mit dem ich deinen Blog lese. Der andere Laptop mit den Entwürfen und Verträgen, der lag im Tresor, und der war abgeschlossen, Gott sei Dank! Ich habe dich nirgends namentlich abgespeichert, auch nicht auf dem Handy. Aber Liv, es kann sein, dass sie dennoch dahinterkommen, wer da den Blog schreibt, denn du machst ja ein paar Anspielungen auf die Handlung deines Buches. Sei also vorsichtig, hörst du? Nicht, dass sie auf dich warten. Diese Nummer hier ist die Festnetznummer meiner Tante, die ist hoffentlich zu weit weg vom Geschehen, als dass sie das mit dir in Verbindung bringen. Ich werde mir gleich ein neues Handy kaufen und andere SIM Karten. Mach du das auch, hörst du, sobald du meine neue Nummer hast. Gleiches gilt für Hans. Er ist stinksauer, das kann ich dir sagen! Er hat ein Security Unternehmen beauftragt, eine Zugangskontrolle im gesamten Gebäude, sogar in jedem einzelnen Zimmer zu installieren. Wenn der rausfindet, wer uns das eingebrockt hat, dann rollen Köpfe! Zum Glück haben wir deine finanziellen Dinge ausgelagert, sonst wäre das vermutlich das Todesurteil für dein Pseudonym.«
»Oh Gott.« Mein Herz hämmert wie verrückt. Mir ist ganz kalt vor Furcht, wenn ich daran denke, was das für mich bedeuten könnte. Gott sei Dank führen wir die Einnahmen über ein Schweizer Nummernkonto, sodass dies anonym bleibt. Sicherlich, ich versteuere alles brav, aber erst über mehrere Umwege. Es hatte damals einiger Verhandlungen bedurft, bis Hans, mein Verleger, dieser Lösung zugestimmt hatte. Eine Freundin, die sich in internationalen Finanzdingen auskennt, hat sie für mich ausgearbeitet. So blieb dieser Geldstrom bisher unentdeckt. »Halte mich auf dem Laufenden, ja? Ich bin noch irgendwo im Nirgendwo, habe gerade mal einen Balken Netz, aber das wird sich bald ändern. Oh je, ich muss den Blog löschen. Was für ein Glück, dass ich niemals Selfies mache! Und unsere Chats… so ein verdammter Mist!«
»Tut mir leid, Liv, ehrlich. Das hätte ich mir nie träumen lassen. Aber seit Drehbeginn stehen die Telefone nicht mehr still bei uns. Hans meint, es war nur eine Frage der Zeit, bis es jemand versucht. Er lässt dich grüßen und sagt, dass du dir keinen Kopf machen sollst. Er regelt das schon.«
»Mache ich aber doch. Oh je. Warte mal, wo war ich im Blog stehen geblieben?« Ich fahre rasch den Laptop hoch. »Ah, richtig, bevor ich in die South Downs abgebogen bin. Hmm… von da habe ich ja mehrere Möglichkeiten gehabt, weiter zu wandern. Ein Standard Tourist würde sich die Küste weiterbewegen, zu den Badeorten hin, Brighton und diese ganzen Betonburgen. Blechlawinen und Menschenmassen. Mit Glück verorten sie mich dort und nicht hier, wo ich mich gerade bewege. Ich bin echt ab von Schuss.«
»Bleib bloß da! Obwohl… da fällst du auch mehr auf. Ich an deiner Stelle würde abhauen, weit weg.« Ich kann die Sorge in Leonores Stimme hören.
»Oder gerade nicht, lieber in die Masse eintauchen, in der Hochsaison, da sind noch andere wie ich unterwegs. Wir werden sehen. Noch ist ja nichts geschehen. Danke, Leonore, und Kopf hoch. Ich komme schon klar.«
Nachdem ich aufgelegt habe, überlege ich nicht lange. Ich habe für alle Fälle eine zweite, englische Sim-Karte dabei, von der ich gedenke, jetzt Gebrauch zu machen. Meine Kontakte übertrage ich erst einmal auf sie. Dann lösche ich sämtliche Chats mit Leonore, Hans und Dotty, meiner Social Media Agentin. Als letztes sind Anna, Manni und ein paar andere Freunde dran. Ich informiere sie über den Einbruch und bitte sie, dasselbe mit ihren Chats zu machen, so sie denn untereinander welche haben. Dann warte ich ungeduldig darauf, dass Leonore mir ihre neue Handy Nr. mitteilt, was sie nach einer halben Stunde auch tut. Dann kann ich meine Sim-Karten komplett austauschen.
Der Blog allerdings, der muss warten, bis ich wieder ausreichend Netz habe, was zwei Tage später der Fall ist, als ich in einem Pub in einem winzigen Nest mit nur drei Häusern absteige. Dort nehme ich den Blog vom Netz, schreibe auch an die Plattform, wirklich alles unwiderruflich zu löschen, was mir in einer Mail bestätigt wird. Hoffentlich hatten sie das Tablet noch nicht geknackt, um das zu lesen!
Es macht mich unruhig, ich schlafe wirklich schlecht, wache immer wieder schweißgebadet auf. Die Freude über die bisher so geruhsame Reise ist fast erloschen. Was soll ich tun? Wirklich abhauen? Aber ich wollte zumindest an die Jurassic Coast. Soll ich das wagen? Wenn ich abhauen will, muss ich irgendwo hin, wo ich einen Wagen mieten kann oder mit der Bahn weiterkomme. Also bleibt ja nur Bournemouth, es ist der nächste größere Ort. Und da beginnt auch der SWCP und die Jurassic Coast. Also, nichts wie hin da. Augen zu und durch!
Vom New Forest lasse ich mich von einem Ehepaar mitnehmen, das dort das Wochenende verbracht hat und praktischerweise in einem Vorort von Poole, dem Nachbarhafen von Bournemouth und dem eigentlichen Startpunkt des SWCP, wohnt. Die beiden fahren mich sogar in die Stadt und lassen mich im Licht der untergehenden Sonne im Zentrum raus. Ein eher unspektakuläres Städtchen ist es, ein paar alte Häuser an einer Marina, rings herum etliche Neubausünden für reiche Urlauber und Industriegebäude. Viele Segelboote und Superyachten, offenbar werden die hier gebaut. Der Wirt des Pubs, in den ich mich einmiete, erzählt mir, dass die Stadt den zweitgrößten Naturhafen der Welt hat nach Sydney in Australien. Naja, wer’s glaubt und wenn man jede Windung mitzählt... Auf dem Zimmer logge ich mich ins Netz ein und gebe mein Pseudonym in das Suchfenster ein. Doch ich finde nur Einträge zu den Dreharbeiten und die ewig gleichen Fragen, wer wohl Ava Anndaers sein mag. Kein Hinweis darauf, dass ich mich in England befinde und die Südküste bereise. Gut so! Beruhigt schalte ich das Netz wieder ab und informiere meine Freunde über die neuesten Erkenntnisse per Chat.
Am folgenden Tag setze ich mit der Fähre zu dem eigentlichen Beginn des SWCP auf der Isle of Purbeck über. Wie ich schon erwartet habe, bin ich nicht allein. Eine ganze Reihe Wanderer, alleinreisend oder zu zweit, wollen den Pfad teilweise oder in Gänze durchwandern. Ich verbringe einige fröhliche Momente mit Erzählen und folge dem Schwarm etwas wohlgemuter die Fähre herunter. Im Pulk laufen wir los, besser kann meine Tarnung gar nicht sein!
