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Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Das Angebot an berufsorientierten Weiterbildungen ist vielfältiger und umfangreicher denn je; unterschiedlichste Anbieter preisen diverse Möglichkeiten der Qualifizierung an. Bei dieser Geschäftigkeit rückt das Ausbildungsziel gern in den Hintergrund, wichtiger erscheint oft die Marktposition eines Angebots. Der Branche fehlen qualifizierungspolitische Visionen und Orientierungslinien. Die Studie fragt nach den politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Hintergründen dieser Entwicklung. Sie analysiert Defizite des Weiterbildungssystems am Beispiel der Schweiz und diskutiert Ansätze einer Neuorientierung. Der Autor zeigt, wie die Wertschöpfung von Bildungsdienstleistungen bewertet und verbessert werden kann.
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Seitenzahl: 402
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Walter Schöni
Bildungswertschöpfung
Zur politischen Ökonomie der berufsorientierten Weiterbildung
ISBN Print: 978-3-0355-0733-1
ISBN E-Book: 978-3-0355-0737-9
1. Auflage 2017
Alle Rechte vorbehalten
© 2017 hep verlag ag, Bern
www.hep-verlag.com
VORWORT
Weiterbildung ist tätige Auseinandersetzung mit der Welt, Wissenserwerb und Subjektbildung. Sie ist andererseits »Produkt«, sie ist Marketing und Konsum. Weiterbildung verspricht Prestige, verleiht symbolische Macht und wird zum Fetisch.
Mit solchen Phänomenen befasst sich die vorliegende Studie. Einen ersten Zugang bietet die Weiterbildungswerbung, die Erfolg und Wachstum verspricht und manchmal seltsame Blüten treibt. Einige davon sind als Zitate in das Buch eingestreut. Sie zeichnen ein Bild bunten Markttreibens, in dem innovative Lernangebote um motivierteste Lernende konkurrieren und zu besten Lernleistungen anspornen. Aber: Treiber des Weiterbildungsbooms sind weniger die Lernmotive als die Marktstrategien der Anbieter. Ihnen gilt die Aufmerksamkeit dieser Studie. Ebenso der Frage, wie man (außerhalb der Welt des Marketings) die Wertschöpfung der Weiterbildung in Wirtschaft und Gesellschaft fassen könnte.
Der Autor, seit Jahren als Dozent und Bildungsanbieter tätig und dem bunten Treiben nicht fern, unternimmt hier den Versuch einer Analyse. Er betrachtet die Weiterbildung mit theoretisch begründeter Skepsis: Weder ihr unbändiges Kommerzstreben noch die Gegenbewegung, die sie dem Markt entreißen möchte, können überzeugen. Beide übersehen die strukturelle Macht, die in die Weiterbildung eingewoben ist, aber auch ihr emanzipatorisches Potenzial, Machtverhältnisse infrage zu stellen. Die Studie möchte zur Analyse der Verhältnisse beitragen. Und sie liefert Impulse und Instrumente für die Praxisdiskussion.
Das Buch ist über eine längere Zeitspanne entstanden. Theoriearbeit und Weiterbildungspraxis in Bildungsinstitutionen und Unternehmen wechselten sich ab. Der Autor dankt allen, mit denen er sich in diesen Jahren fachlich austauschen durfte und die ihn zu dem Vorhaben ermunterten, ganz besonders Elke Tomforde, Lehrentwicklung und -technologie, ETH Zürich. Susanne Gentsch vom hep verlag sei herzlich gedankt für die wertvollen Hinweise und die gute Zusammenarbeit.
Walter Schöni
Basel, im Dezember 2016
ÜBERSICHT
Einleitung Paradoxien der Weiterbildung
Fragestellungen und Zielsetzung der Studie
Themen und Argumentationslinien
Teil I Entwicklungsdynamik der berufsorientierten Weiterbildung
1 Strukturwandel der Arbeit und der Bildung
2 Weiterbildungspolitik und Weiterbildungsmärkte
3 Gesellschaftliche Wirksamkeit des Weiterbildungssystems
Teil II Wertschöpfung der berufsorientierten Weiterbildung
4 Bildung als Dienstleistung
5 Die Wertschöpfung von Bildungsdienstleistungen
6 Bildungswertschöpfung in Wirtschaft und Gesellschaft
7 Erweiterte Analyse der Wertschöpfung von Bildungsdienstleistungen
Teil III Leistungsprozesse der berufsorientierten Weiterbildung
8 Prozessorganisation von Bildungsdienstleistungen
9 Controlling der Prozesse von Bildungsdienstleistungen
Teil IV Märkte, Diskurse und Politik der berufsorientierten Weiterbildung
10 Die Legitimität der Weiterbildung
11 Ansatzpunkte und Kontroversen der Weiterbildungspolitik
Anhang
Literatur
Abkürzungen
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNGPARADOXIEN DER WEITERBILDUNG
Fragestellungen und Zielsetzung der Studie
Themen und Argumentationslinien
TEIL I ENTWICKLUNGSDYNAMIK DER BERUFSORIENTIERTEN WEITERBILDUNG
1 Strukturwandel der Arbeit und der Bildung
1.1 Arbeitsverhältnisse unter Marktdruck
Bewirtschaftung von Arbeitsverhältnis und Arbeitskraft
Marktanbindung der Arbeitskraft – und ihres Umfelds
»Unternehmerische« Arbeitskraft, ungleiche Entwicklungschancen
1.2 Arbeitsmarkt – Deregulierung und ihre Folgen
Öffnung der Arbeitsmärkte
Neue Qualifikationsordnungen, neue Inflexibilitäten
Segmentierung und soziale Selektivität
1.3 Bildungssystem im Fokus der Politik
Reformen im Zeichen von Kohärenz und Durchlässigkeit
Internationale Regulierung und Steuerung von Bildung
Kohärenz der Bildung aus gesellschaftspolitischer Sicht
2 Weiterbildungspolitik und Weiterbildungsmärkte
2.1 Weiterbildungspolitik in der Schweiz
Ursprünge und Professionalisierungsschritte
Traditionen: Marktliberalismus, Korporatismus, schwache Regulierung
Neues Weiterbildungsgesetz: Marktfreiheit plus Wirtschaftsförderung
Fazit: Geschäftige Weiterbildungsbranche, konzeptlose Politik
2.2 Strukturen und Trends in der Weiterbildungsbranche
Gliederung des Weiterbildungsangebots
Marktvolumen und Trendeinschätzungen der Branche
2.3 Dynamik der Angebotsentwicklung
Pfadabhängigkeit, Expansion und Ausdifferenzierung
Funktionsbezug der berufsorientierten Weiterbildung mit Abschluss
Volatilität der allgemeinen berufsorientierten Weiterbildung
Fazit: Heterogene Angebotsstrukturen, schwierige Orientierung
3 Gesellschaftliche Wirksamkeit des Weiterbildungssystems
3.1 Deckung von Qualifizierungsbedarf
Begriffsklärung: Qualifizierungsbedarf, Bedarfsdeckung
Wie die Weiterbildung Bedarf und Angebot »zur Deckung« bringt
Implikationen unzureichender Ausrichtung am Qualifizierungsbedarf
3.2 Kohärenz von Angebot und Bildungswegen
Begriffsklärung: Kohärenz im System der Weiterbildung
Systemmerkmale der Weiterbildung beeinträchtigen die Kohärenz
Implikationen unzureichender Kohärenz
3.3 Regulierungs- und Steuerungsfähigkeit
Begriffsklärung: Regulierung und Steuerung
Defizite der Regulierung und Steuerung schwächen die Wirksamkeit
Implikationen unzureichender Regulierung und Steuerung
3.4 Egalisierung der Bildungschancen
Begriffsklärung: Weiterbildung und Chancenausgleich
Das Weiterbildungssystem verstärkt die Ungleichheit der Chancen
Implikationen eines unzureichenden Chancenausgleichs
3.5 Fazit: Wirksamkeits- und Orientierungsdefizite der Weiterbildung
Ergebnisse der Wirksamkeitsanalyse
Ansatz der Bildungswertschöpfung als Orientierungsrahmen
Von der Ökonomisierungskritik zur Kritik des Bildungsgeschäfts
TEIL II WERTSCHÖPFUNG DER BERUFSORIENTIERTEN WEITERBILDUNG
4 Bildung als Dienstleistung
4.1 Dienstleistung und Güterproduktion
4.2 Merkmale von Bildungsdienstleistungen
Das konstruierte Setting der Leistungserbringung
Klärung der Leistungsmerkmale im Dienstleistungskonzept
4.3 Fremdorganisation versus Selbstorganisation von Lernen
Selbstorganisiertes Lernen als (hypothetische) Alternative
Nutzenkalkül der Weiterbildungsinteressierten
Selbst- und fremdorganisiertes Lernen sinnvoll verbinden
4.4 Kundenbeziehungen und »Kundenorientierung«
Analyse der Kundenbeziehungen
Was heißt Kundenorientierung in der Weiterbildung?
