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Was ist mit Sunny und Erik geschehen? Wer hat den grausamen Anschlag auf sie verübt, der die junge Journalistin das Leben gekostet und ihren Freund schwer verletzt hat? War es die Müllmafia, über die Sunny recherchierte, oder doch eher Eriks Ex-Frau, die mit ihm noch eine Rechnung offen hat? Lange tappt die Polizei im Dunkeln, die Gerüchteküche der kleinen Stadt brodelt. Bis Sunnys Schwester Freya, Großstadt-Cop und erfahrene Ermittlerin, der Geduldsfaden reißt. Sie macht sich auf den Weg, um selbst den Mord an ihrer Schwester aufzuklären. Sie ahnt nicht, dass sie damit ein Tor zur Vergangenheit aufstoßen wird, zu den Abgründen in Sunny, aber auch in sich selbst. Freyas erster Fall in der kleinen Stadt
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Katas Ellie
In eurer
kleinen Stadt
…
wird man gefangen
Impressum
Texte: © 2025 Copyright by Katas Ellie
Umschlag: © 2025 Copyright by Katas Ellie
https://www.facebook.com/Katas.Ellie
Druck/Veröffentlichung: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
Verlag: Inga Rieckmann alias Katas Ellie
c/o Block Services
Stuttgarter Straße 106
70736 Fellbach
Manchmal nahm das Leben schon merkwürdige Wendungen. Hardi saß auf den steinernen Stufen des Rathauses, neben sich zwei Flachmänner seines liebsten Whiskys, und wartete darauf, dass gegenüber beim Standesamt die Türen aufgingen und sein Freund Erik herauskam. Er, ihr gemeinsamer Kumpel und Anwalt Timo und die dann hoffentlich endlich geschiedene Ex mit deren Rechtsverdreher, der seinem Freund in den letzten Monaten das Leben wahrlich zur Hölle gemacht hatte.
Doch als es soweit war, kam Erik allein, ein erleichtertes Grinsen im erschöpften Gesicht. Er reckte den Daumen und ging mit langen Schritten zu ihm herüber.
»Sieg?«
Erik wartete mit der Antwort, bis er bei ihm war und sich mit einem Aufstöhnen neben ihm auf die steinernen Stufen hatte fallen lassen. »Sieg. Aber so was von. Die Dokumente waren goldrichtig, gerade noch rechtzeitig. Es wird jetzt ein Ermittlungsverfahren gegen sie geben, gegen beide. Sie wird den Schaden bezahlen, den sie angerichtet hat, und zwar vollumfänglich. Tja. Feinde, die man sich einmal gemacht hat… sie ist ausgeflippt da drinnen. Sie haben sie rausgebracht und warten jetzt auf die Polizei.«
»Puh«, machte Hardi und blies die Wangen auf. Er griff die beiden Flachmänner, schraubte sie auf, reichte Erik einen. »Na dann. Auf den Sieg. Auch wenn er bitter ist. Wir haben es beide nicht gesehen.«
»Nein. Prost.« Sie stießen an und leerten die Flachmänner Zug um Zug, langsam und schweigend und jeden Moment auskostend. So viel Ruhe hatten sie in den letzten Monaten nie gehabt, keinen Moment.
Dann stieß Hardi Erik an, denn ein Polizeiwagen fuhr aus dem Innenhof des Standesamtes hinaus und holperte auf dem Kopfsteinpflaster vorbei. Als Erik absetzte, sah er darin einen ihm nur allzu bekannten Umriss. Sie wandte den Kopf, und bei dem Blick, einen winzigen Moment nur, lief es ihm kalt den Rücken herunter. Wenn Blicke töten könnten…
»Da fährt sie hin«, knurrte Hardi und fletschte die Zähne. »Gehab dich wohl, du Miststück!«
»Na, na«, machte Erik und stand auf. »Los, komm, lass uns einen trinken gehen, richtig trinken.«
Erwartungsgemäß endete die Nacht übel, und entsprechend verkatert saßen die beiden am nächsten Morgen an Hardis Küchentisch in dessen windschiefem Altstadthäuschen und versuchten, nicht allzu sehr in Selbstmitleid zu versinken.
»Wie gut, dass wir beide heute freigenommen haben«, schnaubte Erik.
»Tja, sieh es mal so, wenn es anders gekommen wäre, würden wir genauso hier sitzen«, grummelte Hardi und nahm noch einen Schluck Kaffee. Er verzog das Gesicht.
»Wir haben es alle nicht gesehen.« Erik starrte trübe in seine Tasse. Er hatte nach dem ersten Schluck aufgehört. Ihm war speiübel.
»Ja doch.« Dieses Mantra hatte Erik gestern Abend immer und immer wieder wiederholt. »Die hat sich gut versteckt, wirklich gut. Verdammt!« Denn sie hatten alle an ihr herumgegraben, und zwar heftig. Ein Wettbewerb, wer die schöne, lebhafte Chrissy eroberte. Die so ganz anders war als die anderen jungen Dinger, die für gewöhnlich die Kneipenszene bevölkerten. Sie wären beide niemals auf die Idee gekommen, dass in Wahrheit sie diejenigen gewesen waren, die in ihre Falle gegangen waren.
Wie hätten sie auch, dachte Erik. Beide Mitte dreißig, aufstrebend, erfolgsverwöhnt und mit ihren Kumpels in der Kneipenszene der Stadt wohlbekannt. Und bei den Frauen. Das Leben leichtnehmend und eigentlich noch nicht bereit, sich etwas Festes zu suchen. Frischfleisch gab es immer, in einer Studentenstadt wie ihrer allemal, jedes Semester aufs Neue. Aber Chrissy hatte es irgendwie geschafft, sie hatte ihn in diese Falle gelockt. Was war er stolz gewesen, den Preis gewonnen zu haben!
Das böse Erwachen war dann viel später gekommen, sehr viel später, und nur Dank seiner Freunde war er dort mit einigermaßen heiler Haut wieder herausgekommen. Wenn auch mit angeknackstem Selbstbewusstsein. Aber das würde sich ab heute ändern, das schwor Erik sich!
Wie aufs Stichwort summte sein Handy. Er schaute drauf, las die Nachricht und verzog den Mund zu einem grimmigen Strich. »Bingo!«
»Verkauft? Wie viel?«, fragte Hardi. Einmal Banker, immer Banker.
»Eins Komma zwei insgesamt«, erwiderte Erik und schaltete das Handy aus. Das beleuchtete Display bereitete ihm Kopfschmerzen.