Der Pulk hält sich nicht lange, denn die meisten starten von hier ja erst und laufen den ersten Tag nicht allzu weit. Eingewöhnungsphase. So habe ich die Masse bereits am frühen Nachmittag hinter mir gelassen und bin ganz allein unterwegs. Eine kurze Konsultation der Website der Touristeninformation sagt mir, das Glück ist mir weiterhin hold, keine Manöver geplant für die nächsten Tage, der Pfad ist komplett freigegeben. Wahrscheinlich sind sie alle im Osten, rasseln mit den NATO-Säbeln in Richtung des russischen Bären. Huh!
So kann ich diesen Küstenabschnitt, ein sehr einsamer, von vielen verlassenen Weilern geprägt, richtig genießen. Zum Übernachten wähle ich einen sehr schönen Spot an einem Felsentor, weitab von allen anderen, und bleibe da tatsächlich auch alleine.
--------------------
Zwei Tage später bewege ich mich auf dem SWCP in Richtung Weymouth. Zahlreiche Schätze habe ich bereits an der Küste gefunden, versteinerte Ammoniten, und es fiel mir wirklich schwer zu entscheiden, welche von ihnen ich mitnehmen sollte und welche nicht. Dabei kommt das eigentliche Zentrum der Kreidefelsen erst noch. Voller Vorfreude plane ich diesen Tag, da summt kurz, nachdem ich alles zusammengepackt habe und aufgebrochen bin, mit einem Mal das Handy.
Anna schreibt: <Die Katze ist aus dem Sack!!>
<Oh F***, wer? Wo?>
<Kannst jedes Schmierenblatt nachgucken. Sogar die BLÖD springt auf den Zug auf, aber ganz vorne dabei sind die Londoner> Sie schickt ein paar Links hinterher.
Ich brauche nur die ersten paar Schlagzeilen zu lesen, da wird mir ganz anders.
Ava in England!
Wird jetzt das Geheimnis gelüftet?
Die Jagd ist eröffnet! Unbestätigten Informationen aus anonymer Quelle zufolge befindet sich die bekannte Autorin auf einer Recherchereise an der Küste Südenglands
So ein verdammter Mist! Haben die nichts anderes zu tun?! Ich scrolle ungläubig durch die Schlagzeilen. Vielleicht fülle ich ja auch das beginnende Sommerloch, denn das britische Parlament, dieses Kasperltheater für Erwachsene mit schlaflosen Nächten, hat bereits Ferien. Politiker müsste man sein!
<OK, ich sehe zu, dass ich wegkomme, das wird mir zu heiß hier. Muss allerdings erst einmal Richtung Weymouth, hier kann ich den Pfad nicht verlassen, militärisches Sperrgebiet! >
<Sei bloß vorsichtig! Sonst wandere nachts, wenn es gar nicht anders geht>
<Mach ich, keine Sorge> Ich weiß ja, wie man untertaucht, weiß es nur allzu gut.
Ich brauche natürlich ein wenig, bis ich die Sperrzone durchquert habe, sie ist ja etliche Meilen lang. Mittags habe ich dann das Gebiet hinter mir gelassen. Unterwegs begegnet mir zum Glück kein Mensch, und ich will mich schon entspannen, da entdecke ich auf einem der Parkplätze zu den Buchten einen weißen Lieferwagen. Mit einer großen Antenne oben drauf. Das muss natürlich noch nichts heißen, aber ich bin sofort beunruhigt, und mein Verdacht bestätigt sich. Dieses Bild wiederholt sich in schöner Regelmäßigkeit und immer mehr, je dichter ich an Weymouth herankomme. Oh Gott! Wenn ich jetzt ins Hinterland abbiege, dann haben sie mich sofort, fluche ich innerlich.
Doch da kommen Stimmen vor mir auf. Eine kleine Gruppe erscheint auf dem Pfad, anscheinend haben sie gerade Pause gemacht oder weiter unten am Strand fotografiert. Wir grüßen uns, kommen ins Quatschen. Sie sind aus Deutschland, das hilft natürlich sehr. Sie sind fast genauso ausgerüstet wie ich, mit Vollgepäck. Das machen sie immer so, erzählen sie mir fröhlich, sie sind ein Wandererverein, und feste Unterkünfte mit Gepäcktransport sind nichts für sie. Das ist doch perfekt, denke ich und laufe einfach mit ihnen mit.
Je näher wir an den Küstenort herankommen, desto voller wird es, und auch die Anzahl der weißen Wagen nimmt zu. Die bebaute Bucht öffnet sich wie ein Maul, wie eine Falle, so kommt es mir vor. Ich sehe sogar einen Typen mit Kamera und Mikrofon, der die Wanderer befragt. Alles Alleinreisende, und nur die Frauen. Wir als Gruppe werden von ihm komplett ignoriert, was für ein Glück! Im Ortszentrum, wo auch der Bahnhof in unmittelbarer Nähe zum Strand liegt, wird es noch schlimmer.
»Boah, ist das voll hier!«, sage ich zu meinen Mitreisenden, meine Unruhe gut verbergend. Der Bahnhof wird regelrecht belagert, ein Umstand, der meinen schönen Plan, unbemerkt von hier zu verschwinden, zu Staub zerfallen lässt.
»Keine Lust darauf, was? Wir auch nicht«, lachen die anderen, und wir beschließen gemeinschaftlich, nur etwas zu essen zu kaufen und dann das Weite zu suchen. Mit dem Bus durchqueren wir den Ort bis ans andere Ende der Bucht und planen, uns am nächsten Strand ein schönes Fleckchen für ein Picknick zu suchen. Hinter Weymouth beginnt ein langer Strand, eine Landzunge, welche eine Lagune vom Meer trennt, oder ein Fleet, wie sie hier sagen. Auf die kommt man nicht mit dem Auto, von daher haben wir kaum eine Stunde später das Gröbste hinter uns gelassen. Wo kein Parkplatz in der Nähe, dort auch kaum Menschen. Weshalb wir die nächste Halbinsel, die Isle of Portland, links liegen lassen und die Einsamkeit des Strandes bevorzugen.
»Geht das jetzt so weiter?«, fragen wir uns kopfschüttelnd und sind alle ein klein wenig entsetzt. Es ist ja mitten in der Woche. Wie wird das denn am Wochenende?
Als es Abend wird, entscheidet die Gruppe, in der Mitte des einsamen Strandes ihr Lager aufzubauen. Auf mögliches Partyvolk am nächsten Parkplatz hat nun wahrlich keiner Lust. Da der Strand weit einsehbar ist, beschließe ich, in der Nähe zu bleiben, und teile mit ihnen am Abend noch eine Flasche Wein und etliche Geschichten. Ich sage ihnen, dass ich am nächsten Morgen sehr früh aufbrechen will, um die berühmte Jurassic Coast im Licht der Morgensonne und ohne Besuchermassen fotografieren zu können. Von daher verabschieden wir uns schon beim Zubettgehen, und ich packe nach einer kurzen Nacht bei Verblassen der Sterne meine Sachen und ziehe wieder los. Nichts wie weg hier, bevor der Wahnsinn wieder losgeht!