4.5 Fazit: Weiterbildung als Dienstleistung verstehen
5 Die Wertschöpfung von Bildungsdienstleistungen
5.1 Grundlagen der Wertschöpfungsdiskussion
Betriebswirtschaftliche Definitionen von Wertschöpfung
Anbieter- und kundenbezogene Wertschöpfung in der Weiterbildung
Die »Gleichwertigkeit« von monetären Werten und Gebrauchswerten am Bildungsmarkt
Wertschöpfung in der betrieblichen Weiterbildung
Fazit: Wertschöpfungsbegriffe und ihre Anwendung in der Bildung
5.2 Wertschöpfungskonzepte für Industrie und Dienstleistungen
Das Modell der industriellen Wertkette
Elemente der Wert- und Kostenanalyse
Wertschöpfungsmodelle für Dienstleistungen
Fazit: Konzepte und Modelle der Wertschöpfung
5.3 Wertschöpfungskonzepte für Bildungsdienstleistungen
Konzept 1: Wertkette für Kursangebote und Programme
Konzept 2: Wertshop für Bildung, Beratung, Begleitung
Konzept 3: Wertnetzwerk für intermediäre Dienstleistung
Dienstleistungstrends am Bildungs- und Beratungsmarkt
5.4 Analyse der Wertschöpfung von Bildungsdienstleistungen: Vorgehen und Fallbeispiel
Vorgehen der Wertschöpfungsanalyse
Fallbeispiel: Förderungsprogramm für Führungskräfte
Fazit: Analyse der einzelwirtschaftlichen Wertschöpfung
6 Bildungswertschöpfung in Wirtschaft und Gesellschaft
6.1 Bezugssysteme der Bildungswertschöpfung
Die Systematik: Wertschöpfungs- und Verwertungssysteme
Wertbeitrag der Weiterbildung und seine symbolische Anerkennung
Vereinnahmung durch hegemoniale Diskurse
6.2 Wertschöpfungssysteme der Wirtschaft und der Bildung
Wertschöpfungssysteme der Wirtschaft
Mehrstufige und einzelwirtschaftliche Wertschöpfung
Wertschöpfungssysteme der berufsorientierten Weiterbildung
Stabilisierende Funktionen des Weiterbildungssystems
6.3 Verwertungssysteme der Gesellschaft
Anerkennung von Leistungen der Weiterbildung
Verwertung von Leistungen der Weiterbildung
Verwertung im Kontext »Arbeitsmarkt«
Verwertung im Kontext »Betrieb«
Verwertung im Kontext »Wirtschaftsstandort«
6.4 Fazit: Paradoxe Effekte systemischer Wertschöpfung
Wertschöpfungssysteme ermöglichen und neutralisieren Bildungswerte
Verwertungssysteme anerkennen und vereinnahmen Bildungswerte
Folgerungen für die erweiterte Analyse der Wertschöpfung
7 Erweiterte Analyse der Wertschöpfung von Bildungsdienstleistungen
7.1 Grundlagen und Zielsetzung der erweiterten Analyse
Variante 1: Quantitative Analyse des Wertschöpfungspotenzials
Variante 2: Qualitative Analyse der Kohärenz der Wertschöpfung
Entscheidung für das qualitative Analyseverfahren
7.2 Gegenstand und Verfahren der Analyse
Ebene A: Einzelwirtschaftliche Analyse
Ebene B: Systembezogene Analyse
Ebene C: Gesellschaftsbezogene Analyse
Bilanz des Wertschöpfungspotenzials und Folgerungen
7.3 Leitfaden »Erweiterte Wertschöpfungsanalyse«
1 Leistungsangebot, Märkte, Kundenbeziehungen
2 Wertschöpfungskonzept(e)
3 Wertschaffende Aktivitäten und Schnittstellen
4 Wert- und Kostentreiber, Wertschöpfungspotenzial
5 Integration in Wertschöpfungssysteme
6 Positionierung in Verwertungssystemen
7 Beitrag zur gesellschaftlichen Qualifizierung
8 Bilanz des gesamten Wertschöpfungspotenzials
9 Folgerungen für die Angebotspolitik im Bildungssegment
7.4 Fallbeispiel: Förderungsprogramm für Führungskräfte
Integration in das Wertschöpfungssystem der Verwaltung
Positionierung im Verwertungssystem der Verwaltung
Wandel in der öffentlichen Verwaltung schafft Handlungsbedarf
Beitrag zur Qualifizierung für gesellschaftliche Anforderungen
Bilanz des gesamten Wertschöpfungspotenzials und Folgerungen
7.5 Fazit zur erweiterten Wertschöpfungsanalyse
TEIL III LEISTUNGSPROZESSE DER BERUFSORIENTIERTEN WEITERBILDUNG
8 Prozessorganisation von Bildungsdienstleistungen
8.1 Dimensionen und Bezugsgrößen der Prozessorganisation
Dimensionen der Prozessorganisation: Aktivitätenfolge, Interaktion
Konfigurationen der Prozessorganisation im Weiterbildungsgeschäft
Externe Bezugsgrößen der Prozessgestaltung in der Weiterbildung
8.2 Modellierung und Inszenierung von Dienstleistungsprozessen
Prozesse und ihre Inszenierung bei Dienstleistungen
Inszenierung bei Bildungsdienstleistungen: Lernwelten
8.3 Prozessorganisation bei Bildungsdienstleistungen
Einfaches Prozessschema: Kernaktivitäten aus Anbietersicht
Erweiterte Prozessorganisation: Einbezug von Prozessfokussen
Prozessfokus »Kundenprozesse/Teilnahme«
Prozessfokus »Angebotsmanagement«
Prozessfokus »Service- und Supportprozesse«
8.4 Fazit: Anforderungen an eine wertschöpfungsorientierte Prozessorganisation
9 Controlling der Prozesse von Bildungsdienstleistungen
9.1 Schritte der Operationalisierung von Leistungsmerkmalen
1 Zuordnung des Wertschöpfungskonzepts
2 Darlegung der Prozessorganisation, Wahl des Prozessfokus
3 Identifikation der zentralen Leistungsparameter
4 Operationalisierung der Leistungsparameter
9.2 Systematik des Controllings: Fokusse und Parameter
Selektivität als methodisches Prinzip
Controlling im Fokus »Kundenprozesse/Teilnahme«
Controlling im Fokus »Angebotsmanagement«
Controlling im Fokus »Service- und Supportprozesse«
9.3 Der operative Controllingzyklus: Auslöser, Ablauf
Controlling heißt messen, planen und steuern
Der operative Controllingzyklus
9.4 Fallbeispiel: Programmangebot »Deutsch im Arbeitsteam«
Ausgangslage
Das Wertschöpfungskonzept
Die Prozessorganisation
Leistungsparameter und ihre Messung
Probleme im Geschäftsfeld und Einleitung eines Controllingzyklus
Optimierung der Leistungsprozesse
Über die Prozessoptimierung hinaus
9.5 Fazit zum Prozesscontrolling bei Bildungsdienstleistungen
TEIL IV MÄRKTE, DISKURSE UND POLITIK DER BERUFSORIENTIERTEN WEITERBILDUNG
10 Die Legitimität der Weiterbildung
10.1 Wirksamkeit und Wertbeitrag des Weiterbildungssystems
Die gesellschaftliche Wirksamkeit des Weiterbildungssystems
Das Wertschöpfungspotenzial der Weiterbildungsbranche
Fazit: Funktionsdefizite des Weiterbildungssystems
10.2 Die symbolische Ordnung der Weiterbildungsmärkte
Äquivalenz als diskursives Schlüsselelement
Grundlagen der Äquivalenzbeurteilung am Markt
Der kognitive Horizont der Äquivalenzbeurteilung
Fazit: Zur Stabilität der symbolischen Marktordnung
10.3 Steuerung von Kosten und Nutzen durch die Anbieter
»Marktsignale« und andere Vorgaben für das Bildungsmarketing
Strategien der Kostensteuerung und des Nutzenmarketings
Marketing in den Angebotssegmenten
Fazit: Strategien des Marketings an den Weiterbildungsmärkten
11 Ansatzpunkte und Kontroversen der Weiterbildungspolitik
11.1 Analyse, Bewertung und Steuerung von Weiterbildung
Analyse und Bewertung von Weiterbildungsprogrammen
Politische Aushandlung und Steuerung von Weiterbildung
11.2 Themen und Kontroversen künftiger Weiterbildungspolitik
»Stellenwert des Marktes in der Weiterbildung«
»Weiterbildung als Konsumgeschäft«
»Nutzenversprechen der Weiterbildung«
Fazit: Die Verantwortung der Weiterbildungspolitik
ANHANG
Literatur
Abkürzungen
Kein anderer Bereich unserer Gesellschaften erfährt wohl so breite Zustimmung wie die Bildung. Über Chancen, Wege und Titel wird gestritten, als gesellschaftliche Institution wird Bildung aber kaum infrage gestellt. Der Begriff steht für individuelle und gesellschaftliche Entwicklung schlechthin. Selbst soziale Ungleichheiten und Entwicklungsblockaden, die von der Bildung mitverantwortet werden, vermögen ihrer Legitimität wenig anzuhaben. Vielmehr gelingt es ihren Diskursen, soziale Ungleichheit als Resultat ungleicher Bildungsanstrengungen zu deuten und zu rechtfertigen. Und wo Chancen auf Bildung unleugbar schief verteilt sind, verspricht Weiterbildung eine »zweite Chance«, nachzuholen, was vorher in der formalen Bildung verpasst wurde. Zu fragen ist dennoch, wie weit solche diskursiven Versprechen in der Praxis eingelöst werden.
Diese Studie untersucht die berufsorientierte Weiterbildung, und zwar sowohl ihre Selbstdarstellung als auch die faktische Einlösung ihrer Leistungsversprechen. Dass beides auseinanderlaufen kann, hat mit der widersprüchlichen Rolle der Bildung in kapitalistischen Gesellschaften zu tun: Sie ist Entwicklung, sie ist aber auch Geschäft. Der ersten Bedeutung zufolge meint Bildung Lernen, also Horizonterweiterung, beruflichen Kompetenzerwerb, soziale Innovation. Bildung verschafft Autonomie, sie »gehört« jenen, die sie erarbeiten, sie ist individuelles und gemeinschaftliches Gut. In der zweiten Bedeutung ist Bildung wirtschaftliche Aktivität, eine Dienstleistung: Bildungsanbieterinnen und -anbieter unterstützen Lernende mit Schulung, Abklärung, Beratung und anderen Leistungen. Bildung präsentiert sich an Märkten und schafft Nutzen gegen Bezahlung – sofern ihr Angebot zahlungsbereite Kundinnen und Kunden findet.
Beide Bedeutungen von Bildung sind in der gesellschaftlichen Praxis untrennbar verbunden. Autonom motiviertes Lernen ganz außerhalb von marktgängigen Bildungsdienstleistungen ist vorstellbar, findet aber keine gesellschaftliche Anerkennung. Umgekehrt können Bildungsdienstleistungen losgelöst von autonomen Lernmotiven der Teilnehmenden nicht erbracht werden. Selbst in der kapitalistischen Wirtschaft ist Bildung keine Ware, die man auf Vorrat herstellt und dann als Konsumgut absetzt. Die Inanspruchnahme einer Bildungsdienstleistung setzt voraus, dass Adressatinnen und Adressaten die vom Anbieter deklarierten Bildungsziele als sinnhaft erachten, dass sie seine Kompetenz, sein Leistungsversprechen akzeptieren und bei der Durchführung aktiv mitwirken. Eine Bildungsdienstleistung erbringen heißt sie auf die Handlungsfelder der Lernenden ausrichten, verbindliche Beziehungen eingehen und in der Zusammenarbeit lernen.