Hardi pfiff unfein durch die Zähne. »Trotz der Verwüstungen? Herrje, der Immobilienmarkt spielt echt verrückt.«
»Sagt Timo auch. Was Besseres hätte mir gar nicht passieren können, meint er. Ich habe die Verträge noch im Standesamt unterschrieben und er sie gleich mitgenommen. So, dass sie es mitbekommen hat. Ha!«
Das baute ihn auf, das merkte Hardi und stieß ihn an. »Sieh es mal so, jetzt hast du genug finanziellen Spielraum, um dir was richtig tolles Eigenes zu suchen. Mit der Entschädigung, die ihr noch aufgebrummt wird, allemal. Aber lass dir Zeit. Du kannst hier wohnen, solange du willst, hier ist genug Platz.«
»Weiß ich doch. Danke.« Erik schloss erschöpft die Augen. Er fühlte sich, als könnte er hundert Jahre schlafen, jetzt, da es vorbei war. Keine Kraft, schon wieder Pläne zu schmieden. Und wozu? Er fühlte sich leer, wie ausgesaugt. Was wohl auch ihre Absicht gewesen war.
Vier Wochen später hatte er sich soweit beisammen, dass er wieder vorsichtig in die Zukunft schauen mochte. Alle in seiner Umgebung sahen das mit Erleichterung, hatte er festgestellt, allen voran sein Chef, denn ihnen stand ein ganz, ganz großes Projekt ins Haus, dem er sich vollumfänglich widmen sollte, als Leiter. Vor einigen Wochen wäre daran nicht zu denken gewesen, doch nun stellte er fest, seine Arbeit machte ihm wieder Spaß, er ging voll in ihr auf. Nur durch die Kneipen mochte er noch nicht mit den anderen ziehen, er wusste auch nicht, warum. Traf sich mit seinen Kumpels zum Essen, verabschiedete sich danach aber und verbrachte den Rest des Abends vor sich hinbrütend in Hardis urigem Häuschen, entweder auf dem Sofa oder im Gästebett im winzigen Zimmer unter der Dachschräge, wo er, seitdem die Sache losgegangen war, sein Quartier aufgeschlagen hatte. Dort lag er dann, starrte an die Decke oder durch das Velux-Fenster nach draußen und fühlte… nichts. Er war innerlich noch immer wie gelähmt. Er wusste, dass seine Freunde darüber redeten, spekulierten, wann er sich wieder in den alten Erik zurückverwandeln würde, die Geschichte hinter sich lassen. Doch Erik spürte, dass dies nie wieder geschehen würde. Etwas in ihm war unwiderruflich zerstört, diese Leichtigkeit, sein Leben zu leben, eine Art Urvertrauen, locker auf Menschen, insbesondere Frauen, zugehen zu können.
Ihr Freund Wolle, selber Arzt, hatte ihn ganz vorsichtig und durch die Blume gefragt, ob er sich nicht professionelle Hilfe holen wollte. Einen Psychodoktor, um Himmels Willen! Er konnte Chrissys gehässiges Gelächter bis zu sich ins Zimmer hören, wenn er daran dachte. Das wäre ein Triumph für sie, wenn sie davon erführe! Dabei hatte sie derzeit selber nichts zu lachen, und das war ein Triumph für ihn. Sie würde ins Gefängnis wandern, wenigstens für ein paar Monate, und ihr Rechtsverdreher auch. Urkundenfälschung, Betrug, Meineid, Zerstörung fremden Eigentumes und – um das Maß voll zu machen – Bigamie. Eine ganze Menge, doch sein altes Leben zurück bekam Erik dadurch nicht. Genauso wenig wie die Sachen, die sie zerstört hatte. Er besaß nur noch das, was er an jenem Abend am Leib getragen hatte und die paar Sachen, die er sich seitdem gekauft hatte. Alles andere war weg. Kleidung, Dokumente, Möbel, Erinnerungstücke. Die Fotos seiner Familie, was besonders bitter war, denn er hatte niemanden mehr, seine Eltern und Schwester waren vor ein paar Jahren gestorben. Ein paar Fotos hatte er auf seinem Handy und Laptop gespeichert und noch welche bei Verwandten kopieren können, wenigstens etwas, der Rest war weg. Wie sein gesamtes altes Leben.
Aber irgendwie erleichterte ihn das auch, er wusste auch nicht, warum. Er stand wieder ganz am Anfang und konnte ohne Ballast – so redete er sich das jedenfalls ein – sich ein neues Leben aufbauen. Er hatte seine Kumpels, einen guten Job, war finanziell abgesichert… und der Rest würde sich finden. Von daher setzte er sich selber nicht unter Druck, wozu auch? Stattdessen lag er oft sinnierend da und dachte nach, was er wohl machen könnte. Ein Haus kaufen, so eine Schmuckschachtel wie Hardi oder etwas Modernes? Oder wieder eine Wohnung mieten? Oder wollte er auf Reisen gehen? Erstmal Abstand gewinnen? Da würde der Chef ihn ans Kreuz nageln, so viel war sicher. Andererseits, wenn er sich dessen Gesicht vorstellte, sobald er ihm das sagte… sehr komische Vorstellung.
Hör auf zu träumen, Alter! Der Job war neben Hardi, Timo und den anderen die einzige verbliebene Konstante in seinem Leben. Den konnte er nicht wegwerfen, es ging einfach nicht.
Lebe einfach weiter, hörte er die Stimme ihrer Freundin Sunny. Sie war eines der wenigen Mädchen oder Frauen, die sich permanent in ihrem engeren Dunstkreis gehalten hatten. Sie ging mit ihnen in die Kneipe, feierte mit ihnen auf Partys, ließ auch mal den einen oder anderen bei sich übernachten, wenn es zu spät und der Alkoholpegel zu hoch wurde. Sunny war eine sichere Zone für alle, sie war einfach nur ihre Freundin. Ob sie mehr an Frauen interessiert war oder einfach nur nicht an ihnen als Mann, darüber schwieg sie sich aus. Einen Freund hatte sie jedenfalls nicht. Fakt aber war, mit Sunny konnte man Pferde stehlen gehen, die Jungs hatten sie einfach unwahrscheinlich gerne. Und genau deshalb würde er ihren Rat befolgen. Er lebte einfach weiter.
Ein halbes Jahr später stand Erik gemeinsam mit Hardi und Timo in seinem neuen Häuschen. Eine uralte Bruchbude war es gewesen, eigentlich ein Fall für den Abriss. Aber es stand unter Denkmalschutz, und der Vorbesitzer hatte schon angefangen, es zu retten, nur sich dabei finanziell übernommen. Weshalb Erik es für einen relativ geringen Preis hatte erwerben können und mit wenig Aufwand fertig restaurieren. Hardi wohnte zwei Straßen weiter, perfekt für sie beide.