Bald ist die Lagune zu Ende. Dort gibt es – wie sollte es anders ein – einen Parkplatz, doch der liegt verlassen da. Weiter hinten sehe ich auch ein oder zwei Umrisse von Zelten am Strand, doch ansonsten ist hier niemand. An diesem Spot gibt es keine Steilküste, sanft steigt das Land mit grünen Wiesen und Hecken ins Hinterland an. Es ist ein wenig nebelig, eine schöne Stimmung mit der aufgehenden Sonne. Die Zufahrt zum Parkplatz, eine einspurige Straße, führt zu einer Landstraße, wie mir die App zeigt, wo ich hoffe, eine Mitfahrgelegenheit zu erwischen, nach Dorchester, den nächst größeren Ort mit einer internationalen Mietwagenniederlassung. Es ist einer dieser typischen Heckenwege, wenig einsehbar, sodass ich hoffnungsvoll ausschreite.
Doch weit komme ich nicht. Die Sonne schickt ihre Strahlen gerade etwas kräftiger durch den Nebel, und ich bin um die nächste Biegung der verschlungenen Straße gebogen, da parkt in einem Feldweg ein blauweißer Lieferwagen. Antenne auf dem Dach, ganz eindeutig. Verdammt! Davor steht ein Typ, Flipflops, Boxershorts, Schlabbershirt über dem dicken Bauch, und hat gerade sein ziemlich winziges Prachtstück hervorgeholt, um die üppige Natur zu wässern, direkt vor seiner Tür und mitten auf dem Weg. Igitt! Ich trete sofort den Rückzug an, doch zu spät, er hat mich bereits entdeckt.
»Hey! Wohin des Weges, schöne Lady?«
Ich höre ihn hinter mir herkommen und bleibe innerlich fluchend stehen. Die Hände in die Hüften gestemmt, drehe ich mich um. »Nicht in deine Richtung«, erwidere ich in meinem schönsten Cockney Akzent. Das habe ich auf einer Baustelle gelernt, und zwar perfekt, wie sich das wieder einmal herausstellt.
»Hey, Cocks, was machst du denn hier?«
»Auf jeden Fall nicht dein Prachtstück anschauen, Mann!« Ich will mich wegdrehen, doch er hält mich am Arm fest, mit der Hand, die eben gerade noch… igitt! »Bäh, Finger weg!« Ich reiße mich los.
»Sei doch nicht so kratzbürstig. Ich will dich nur etwas fragen.« Er stellt sich mir jetzt richtig in den Weg. Ein widerlicher Typ, ungewaschen, verschwitztes, rot verbranntes Puddinggesicht.
»Dann frag!«, tue ich genervt, »und dann lass mich in Ruhe! Also?«
»Du bist aber zickig! Willste nen Kaffee?«
»Ha!« Ich lache ihn aus. »Womöglich in deinem Wohnklo? Nein, danke! Chance vertan, Kumpel!« Damit lasse ich ihn einfach stehen und setze meinen Weg fort, einen sorgsamen Bogen um seine Pfütze machend. Mit halbem Ohr lausche ich hinter mich, und richtig, er kommt hinter mir her. Ich höre, wie eine Tür klappt, und gleich darauf ist er neben mir mit einer Kamera in der Hand und hält mich richtig fest, ziemlich brutal sogar. Ich schreie auf und will ihm gerade eine verpassen, da durchbricht eine andere männliche Stimme den Morgennebel:
»He! Belästigst du etwa gerade eine Frau, du Schwein?«
Er zuckt zurück und lässt mich los, und auch ich drehe mich um. Eine Gestalt kommt durch den Nebel auf uns zu, ein Wanderer wie ich, mit großem Rucksack auf dem Rücken. Vielleicht einer der Zelter vom Strand? Noch kann ich nicht viel erkennen, aber ich höre, es klingt etwas schleppend, wie er das gesagt hat, irgendwie betrunken. Einen Moment ist es still, nur unterbrochen von dem Tocktock seines Wanderstockes. Nur einer, wie ich sehe, als er herankommt, in der Rechten, auf den er sich ein wenig stützt, und gleich darauf sehe ich auch, warum. Er zieht das linke Bein nach, und auch mit seinem Gesicht stimmt etwas nicht, obschon ich noch keine Details erkennen kann.
Mein Gegner knurrt: »Hau ab, du Penner, und überlass die Lady einem richtigen Mann!«
Das kommt so gehässig heraus, dass mir die Hutschnur platzt. Ich wirbele herum und ramme ihm mit voller Wucht das Knie in die Weichteile. Mit einem Ächzen bricht er zusammen, die Kamera fliegt ihm aus der Hand.
»Nicht nur ein Schwein, sondern nun ziehst du auch noch über einen Behinderten her!? Was bist du für ein Arsch! Verzieh dich!« Ich bringe mich schleunigst an die Seite des anderen in Sicherheit.
»Alles okay?«, fragt der. Die Laute verschwimmen.
»Jaja. Komm, lass uns abhauen, bevor der noch auf andere Gedanken kommt. Wolltest du auch hier lang?«
»Hmm…« Ich warte keine weitere Antwort ab, laufe einfach los, um möglichst viel Abstand zwischen mich und den Widerling zu bringen. Am Tocktock höre ich, dass mein Beschützer mir folgt.
Etliche Biegungen später wage ich es, stehen zu bleiben. Wenn der andere jetzt seinen Motor startet, dann können wir immer noch rechtzeitig in Deckung gehen. Ich drehe mich um und schaue meinen Begleiter das erste Mal richtig an. »Danke«, sage ich und lächele leicht. Diesmal scheint ihm die Morgensonne ins Gesicht, und ich erkenne, ich lag richtig.
Es ist, als würde ich in einen zerbrochenen Spiegel schauen. Die rechte Gesichtshälfte, nein, die gesamte rechte Körperhälfte, ist völlig normal. Aber die linke Seite sieht aus wie zerlaufen. Der Mundwinkel hängt schlaff nach unten, das Auge ist fast ein Triefauge. Der linke Arm und das Bein sind dünn und nicht oder fast nicht in Funktion, Hand und Fuß verdreht. Daher auch der Stock. Er ist vielleicht einen Kopf größer als ich und ziemlich muskulös, kein Wunder, wenn die rechte Körperseite für die linke mitarbeiten muss, mit dem schweren Rucksack allemal. Schon eine ganze Weile unterwegs, sehe ich, denn er ist braungebrannt und hat mindestens ein paar Tage nicht mehr geduscht. Schwarze gelockte Haare, einen tick zu lang und ziemlich zerzaust und mit ein paar grauen Fäden, sehr dunkelblaue Augen, dass sie fast schwarz wirken. Keltenblut nennt man das hier.
Mir fällt auf, dass seine Klamotten ziemlich abgerissen aussehen, obschon sie nicht billig waren, bis auf die Schuhe, die sind fast neu. Maßanfertigung, wahrscheinlich für den linken Fuß, und hierzulande nicht unter tausend Pfund zu haben. Der Rucksack sieht edel aus, der Stoff glänzt regelrecht in der Sonne. So einen habe ich noch nie gesehen. Wahrscheinlich ein brandneues Modell. Nein, ein Penner ist der ganz sicher nicht. Außerdem habe ich schon etliche gutverdienende Engländer getroffen, die es geschafft haben auszusehen, als hätten sie tagelang in der Gosse geschlafen. Das beste Beispiel flimmerte jahrelang über die Fernsehmonitore. Da ich selber aber auch nicht wie aus dem Ei gepellt aussehe, entspanne ich mich etwas.