Die kooperative Leistungserbringung wird jedoch für das boomende Weiterbildungsgeschäft zum Hindernis. Weiterbildungsmärkte funktionieren wie andere Märkte nach der Logik des Wachstums, der Marktbeherrschung und der Verdrängung von Konkurrenten. Im Kampf um Themenführerschaft und Marktanteile, um Rankingpositionen und Renditeziele geraten soziale Beziehungsstrukturen des Lernens aus dem Blick. Die Weiterbildungsbranche ist bestrebt, für beliebige Veränderungen im Geschäftsfeld »Arbeitswelt« passende Bildungs- und Beratungsangebote bereitzuhalten, die Nachfrage zu lenken und die Geschäfte voranzutreiben; ihren Fokus hat sie längst auf das »Produkt« und seinen Absatz verlagert. Weiterführende Ziele der Zusammenarbeit, der Befähigung und gesellschaftlichen Entwicklung verlieren an Bedeutung. Je mehr aber Bildungsanbieter den Marktanteil und die Nachfragenden das Abschlusszertifikat ins Zentrum stellen, desto wichtiger wird das Preis-Leistungs-Verhältnis dieses Produkts, und desto austauschbarer werden seine Inhalte und Prozesse.
Der Primat des Produktabsatzes prägt das Geschäftsverhalten. Öffentlich-rechtliche und privatwirtschaftliche Bildungsanbieter scheinen in ihrer Marktoffensive zu »vergessen«, dass die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wertbeiträge, mit denen sie werben und ihr Angebot rechtfertigen, verpflichtend sind: dass selbst das trendigste Angebotssortiment ein Leistungsversprechen darstellt; dass das Angebot seinen Gebrauchswert nur in kooperativen Prozessen realisieren kann; und dass der Gebrauchswert einem gesellschaftlichen Bildungsauftrag entsprechen und Anerkennung finden sollte. Diese Verpflichtungen werden öffentlich zwar kaum bestritten, durch die Praxis aber konterkariert. Vom Anbieter vororganisierte und kontrollierte Lernsettings bestimmen die Abläufe des Lehrens und Lernens. Wirtschaftlichkeitsvorgaben beschränken den Spielraum, den das Fachpersonal erhält, um Lernvoraussetzungen zu klären, Lerntransfer zu begleiten und wertschätzenden Service zu erbringen, kurz: um den Gebrauchswert des Lernens zu sichern.
Die Weiterbildung verantwortet diese Prioritätensetzung nicht allein, sie ist aber zum Treiber der Absatzorientierung geworden, mit qualifizierungspolitisch fragwürdigen Folgen. Einseitig funktional interpretierte Bildungsbedarfe und kurzlebige Trends geben heute die Richtung der Angebotsentwicklung vor; und die Leistungserbringung hat formale Ziele des Umsatzes, der Wirtschaftlichkeit und Kundenzufriedenheit zu erfüllen. In vielen Angebotsbereichen, selbst bei öffentlichem und gemeinnützigem Leistungsauftrag, entscheidet die Marktgängigkeit über das Angebot. Marketingmethoden der Konsumwirtschaft werden auf die Bildung übertragen. Was nicht unbedingt dem Marketing anzulasten ist, schon eher dem kommerzialisierten Selbstverständnis vieler Anbieter und Programme der Weiterbildung.
Umso grundsätzlicher ist zu fragen: Nach welchen markt- und anbieterunabhängigen Kriterien ließen sich Leistungsangebot und Wertbeiträge der Weiterbildung beurteilen? Wie wäre das Leistungsangebot weiterzuentwickeln, welche weiterbildungspolitischen Folgerungen wären möglich? Im Gesamtsystem der berufsorientierten Weiterbildung fehlen heute die Grundlagen für eine Beantwortung dieser Fragen. Zum einen sind die Bildungsaufträge seitens der Wirtschaft und der Gesellschaft, an denen das Leistungsangebot zu messen wäre, in der Geschichte der Weiterbildung schon frühzeitig abhandengekommen. Zum anderen mangelt es der Branche an eigenen weiterführenden Visionen, die den spezialisierten Bildungswegen und Bildungsgängen heute Orientierung geben könnten.
Gesucht sind daher wissenschaftlich fundierte Ansätze, nach denen wir die von der Weiterbildung erbrachten Leistungen und geschaffenen Werte kategorisieren, objektivieren und vergleichend bewerten können. Wertkategorien der Weiterbildung sind etwa monetäre Anbietererträge, qualifikatorische Fortschritte von Lernenden und Abnehmern, ferner Wertbeiträge an die Wirtschaftsregion, an die Lösung sozialer Probleme, an gerechtere Sozialsysteme. Wertschöpfung und Wertbeiträge von Bildungsdienstleistungen zu beurteilen, setzt allerdings voraus, dass wir einen für die Bildung tauglichen Wertschöpfungsbegriff besitzen und Wertgrößen methodisch verlässlich erfassen können.
Die begrifflichen und methodischen Grundlagen gilt es zu erarbeiten. Anregung dafür finden wir unter anderem in den Wirtschaftswissenschaften, insbesondere bei der Wertschöpfungstheorie und dem Dienstleistungsmanagement. Sie machen darauf aufmerksam, dass Wertschöpfung an Voraussetzungen gebunden ist und Standards zu beachten hat. Bei Dienstleistungen sind die Kundenanforderungen genau abzuklären, damit die Kundinnen und Kunden im ganzen Leistungsprozess eine produktive Dienstleistungshaltung erkennen können. Welche Werte dabei geschaffen werden, wie sie objektiviert und beurteilt werden, ist Gegenstand der Wertschöpfungsanalyse. Diese Aspekte sind auch für die Bildungsdienstleistung überlegenswert. Die Auseinandersetzung damit hilft, die oft ungenau formulierte Kritik an der Ökonomisierung der Bildung zu schärfen.
Die vorliegende Studie findet konzeptuelle Anregung somit auch außerhalb der Bildungswissenschaften. Sie macht wirtschaftswissenschaftliche Konzepte für die Wertschöpfungsdiskussion in der Weiterbildung nutzbar. Sie bezieht sich zudem auf soziologische Dimensionen, um die Wirksamkeit des Weiterbildungssystems einzuschätzen. Und sie rekonstruiert mit diskursanalytischen Mitteln die symbolische Ordnung der Weiterbildungsmärkte, die bislang verhindert, dass der Wertbeitrag des Weiterbildungsgeschäfts unter die Lupe genommen wird. Die Auseinandersetzung mit solchen »bildungsfremden« Ansätzen bringt neue Impulse für die Weiterbildungsdiskussion. Sie macht eine theoretische Integration zwar nicht einfach, führt aber zu alternativen Konzepten, die Anbieter und Bildungsfachleute in ihrer Praxis unterstützen, ihre Leistungen zu analysieren und zu verbessern.
Der Fokus der Studie liegt auf der berufsorientierten Weiterbildung: auf ihrem Geschäft, ihren Märkten und Diskursen, auch auf ihrem institutionellen System. Mit dem Begriff »berufsorientierte Weiterbildung« bezeichnen wir die der beruflichen und schulischen Ausbildung nachgelagerte, sie ergänzende Weiterbildung in den Segmenten 1. höhere Berufsbildung, 2. Weiterbildung an Hochschulen, 3. allgemeine berufsorientierte Weiterbildung (inklusive betriebliche Weiterbildung, Personalentwicklung), 4. arbeitsmarktbezogene Weiterbildung und 5. Weiterbildung für öffentliche Funktionen (zur Systematik vgl. Kapitel 2.2). Die Ausführungen der Studie konzentrieren sich auf die Angebotssegmente 1 bis 3, sie lassen sich unter Beachtung der Spezifika auch auf die anderen Segmente anwenden.
Berufsorientierte Weiterbildung als Geschäft, als Dienstleistung begreifen heißt, sich eingehend mit Nutzenerwartungen der Kundinnen und Kunden, mit kooperativen Leistungsprozessen, mit wirtschaftlicher Vernetzung, mit gesellschaftlicher Anerkennung und Verwertung von Bildungsleistungen zu befassen. Zu ihren Resultaten zählen nicht bloß bildungsökonomische Wertgrößen (Bildungsrenditen, wirtschaftlicher Output der Branche), sondern ebenso Gebrauchswerte für Lernende und Unternehmen, für Wirtschaft und Gesellschaft.
Die Studie analysiert das Wertschöpfungspotenzial der Weiterbildung in diesen erweiterten Kontexten. Sie geht den folgenden Fragen nach:
–Welches sind die relevanten Bezugssysteme und Einflussfaktoren der berufsorientierten Weiterbildung?
–Wie gut erfüllt das berufsorientierte Weiterbildungssystem seine Funktionen für Wirtschaft und Gesellschaft, wie wirksam ist es?
–Wie unterscheiden sich Bildungsdienstleistungen von anderen Wirtschaftsaktivitäten, etwa bezüglich Kundenbeziehung, Abwicklung, Ergebnis?
–Welche Werte erzeugen Bildungsdienstleistungen für Einzelne, Wirtschaft und Gesellschaft? Wie werden die Leistungen anerkannt und verwertet?
–Welchen Einfluss haben Leistungsprozesse und Interaktionen auf die Wertschöpfung von Bildungsdienstleistungen?
–Welche Rolle spielen arbeitsteilige Wirtschaftssysteme und Bildungsstrukturen für die Wertschöpfung von Bildungsdienstleistungen?
–Welche ökonomischen und außerökonomischen Kräfte bestimmen den Weiterbildungsmarkt, worin gründet seine Stabilität?