Die körperliche Arbeit, abends und an den Wochenenden, hatte ihn irgendwie aus seinem depressiven Loch befreit. Er ging wieder aus, noch nicht so exzessiv wie früher, aber ab und an. War auch schon mal weggefahren, ein paar Tage an die See. Er lachte mehr, sahen die anderen mit Erleichterung, und fand wieder etwas zu seiner alten Fröhlichkeit zurück.
Das Haus war winzig, aber denkbar gemütlich. Keine einhundert Quadratmeter groß, wenn man nicht das unausgebaute Dachgeschoss dazurechnete, und mit einem winzig kleinen Hinterhof mit Terrasse und Garten in Handtuchgröße. Ein typisches, mittelalterliches Altstadthaus mit schiefen Wänden und knarzenden Dielen im Obergeschoss, Terrazzoboden im Untergeschoss und doppelten Kassettenfenstern, alles behutsam restauriert. Abstand zu den Nachbarhäusern: null. Alle waren Wand and Wand gebaut, außer das Durchfahrtstor, das nach hinten in den Hof Schrägstrich Garten führte.
Im Erdgeschoss hatte Erik eine Wohnküche eingerichtet, einmal durch die gesamte Etage, mit einer Küchenhexe, Kochinsel und allem Drum und Dran. Hinten eine Flügeltür auf die Terrasse, in einem in den Torgang eingebauten Nebengelass ein kleines Gäste-WC und die Garderobe. Und der Anschlussplatz für sein Fahrrad, denn ein Auto hatte er nach wie vor nicht und wollte auch keines. Im Mittelgeschoss Schlafzimmer und Arbeitszimmer, ein Bad. Das war’s. Mehr Platz brauchte er nicht.
»Tja«, sagte Timo, kratze sich am Kopf und schaute auf die Möbelkartons, »ich habe noch nie einen Umzug gemacht, wo man wirklich alles neu gekauft hat. Eine Kompletteinrichtung.«
»Hoffen wir mal, dass du das auch nie wirst tun müssen«, erwiderte Hardi und nahm sich ein Cuttermesser, um den ersten Karton aufzuschneiden.
Doch bevor er loslegen konnte, wummerte es an der Haustür. »Hey Jungs!«, rief eine helle Stimme draußen. »Macht mal einer auf? Sonst wird es noch nass oder ich lasse es fallen.«
»Wie hätte es auch anders sein können«, sagte Hardi kopfschüttelnd grinsend und ging zur Tür. Gleich drauf erschien ein großer Karton mit zwei Beinen im Eingang. Hardi griff lieber zu und nahm den Karton an sich.
»Na endlich!«, seufzte Sunny und machte einen großen Schritt aus dem Nieselregen ins Trockene. »Ihr habt doch wohl noch nicht angefangen? Ich will auch schrauben«, sagte sie und zog sich die quietschgelbe Regenjacke aus.
Immer, wenn Sunny erschien, war das wie eine Farbexplosion. Angefangen bei den feuerrot gefärbten, in alle Richtungen abstehenden Haaren über die leuchtend grünen Augen bis hin zu den Klamotten und Schuhen. Heute hatte sie ein giftgrünes T-Shirt unter einer knallblauen Latzhose an, kombiniert mit schwarzen Stahlkappenschuhen und neongelben Schnürsenkeln. Die Kumpel hatten sich schon öfter mal gefragt, ob Sunny vielleicht farbenblind war, doch dann hätte sie niemals derart zielsicher diesen exakten Punkt des absolut Unerträglichen getroffen. Auf jeden Fall machte es sie erheblich jünger, als sie in Wahrheit war. Sunny sah aus wie gerade frisch an die Uni gekommen, war aber genauso alt wie die Jungs, Mitte Dreißig.
»Was ist da drin?«, fragte Hardi, verfressen wie eh und je, und schnupperte.
Sunny lachte. »Finger weg, der Hausherr packt aus!« Sie umarmte Erik, gab ihm einen Kuss zur Begrüßung auf die Wange. »Glückwunsch und so weiter, Alter! Ist klasse geworden.«
»Danke.« Erik drückte sie einmal und hob sie ein wenig hoch, wie jedes Mal. Er wusste, dass sie das nicht mochte, eine Erinnerung daran, wie klein sie war. So auch diesmal. »Ey, lass das!« Sie wand sich aus seiner Umarmung, und Erik und die anderen lachten. »Los, pack aus. Ich hab Hunger!«
»Zu Befehl, Madame!«, grinste er und ging zum Küchentresen, wo Hardi den Karton abgestellt hatte. Er nahm seinem Freund das Cuttermesser ab und begann, das Klebeband zu zerschneiden.
»Oh wow, seht euch das an!«, entfuhr es Hardi. Da waren sie sprachlos. Vor ihnen stand ein kleines Häuschen, dieses, um genau zu sein, in Kuchenform. Fast bis ins Detail getreu nachgebaut.
»Mensch, Sunny, das wäre doch nicht…«
Sie wiegelte Eriks verlegene Worte ab. »Doch, war es. Mit vielen Grüßen von den Mädels aus dem Club und von Marita. Sie übt gerade für ihre Meisterprüfung und sagte, das sei genau richtig dafür. Ist gut, geworden, nicht? Los, haut rein!«
Sunny schwang sich zufrieden daneben auf den Küchentresen. Die Beine baumeln lassend, betrachtete sie ihre Freunde aufmerksam. Sie war froh, Eriks Grinsen zu sehen. Das tat er in letzter Zeit immer öfter, doch in seinem Gesicht hatte diese Sache unwiderruflich Spuren hinterlassen. Er wirkte älter, immer noch etwas hager, ein paar Kerben mehr im kantigen Gesicht und die ersten grauen Fäden im blonden Haarschopf, kaum zu sehen, aber dennoch da. Sunny hätte die blöde Chrissy erwürgen können, dass sie ihm das angetan hatte. Ihm und auch den anderen. Die Leichtigkeit war ihnen allen irgendwie abhandengekommen, auch wenn man das bei Hardi und Timo nicht so merkte. Hardi wirkte mit seinem leichten Übergewicht, dem braunen Wuschelkopf und Pausbäckchen wie eh und je wie ein gutmütiger Tanzbär, während Timo mit seinen dunklen Locken und der Dichter und Denker Stirn eher wie ein Intellektueller daherkam denn wie ein Anwalt. Aber die Frauen standen darauf, er war derjenige, der sie meistens anschleppte. Nicht, dass Sunny jemals in diesen Wettbewerb eingestiegen wäre. Aber sie beobachtete und wusste genau, wie der Hase in dem Gespann lief.