Das gesunde Auge schaut mich besorgt an, während das andere schielend ins Nirgendwo blickt, sichtlich trübe. »Wirklich alles okay mit dir? Was für ein Arsch!«, sagt er. »Willste auf dem Hund anrufen?«
Ich zögere einen winzigen Moment zu lange. Dann muss ich lachen. »Erwischt«, sage ich in meinem normalen Englisch. Denn das war reinstes Cockney, ein Synonym für die Nutzung des Telefons. »Ja, danke, geht schon, und nein, die Polizei will ich nicht anrufen. Danke für deine Hilfe. Und sorry, wollte dir nicht zu nahetreten. Er war halt ein Arsch.«
Er verzieht den rechten Mundwinkel nach oben. »Kein Problem. Hast du geübt? Das war schon fast perfekt, für den Idioten allemal, das merkt der nie. Deinen normalen Akzent, den kann ich allerdings nicht einordnen. Nicht von hier, auf jeden Fall.« Er mustert mich mit offener Neugier.
Oh je. Also die unverfängliche Variante. »Das stimmt. Ich bin Deutsche, lebe aber in den Niederlanden. Du dagegen… hm. Ein wenig London, aber die Upper Class kannst du nicht verbergen.«
Er lacht. »Sag jetzt nicht Posh!«
»Würde mir im Leben nicht einfallen, und der Name ist schon an das Spice vergeben. Also, was ist? Willst du auch in die Richtung? Ich will hier weg. Da an der Küste ist alles voll von diesen Typen. Das nervt echt.«
Die linke Hand fängt an zu zucken. Spastiken, doch er hat das im Griff, reflexartig fasst er zu mit der anderen Hand und hält sie ruhig. »Hmm… ja.«
Okay, das war gelogen, ich erkenne es sofort. Merkwürdig. »Na, dann lass uns abhauen, bevor der Typ noch wirklich hinter uns herkommt.« Wir laufen wieder los. Er ist ein wenig langsamer als ich, aber nicht viel. Ich passe meine Geschwindigkeit etwas an. »Was wollen die bloß alle hier? In Weymouth war echt die Hölle los«, sage ich nicht ohne Absicht. Mal sehen, ob er was weiß.
»Ach, die suchen jemanden, diese Autorin. Hast du davon nichts gehört?«
»Welche Autorin… oh, warte. Von der gerade das Buch verfilmt wird? Wie hieß sie noch gleich?«
»Ava Anndaers«, kommt es prompt. Oh Mist, ein Leser. Hoffentlich fängt er nicht an, über mein Buch zu fabulieren. Doch er sagt nichts weiter.
»Ach richtig«, meine ich schulterzuckend. »Ich habe es nicht gelesen.« Das stimmt sogar. Mein eigenes Buch habe ich in gedruckter Form nie gelesen, es steht auch kein Exemplar in meinem Schrank. »Ach herrje! Wie vielen Frauen diese Typen wohl auf diese Art den Urlaub vermiest haben? Der war echt ekelig.«
»Und wie! Freelancer, würde ich sagen, einer von den Geiern, die sogar in private Schlafzimmer einsteigen, um noch die heißesten Bilder zu bekommen. Ach übrigens, ich heiße Jake.« Er bleibt stehen und hält mir die Hand hin.
Ich ergreife sie und drücke sie. Oh ja, kräftig und schwielig, und wie! »Ich bin Liv. Nett, dich kennenzulernen.« Wir lassen wieder los und stehen etwas verlegen voreinander.
»Machst du hier Urlaub?« Er mustert mich kurz, meine Ausrüstung, die Kamera, die mit ihrem Stativschuh in der Halterung am Schulterkurt hängt, dann laufen wir wieder los. Steinmauern säumen jetzt den Weg, und weiter entfernt sieht man die erste Farm.
»Naja, so halb. Ich schiebe einen Riesenberg Überstunden vor mir her, die hat mein Chef mir verordnet abzubauen, und ich…«
Weiter kommen wir nicht. Ein Pfiff ertönt, hinter einer Steinmauer springen zwei Gestalten hervor und stürzen sich auf uns. Der Kleinere auf mich, der Größere jedoch attackiert Jake.
Ich warte vielleicht einen Moment zu lange, doch dann steht meine Abwehr. Dem Kleinen ramme ich den Handballen unter die Nase und gleich hinterher die andere Handkante in die Gurgel. Ein Tritt in die Weichteile, und er liegt genauso japsend am Boden wie das Ekelpaket. Mein Begleiter jedoch wurde von dem anderen zu Fall gebracht und wird von ihm mit Tritten attackiert. Da hält mich nichts mehr. Ich schnappe mir seinen Wanderstock, den er hat fallen lassen, und ziehe dem anderen mit aller Macht eins über. Dieser fällt um, auf Jake drauf, der sich zu einem schützenden Ball zusammengerollt hat, so gut das mit dem sperrigen Rucksack geht.
Schwer atmend ziehe ich den anderen von ihm herunter. »Oh Gott, hat er dich verletzt? Du blutest ja! Lass mich sehen…«
»Nein…«, keucht er, »hilf mir auf. Wir müssen weg! Vielleicht sind da noch mehr!« Er packt meine Hand, versucht, sich hochzuziehen. Als er den Kopf dreht, sehe ich, dass er eine Platzwunde an der Schläfe hat.
»Oh nein!« Hastig krame ich nach einem einigermaßen sauberen Taschentuch, das ich ihm auf die Wunde drücke, dann helfe ich ihm auf, zumindest versuche ich es. Er ist schwer, vor allem sein Rucksack. Was hat er denn da drin? Steine?! Als er aufrecht steht, muss er ein Stöhnen unterdrücken. »Geht es? Komm, ich helfe dir. Hier ist dein Stock. Rechte Hand, richtig?«
Unter gutem Zureden schaffe ich es, ihn stabil zu bekommen. Hastig sammele ich einige Dinge ein, die ringsherum verstreut liegen, und stopfe sie in eine Tüte, dann laufen wir los. Er stöhnt von Zeit zu Zeit, er muss Schmerzen haben. Ich biege kurzerhand auf den nächsten Feldweg ab und nehme danach jede Abzweigung, die ich finden kann. Bloß nicht in der Nähe der Straße bleiben! Die Häuser weit abseits liegen lassend, halte ich bergan auf ein kleines Wäldchen zu, das etwas Deckung verspricht, denn ich merke, er muss sich hinsetzen, unbedingt, er zittert jetzt unkontrolliert. Außerdem läuft ihm das Blut nur so die Schläfe herunter und tropft auf sein Hemd.
Wir haben Glück. In dem Wäldchen finden wir einen Unterstand, wohl für einen Jäger. Ich helfe ihm, den Rucksack abzunehmen, sich hinzusetzen. Er schließt die Augen, schwer atmend, die linke Hand zitternd. »Ganz ruhig. Das muss ich mir anschauen.« Ich krame ein weiteres Taschentuch hervor, feuchte es an und wische damit über die Wunde. Es saugt sich im Nu voll. Er stöhnt leise auf. »Platzwunde, würde ich sagen. Muss genäht werden.«
»Lass mich mal sehen«, kommt es leise von ihm.