Was die Bezugssysteme und Funktionender berufsorientierten Weiterbildung betrifft, so verfügt die sozial- und bildungswissenschaftliche Forschung über analytische Instrumente und breite (allerdings heterogene) empirische Evidenz. Diese Grundlagen sind für eine Einschätzung der Wirksamkeit zusammenzuführen. Was das Geschäft der Weiterbildung betrifft, also die Konzeption, Vermarktung und Verwertung von Bildungsdienstleistungen, so hilft uns die Wertschöpfungstheorie und Wertschöpfungsanalyse weiter. Sie nimmt (einzelwirtschaftliche) Geschäftsbeziehungen, Geschäftsfelder und Branchen in den Blick; sie hat sich bisher allerdings kaum mit der Weiterbildungsbranche befasst, und umgekehrt sind ihre Konzepte in den Bildungswissenschaften kaum rezipiert worden.[1] Was die Märkte der berufsorientierten Weiterbildung betrifft, so erlaubt die Datenlage zur Situation in der Schweiz nur grobe Trendeinschätzungen. Unsere Analyse verfolgt einen politisch-ökonomischen Ansatz, der Weiterbildungsmärkte nicht als Sphäre selbsttätiger Marktgesetze versteht, sondern nach außerökonomischen Bestimmungskräften wie Macht, Interessen und Prestige fragt.
Die Ziele dieser Studie lassen sich wie folgt umreißen: Erstens geht es darum, gestützt auf sozial- und bildungswissenschaftliche Erkenntnisse ein Raster zu entwickeln, das uns erlaubt, die gesellschaftliche Wirksamkeit des Systems der berufsorientierten Weiterbildung einzuschätzen, summarisch zwar, aber auf empirischer Evidenz basierend. Das Raster dient in der Studie mehrfach als Referenz. Zweitens ist ein theoretischer und methodischer Ansatz zu erarbeiten, der erlaubt, das Wertschöpfungspotenzial von Bildungsdienstleistungen zu objektivieren, es vergleichend zu bewerten und Bezüge zu Wirtschaft und Gesellschaft herzustellen. Drittens soll auf werttheoretischer Grundlage erörtert werden, worin die symbolische Ordnung und die Stabilität der Weiterbildungsmärkte gründen. Und viertens sollen aus diesen Analysen neue Kriterien und Orientierungslinien hervorgehen, die in die Steuerung von Weiterbildung und in die weiterbildungspolitische Debatte einfließen.
Teil I setzt ein beim Strukturwandel der Arbeitswelt. Er analysiert die Rolle der Weiterbildung und untersucht ihre gesellschaftliche Wirksamkeit. Der Weiterbildung fehlt es nicht an geschäftlicher Dynamik, wohl aber an qualifikationspolitischer Orientierung. Ersatz bietet hier das Konzept der Bildungswertschöpfung, das in der Weiterbildungsdiskussion bisher allerdings keine Rolle spielt. Teil II erarbeitet methodische Grundlagen für die Analyse von Bildungswertschöpfung, Teil III befasst sich mit den Leistungsprozessen der Weiterbildung. Teil IV führt die Ergebnisse zusammen. Er fragt nach der symbolischen Ordnung der Weiterbildungsmärkte, skizziert Ansätze der Marktsteuerung und benennt kontroverse Themen der Weiterbildungspolitik.
Die vier Teile der Studie sind als Einheiten mit je eigenen theoretischen und empirischen Bezügen konzipiert. Sie bewegen sich nicht nur in den disziplinären Grenzen der Bildungswissenschaften, sondern integrieren bildungsfremde Ansätze. Sie stellen Instrumente für die Entwicklung und Bewertung von Weiterbildungsangeboten zur Verfügung. Im Folgenden finden die Leserinnen und Leser eine detaillierte Beschreibung der Inhalte und Argumentationslinien der Studie. So können sie Teile für eine selektive Lektüre auswählen.
Teil I: Entwicklungsdynamik der berufsorientierten Weiterbildung
Ausgangspunkt ist der Strukturwandel der Arbeitswelt und der Bildung in den letzten Jahrzehnten. Mit dem Wandel haben sich Bezugssysteme und Vorgaben der berufsorientierten Weiterbildung verschoben. Wie antwortet die Branche darauf, wie orientiert sich ihre Angebotspolitik?
Kapitel 1 beschreibt erstens, wie Arbeitsverhältnisse flexibilisiert und die Arbeitskräfte enger an die Märkte angebunden wurden; zweitens, wie sich Angebots- und Nachfragestrukturen am Arbeitsmarkt verändert und Segmentierungen neu herausgebildet haben; und drittens, wie durch bildungspolitische Reformen und internationale Regulierungen die Bildung standardisiert, aber nicht immer kohärenter gestaltet worden ist. Festzuhalten ist: Die großen Veränderungen erzeugen ständig neue Lernbedarfe. Sie halten das Bildungsgeschäft im Gang, schaffen aber auch Unsicherheiten für Beschäftigte.
Am Beispiel der Schweiz analysiertKapitel 2, wie sich das System der berufsorientierten Weiterbildung entwickelt hat, wie es auf den Strukturwandel der Arbeitswelt reagiert, wie die Weiterbildungsmärkte funktionieren und wie sie gesteuert werden. Weiterbildungsmärkte sind weniger durch das freie Spiel von Angebot und Nachfrage als durch Anbieterstrukturen und korporative Interessenverbünde geprägt. In vielen Teilbereichen der Weiterbildung sind funktionale subsidiäre Lösungen entstanden, im Gesamtsystem jedoch beanspruchen Sonderinteressen und bildungspolitische Zuständigkeitskonflikte sehr viel Raum. Von diesen Realitäten weitgehend unberührt, pflegt die Weiterbildung ihren Marktdiskurs. Gleichzeitig wird eine zielführende politische Regulierung unterbunden, wie das neue schweizerische, per 1. Januar 2017 in Kraft getretene Weiterbildungsgesetz deutlich erkennen lässt.
Kapitel 3 fragt nach der gesellschaftlichen Wirksamkeit des Weiterbildungssystems. Die Einschätzung der Wirksamkeit erfolgt anhand von vier sozial- und bildungswissenschaftlichen Dimensionen: Bedarfsgerechtigkeit des Angebots, Kohärenz der Bildungswege, Regulier- und Steuerbarkeit des Systems sowie Egalisierung der Bildungschancen. Das Weiterbildungssystem der Schweiz zeigt grundlegende Wirksamkeits- und Orientierungsdefizite. Die ideologische Fixierung auf Markt und Wettbewerb scheint jedoch zu verhindern, dass solche Defizite wahrgenommen und korrigiert werden, was für den Fortgang der Studie die Frage aufwirft, wie Leistungen der Weiterbildung künftig angebotsunabhängig und segmentübergreifend objektiviert werden könnten; und ob sich daraus Orientierungslinien für eine zielorientierte Weiterbildungspolitik gewinnen lassen.
Teil II: Wertschöpfung der berufsorientierten Weiterbildung
Dieser Teil befasst sich mit den Grundlagen der Bildungswertschöpfung. Ziel ist, die von Bildungsdienstleistungen erzeugten Werte zu analysieren und daraus Kriterien zu gewinnen für die Bewertung von Weiterbildungsleistungen, für die Angebotsentwicklung und für die Weiterbildungspolitik. Die Überlegungen knüpfen an Theorien der Wertschöpfung, der Dienstleistung und des Prozessmanagements an, d. h. an betriebswirtschaftlich geprägte Theoriestränge. Ihre Begriffe und Konzepte werden referiert und in der bildungswissenschaftlichen Diskussion verortet.
In einem ersten Schritt wendet Kapitel 4dienstleistungstheoretische Konzepte auf die Bildung an. Für Bildungsdienstleistungen gelten die Merkmale einer »starken Kundenintegration«, typisch für personenbezogene Dienstleistungen: Weiterbildung führt nur in der direkten Zusammenarbeit mit Teilnehmenden, Abnehmern und Auftraggebern zu Lernfortschritten. Leistungsprozesse der Weiterbildung sind daher nur begrenzt standardisierbar und steuerbar. Die Weiterbildung ist mit heterogenen Nutzenerwartungen, Lern- und Handlungsbedingungen konfrontiert. Anbieter müssen mit diesen Gegebenheiten produktiv arbeiten, sie können sich nicht damit zufrieden geben, vorgefertigte Lernsettings zu inszenieren. Praxisrelevanz und Gebrauchswert der von Lernenden und Bildungsfachpersonal gemeinsam erbrachten Lernleistung müssen klar ersichtlich sein.
Anknüpfend an die betriebswirtschaftliche Definition von Wertschöpfung, fragt Kapitel 5nach dem spezifischen Charakter von Bildungswertschöpfung. Es referiert Wertschöpfungsmodelle der Industrie und des Dienstleistungssektors, um dann die Wertschöpfung von kursförmigen, beratenden und intermediären Bildungsdienstleistungen mit ihren Leistungslogiken, Wert- und Kostentreibern zu rekonstruieren. Es werden die monetären Werte und Gebrauchswerte der Weiterbildung bestimmt, und zwar aus Kunden- und aus Anbietersicht. Die Analyse der Wertschöpfung richtet ihren Fokus auf die einzelwirtschaftliche Ebene. Sie wird am Fallbeispiel »Förderungsprogramm für Führungskräfte« illustriert.
Kapitel 6weitet die Konzeption der Bildungswertschöpfung auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bezugssysteme aus, in denen Bildungsdienstleistungen erbracht werden. Es macht deutlich, dass Bildungswertschöpfung – wie andere wertschaffende Aktivitäten – nicht nur von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des einzelnen Anbieters und vom Engagement der Lernenden abhängt, sondern ein geeignetes Umfeld benötigt. Die Bildungsdienstleistung muss in branchenübergreifende Wertschöpfungssysteme der Wirtschaft integriert sein; Qualifikationen müssen in die Systematik der Weiterbildung passen; Abschlüsse müssen in Unternehmen, am Arbeitsmarkt und in Sozialstrukturen in Wert gesetzt werden. Bildungswerte entstehen also nur in Bezugssystemen; hier können sie aber auch infrage gestellt werden, etwa durch die Dynamik der Bildungsmärkte, durch tradierte Wissenshierarchien und durch vereinnahmende Diskurse.