»Na los, schneid an. Hast du irgendwo ein großes Messer?«, fragte sie Erik.
Er schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Nehmen wir einfach das hier.« Er hielt das Cuttermesser hoch und fuhr es noch ein paar Zentimeter aus. »Aber vorher machen wir ein Bild davon als Erinnerung. Es ist wichtig, solche Bilder zu haben«, fügte er etwas leiser hinzu und erntete dafür von ihr einen traurigen Blick. Aber sie taten es, und zwar alle zusammen. Ein schönes Foto, das sie gleich unter sich teilten und auch mit einem Riesendankeschön an Marita und die Mädels im Club sandten.
Dann schnitt Erik den Kuchen oder vielmehr das Häuschen an. »Hm… lecker, Buttercreme. Ha, da wird der Doc aber schimpfen!«, seufzte Hardi und langte kräftig zu. Der Doc, ihr Kumpel Wolle, wollte später kommen, er hatte noch Sprechstunde. Genauso wie etliche andere, die an diesem Freitag am Arbeiten waren. Von daher aßen sie hastig und beeilten sich dann, mit dem Aufbau zu beginnen.
Am frühen Abend hatten sie alles fertig, und Erik betrachtete zufrieden seine neue Einrichtung. Er hatte lange gesucht und war schließlich in einem ökologischen Möbelhaus weit draußen im Umland gelandet, alles schöne, massive helle Stücke. Keine ganz billige Angelegenheit und weit entfernt von Ikea und Co., aber weshalb arbeitete er schließlich? Es wirkte noch etwas nackt, die Deko, Kissen und so fehlten, aber da wollte er sich Zeit lassen.
»Sehr schön«, seufzte Sunny zufrieden und strich mit der Hand über die Lehne des Sofas. »Hier kann man notfalls auch drauf pennen.«
Erik lachte. »Genau deshalb. Oben ist kein Platz für ein Gästezimmer, es sei denn für eine Matratze auf dem Dachboden.«
»Na, dann kann die Party ja steigen. Los, her mit dem nächsten Stück Kuchen, bevor der Doc eintrifft.« Hardi langte zu, doch kaum hatte er einen Bissen verschluckt, wurden Stimmen vor der Tür laut.
»Oh je, wenn man vom Teufel spricht…«, gluckste Timo, als ein paar Gestalten durch das milchige Glas der Eingangstür sichtbar wurden. Gleich darauf strömten sie hinein, Wolle und die anderen, alle beladen mit Essen und Getränken und Geschenken. Es machte Erik ganz fassungslos, wer da alles kam und wie viel sie mitbrachten. Er brauchte nichts zu tun, sie hatten alles dabei, selbst Geschirr und Besteck, das er noch nicht besaß, und daher genoss er es in vollen Zügen. Nur beim Alkohol, da hielt er sich zurück, trank nur scheinbar, während alle anderen kräftig zulangten. Es wurde laut, richtig laut, aber da alle Nachbarn mit eingeladen waren, machte sich Erik keine Sorgen, dass dies jemanden stören könnte. Ganz im Gegenteil, sie feierten kräftig mit und waren teilweise in den vergangenen Wochen und Monaten seine Freunde geworden. Es war eine prima Nachbarschaft, genau richtig für ihn.
Es war spät in der Nacht, als endlich die letzten gegangen waren. Nur Sunny lümmelte noch im Schneidersitz auf dem Küchentresen herum, an einen Stützbalken gelehnt, in der einen Hand eine Flasche Bier, die andere tauchte in eine Schüssel Chips. Es erstaunte Erik immer wieder, wie viel in sie hineinging, zierlich, wie sie war. »Coole Party«, sagte sie, gähnte ausführlich und stopfte sich dann die nächste Handvoll Chips in den Mund. »Willste noch aufräumen?«, fragte sie kauend und wackelte mit ihren Zehen in den quietschbunten Ringelsocken. Die Stahlkappenschuhe waren in dem Moment in der Ecke gelandet, als der erste mit ihr hatte tanzen wollen.
»Ein bisschen…« Erik nahm sich eine Flasche alkoholfreies Bier, öffnete sie und trank einen Schluck.
Das verfolgte Sunny mit belustigt hochgezogenen Augenbrauen. »Ist das jetzt die neue Mode?«
»Mmpf… nee. Nur heute Abend. Ich…«, er rieb sich verlegen über das Gesicht, »ich wollte es genießen. Und nicht saufen. Weil… naja.« Er fand keine Worte, starrte auf die neuen Küchenschränke, jetzt mit allerlei Luftschlangen dekoriert, und trank noch einen Schluck.
»Oh Mann.« Sie stellte die Bierflache fort und setzte sich auf, schob sich bis zur Kante des Tresens und ließ die Beine herunterbaumeln. »Diese Sache hat dich fast bis zur Unkenntlichkeit verändert«, entfuhr es ihr, und augenblicklich biss sie sich auf die Lippen. Mist. Das hatte sie eigentlich gar nicht sagen wollen. Das viele Bier war schuld. »Entschuldige.«
»Muss es nicht.« Erik drehte sich um und verschränkte die Arme, seine Flasche nach wie vor in der Hand. Er sah, wie sie betreten zu Boden blickte. »Ich merke es ja selber. Hab mich selbst kaum noch wiedererkannt.« Er nahm noch einen Schluck, während er sie aus den Augenwinkeln beobachtete. Sie saß da, sich auf die Lippen beißend. »Was ist?«
»Nichts.« Den Kopf schüttelnd, sprang sie vom Tresen und begann, ein paar Dinge zusammen zu räumen.
»Hey, lass das doch, das musst du nicht machen«, sagte er und hielt sie fest. Überrascht spürte er, wie sie förmlich zusammenzuckte, und ließ sie los. »Was ist?«, fragte er noch einmal. »Du hast doch etwas. Was ist los?«
Er konnte sehen, wie sie mit sich rang, obwohl sie mit dem Rücken zu ihm stand. Die schmalen Fäuste geballt und auf der Arbeitsplatte abgestützt, atmete sie ein paar Mal ein und aus. Doch dann brach es aus ihr hervor: »Ich hätte sie umbringen können!«, entfuhr es ihr so heftig, dass er fast zusammenzuckte. »Ich hab genau gemerkt, was da abgegangen ist. Wie sie euch alle begutachtet hat, geschüttelt hat wie einen Sack voller Münzen und sich dann den schwersten rausgesucht hat. Dich, um genau zu sein, mit dem Erbe deiner Eltern, von deiner Schwester. Ich dachte, das gibt’s doch nicht, merken die das denn nicht? Aber das habt ihr nicht, und dann war es zu spät.« Abrupt wandte sie sich um, und ihre Augen sprühten förmlich Feuer.