»Wie…«, hebe ich verwundert an, doch da geht ein Ruck durch ihn. Wie ein Schalter, der umgelegt wurde.
Er setzt sich aufrechter hin. »Geh mal an meinen Rucksack. An der Vorderseite findest du ein großes Fach. Bring mir das Pack, das du dort findest.«
Verwundert tue ich, was er sagt. Die Sprache ist merklich klarer, fast ohne zu nuscheln. Eine Anordnung, keine Bitte. Ich öffne das Fach und finde ein großes Paket mit einem roten Kreuz darauf. Das reiche ich ihm, und ich kann gar nicht so schnell schauen, wie er es geöffnet hat. Mit beiden Händen, die Linke hilft, ohne zu zittern. Er zieht einen kleinen Spiegel hervor, beschaut sich seine Stirn.
»Jepp. Muss genäht werden. Da musst du mir helfen. Ich sage dir, was du zu tun hast.« Ich habe nicht mal Zeit zu staunen, da scheucht er mich auch schon mit Anweisungen. Kaum ein paar Minuten später habe ich den letzten Knoten zugezogen, reinige die Stirn mit einem Antiseptikum und klebe abschließend ein Pflaster drauf.
»Das ist ein Profipakt«, sage ich irgendwann, da hat er die Augen schon wieder geschlossen und sitzt zusammengesunken da. Ich wische ihm das Blut aus Gesicht und Kragen.
»Jaaa… ist meins.« Die Sprache nuschelt. Die Hand zuckt. Jetzt, da die Anspannung fort ist, setzt der Schock ein. Ich kenne die Anzeichen von mir selber. Er sollte liegen, zumindest für eine Weile, Beine hoch.
Vorsichtig schaue ich mich um. Von den beiden Typen ist nichts zu sehen. Ich gehe zu meinem Rucksack, ziehe eine dünne Picknickmatte mit Alubeschichtung hervor. Die habe ich für tagsüber dabei, wenn ich mal Pause machen will. Leicht und unkaputtbar. »Komm, lege dich ein wenig hin und ruh dich aus. Soll ich dir die Beine hochpacken? Auf deinen Rucksack?«
Er schnaubt. »Wäre gut, ja. In Ordnung.« Stöhnend lässt er sich auf die Matte sinken. Als er liegt, geht seine Linke, nicht die Rechte, wie ich verwundert sehe, auf Wanderschaft. Tastet seinen Körper ab. Was ist das für ein merkwürdiger Geselle?, denke ich und setze mich etwas weiter weg an einen Baum. So kann ich die Wege zum Wald im Auge behalten, sollten die beiden Typen wieder auftauchen. Ich krame in meinem Rucksack. Dabei rutschen aus der Plastiktüte, die ich für gewöhnlich zum Müllsammeln nutze, ein paar Gegenstände heraus. Ach ja, die hatte ich vorhin aufgesammelt.
Interessiert schaue ich mir an, was ich da gefunden habe. Ein Handy. Ich versuche es einzuschalten, aber es tut keinen Mucks mehr. Eine Geldbörse, ziemlich abgeschrabbelt und aus Plastik. Das passt irgendwie so gar nicht zu ihm. Neugierig klappe ich sie auf, doch anstatt seines Gesichts schaut mir das des kleineren Angreifers entgegen. »Aber hallo«, sage ich leise zu mir selber, als ich das Bündel Scheine sehe. Fünfhundert Pfund.
»Was ist?«, fragt er, mit geschlossenen Augen.
»Hmm…« Ich halte eine goldene Kette in der Hand. An ihr baumelt ein winziger Anhänger, eine Schlange, die sich um einen Stab windet. Ein Äskulapstab, das Zeichen aller Ärzte und Apotheker. Mein Blick geht zu dem erste Hilfe Paket, das immer noch neben seinem Rucksack liegt. Professionelle Ausstattung, ganz eindeutig. Mir fällt sein Verhalten ein, diese Ruhe, obwohl er verletzt war. »Du bist Sanitäter? Oder gar ein Arzt?«
Jetzt dreht er den Kopf und macht die Augen auf. »Sieht man mir nicht an, was?«, kommt es leise zu mir herüber. Ein wenig bitter klingt es, wie er das sagt.
»Hmm…« Ich gehe nicht darauf ein. »Dann möchtest du das hier sicherlich wiederhaben.« Ich stehe auf, gehe hinüber und hocke mich zu ihm. Dabei halte ich die Kette hoch.
Automatisch fährt die Rechte an seinen Hals. »Oh verdammt!« Er will sich aufrichten, doch das verhindere ich.
»Bleib liegen. Der Verschluss ist kaputt, das muss ich mir erst einmal ansehen. Ruhe dich aus. Ich mach das schon.«
Mit Hilfe meines Multitools habe ich die verbogenen Glieder schnell wieder zusammengefügt und kann auch den Verschluss wieder anbringen. Es ist eine fein gearbeitete Kette, war bestimmt nicht billig. Handarbeit der Anhänger. Wen habe ich da nur aufgegabelt?
Nach einiger Zeit hat er sich sichtlich erholt und liegt still da, atmet tief und ruhig. So langsam meldet sich der Hunger, zum Frühstück hatte ich nur einen Müsliriegel verdrückt und etwas Wasser getrunken. Daher beginne ich in meinem Rucksack zu kramen. Er braucht Zucker nach dem Schock und etwas, das seinen Kreislauf in Gang bringt, denke ich. Einen Tee möchte ich erst einmal nicht kochen wegen der möglichen Verfolger, aber ich finde Traubenzucker und eine Banane, schon ziemlich zerditscht, aber noch genießbar, und eine Minidose Cola, die Notration. Ja, genau richtig.
An seinen Atemzügen merke ich, er schläft. Wie ich ihn so betrachte, finde ich, er sieht trotz seiner kräftigen Statur etwas abgemagert aus, oder zäh, das wage ich nicht zu beurteilen. Und erschöpft, nicht nur seit dem Überfall, sondern auch schon vorher. Ist vielleicht doch etwas zu viel für ihn, eine Wanderung mit schwerem Gepäck.
Sachte rüttele ich ihn an der Schulter, und er fährt hoch. »Ganz ruhig. Geht es? Hast du Kopfschmerzen?«, frage ich besorgt, als er sich an die Stirn fasst. Wieder mit der Linken.
»Nein.« Er tastet. Ich schaue fasziniert zu. »Ist in Ordnung. Keine Gehirnerschütterung. Hilf mir mal, mich aufzusetzen.«
Als er sitzt, helfe ich ihm, die Kette wieder anzulegen. Er verharrt einen Moment mit geschlossenen Augen, den Anhänger mit der Faust umschlossen. »Das wäre wirklich ein Schlag gewesen, wenn die weg gewesen wäre. Meine Großmutter hat sie mir zum Examen geschenkt. Summa cum laude«, sagt er leise. Also ist er Mediziner, nicht nur Sanitäter, obwohl ich vor diesen Leuten den höchsten Respekt empfinde.
»Wow.« Das sage ich mit aller Achtung. »Das habe ich nicht geschafft. Bei mir war es nur cum laude.«
»Hat dich das geärgert?« Er drückt den Anhänger an seine Lippen, dann lässt er ihn wieder unter seinem Shirt verschwinden und schaut zu mir auf. Im Licht der Sonne wirken seine Augen dunkelblau, mit einem kleinen braunen Kranz darin. Auch das Versehrte. Das Gesunde kann bestimmt ganz schön funkeln, ob wütend oder lustig.