Kapitel 7führt die verschiedenen Ebenen der Bildungswertschöpfung in einem integrierten Verfahren der Wertschöpfungsanalyse zusammen. Das Verfahren unterscheidet eine einzelwirtschaftliche, eine systembezogene und eine gesellschaftsbezogene Analyseebene. Es überprüft die Kohärenz der Bildungswertschöpfung über alle drei Ebenen. Der Leitfaden »Erweiterte Wertschöpfungsanalyse« führt durch die Analyseschritte, ausgehend von der Darlegung des Leistungsangebots und seiner Wertschöpfungslogik bis hin zur Bilanz des Gesamtpotenzials und seiner Verortung im Bildungssegment. Leitfragen helfen, das Wertschöpfungspotenzial und seine ebenenspezifischen Komponenten einzuschätzen. Am Fallbeispiel »Förderungsprogramm für Führungskräfte« wird aufgezeigt, welche zusätzlichen Erkenntnisse die erweiterte Wertschöpfungsanalyse bringt.
Teil III: Leistungsprozesse der berufsorientierten Weiterbildung
Im Fokus stehen hier die Prozessorganisation und die Leistungsprozesse von Bildungsdienstleistungen, also operative Fragen. Die Prozessorganisation muss richtig modelliert sein, damit wir erfolgsentscheidende Prozesse erkennen und ihren Beitrag zur Sicherung der Lernwertkette einschätzen können. Die Ausführungen stützen sich auf Konzepte des Dienstleistungs- und Prozessmanagements und des Controllings. Sie nehmen aber auch Elemente der Wertschöpfungsdiskussion aus Teil II auf, so die Erkenntnis, dass Wertschöpfung in der Bildung nur in kooperativen Prozessen zustande kommt. Vom Anbieter einseitig festgelegte und möglicherweise intransparente Leistungsprozesse ermöglichen eine glatte Inszenierung, sie schaffen aber nicht unbedingt Outcomes im Sinne beruflicher und sozialer Handlungsfähigkeit. Solche Outcomes sind für die Weiterbildung sehr relevant, wichtiger als für viele andere Bereiche des Dienstleistungsmanagements.
In Kapitel 8werden zuerst die grundlegenden Dimensionen der Prozessorganisation erläutert und auf Bildungsdienstleistungen angewendet. Modelldarstellungen unterstützen die Ausführungen. Wie soll die Prozessorganisation eines Weiterbildungsprogramms, eines Kurses, eines Coachings gestaltet sein, damit die in Aussicht gestellten Qualitäten und Werte für die Kunden/innen tatsächlich entstehen, damit unterstützende Service- und Managementleistungen wirksam werden? Eine in diesem Sinn wertschöpfungsorientierte Prozessorganisation nimmt Bezug auf Prozessketten im Anwendungsfeld; sie integriert die Beiträge der Beteiligten und trägt ihren unterschiedlichen Fokussen im Leistungsprozess Rechnung. Sie arbeitet produktiv mit Einflussfaktoren, mit Handlungsressourcen und -restriktionen der Beteiligten.
Kapitel 9führt ein in das Controlling der Leistungsprozesse von Weiterbildung. Es zeigt, wie die für den Lernerfolg entscheidenden Prozessmerkmale und Einflussfaktoren operationalisiert, gemessen und bei Bedarf beeinflusst werden. Es stellt Übersichtslisten von Prozessmerkmalen und Messgrößen zur Verfügung, die für die Beteiligten in ihrem jeweiligen Fokus aussagekräftig sein können. Gemeinsam überprüfen die Beteiligten, inwieweit eine gegebene Prozessorganisation die Wertschöpfung des Weiterbildungsprogramms wirklich unterstützt und welche Messgrößen dies belegen können. Methoden und Anwendungszyklus des Controllings werden am Fallbeispiel des Programmangebots »Deutsch im Arbeitsteam« illustriert, die Erkenntnisse werden bilanziert.
Teil IV: Märkte, Diskurse und Politik der berufsorientierten Weiterbildung
Die Analyse der berufsorientierten Weiterbildung bezieht sich in dieser Studie auf sehr unterschiedliche Theoriekontexte. Teil IV führt die Analysen zusammen. Er zieht Bilanz aus den Befunden zur gesellschaftlichen Wirksamkeit und zur Wertschöpfung des Weiterbildungssystems. Und er untersucht die Stabilität der Weiterbildungsmärkte, ihre symbolische Ordnung und Wertebasis und die darin sich realisierenden Anbieterstrategien. In Abgrenzung zum marktwirtschaftlichen Systemverständnis verfolgen wir hier einen politisch-ökonomischen Ansatz. Er versteht Weiterbildungsmärkte nicht als Sphäre selbsttätiger Marktgesetze, sondern als gesellschaftliche Verhältnisse, die durch Macht- und Produktionsstrukturen, durch organisierte Interessen und symbolische Ordnungen bestimmt sind. Die Analyse führt zu einigen Kernthemen künftiger Weiterbildungspolitik.
Kapitel 10 bilanziert die gesellschaftlichen Funktionsdefizite der Weiterbildung und die Unzulänglichkeiten ihrer Dienstleistungs-, Wertschöpfungs- und Prozessorientierung. Es stellt sich die Frage, wie die Weiterbildung trotz dieser Defizite es »schafft«, an den Märkten eine symbolische Ordnung aufrechtzuerhalten, Legitimität zu beanspruchen und sich der Überprüfung ihrer gesellschaftlichen Wertbeiträge zu entziehen. Eine Schlüsselrolle spielt hier die Wertebasis der Weiterbildungsmärkte: das »gerechte« Verhältnis von monetären und Gebrauchswerten, von Preis und Leistung der Angebote. Das Weiterbildungsmarketing stabilisiert dieses Verhältnis, indem es die Wahrnehmung der Wertgrößen zum Vorteil der Anbieter beeinflusst. Strategien des Marketings werden für drei Angebotssegmente der Weiterbildung konkret beschrieben: für die berufsorientierte Weiterbildung mit Abschluss, für die allgemeine berufsorientierte Weiterbildung und für den Bereich Bildungsberatung und Coaching.
Wenn das Weiterbildungsmarketing die Wahrnehmung der Wertgrößen bearbeitet, so macht dies das Leistungsangebot nicht wirksamer. Forciertes Marketing deutet vielmehr darauf hin, dass das Weiterbildungsgeschäft sich nicht ausreichend an Bedarfen und Bedürfnissen ausrichtet, und es macht auf das Fehlen einer sinnstiftenden weiterbildungspolitischen Orientierung aufmerksam. Kapitel 11 beginnt mit der Feststellung, dass im marktorthodoxen Diskurs das Leistungsangebot der Weiterbildung ausschließlich nach seiner Akzeptanz am Markt beurteilt wird. Verbindliche Kriterien für die Bemessung des gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wertbeitrags der berufsorientierten Weiterbildung fehlen. Es bedarf daher erstens einer bildungswissenschaftlich fundierten Analyse und Bewertung von Weiterbildungsangeboten, etwa mithilfe der hier entwickelten Analyseverfahren (Wertschöpfungs- und Wirksamkeitsanalyse). Und es bedarf zweitens der politischen Aushandlung von kontroversen Themen und Handlungsmöglichkeiten zusammen mit den Anspruchsgruppen. Solche Themen gehören auf die Agenda der Weiterbildungspolitik.
Die berufsorientierte Weiterbildung ist, wie die Weiterbildung insgesamt, ein dynamischer Wirtschaftssektor. Das Angebot wird laufend erweitert, die Produkte sind stark differenziert und spezialisiert. In kurzen zeitlichen Abständen werden neue Programme lanciert und andere vom Markt genommen. Anbieter engagieren sich in Geschäftsfeldern, in denen sie über Know-how und Konkurrenzvorteile verfügen, ihr Leistungsangebot eigenwirtschaftlich und rentabel erbringen und/oder mit öffentlichen Beiträgen verbilligen können. In ihrer Angebotskommunikation beziehen sich Anbieter regelmäßig auf den »rasanten wirtschaftlichen Strukturwandel«, auf »neue dynamische Märkte«, »gestiegene berufliche Anforderungen« und »entgrenzte Lernbedürfnisse«. Daraus wird der Auftrag abgeleitet, das Angebot laufend zu erneuern und zu erweitern.
Worin aber der Bildungsauftrag der berufsorientierten Weiterbildung im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel besteht, darüber existieren oft nur vage Vorstellungen. Es fehlt eine zukunftsweisende Vision der Qualifizierung, es fehlen Orientierungslinien für die Ausrichtung der Programme. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass im Koordinatensystem der Weiterbildung wichtige Bezugspunkte instabil geworden sind. Der Strukturwandel der Arbeitswelt erzeugt zwar immer neue Lernbedarfe und Qualifikationsanforderungen; ob diese relevant und beständig sind, ist jedoch unklarer denn je. Die Weiterbildungspolitik richtet Erwartungen an die Weiterbildungsbranche, vor allem an ihre Reaktionsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit; selber kümmert sie sich aber kaum um Qualifizierungsziele, noch koordiniert sie die Weiterbildungsmärkte, noch stellt sie die Kohärenz der Bildungswege sicher. In diesem ersten Teil des Buches geht es darum, die Veränderungen in Wirtschaft und Arbeitswelt auszuloten und einzuschätzen, inwieweit die berufsorientierte Weiterbildung darauf in wirksamer Weise antwortet.
Kapitel 1beschreibt den tief greifenden Wandel von Arbeitsverhältnissen, Unternehmen, Arbeitsmärkten und Bildungssystem. Es fragt, was der Wandel für die berufliche Qualifizierung bedeutet. Die Ausführungen stützen sich auf Erkenntnisse der industriesoziologischen Forschung, der arbeitswissenschaftlichen Forschung und der Qualifikationsforschung. Kapitel 2analysiert Ursprünge und Politik der Weiterbildung am Beispiel der Schweiz. Es definiert die Angebotssegmente der berufsorientierten Weiterbildung, die Gegenstand dieser Studie sind. Und es beschreibt Märkte, Branchenstrukturen und Entwicklungsdynamik des Weiterbildungsangebots.
Kapitel 3untersucht die gesellschaftliche Wirksamkeit des Weiterbildungssystems. Inwieweit deckt es Qualifizierungsbedarfe, stellt es kohärente Bildungswege bereit, reguliert es die Anbieterleistungen und sorgt es für Chancenausgleich? Die Analyse stützt sich auf Befunde der Weiterbildungsforschung und auf Beobachtungen zum Weiterbildungsgeschäft. Die Resultate zeigen, dass das System der berufsorientierten Weiterbildung einer Reorientierung bedarf. Es braucht allgemeine Orientierungslinien und Kriterien, um im Umfeld des Wandels seine Angebote und Leistungsprozesse zielgerichtet gestalten zu können. Anregungen dazu finden wir bei wertschöpfungs- und dienstleistungstheoretischen Ansätzen. Sie werden in Teil II auf die berufsorientierte Weiterbildung angewendet.