»W…waas?!« Erik hatte es die Sprache verschlagen.
»Was glaubst du wohl, wie oft ich mir Vorwürfe gemacht habe, nichts gesagt zu haben?! Als das Ganze den Bach runterging, sie dich rausgeworfen hat, deine Sachen zerstört und dich selber beinahe auch? Das verzeihe ich mir nie! Niemals, hörst du?« Ihre Stimme begann zu zittern, und das war ihr so peinlich, dass sie flüchtete, hinüber zur Gartentür. Dort lehnte sie an dem kalten Glas und schaute tränenblind in die Dunkelheit.
Erik wusste nicht, was er sagen sollte. Er sah zu ihr und hörte erschrocken ein leises Schniefen. »Mensch, Sunny! Nicht doch…« Er konnte gar nicht anders, ging zu ihr, zog sie zu sich herum und nahm sie in die Arme. Einen Moment lang stand sie ganz starr, doch dann gab sie nach und lehnte sich an ihn. »Mach dir keine Vorwürfe, ich bitte dich. Warum machst du dir Vorwürfe? Das ist wohl müßig. Es war meine Entscheidung, meine ganz allein.«
»Ihr hättet mir nicht geglaubt. Wie eine eifersüchtige dumme Gans hätte ich dagestanden, wie die Freundin, die nicht teilen will. Dabei…«, sie weinte jetzt richtig, »dabei ist die Liga der Weiber, die ihr ständig anschleppt, viel zu hoch für mich. Das war sie schon immer. Da kann ich nicht mithalten, das konnte ich noch nie und wollte es auch nicht. Weshalb ich nie…«
Erik traute seinen Ohren nicht. Konnte das sein? »Himmel, bist du etwa…?!«
Verlegen machte sie sich los und drehte ihm den Rücken zu. Sie rang mit sich, aber schließlich dachte sie, ach, was soll’s, da sie sich eh schon reingeritten hatte… »Ich… ich habe euch alle verdammt gerne, jeden auf seine Weise. Aber bei dir, da…« Sie verstummte, schwer atmend. Schließlich rieb sie sich heftig über das Gesicht und straffte sich. »Ich glaube, ich sollte lieber gehen, bevor ich mich noch völlig zum Narren mache. Entschuldige. Hab wohl ein wenig viel getrunken.«
Sunny wollte sich abwenden und hinaus, aber Erik fasste zu, packte ihren Arm und drehte sie sich zu sich herum. Einen langen Moment standen sie beide da und sahen sich an. Ganz, ganz viel stand da plötzlich in ihrem Gesicht geschrieben, und ihre Augen, die waren ihm noch nie so schön vorgekommen, wie zwei große tiefe Seen. Er staunte, und er konnte gar nicht anders, umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen. »Das stimmt doch gar nicht«, brummte er leise, ihre Wangenknochen mit den Daumen streichelnd, und er sah, wie etwas in ihr zerbrach, diese Zurückhaltung, die sie sich die gesamte Zeit auferlegt hatte. Sie fasste nun ihrerseits zu, reckte sich ein wenig und küsste ihn. Aus der ersten sanften Berührung wurde sehr schnell sehr viel mehr, und schließlich umfasste Erik ihren Hintern, hob sie hoch und trug sie die Treppe hinauf ins Mittelgeschoss.
In ihrem schlichten Appartement in der Großstadt wachte Sunnys Schwester Freya mit einem Ruck auf. Sie war klatschnass geschwitzt. Stöhnend rieb sie sich über das Gesicht, ihr Herz hämmerte wie verrückt. Das war ein Alptraum gewesen, und was für einer! Keine genauen Bilder hatte sie mehr im Kopf, nur noch das starke Gefühl von Schmerz und Angst. Aber sie kannte sich gut genug. So etwas träumte sie nicht ohne Grund. Weshalb sie sich wieder hinlegte und ruhig und tief zu atmen begann. Sie würde es schon herausfinden!
Es war schon lange hell oder vielmehr grau, denn es regnete immer noch ohne Unterlass, als Erik wieder erwachte. Erst war er ein wenig orientierungslos. Neues Bett, die Bettwäsche roch noch wie aus dem Karton und die fremde Umgebung… bis ihm aufging, dass jemand neben ihm atmete. Er wandte den Kopf und entdeckte, fest in eine zweite Decke eingewickelt, einen nackten Oberarm und einen verwuschelten roten Haarschopf. Einen Moment lang begriff er gar nicht, was er da sah, doch dann schlug es zu ihm durch: Sunny und die letzte Nacht. Himmel! Er wollte erschrocken aufspringen, doch da bewegte sie sich, und die Decke rutschte ein wenig nach unten und legte ihr Schulterblatt frei. Sie hatte einen Schmetterling darauf tätowiert, den er schon kannte, denn sie trug manchmal Tops, genauso wie er den im unteren Rückenbereich und den auf dem Knöchel schon gesehen hatte und auch das Piercing auf ihrem Bauchnabel. Aber er hatte noch nie… hm… er hatte alles begutachtet und berührt, und zwar sehr, sehr intensiv. Genauso wie das Piercing an anderer Stelle, weiter unten… hmmm… er merkte, wie ihm warm wurde. Wer hätte das gedacht, dass in der guten alten Sunny ein solch kleiner Vulkan schlummerte? Auf einmal erkannte er, er fühlte sich gut, so gut wie schon lange nicht mehr, irgendwie befreit. Und er hatte wieder Lust, nämlich auf herrlichen, unkomplizierten Sex. Und genau das hatte sie ihm gegeben.
Spontan streckte er die Hand aus, wollte sie wecken, doch davon wurde sie wach. Einen Moment lag sie genauso orientierungslos da wie er eben noch. Aber dann fuhr sie mit einem ächzenden Quietschen herum. Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an.
»Ach du Scheiße!«, entfuhr es ihr heiser.
»Dir auch einen schönen guten Morgen, liebste Sunny«, gluckste Erik los und lehnte sich grinsend wieder in die Kissen, den Arm hinter dem Kopf verschränkend. »Hast du gut geschlafen?«
Mit einem Satz war sie aus dem Bett, die Decke fest an sich drückend. »Das… das kann nicht sein!« Sie schüttelte immer wieder den Kopf, doch es gab nichts zu leugnen.