Ich zucke mit den Schultern. »Ach, nein. Ich war froh, überhaupt bestanden zu haben.«
»Was hast du denn studiert?«, fragt er neugierig und schaut mir zu, wie ich zu meinem Rucksack gehe und mit den Lebensmitteln zurückkomme.
»Hier. Traubenzucker, noch mehr Zucker und die ultimative Dosis Zucker. Was willst du zuerst?« Ich halte ihm die Sachen lächelnd hin.
»Traubenzucker«, kommt prompt. Ich packe aus, reiche ihm das erste Stück. Er schiebt es sich in den Mund, lutscht darauf rum. Dabei hält er mit der Rechten ein Taschentuch an seinen linken Mundwinkel. Sammelt sich dort Spucke? Ich beobachte es aus den Augenwinkeln. Und richtig. Er muss abwischen, aber das macht er so geschickt, dass man es kaum merkt. Lange antrainiert, das möchte ich wetten.
»Ich habe Bauingenieurswesen studiert und im Nebenfach Architektur«, beantworte ich seine eigentliche Frage. »Zur Zeit der Prüfung hatte ich bereits einen Job, in Vollzeit mit Festanstellung. Da musste ich nur bestehen.«
Er guckt mich ungläubig an. »Bauingenieurin?«
Jetzt muss ich schmunzeln. »Sieht man mir nicht an, was?«, gebe ich ihm die Retourkutsche. Er grinst daraufhin und schiebt sich das nächste Stück Traubenzucker in den Mund. Ich krame nach einem Müsliriegel und packe ihn aus, fange ebenfalls an zu essen. Als er den Traubenzucker alle hat, legt er sich einen Moment zurück, vermutlich, um das Zeug wirken zu lassen.
»Banane?« Ich wackele damit vor seiner Nase herum.
»Her damit.« Er schnappt sie sich und hat sie so schnell inhaliert, dass ich kaum zuschauen kann. Gleiches geschieht mit der Cola. Da sitzt er schon wieder aufrecht, nicht mehr ganz so bleich im Gesicht.
So langsam dämmert mir etwas. »Himmel, du hast wirklich Hunger! Wann hast du das letzte Mal etwas Richtiges gegessen?« Er zuckt zusammen. Diesmal hat er sich nicht ganz im Griff, die Linke fängt an zu zucken, regelrecht zu tanzen. Fast tut es mir leid, gefragt zu haben, aber mich beschleicht ein leiser Verdacht. Denn beim Auspacken des Notfallkits habe ich in das darunter liegende Fach schauen können und keine Lebensmittel gesehen.
»Schscht, ganz ruhig.« Ich lege meine Hand auf seine. »Du brauchst nicht darüber zu sprechen, wenn du nicht magst.« Damit überschreite ich eine Grenze, ich merke es wohl. Er zuckt förmlich zusammen und wird stocksteif. Das linke Auge dreht sich weg, der Kopf fährt zur Seite. Hastig lasse ich los und bringe etwas Abstand zwischen uns. Nicht, dass er gleich um sich schlägt.
Doch das hat er schnell wieder im Griff, und er merkt auch, dass ich vor ihm zurückgewichen bin. Er atmet einmal tief durch, wirft mir einen unsicheren Blick zu. »Woher weißt du das?«
Damit meint er nicht die Tatsache, dass er Hunger hat. Ich beschließe, offen zu sein. »Ich bin in einem Waisenheim aufgewachsen. Zwei meiner Mitbewohner waren Spastiker. Die eine nur leicht, aber der andere ziemlich schlimm. Solange sie in ihrem gewohnten Tagesablauf waren, nichts Ungewöhnliches geschehen ist, war alles gut. Aber wehe, es kam was dazwischen, und sie regten sich auf oder waren in Bedrängnis. Das konnte eine Frage sein, ein Gegenstand, der umgefallen ist. Oder Streit mit anderen. Dann ging es los. Da musste man sich vor allem bei ihm in Sicherheit bringen. Ich kenne also die Anzeichen. Du hast geübt, und das schon lange. Richtig?«
»Oh ja.« Er atmet langsam aus. Hat sich angespannt, und wie! »Und ja, ich habe Hunger!«, stößt er im nächsten Atemzug hervor. »Hast du noch was zu essen?«
Da muss ich lachen, trotz allem. »Jede Menge. Warte, ich mache dir etwas. Unsere beiden Freunde werden hier nicht so schnell auftauchen, denke ich.« Also baue ich im Jägerstand eine Küche auf. Als erstes bekommt er eine leichte Nudelsuppe, die er ebenso rasch aufsaugt wie vorher die Banane. Dazu gebe ich ihm das restliche Brot, das meine deutschen Mitwanderer mir überlassen hatten. »Gott, tut das gut«, stöhnt er und kaut genüsslich vor sich hin.
»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Wie lange?« Ich reiche ihm die nächste Portion Suppe.
Diesmal macht es ihm nichts mehr aus. »So zwei Tage oder so. Mir ist das Bargeld ausgegangen. Meine Schuhe waren kaputt, ich musste mir neue machen lassen. Das hat das Budget gesprengt«, erzählt er mit halb vollem Mund. »Bei den Schuhen mache ich keine Kompromisse. Sie passen mir wie eine zweite Haut, ich trage sie immer, ob auf Arbeit oder hier.«
Merkwürdig, denke ich. Hat er denn keine Kreditkarte? Wieso hebt er nicht einfach Geld ab? »Und was hattest du vor?«, frage ich kopfschüttelnd. »Wolltest du am Parkplatz an die Mülleimer oder was?«
»Soweit war ich noch nicht«, kommt es beschämt zurück. »Aber ich wollte gucken, ob ich nicht vielleicht einen Fisch fangen kann.«
Das kommt so todernst heraus, dass ich ihn einen Moment sprachlos anstarre. »Waas, hier?! Bei den Strömungen? Bist du… da wärest du eher reingefallen und ertrunken. Oh man!«
Er zuckt mit den Schultern. »Nicht im Meer, aber im Fleet. War ein Versuch wert. Wenn das nicht klappt, wollte ich zurück nach London, einen Kumpel anpumpen. Als letzte Option.«
So langsam beschleicht mich ein Verdacht. »Steckst du etwa in Schwierigkeiten? Hast du Ärger mit der Polizei?«
Wieder geht der Kopf zur Seite, fängt die Hand an zu tanzen. Treffer, erkenne ich. Diesmal greife ich nicht ein, ich warte. »Nein«, kommt dann. Wieder gelogen.
»Hör zu.« Ich sage das ganz ruhig. »Du brauchst nicht darüber zu sprechen, wenn du nicht magst. Aber ich habe einmal schlimme Erfahrungen gemacht und möchte das nicht noch einmal erleben. Bist du mit dem Gesetz in Konflikt geraten? Ja oder nein? Der Rest interessiert mich nicht.«
Es erschreckt ihn, das sehe ich wohl, aber er schaut mich an, ganz ruhig auf einmal. »Nein.«
»Okay«, nicke ich und bemühe mich nicht, meine Erleichterung zu verbergen. »Das glaube ich dir.«
»Bin ich so gut zu lesen?«, fragt er, und es klingt eine leise Schärfe in den Worten mit.