Für den Zeitraum der letzten dreißig bis vierzig Jahre konstatiert die Forschung grundlegende Veränderungen in Wirtschaft und Arbeitswelt. Dieses Kapitel beleuchtet einige Punkte, die für die berufsorientierte Weiterbildung wichtig sind (Abb. 1.1).
Abb. 1.1: Kontexte der berufsorientierten Weiterbildung
Die nachstehenden Stichworte deuten die Tragweite der Veränderungen an:
–Arbeitsverhältnisse unter Marktdruck: Unternehmen agieren an globalen Märkten, Wirtschaftsstandorte stehen im Wettbewerb. Arbeitsverhältnisse und Personalressourcen werden daher intensiver bewirtschaftet. Die Ideologie der »unternehmerischen Arbeitskraft« zeugt vom Bestreben, auch die subjektiven Leistungsressourcen der Beschäftigten zu mobilisieren (Kapitel 1.1).
–Arbeitsmarkt – Deregulierung und ihre Folgen: Flexibilisierung und grenzüberschreitende Öffnung des Arbeitsmarkts lösen auch gegenläufige Kräfte aus. Neue Qualifikationshierarchien und soziale Segmentierungen begrenzen die Beschäftigungschancen; wer über geringe Chancen verfügt, gerät in den Fokus der »aktivierenden« Arbeitsmarktpolitik (Kapitel 1.2).
–Bildungssystem im Fokus der Politik: Bildungsreformen zielen auf mehr Kohärenz. Sie bereiten den Boden für international einheitliche Regulierungen (»Bologna«, »Kopenhagen«), für die standardisierte Leistungsmessung und den Wettbewerb der Bildungsstandorte. Dies trägt jedoch wenig bei zur Chancengleichheit in der beruflichen Bildung (Kapitel 1.3).
Im Folgenden werden wichtige Veränderungen und ihre Folgen thesenartig referiert und eingeordnet. Dabei ziehen wir Erkenntnisse der Arbeits- und Industriesoziologie, der Arbeitsmarkt- und der Bildungsforschung bei und fragen nach ihrer Bedeutung für die berufsorientierte Weiterbildung.
Arbeitsverhältnisse im Unternehmen, berufliche Funktionen, Anforderungsprofile und die Identität der Arbeitskraft sind seit jeher wichtige Bezugspunkte für die berufsorientierte Weiterbildung. Sie verändern sich unter dem Einfluss der wirtschaftlichen Globalisierung und des (Standort-)Wettbewerbs. Unternehmen richten ihre Geschäftsprozesse auf globale Märkte aus und stellen ihre Führungs- und Personalwirtschaftskonzepte um. So, wie Unternehmen stärker »vom Markt her geführt« werden, so wird auch die Arbeitskraft stärker an den Markt angebunden. Sie ist gehalten, selber für marktgerechte Leistungsfähigkeit zu sorgen, eine Grundausstattung an Qualifikation, Motivation und Gesundheit mitzubringen und den persönlichen »Auftritt« zu pflegen. Der Strukturwandel der Arbeit hat zur Folge, dass die Anforderungen an die Arbeitskräfte steigen oder zumindest vielfältiger werden. Es erweitern sich sowohl betriebliche und arbeitsprozessbezogene Qualifizierungsbedarfe als auch individuelle Qualifizierungsbedürfnisse. Beides steigert die Nachfrage nach Angeboten der Weiterbildung – und verändert die gesamte Ökonomie der Arbeitskräftereproduktion. Zu erhalten sind neben den physischen und psychischen Leistungsressourcen auch die Wissensressourcen, die beruflichen Kompetenzen und die sozialen Unterstützungsnetze.
Die Ausrichtung aller Geschäftsaktivitäten am (Welt-)Markt erzwingt interne Reorganisationen und Effizienzsteigerung. Sie beherrschen das Geschehen in privatwirtschaftlichen genauso wie in öffentlich-rechtlichen Unternehmen. Diese positionieren sich auf internationalisierten Märkten und passen ihre internen Strukturen laufend an: Die Kernprozesse von der Beschaffung bis zum Absatz, aber auch unterstützende Prozesse werden hinsichtlich ihrer Effektivität, ihres Kosten- und Wertbeitrags optimiert.
Durch die Wahl von Standorten und Kooperationen optimieren Unternehmen Beschaffung und Absatz, und sie sichern sich den Zugriff auf Wissen und andere Ressourcen. Da jedoch erworbene Vorteile an den Märkten nie unbestritten bleiben, werden strategische Ausrichtung und interne Reorganisation zur Daueraufgabe, und es entsteht ständiger Anpassungsdruck bei den Arbeitsprozessen (»permanente Reorganisation«, Sauer 2010, 561f.).
Dabei verändern sich Arbeitsbedingungen und Personaleinsatz. Berufliche Funktionsfelder mit ihren Abgrenzungen und Schnittstellen werden neu definiert und entlang der Prozesskette reorganisiert; Arbeitsabläufe werden vernetzt und erfordern breiteres Wissen; das – zahlenmäßig reduzierte – Personal wird in fachlicher, organisatorischer, zeitlicher und räumlicher Hinsicht flexibel eingesetzt, intensiv genutzt und kostenmäßig optimiert (Döhl, Kratzer & Sauer 2000). Höhere Effektivität stellt sich aber nur ein, wenn sämtliche Stellen im Unternehmen Ergebnisverantwortung übernehmen, was voraussetzt, dass sie über die nötigen Prozesskenntnisse und Gestaltungsspielräume verfügen (Marrs 2010). Dies gilt selbst für sogenannt »einfache Arbeiten« in Industrie und Gewerbe (Zeller, Richter & Dauser 2004). Modernes Management setzt daher auf indirekte Führung, kombiniert mit materiellen oder immateriellen Anreizen, welche die subjektiven Leistungsressourcen der Arbeitskraft – Motivation, Verantwortungsgefühl, Loyalität, Problemlösungsfähigkeit, Kreativität – für den betrieblichen Leistungsprozess erschließen. Entsprechend verändern sich die Inhalte der berufsorientierten Weiterbildung, auch der Personalweiterbildung.
Dies alles trifft die Institution des Arbeitsverhältnisses im Kern. Das Management holt den Markt gezielt in die Geschäfts- und Arbeitsprozesse hinein (Dörre 2003). War das Arbeitsverhältnis nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1980er-Jahre zumindest in den Kernbereichen der Wirtschaft durch arbeitsgesetzliche und tarifvertragliche Regelungen vor kurzfristigen Marktschwankungen geschützt, gewinnen seither Elemente einer »Marktsteuerung« an Bedeutung. Es sind dies:
–Leistungsaufträge, auslastungsabhängige Arbeitszeiten, leistungs- und ertragsabhängige Lohnbestandteile;
–Konkurrenz zwischen Arbeitsteams, Outsourcing von Supportleistungen, direkter Einbezug des Kunden in den Auftragsprozess;
–befristete Anstellungen und Personalausleihe, Subunternehmertum, Lockerung von gesetzlichen und gesamtarbeitsvertraglichen Schutzbestimmungen.
Politische Deregulierungsinitiativen schaffen die erforderlichen Spielräume für die »flexible« Gestaltung der Arbeitsverhältnisse, für das Personalmanagement und die unternehmerische Arbeitspolitik (Döhl, Kratzer & Sauer 2000; DGFP 2005, 18f.; Pardini & Schöni 2003). Ihr Ziel ist es, Humanressourcen intensiv zu bewirtschaften, Arbeitgeberrisiken zu minimieren, z. B. durch die Ausgliederung von vermindert Leistungsfähigen, Kranken, Älteren, und das vom Unternehmen benötigte passende Personal möglichst kostengünstig bereitzustellen (Schöni 2006a). Auch Weiterbildungsmaßnahmen werden vermehrt nach Kriterien der Personalbewirtschaftung gesteuert.
Die Arbeitskraft wird wieder stärker zur Ware, die Nachfrageschwankungen und Beschäftigungsrisiken unterliegt. Sie muss sich auf dem Arbeitsmarkt bewegen und ihre Leistungsvorzüge aktiv vermarkten. Wer in der unsteten Erwerbsarbeit mit Leistungsdruck, gesundheitlichem Verschleiß und prekären Anstellungsbedingungen zurechtkommen soll, muss vermehrt auf Ressourcen und Dienstleistungen des familiären und sozialen Umfelds zurückgreifen (Abb. 1.2): auf emotionale Unterstützung, auf Support beim Outfit, auf Betreuung und Pflege, auf Zweiteinkommen, auf bezahlte und unbezahlte Care-Arbeit, auf sozialstaatliche Leistungen.
Abb. 1.2: Marktsteuerung des Arbeitsverhältnisses und Nutzung sozialer Ressourcen
Familiäre, soziale und gemeinwirtschaftliche Ressourcen werden »unentgeltlich« genutzt, um das Arbeitsverhältnis zu stützen. Der Wandel der Erwerbsarbeit berührt somit auch dieVersorgungsarbeit, und zwar für breite Bevölkerungsgruppen. In ihrer klassischen Analyse sprechen die Soziologen H. Pongratz und G. G. Voß bereits in den 1990er-Jahren von einer «Verbetrieblichung» des sozialen Umfelds der Arbeitskraft (Voß & Pongratz 1998), was die ungleiche geschlechtliche Arbeitsteilung zementiert. Dieser Trend spitzt sich mit der Ausbreitung irregulärer, nicht existenzsichernder Arbeitsverhältnisse eher zu.
Mit der Neuordnung und Marktanbindung des Arbeitsverhältnisses ändern die Erwartungen an die Arbeitskraft. Wurden noch bis vor wenigen Jahrzehnten vor allem berufliche Perfektion, Zuverlässigkeit, Loyalität und die vorbehaltlose Umsetzung betrieblicher Anweisungen erwartet (und im besten Fall mit sicherer Beschäftigung honoriert), so sind inzwischen Fähigkeiten der Selbstorganisation, Initiative, Problemlösefähigkeit und Kundenorientierung stärker gefragt. Auf solche Ressourcen hat der Betrieb nicht ohne Weiteres Zugriff, sie müssen vom arbeitenden Subjekt in eigener Initiative gepflegt, mobilisiert und in den Dienst der beruflichen Aufgabe gestellt werden. Um dies zu erreichen, setzt die Personalführung immaterielle Anreize und andere »Motivationshilfen« ein.