Erik lachte, er konnte gar nicht anders. »Oh doch, kann es. Was ist? Kommst du wieder rein?« Er hob einladend seine Decke an. Damit er lag nackt vor ihr, wie ihn der Herrgott geschaffen hatte, und grinste sie an. Und das ganz offenbar wieder in Bestform.
Statt einer Antwort sammelte sie ächzend die verstreut liegenden Klamotten ein und stolperte die schmale Treppe nach unten. Ein wenig Geraschel, ein paar unterdrückte Flüche, dann klappte die Haustür und sie war fort.
»Boah.« Erik setzte sich auf und rieb sich über das müde Gesicht. »Was war das denn nun?« Er schüttelte den Kopf, gähnte und streckte sich und beschloss dann, duschen zu gehen und danach Hardi einen Besuch abzustatten. Wenn der denn schon wieder aus dem Koma erwacht war.
Aber Hardi machte nicht auf. Erik hätte einfach so reingehen können, er hatte ja den Schlüssel, aber er beschloss, seinen Kumpel schlafen zu lassen. Stattdessen ging er zurück nach Hause – nach Hause! – und warf seine brandneue Kaffeemaschine an. Einen Espresso später fühlte er sich etwas besser und beschloss, das Frühstück ausfallen zu lassen und stattdessen das Chaos vom Abend und der Nacht aufzuräumen. Zu essen war jedenfalls genug da, und so glich seine Aufräumaktion eher einem ausgedehnten Brunch. Und einer Einräumaktion, denn das Geschirr durfte er behalten, jeder hatte etwas zu dem bunten Sammelsurium beigesteuert. Es machte Spaß, die Sachen einzuräumen, sich ein Zuhause zu schaffen. Erik fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr, und daher beschloss er, die Sache mit Sunny leicht zu nehmen. Sie würde sich schon wieder einkriegen, und wer weiß, was dann geschehen würde. Da war er doch sehr, sehr gespannt.
Am Nachmittag schneite dann Hardi herein, mit blutunterlaufenden Augen und immer noch sehr verkatert. »Oh Mann, danke«, sagte er, als Erik ihm einen Becher Kaffee reichte.
»Harte Nacht, was?« Erik nahm grinsend einen Schluck von seinem.
»Hmm… oh verdammt, Mann! Ich war nicht allein…«, krächzte Hardi.
»Ach? Wer war es diesmal? Die kleine Blonde von unten an der Ecke? Die hat sich ja förmlich an euch heran geworfen. An alle.«
Hardi wurde doch ziemlich rot, bemerkte Erik erstaunt. »Nee. Die hat Timo abgeschleppt. Nein, ich… keine Ahnung, wie das gekommen ist. Ich bin mit Marita aufgewacht.«
»Waas?!« Erik fiel vor Erstaunen fast die Kaffeetasse aus der Hand. »Iss nicht wahr! Ausgerechnet…« Denn Marita hatte ihnen einmal deutliche Ansage gemacht. Sie sollten sie diesbezüglich in Ruhe lassen, sonst würde sie ihnen eine von ihren Torten an den Kopf knallen. Und er dachte, er hätte mit Sunny den Vogel abgeschossen. Dem war offenbar nicht so. »Mmpf! Da war diese Party ja wirklich ein voller Erfolg«, murmelte er derart, dass Hardi sofort hellhörig wurde, trotz seiner Kopfschmerzen.
»Wieso? Was ist…«
»Hm.« Jetzt merkte Erik, wie er rot wurde. Verlegen starrte er auf seinen Becher.
»He, bist du etwa… wer war es?« Hardi stand vor Rätseln, denn Erik hatte sich gestern Abend sehr, sehr zurückgehalten, das war ihm durchaus aufgefallen. In mehr als einer Hinsicht. Und so verlegen war er früher nach einer Nacht nie gewesen, ganz im Gegenteil. Hatte eher geprahlt damit und vor allem, nicht mit den Details hinter dem Berg gehalten.
»Bitte erzähl es nicht weiter. Niemandem, hörst du? Versprich es mir.« Er hob den Kopf und sah Hardi eindringlich an.
»Na schön… wenn du unbedingt willst… versprochen. Also?«
»Naja, als ihr alle fort wart, da hat Sunny mir noch beim Aufräumen geholfen. Sie hatte eine kleine Krise… Himmel! Sie macht sich heftige Vorwürfe wegen Chrissy. Weil sie genau mitgeschnitten hat, was die vorhatte. Sunny sagt, die hat uns ganz gezielt auf unsere Vermögensverhältnisse hin abgeklopft und sich dann den dicksten Kuchen herausgepickt. Mich. Und sie hat sich nicht getraut, was zu sagen. Sunny, meine ich. Das hat sie mir gestern Nacht gebeichtet, war richtig fertig deswegen.«
»Oh Mann. Verflucht.« Hardi rieb sich über das Gesicht. »Das hast du ihr hoffentlich ausgeredet, das mit der Schuld und so…«
»Ich hab’s versucht, sie ein wenig getröstet und… naja.« Erik schwieg verlegen.
Erst schaute Hardi etwas verständnislos, doch dann dämmerte seinem müden Hirn langsam die Erkenntnis. »Was…. nein! Du… ihr… waaas?! Willst du mich verarschen?!« Doch Erik schwieg, hob nur die Schultern, und etwas in seiner Miene sagte Hardi, er hatte richtig geraten. »Himmel! Das gibt’s doch nicht… und obendrein war’s noch gut. Du hast eine rote Birne, Mann, da könnt‘ ich glatt deinen Küchenofen mit anzünden.«
»Oh ja. Wir hatten… wir hatten’s wohl beide mal wieder nötig. Himmel, Hardi, das war… so etwas habe ich noch nie erlebt. Sie ist abgehauen heute Morgen, hat sich richtig erschrocken. Hatte gestern Nacht wohl tüchtig einen intus.«
Da begann Hardi zu lachen, er konnte gar nicht anders. Er musste so sehr lachen, dass er sich an seinem Kaffee verschluckte und schließlich hustend und mit tränenden Augen über der Spüle hing. »Wie Marita. Die hat’s auch umgehauen. Ist einfach weg… erfolgreiche Party, und wie! Haha!« Erik prustete los, und irgendwann saßen sie beide auf dem Küchenfußboden und hielten sich die Seiten, bis sie beschlossen, darauf einen zu heben und die Sache leicht zu nehmen.