Jetzt ist es an mir, die Schultern zu heben. »Die meisten Spastiker können ganz, ganz schlecht lügen. Dinge verbergen. Du offenbar auch. Wenn man mal mit welchen zusammengelebt hat, weiß man das. Ansonsten bist du ziemlich gut darin, das zu beherrschen. Aber nicht perfekt. Also, was machen wir nun? Du willst hier weg, und vor allem, nicht gefunden werden, das ist offensichtlich. Aber du könntest mal eine richtige Dusche gebrauchen nach der Geschichte und etwas Ruhe und deine Klamotten eine Wäsche. Meine übrigens auch.«
»Wo sind wir denn genau?«, fragt er wieder mit vollem Mund. Er ist zu Müsliriegeln übergegangen.
»Hast du kein Handy?«, frage ich erstaunt. Er schüttelt den Kopf. Kein Handy, keine Kreditkarten… es wird immer merkwürdiger. »Oh. Dann ist das nicht deins?« Ich greife hinter mich und hole das kaputte Handy hervor.
»Nee. Wo hast du das her?« Er nimmt es in die Hand, dreht es und versucht es einzuschalten, aber genauso ohne Erfolg.
»Das haben die beiden Typen verloren bei unserem Kampf. Genauso wie das hier.« Ich werfe ihm die Geldbörse in den Schoß. »Ich finde, das solltest du bekommen. Als Entschädigung und Schmerzensgeld.«
Mit großen Augen holt er die Scheine hervor, zählt sie durch. »Ernsthaft jetzt? Du hast sie doch platt gemacht. Das war übrigens… wow! Wie Lara Croft. Die stehen dir zu.« Er will mir die Scheine reichen, doch ich winke ab.
»Lass mal, mein Budget ist mehr als ausreichend. Nein, nimm du sie. Das ist eine gute Strafe für diese beiden Typen. Vielleicht waren sie professionelle Diebe, aber ich könnte wetten, diese Scheine hier hat ihnen unser Freund gegeben, aus Rache oder so. Schon alleine deshalb sollten wir hier weg.« Ich habe mein Handy gezückt und rufe die Wanderapp auf. Er rückt ein Stück zur Seite, damit ich mich neben ihn auf die Matte setzen kann. Ich zeige ihm die Karte, scrolle ein wenig raus.
»Ah ja«, macht er und zieht kauend die Karte mit dem Finger hin und her. Dann verharrt er einen Moment. »Bleechley Manor?« Er zoomt etwas rein. »Tatsächlich. Und gar nicht so weit weg. Ich kenne die Besitzer, naja, ein wenig. Der Sohn ist ein alter Bekannter von mir, aus der Kindheit. Ist schon eine ganze Weile her, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Aber da könnten wir anklopfen und um Hilfe bitten. Besser als nichts. Du willst anscheinend in kein Hotel, oder?« Jetzt hat sein Blick etwas eindeutig Forschendes.
»Nein.« Ich nehme ihm das Handy wieder ab. »Ich übernachte fast ausschließlich in Privatunterkünften. Das ist mir viel lieber und zieht nicht unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich. In Hotels wird jemand wie ich sehr oft angegangen. Du verstehst, was ich meine.« Das ist mir unangenehm. Hastig stehe ich auf und beschäftige mich damit, das Kochgeschirr zu reinigen und alles andere wieder zusammenzupacken. Das Handy und die Geldbörse tue ich – ohne die Scheine – in den Müllsammelbeutel. Die werde ich ganz gewiss verbrennen, mit Wonne!
Als ich fertig bin, hat er sich wieder hingelegt und die Augen geschlossen. Ich beschließe, ihn ein wenig schlafen zu lassen, und klemme mich ans Handy, Anna eine Nachricht mit meinen neuesten Erlebnissen schickend.
<Du hast waaas?!>, kommt prompt zurück. <Oh man, Liv, pass bloß auf! Der ist nicht sauber, dieser Typ. Da stimmt doch was nicht! Sieh zu, dass du den wieder los wirst!>
<Hmm. Bin mir nicht sicher. Entweder das, oder er ist wirklich in Not. Keine Sorge, ich schaffe das schon. Aber erst einmal braucht er akut Hilfe, das bin ich ihm einfach schuldig. Wir verduften von hier, so schnell es geht>
Nachdem ich den Chat beendet habe, gehe ich in die Wanderapp, rufe den Routenplaner auf. Knapp 10 Meilen bis zu diesem Landsitz, wo er angeblich jemanden kennt. Vielleicht. Aber besser als nichts. Wir müssen uns irgendwie wieder richten, sonst nimmt uns keiner mit, und so fallen wir auch viel zu sehr auf. Nicht, dass jemand die Polizei ruft, das fehlte noch.
Nach einer Weile wecke ich ihn. Es ist knapp 11 Uhr vormittags, Zeit, aufzubrechen. Vorsichtig und uns nach allen Seiten umschauend, verlassen wir das Wäldchen und tauchen im nächsten Heckenfeldweg unter. Er hat wirklich zu kämpfen, daher sind wir langsamer, als ich es geplant habe. Schon am Mittag müssen wir eine längere Pause einlegen, außerdem müssen wir etliche Umwege gehen, denn wir wollen jedwede Farmen oder Orte meiden. Zum Glück ist die Gegend hier nicht allzu dicht besiedelt, sodass es uns gelingt. Am Abend, da ist er schon sichtlich erschöpft und ich auch, erreichen wir schließlich einen Park umgeben von einem hohen schmiedeeisernen Zaun.
»Das sieht richtig aus«, sage ich zufrieden mit einem Blick auf die App. Über Tag haben wir nicht wirklich viel gesprochen, auch nicht in den Pausen. Zu fertig und auch etwas verzagt, einander mehr zu fragen, zumindest von meiner Seite.
»Jepp«, sagt er nur, schaut sich um und zeigt dann: »Da lang. Da ist das Einfahrtstor.«
Es steht sogar offen. Wir laufen die lange Allee hinunter, durch die man am Ende eine runde Auffahrt mit Springbrunnen und ein großes, herrschaftliches Gebäude aus Sandstein mit Säulen und Ornamenten sehen kann. Als wir unter den Bäumen hervortreten und das Gebäude in Gänze erfassen, muss ich mich doch sehr zurückhalten, um nicht laut durch die Zähne zu pfeifen. »Wow«, sage ich leise. Er schnaubt nur.
Oben auf der Freitreppe geht die Eingangstür auf, und eine Gestalt mit weißen Haaren und im Frack erscheint. Wie im Film. Der Butler. Ich höre, wie Jake neben mir einen überraschten Laut von sich gibt. Grüßend hebt er die Hand. »Hutchins!«
Normalerweise wäre der Butler wohl oben auf der Treppe stehen geblieben, aber jetzt kommt er herunter, vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzend, denn er ist ein alter Mann. Dann kommt er auf uns zu, die Hände freudig ausgestreckt. »Ja, du meine Güte, Lord Jakob! Was verschafft uns die Ehre?«
Ich bleibe abrupt stehen und sehe überrascht zu, wie sie sich begrüßen. Lord Jakob? Ich werd‘ verrückt! Und so etwas hätte ich bei einem Butler gar nicht erwartet, aber der hier tut es, er ergreift nur Jakes Rechte, schüttelt sie freudig. Sie kennen sich, und das sehr gut.