Es findet somit eine kognitive und affektive Subjektivierung der Arbeitsleistung (Moldaschl 2003; Rau 2005) statt, die im Konzept der unternehmerischen Arbeitskraft ihren Ausdruck findet (Voß 2001; Schöni 2000). Diese ist zur Leitfigur des Managements geworden und passt zum flexibilisierten Arbeitsverhältnis.[2] Die unternehmerische Arbeitskraft steht für die erfolgreiche Kombination zweier Aspekte von Subjektivierung: der Selbstunterwerfung im Arbeitsprozess und der erfolgreichen Nutzung individueller Leistungspotenziale am Arbeitsmarkt. Die unternehmerische Arbeitskraft nutzt beides. Sie stellt ihr Leistungsvermögen dem Arbeit- oder Auftraggeber befristet zur Verfügung; dieser erhält so Zugriff auf hoch entwickelte Leistungsressourcen; sie sucht danach ein nächstes Arbeitsumfeld, erweitert ihr »Portfolio« und steigert ihren Marktwert.
In der Figur derunternehmerischen Arbeitskraft findet die »Subjektivierung« der Arbeitstätigkeit ihren verdichteten Ausdruck, was sich in den Qualifizierungsperspektiven niederschlägt. Qualifizierung wird zum persönlichen Anliegen, zur individuellen »Investition« und Selbstkapitalisierung (Wrana 2006, 9f.), die sich am Arbeitsmarkt in Einkommenszuwachs und Laufbahnschritten auszahlt – sich zuweilen aber auch als Fehlinvestition erweist. Ganz im Sinne dieser Subjektivierung richten viele Firmen ihre Personalpolitik explizit darauf aus, die »Arbeitsmarktfähigkeit« der Angestellten zu fördern; diese sollen im Gegenzug auf die Forderung nach Beschäftigungssicherheit verzichten. Studien zeigen indessen, dass weniger qualifizierte Personalgruppen von wirksamen Förderungsmaßnahmen sehr oft ausgeschlossen werden (Raeder & Grote 2003; 2007).
Da Beschäftigte mit Qualifikation, Leistungsfähigkeit, Gesundheit, sozialer und materieller Absicherung sehr unterschiedlich »ausgestattet« sind, verfügen sie über ungleiche Spielräume für Qualifizierungsaktivitäten: Hoch Qualifizierte, die frühzeitig gelernt haben, ihre Bildungsbiografie zu planen und ihr Portfolio zu bewirtschaften, suchen gezielt flexible Arbeitsverhältnisse und nutzen Entwicklungschancen, insbesondere wenn sie sich sozial und familiär nicht verpflichtet sehen. Weniger Qualifizierte verbleiben dagegen oft in konventionellen Arbeitsverhältnissen, für die geringe Qualifizierungschancen, betrieblich verordnete Flexibilisierung, Leistungsverdichtung und Entlassungsrisiken typisch sind. Der daraus erwachsende Druck ist umso höher, je größer die soziale und familiäre Verpflichtung dieser Personen ist.
Die ungleiche Verteilung beruflicher Entwicklungschancen und Ressourcen bildet sich in der Nachfrage nach berufsorientierter Weiterbildung ab. Wer in der Lage ist, seine Laufbahn zu optimieren, beansprucht Angebote des oberen Preissegments, die individualisiertes Lernen, gute Vernetzungsmöglichkeiten und prestigeträchtige Zertifikate bieten. Wer dagegen von Erwerbsrisiken bedroht oder arbeitslos ist, durchläuft mit größerer Wahrscheinlichkeit zugewiesene arbeitsmarktbezogene Maßnahmen (Nachholbildung, Bewerbungstrainings) oder bemüht sich um die Validierung nichtformaler Kompetenzen. Anbieterstrategien, Angebotsstrukturen und Finanzierungsmechanismen der Weiterbildungsbranche bestimmen darüber, mit welchen Angeboten die Nachfrage gedeckt wird (vgl. Kapitel 2).
Mit dem Wandel der Arbeitsverhältnisse und des Personaleinsatzes in den Unternehmen verändern sich auch Nachfrage und Angebot an Arbeitskräften, es verändert sich somit die Struktur des Arbeitsmarktes. Tradierte berufsständische Zugangsregelungen sind gelockert, Unternehmen richten ihren Rekrutierungsfokus auf neue, teils branchenfremde Berufe und Qualifikationsprofile. Es kommt zu Verschiebungen in der Hierarchie und im Arbeitsmarktwert von Bildungsabschlüssen. Zu beobachten sind zum einen die Öffnung von Teilarbeitsmärkten für neue Qualifikationsgruppen, zum anderen aber neue Segmentierungen als Folge von neuen berufsständischen Abgrenzungen und selektiver Personalpolitik der Unternehmen. Diese Veränderungen strukturieren die Nachfrage nach Weiterbildung, etwa hinsichtlich der Themen, Kompetenzen, Bildungsabschlüsse und Anschlussmöglichkeiten.
Die Neuordnung beruflicher Funktionen und die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse in den Unternehmen finden ihren Niederschlag in der Nachfrage nach und im Angebot an beruflichen Profilen am Arbeitsmarkt (Dostal 2007). Das nachgefragte »berufsförmig geformte Arbeitsvermögen« (Brater 2010, 806) verändert seine Zusammensetzung: Schwindende Beschäftigungsbereiche in Industrie oder Dienstleistungen verlieren am Arbeitsmarkt an Bedeutung; Teilarbeitsmärkte entfallen, wenn die Einsatzbereiche bisher getrennter Berufs- und Qualifikationsgruppen sich zu überschneiden beginnen oder wenn tradierte Berufsrollen z. B. in Hightech-Branchen ihre Konturen verlieren; der Zugang zu beruflichen Positionen wird erleichtert, weil Firmen vermehrt auf »Quereinsteiger/innen« setzen. Bisher berufsständisch und/oder hoheitlich regulierte Teilarbeitsmärkte werden grenzüberschreitend geöffnet, beispielsweise wurde die Berufsausübung für freie Berufe zwischen der EU und der Schweiz abgestimmt.
Damit erweitern sich die Zugangsmöglichkeiten der Arbeitskräfte zum Arbeitsmarkt, und die Unternehmen erhalten vielfältigere Rekrutierungsmöglichkeiten. Der Arbeitsmarktwert von Berufs- und Qualifikationsgruppen pendelt sich aber oft erst über längere Zeiträume ein, beispielsweise erst nachdem neue Curricula in der Berufsbildung etabliert sind, der Quereinstieg in berufliche Positionen anerkannt ist oder bestehende Berufsgruppen neue Funktionen übernommen haben. Mit der Öffnung ehemals regulierter Beschäftigungsbereiche und Rekrutierungspraktiken entsteht für die Beschäftigten eine neue Herausforderung: ein marktgängiges, von Arbeitgebern künftig nachgefragtes Kompetenzportfolio zu finden und den für den Kompetenzerhalt im Beruf erforderlichen Weg selber zu definieren – mit allen Unwägbarkeiten, die dies am Arbeitsmarkt mit sich bringt (Hall 2007). Mehr Transparenz am Weiterbildungsmarkt, die Anschlussmöglichkeiten, aber auch Chancen und Risiken eines Weiterbildungsentscheids sichtbar macht, wäre daher umso wichtiger.
Öffnung und Deregulierung rufen jedoch auch ordnende, standardisierende Kräfte und Regulierungen wieder auf den Plan. Bei der Personalrekrutierung gewinnen in den letzten Jahrzehnten formalisierte und international zertifizierte Qualifikationsstufen und Kompetenzprofile stark an Bedeutung, so z. B. in der medizinisch-therapeutischen Versorgung, in Marketing- oder kaufmännischen Funktionen, im Personalwesen oder beim Ausbildungsfachpersonal. Die Stufen der Berufsbildung[3] sind nicht mehr vorrangig durch die Tiefe des Fachwissens und durch Praxisexpertise im Berufsfeld definiert, sondern zunehmend durch formale Kompetenzniveaus und Ordnungskriterien, die vom Ausbildungssystem und institutionellen Anbietern vorgegeben werden. Das dadurch bescheinigte Kompetenzniveau gibt dem Arbeitgeber berufsübergreifend Anhaltspunkte für die Einschätzung der Leistungsvoraussetzungen der Person, über die Eignung im Einsatzbereich sagt es jedoch wenig aus.
Die neuen Qualifikationsordnungen beeinflussen die Funktionsweise der (deregulierten) Arbeitsmärkte in ambivalenter Weise. Zum einen können sie eine genauere Abstimmung zwischen Angebot und Nachfrage an Teilarbeitsmärkten ermöglichen, was rekrutierenden Unternehmen zugute kommt, ebenso Arbeitsuchenden, die sich «arbeitskraftunternehmerisch» verhalten. Zum anderen können differenzierte Abstufungen den Rekrutierungsprozess jedoch erschweren, weil sie Erwartungen an eine genaue Passung des Qualifikationsprofils wecken, während die Eignung für einen Einsatzbereich möglicherweise von ganz anderen Faktoren abhängt. Dies kann die Flexibilität der Arbeitsmarktfunktionen einschränken (vgl. Kapitel 3.1). Auch im Zeitalter geregelter, zertifizierter Qualifikation muss sich der Arbeitsmarktwert von Ausbildungsabschlüssen aufgrund der tatsächlichen Verwertbarkeit in Beruf und Betrieb erweisen.