Schließlich ging Hardi wieder nach Hause, um noch etwas Schlaf nachzuholen, und Erik blieb allein in seinem stillen Häuschen zurück. Er streckte sich auf dem Sofa aus, starrte sinnierend auf den verwilderten kleinen Garten. Auch etwas, das er in Angriff nehmen wollte, im Frühjahr. Die Stille, die ihm sonst erdrückend vorgekommen wäre, tat ihm jetzt gut. Er genoss es regelrecht. Schließlich ging er nach draußen, ein Klemmbrett, Zettel und Stift in der Hand, und fertigte eine Zeichnung an. Oder vielmehr ein halbes Dutzend. Das tat er ständig, auch in fremden Häusern, baute sie in Gedanken um, veränderte sie. Manchmal, da konnte er sich nicht zurückhalten und sprach mit den Besitzern über seine Ideen. Einige fanden das ganz cool, andere reagierten genervt, als wolle er sie bevormunden oder er würde sich in etwas einmischen, das ihn nichts anging. Stimmte ja auch irgendwie. Weshalb er diese Neigung meistens verschwieg. Nun, dies hier war sein Haus, und er konnte damit planen, so viel er wollte, und er genoss es. Weshalb er wohl auch seinen Beruf gewählt hatte. Er war Bauingenieur, spezialisiert auf historische Restaurierungen. Was in einer mittelalterlichen Stadt wie ihrer immer für ausreichend Projekte sorgte, vor allem oben auf dem Schlossberg, wo ein großes Barockschloss inmitten einer wesentlich älteren Festungsanlage thronte. Aber so still vor sich hin planen, ohne Zeitdruck, ohne Vorschriften, das konnte er nur selten, weshalb er es annahm wie ein Geschenk.
Später saß er mit einem Glas Wein – davon hatte er noch etliche offene Flaschen, Geschenke sei Dank – vor seinem Ofen und schaute in die Flammen. Irgendwie, fand er, war das Leben auf einmal wieder lebenswert. Er wusste auch nicht, woher das kam. Und morgen hatte er noch einen ganzen Tag frei, es war Sonntag. Sonst eher voller Schrecken für ihn, weil keine Ablenkung von seinen Gedanken, aber diesmal freute er sich darauf. Sollte er brunchen gehen oder vielleicht eine Fahrradtour, wenn es endlich mal aufhören würde zu regnen? Oder Sunny… Kaum hatte er den Gedanken ausgedacht, klopfte es zaghaft an der Tür. Nanu?
Erstaunt sah er auf die triefende Gestalt im gelben Regenmantel, die davorstand. »Hey… komm rein. Es schüttet.«
Sie schüttelte den Kopf, dass die Wassertropfen nach allen Seiten flogen. »Nein, ich… ich wollte nur… ich wollte nur sagen, dass es mir leidtut, wie ich mich aufgeführt habe. Du sollst nicht denken, dass ich…«
»Mensch, Sunny! Mach dir doch keinen Kopf.«
»Tue ich aber«, kam es leise unter der Kapuze hervor. Ihre Gesichtszüge konnte er kaum erkennen. »Es… es… ich will einfach nicht, dass…« Sie biss sich auf die Lippen.
Erik konnte gar nicht anders. Er langte unter die Kapuze, umfasste ihren Nacken und zog sie nach drinnen. Mit der anderen Hand streifte er die Kapuze nach unten und blickte gleich darauf in ein leichenblasses, ziemlich übernächtigt wirkendes Gesicht. »Hey. Es geht dir nicht gut. Was ist los?« Langsam drückte er Tür hinter ihr zu. Die Regentropfen von ihrem Mantel fielen mit einem leichten Pitschen auf den steinernen Boden.
»Ich… ich kann einfach nicht…« Sie ballte die Fäuste, rang nach Worten, doch unter seinem Blick gelang es ihr nicht, die Beherrschung aufrechtzuerhalten.
Erschrocken sah er, wie sie mit den Tränen kämpfte. »Hey, ist ja gut«, sagte er, sie sanft an sich ziehend.
»Ich darf mich nicht in dich verlieben, du Idiot… das geht einfach nicht«, kam es erstickt aus seinem Hemd hervor.
Beinahe, aber nur beinahe hätte er gelacht, doch das unterdrückte er. »Und warum nicht?«, fragte er stattdessen.
»Weil… weil… kaum kommt eine andere langbeinige Schönheit daher, da bist du doch sofort wieder hin und weg. Da kann ich nicht mithalten, das konnte ich noch nie. Ich mache mir halt nichts vor. Das kann nur übel für mich enden«, flüsterte sie, die Augen geschlossen.
Ihm wurde kalt. Einen Moment stand er ganz starr. Doch dann seufzte er. »Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Die Zeiten sind ein für alle Mal vorbei, ich habe meine Lektion gelernt.« Er holte einmal tief Luft, schob sie zurück und sah sie an. »Aber wenn du dich damit unwohl fühlst, dann lass uns doch einfach so miteinander… und nichts weiter, hm? Ohne Verpflichtungen…«
Sie schnaubte. »Wenn das nur so einfach wäre«, flüsterte sie, aber jetzt schlang sie die Arme um ihn.
Na endlich, dachte Erik erleichtert, und fühlte wieder dieses leichte, schwindelerregende Gefühl von gestern Nacht. Die Kälte war verschwunden. »Lassen wir es doch einfach drauf ankommen, hm?«
»Das kann nur übel enden«, wiederholte sie und wollte ihn zurückschieben. Doch das ließ er nicht zu. »Ich mache dich ganz nass«, setzte sie nach.
»Tjaaa… dann müssen wir die Klamotten wohl ausziehen, das nützt alles nichts«, grinste Erik, umfasste ihr Gesicht und küsste sie. Erst ganz geruhsam, damit sie sich beruhigte, doch bald waren sie wieder da, wo sie gestern Abend angefangen hatten. Es gelang ihm gerade nur noch so, sie nach oben zu zerren, denn Vorhänge besaß er noch nicht, und das Licht ausmachen, das ging gar nicht. Deshalb bemerkte auch keiner von den beiden die dunkle Gestalt auf der anderen Straßenseite, die sie durch die Fenster beobachtete.
In dieser Nacht war Freya sich sicher. Es hatte etwas mit ihrer Schwester Sunny zu tun. Wieder war sie aus einem fürchterlichen Traum aufgewacht, und nun konnte sie sich auch an ein Bild erinnern, eine blutende Gestalt. Sie schrieb Sunny eine Nachricht:
<Ruf mich so schnell es geht an!>
Aber Sunny antwortete nicht.