»Eine Notlage, Hutchins, eine Notlage. Ich wusste gar nicht, dass Sie hier in Anstellung gegangen sind. Wie kommt es?« Verschwunden ist der Londoner. Ich höre feinste britische Upperclass.
»Seine Lordschaft hat seinen Landsitz aufgelöst und ist in ein Stift gezogen. Da wurden meine Dienste nicht mehr benötigt«, sagt der alte Mann, immer noch Jakes Hand haltend. »Aber, verzeihen Sie mir meine Impertinenz, Sie sehen aus, als wären Sie in ernsten Schwierigkeiten, in noch ernsteren als eh schon. Ich habe von Simmons vernommen, was in London vorgeht. Eine Schande ist das, eine wirkliche Schande.«
»Ich danke Ihnen, Hutchins. Das stimmt, fürchte ich. Ich wollte fragen, ob Nathan zugegen ist. Wir wurden überfallen, man hat versucht, uns auszurauben. Nur mit Mühe konnten wir entkommen.«
»Was… oh je. Oh je! Madam, geht es Ihnen gut?«, fragt er sofort besorgt in meine Richtung.
Bevor ich antworten kann, denn es hat mir tatsächlich die Sprache verschlagen, sagt Jake: »Darf ich Ihnen meine Freundin vorstellen, Hutchins? Das ist Liv.«
Zum Glück kommt er nicht näher, aber er verneigt sich. »Madam.«
Nur mit Mühe bekomme ich einen halbwegs anständigen Gruß zustande. »Guten Abend, Hutchins. Mir geht es gut, danke, aber ich fürchte, Jake hat es übel erwischt. Er muss sich dringend ausruhen und ein wenig wieder herrichten.«
»Selbstverständlich, selbstverständlich, kommen Sie nur herein. Lord Nathan und die Herrschaften sind nicht anwesend«, erklärt er, während er uns die Treppe hinaufführt. Oben wird uns von einem zweiten, sehr viel jüngeren Butler, der uns mit einem raschen Blick mustert, aber ansonsten nichts sagt, die Tür aufgehalten. Du meine Güte, wie auf Dowtown Abbey!
»Eigentlich«, erklärt der Butler weiter, während wir die feudale Eingangshalle betreten, »wollten sie längst hier sein, den Sommer hier verbringen, aber unten an der Schnellstraße finden Bauarbeiten statt, und unglücklicherweise hat jemand dabei sämtliche Versorgungsleitungen gekappt. Wir haben kein Telefon, kein Internet, kein Fernsehen, bereits seit Tagen, laufen sogar auf Notstrom. Seine Lordschaft war notamused und hat seinen Aufenthalt verschoben, bis das behoben ist. So kann er schließlich nicht arbeiten, und Lord Nathan auch nicht.«
Er tritt an eine Gegensprechanlage, drückt einen Knopf. »Mrs. Crook. Kommen Sie bitte einmal in die Halle. Wir haben Gäste.« Und zu dem anderen Butler: »Jones, lassen Sie das Gepäck der Herrschaften in die beiden Gästesuiten im ersten Stock bringen.«
»Sehr wohl. Darf ich, Madam?«
Mir wird der Rucksack abgenommen, und auch Jake wird die Ehre zuteil, wobei der jüngere Mann sich dabei fast einen Bruch hebt. Hutchins bittet uns hinein in den Salon, den ich nur ungern mit meinen schweren Wanderschuhen betrete angesichts der kostbaren dicken Teppiche und des schönen Holzparketts. Doch der Butler zuckt nicht einmal mit der Wimper.
»Mrs. Crook wird Ihnen gleich Ihre Zimmer zeigen. Wir sind nicht auf Gäste eingestellt, aber sie wird Ihnen sicherlich etwas Feines zum Essen zaubern können.«
»Machen Sie sich nur keine Mühe, Hutchins. Wir sind nicht sehr anspruchsvoll. Eine Dusche, eine anständige Mahlzeit und etwas Schlaf, das ist alles, was wir brauchen. Und da ist auch schon Mrs. Crook. Hallo, Mrs. Crook! Wie geht es Ihnen?«
»Ooohhh…« Die ältere rundliche Frau in dem schwarzen Kleid mit weißer Schürze schlägt die Hände vor den Mund, doch nur kurz. Freudestrahlend kommt sie auf Jake zu. »Lord Jakob! Das ist ja eine Überraschung!« Sie macht nicht viel Federlesens, umarmt ihn einfach. Ich staune immer mehr. Das passt gar nicht zu einer Bediensteten. »Wie geht es Ihnen denn? Und du meine Güte, wie sehen Sie nur aus?! Was ist passiert?«
»Ein Überfall, Crook, ein Überfall«, sagt Hutchins mit einem kleinen Räuspern. Offenbar sind diese Vertraulichkeiten auch aus seiner Sicht nicht angemessen.
»Oh je, oh je.« Beinahe hätte sie Jake wohl noch die Wange getätschelt. »Na, dann kommen Sie mal mit und machen sich frisch. Wonach steht Ihnen denn der Sinn zum Essen? Ich fürchte, wir haben nur für die Angestellten gekocht, einfaches Stew. Aber wir zaubern Ihnen gerne etwas anderes.«
»Ich danke Ihnen, Mrs. Crook, das ist nicht nötig«, wehrt Jake verlegen ab. »Aber erst einmal, darf ich ihnen meine Freundin vorstellen? Das ist Liv. Sie begleitet mich ein Stück.«
»Sehr erfreut, Madam, sehr erfreut. Passt Lord Jakob auch gut auf Sie auf?« Sie strahlt mich derart treuherzig an, dass ich lachen muss.
»Nun ja, wer hier auf wen aufpasst, das ist noch nicht ganz entschieden. Ich denke, Mrs. Crook, nach dieser Geschichte ist ein gutes, herzhaftes Stew genau das Richtige für uns. Ich wette, das ist viel besser als alles, was man für gewöhnlich in den Restaurants bekommt. Stimmt’s?«
Dieses vorweggenommene Kompliment bringt sie zum Strahlen. »Da haben Sie recht, Madam, so was von recht. Dann machen wir es so. Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Zimmer.« Geschäftig eilt sie voraus, und auch der Butler verlässt uns.
Ich warte ein paar Sekunden, Jake einen langen Blick zuwerfend. »Lord Jakob?!«, sage ich dann, jede einzelne Silbe betonend und mit einer langen Pause dazwischen.
Er zuckt unwirsch mit den Schultern. »Manche Schicksalsschläge sind schlimmer als andere«, sagt er nur, dreht sich um und geht hinaus.
Erst als ich unter der heißen Dusche stehe, merke ich, wie kaputt ich bin. Am liebsten hätte ich mich gleich zu Bett begeben, aber das Abendessen wartet noch auf uns, und das möchte ich der netten Mrs. Crook, die mich wirklich bemuttert hat und ihn auch, nicht antun, dass ich es verschmähe. Zur Feier des Tages ziehe ich mein Kleid an, ärmellos und eigentlich für den Strand und als Ersatznachthemd für wärmere Nächte gedacht, aber etwas anderes habe ich nicht. Als Schuhe müssen die Flipflops herhalten. Wer wandert, läuft mit möglichst leichtem Gepäck.