Deregulierte Arbeitsmärkte tendieren nicht notwendigerweise zum Ausgleich von strukturellen Schranken und Benachteiligungen. Segmentierende und sozial selektive Funktionen bleiben oft erhalten, sie können durch differenzierte Qualifikationsordnungen sogar noch verstärkt werden. Diese ersetzen zwar überkommene berufsständische Berechtigungen durch »leistungsbasierte« (sofern ein Bildungsabschluss ein tauglicher Leistungsindikator sein kann) und sind insofern gesellschaftlich legitimer. Sie verbessern aber nicht die Chancen jener Gruppen, die in ihrer Erwerbslaufbahn die Pflege des eigenen »Kompetenzportfolios« nicht habitualisiert haben, die Qualifikationsstufen mit höherem Arbeitsmarktwert gar nicht erreichen und durch das Selektionsraster fallen. Dies gilt beispiels- weise für
–Berufsleute, deren Fachqualifikation durch technische Innovation oder durch den Wandel im Berufsfeld entwertet wird und die gezwungen sind, in weniger qualifizierte Tätigkeiten außerhalb des erlernten Berufs zu wechseln;
–Geringqualifizierte, die langjährig »einfache« Tätigkeiten ohne Entwicklungsmöglichkeiten verrichten, leicht ersetzbar sind und oft in Prekärarbeitsbereiche abgedrängt werden;
–Langzeitarbeitslose, Migrantinnen und Migranten, die wegen Nichtanerkennung ihres Abschlusses, wegen wirtschaftlicher Restrukturierung oder Diskriminierung kaum Zugang zu einer Berufs- oder Bildungslaufbahn finden.
Wenn sich die neuen Segmentierungslinien verfestigen, stößt die Flexibilität des Arbeitsmarktes somit erneut an Grenzen. Die Arbeitsmarktpolitik reagiert auf solche Schranken und Risiken mit sogenannten aktivierenden Maßnahmen, deren Ziel es ist, die Arbeitsmarktfähigkeit von »Problemgruppen« zu verbessern unter Androhung finanzieller und sozialversicherungsrechtlicher Sanktionen (Magnin 2005). Aktivierende Maßnahmen ermöglichen im positiven Fall individuelle Übertritte in stabilere Erwerbsbereiche. Sie lassen jedoch die Problemzonen des Arbeitsmarkts – Beschäftigung ohne Entwicklungsperspektive, Tieflohnbereich, Dequalifizierungstrend – unangetastet. Darüber hinaus stimulieren sie die Nachfrage nach einseitig adaptiver Weiterbildung und beeinflussen so den Einsatz staatlicher Mittel in der Weiterbildungsförderung (Winkler 2007). Dies verstärkt die Segmentierung im Weiterbildungsangebot (vgl. Kapitel 3.4).
Zwischen der Wirtschafts- und Arbeitsmarktdynamik auf der einen und dem Bildungssystem auf der anderen Seite bestehen komplexe Wechselwirkungen, keine einfachen Kausalbeziehungen. Weder ist die Wirtschaft in der Lage, die berufliche Bildung der Arbeitskräfte nach eigenen Bedürfnissen direkt zu steuern, noch vermag das Bildungssystem seine Weiterentwicklung in konsistenter Weise zu lenken, sei es auf eigene Ziele hin oder auf solche der Wirtschaft. Dennoch haben einige Reformen zu mehr Kohärenz geführt. Durchschlagende Wirkung zeigen aber vor allem die regulierenden Kräfte der nationalen und internationalen Bildungspolitik. Diese gibt zunehmend Standards vor, welche bei größeren Bildungsreformen als Leitlinie dienen und längerfristig auch die Erwartungen der Wirtschaft beeinflussen. Standards betreffen etwa die Modularisierung von gestuften Bildungsgängen, die Ausrichtung der Curricula an messbaren Kompetenzen, die einheitliche Leistungsbewertung oder die Qualitätssteuerung. Solche regulativen Instrumente finden auch in der berufsorientierten Weiterbildung Anwendung. Es stellt sich indessen die Frage, ob damit die Steuerbarkeit und der gesellschaftliche Nutzen des Bildungssystems verbessert werden.
Der Wandel von Arbeitsverhältnissen und Arbeitsmärkten stellt neue Anforderungen an die Curricula in der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Er gibt Impulse für die inhaltliche Gestaltung und Neuordnung von Ausbildungsbereichen. Das Bildungssystem nimmt sie auf und setzt sie in Veränderungsprozessen um, die durch systemeigene Ordnungen, Funktionslogiken und Zeithorizonte geprägt sind. Immerhin führten Reforminitiativen der letzten Jahrzehnte auch in der Schweiz dazu, dass Berufsausbildungen weniger eng definiert und im Berufsfeld breiter abgestützt sind, beispielhaft die Polymechanik-Ausbildung. Die berufliche Grundbildung wurde neu gestuft (Berufsattest und Fähigkeitszeugnis); für den beruflichen Bildungsweg wurde der Hochschulzugang via Berufsmaturität bzw. Fachabitur geschaffen; Fachschulausbildungen wurden auf das Hochschulniveau verlagert (z. B. im Fall von Gesundheitsberufen), und das Hochschulsystem wurde auf die zweistufige Bologna-Struktur umgestellt. Schließlich wurden neue Verfahren definiert, die den Nachweis und die formale Anerkennung von erworbenen beruflichen Kompetenzen auf alternativen Wegen erlauben (z. B. Kompetenzbilanzierung im Bereich der Grundkompetenzen, Gleichwertigkeitsbeurteilung in der höheren Berufsbildung).
Die Reformen verstehen sich als Antworten auf gesellschaftliche Anforderungen. Sie erfolgen aber nicht geradlinig, sondern bewegen sich in bestehenden Ordnungssystemen und entfalten auch unbeabsichtigte Wirkungen. Denn neue Bildungswege und Zugänge zu beruflichen Positionen stellen ganze Qualifikationshierarchien infrage und führen regelmäßig zu Abgrenzungsproblemen bei etablierten Qualifikationsgruppen. Rückblickend kann man aber doch feststellen, dass die Rationalität des beruflichen Bildungssystems in den letzten Jahrzehnten in einigen Punkten verbessert wurde, auch wenn die Reformen komplex, schwer zu steuern und oft umstritten waren:
–Das Bildungssystem ist durchlässiger geworden und nimmt neue Bedarfe im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeld rascher auf. Beispiele: Hochschulzugang über den beruflichen Bildungsweg; Anerkennung des erfahrungsbasierten Kompetenzerwerbs in geregelten Nachweisverfahren.
–Curricula werden in der Tendenz nachvollziehbarer und bedürfnisgerechter gestaltet. Beispiele: erweiterte Wahlmöglichkeiten durch modularisierte Studienstrukturen; Ausrichtung der Curricula auf berufsrelevante Zielkompetenzen; Individualisierung des Lernens und Förderung des Lerntransfers.
–Ausbildungsorganisation, Lernzeiten und Lernorte sind den Lernbedürfnissen Erwachsener besser angepasst. Beispiele: Vernetzung der Lernorte, virtuelle Lernräume, flexiblere Gestaltung von Lehrgängen, Wahl des Studienmodus je nach Lebenssituation (z. B. Fern-, Teilzeitstudium).
Obwohl aber im System der Berufsbildung weiterführende und flexiblere Bildungswege geschaffen wurden, nehmen die Zielgruppen die Option eines Wechsels zwischen formalen Bildungsniveaus seltener als erwartet wahr. So sind die Quoten derjenigen, die beispielsweise nach der Berufsmaturität ein Fachhochschulstudium oder gar – über eine den Anschluss herstellende »Passerelle« – ein universitäres Studium aufnehmen oder die nach einem Fachhochschulabschluss an der Universität weiterstudieren, bescheiden geblieben (Weber 2013, 29f.; Gonon 2012). Die Erstausbildung, die in der Schweiz seit jeher die Erwerbskarriere stark vorbestimmt, bewahrt offensichtlich ihre hierarchisch ordnende Kraft, und das Hochschulsystem bleibt gespalten in ein beruflich ausgerichtetes und ein akademisches Segment (Kiener 2013, 347f.).
Die schweizerische Bildungspolitik hat sich in ihren Reformen den internationalen Regulierungsbestrebungen im Bildungswesen frühzeitig angeschlossen und neue Modelle rasch umgesetzt. Dies betrifft vor allem die Richtlinien für den Europäischen Hochschulraum (Bologna-Prozess, vgl. Müller 2012, 247), aber auch die Einrichtung eines »europäischen Raums der beruflichen Bildung« (Kopenhagen-Prozess). Weitere Formen der internationalen Regulierung zielen auf die standardisierte Messung von Schülerinnen- und Schülerleistungen (z. B. PISA) oder die länderübergreifenden Referenzrahmen zur Einstufung beruflicher Kompetenzniveaus (Europäischer bzw. nationale Qualifikationsrahmen, Dehnbostel 2008, 167f.). Auch in der beruflichen Bildung wurden Standards der Modularisierung, Kompetenzorientierung und Individualisierung in die Lernorganisation der Bildungsgänge aufgenommen, besonders zügig bei der Neuordnung der Fachhochschulen und höheren Fachschulen.
Als wichtige Regulierungsinstrumente erweisen sich die Normierung der Studienstrukturen und die Einführung der standardisierten Leistungsbemessung mit ECTS-Leistungspunkten auf Hochschulebene respektive mit ECVET-Leistungspunkten in der höheren Berufsbildung.[4] Leistungspunkte werden in Abhängigkeit von der Anzahl der absolvierten Module, Kompetenz- und Praxisnachweise an die Gesamtleistung angerechnet. Der Stand der zertifizierten Leistungsergebnisse zeigt an, wo die Lernenden im Curriculum stehen und welche Verwertungsoptionen für den Einstieg in andere Ausbildungen oder Berufsfelder bestehen. Wichtiger jedoch ist die wirtschaftliche Funktion solcher Regulierung. Sie soll die Mobilität der Qualifikationsträgerinnen und -träger auf den internationalisierten Bildungs- und Arbeitsmärkten erhöhen und – in wettbewerbspolitischer Perspektive – ein optimal entwickeltes und quantifizierbares Humankapital für die Wirtschaft am jeweiligen Standort verfügbar machen. In diesem Sinne hat die EU bereits in ihrer Lissabon-Strategie im Jahr 2000 die Vorstellung eines offenen Europäischen Bildungsraums festgeschrieben, mit dem hochgesteckten Ziel, Europa zum weltweit wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum zu machen (Knust & Hanft 2009, 40f.).
Gestärkt wurde seit den 1990er-Jahren auch die politisch-administrative und die betriebswirtschaftliche Steuerung