Sie blieben den gesamten Sonntag im Bett. Das Wetter machte es ihnen leicht, denn es schüttete nach wie vor wie aus Kübeln. Nach den ersten sehr wilden Stunden in seinem Bett hatten sie lange geschlafen, ausgiebig gefrühstückt und widmeten sich jetzt wieder einander, langsamer, forschend, sich kennenlernend. Sie redeten nicht viel, noch nicht. Erstaunt erkannte Erik, dass er so gut wie nichts über Sunny wusste, während sie so gut wie alles über ihn wusste. Aber er drängte nicht, denn er hatte ja bereits gemerkt, dass es ihr schwerfiel, sich zu öffnen. Das hatte Zeit. Sollte sie auf ihn zukommen. Er jedenfalls hätte tagelang so weitermachen können, fand er, innerlich zufrieden grinsend.
Schließlich lagen sie da und lauschten dem Regen, der draußen beständig auf das Kopfsteinpflaster fiel. Erik hatte unten den Ofen angemacht, es war kalt im Obergeschoss gewesen, doch nun hatte er ein wenig das Fenster geöffnet, denn der Ofen heizte die winzigen Räume in Windeseile auf.
»Dein neues Zuhause gefällt mir«, sagte Sunny, den Kopf an seiner Schulter. Mit dem Zeigefinger fuhr sie ihm leicht über die Brust, spielte ein wenig mit den Haaren, ganz fein und blond. Sie mochte diese glattrasierten Bodybuilder Typen nicht, womöglich noch aufgepumpt durch Anabolika und tätowiert bis zum Abwinken. Erik war da ganz anders, obschon auch er ganz gut bepackt war, denn er fasste auch auf den Baustellen mal mit an, wenn Not am Mann war, und nach seinem eigenen Ausbau erst recht. Dennoch war er weit davon entfernt, ein Muskelprotz zu sein, dafür war er einfach zu schlank. Und dass er keine Tattoos hatte, wirklich keine, das machte ihn noch interessanter.
»Hm… mir auch immer besser.« Mit dir darin, hätte er beinahe hinzugefügt, aber das ließ er bleiben. »Ich wache morgens immer noch auf und denke, wo bist du jetzt? Daran muss man sich erst einmal gewöhnen.«
»Oh ja, das kenne ich.« Sunny wohnte in WG’s, immer wieder wechselnd, denn bei den Studenten war ja ein reges Kommen und Gehen. Sie wollte nichts Eigenes, hatte kaum eigene Sachen, kaufte und verkaufte ihre Klamotten bei Ebay in rauen Mengen. So viel wusste er von ihr, und auch, dass sie sich in ihrem Job als Redakteurin für die lokale Zeitung mehr als wohl fühlte. Sie war viel unterwegs, traf eine Menge Leute. Genau ihr Ding. Aber er wusste nicht, wo ihr Zuhause war, nichts über ihren familiären Hintergrund, ihre Geschichte. Schon merkwürdig, sinnierte er.
Sie hob den Kopf und langte über ihn rüber auf den Nachtschrank, wo das Klemmbrett mit den Entwürfen lag. »Was ist das?«
»Hmpf, kleine Gedankenspielerei, was ich hinten mit dem Garten anfangen soll.«
»Oh wow! Du kannst gut zeichnen. Das ist toll.« Sie drehte die Zeichnung im schwachen Licht der Nachttischlampe hin und her. Draußen wurde es bereits wieder dunkel, ein kalter, ungemütlicher Abend im Februar.
»Liegt am Job.« Das sagte er gelassen, aber innerlich freute er sich über ihre Reaktion.
»Oh nein. Es gibt viele Ings, die können nur am Computer zeichnen. Aber du, du kannst das wirklich. Warum bist du nicht Architekt geworden?«
Er lächelte. »Weil ich so gerne baue. Mein Vater hat immer mit mir gebaut, von klein auf. Er hat es mir in die Wiege gelegt. Meiner Schwester übrigens auch, da hat er nie einen Unterschied gemacht.«
»Er muss ein toller Vater gewesen sein.« Das sagte sie ganz leise.
»Oh ja.« Erik atmete einmal tief durch. »Leider ist er viel zu früh gestorben. Es war ein Unfall. Meine Schwester und er sind bei einem Zugunglück ums Leben gekommen.
Sie legte die Zeichnung wieder weg und sah ihn an. »Ich habe davon gehört. Aber deine Mutter nicht?«
»Nein. Sie starb ein paar Jahre früher. Krebs. Daher ist… war die Bindung zu unserem Vater auch so eng. Selbst als wir mit dem Studium fertig waren und gearbeitet haben, da haben wir uns noch regelmäßig getroffen, viel zusammen gemacht.« Er verstummte, wartete darauf, dass sie etwas sagte, vielleicht von ihrer Familie erzählte, aber es kam nichts. Auch gut. Er würde sie nicht drängen. »Willst du heute Nacht hierbleiben?«, fragte er schließlich.
Sie atmete ein paarmal heftig aus und ein. Doch dann: »Okay. Wenn es dir nichts ausmacht…«
»Aber nicht doch.« Er zog sie an sich, ihr einen langen, geruhsamen Kuss gebend. Sie schmeckte gut, irgendwie süß, fand er. Genau wie sie gut roch, weit entfernt von diesem ewigen Parfümschwaden anderer Frauen. Natürlich und mit einer ganz leichten Note nach… er konnte es nicht einordnen. Irgendein Öl oder eine Creme, entschied er. Das mochte er, stellte er fest und staunte ein wenig über sich selber.
»Ich muss morgen zeitig raus. Ich schreibe gerade an einer Story über diesen obskuren Reifenhändler im Industriegebiet. Weißt du, denjenigen, den sie im Verdacht haben, dass er immer seine Altreifen in den Wäldern rings um die Stadt entsorgt. Ich brauche noch ein paar Fotos.«
Erik richtete sich leicht auf, sah sie an. »Sei bloß vorsichtig. Die sind nicht sauber, keiner von denen. Hab mal ne Baustelle nebenan betreut. Plötzlich hatten wir ganz viele Altlasten, und als wir das untersuchen wollten, wurden die Reifen von unseren Firmenwagen zerstochen. Das war dann Warnung genug. Wir haben das Zeug stillschweigend entsorgt. Und einen massiven Zaun gebaut und eine Videoüberwachung installiert. Danach war dann Ruhe.«
»Hm, wird Zeit, dass jemand denen das Handwerk legt. Der Artikel ist schon fertig, nur die Bilder fehlen noch. Das kriege ich schon hin. Hab ja ein Fahrrad, damit bin ich schneller verschwunden, als die gucken können.«