Bin ich schön? - Doris Dörrie - E-Book

Bin ich schön? E-Book

Doris Dörrie

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Beschreibung

Leopold und seine junge Frau wollen es anders machen als ihre spießigen Nachbarn. Sie bitten die vietnamesische Asylantenfamilie Hung zu sich ins Haus, laden sie zum Tee und zum Essen ein, schenken ihnen warme Winterkleidung und ein Paar Neue Schuhe für Frau Hung. Doch es kommt anders, als sie denken. Siebzehn tragisch-komische Geschichten, die nachdenklich stimmen, weil sie so hemmungslos ehrlich sind."

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Seitenzahl: 388

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Doris Dörrie

Bin ich schön?

Erzählungen

Die Erstausgabe erschien 1994

im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: Henri Matisse,

›Jeune femme en blanc, fond rouge‹, 1946

Copyright © 2013 ProLitteris, Zürich,

Succession H. Matisse, Paris

Für Helge

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 22811 3 (10.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60085 8

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Gutes Karma aus Zschopau  [7]

Trinidad  [24]

Oben rechts die Sonne  [55]

Neue Schuhe für Frau Hung  [70]

Wer sind Sie?  [89]

Die Schickse  [104]

Montagspumpernickel  [132]

Kaschmir  [161]

Das Reich der Sinne  [173]

Honig  [190]

Die Braut  [221]

»Wonderknife«  [240]

Das Jenseits  [260]

Meine Freundin  [279]

Der Goldfisch  [291]

Bin ich schön?  [311]

Manna  

[7] Gutes Karma aus Zschopau

Lena, Charlottes zweijährige Tochter, kroch Eugenia aus Turin sofort auf den Schoß. Vielleicht lag das mehr an Eugenias mit Glitzersteinchen besetztem Pullover als an Eugenia selbst, einer müden, mausgrauen, etwa fünfzigjährigen Frau. Sie sah sich blitzschnell in Charlottes Küche aus Nirostastahl um und lächelte matt.

Schöne Küche, murmelte sie, sehr schöne Küche.

Oh, Sie brauchen sie nicht zu putzen, es ist mir wichtig, daß Sie mit dem Kind an die Luft gehen, mit Lena spielen… sagte Charlotte.

Ich mache alles, sagte Eugenia, kochen, putzen, alles. – Bitte. Ich bin geschieden. Ich mache alles. Bitte.

Lena patschte Eugenia mit ihrer kleinen Hand ins Gesicht.

Ich rufe Sie an, sagte Charlotte. Eugenia nickte stumm.

Dorota aus Warschau brachte ihren dreijährigen Sohn mit, der ständig seine Rotznase an ihrem Rock abwischte. Charlotte bot Dorota ein Tempotaschentuch an, das sie achselzuckend entgegennahm und in ihre Handtasche steckte. Dorota hatte lange rote Haare, kräftige, zupackend wirkende Hände und roch nach Schweiß. Lena ging nach wenigen Minuten auf sie zu, nahm sie an der Hand und [8] führte sie aufs Klo, wo sie Dorota vormachte, wie sie ganz allein in ihren Topf, der wie ein Volkswagen geformt war, pinkeln konnte.

Ihren Kaffee trank Dorota mit fünf Teelöffeln Zucker. Charlotte hatte unwillkürlich mitgezählt. Müssen Sie denn arbeiten? fragte Dorota und befühlte mit einer Hand die Gardinen.

Oh… ich… ich will wieder arbeiten, ich unterrichte am Goethe-Institut… stotterte Charlotte. Dorota sah sie ruhig an. Ihr Sohn schniefte.

Anita aus Zschopau war sehr jung, höchstens einundzwanzig, und auf eine sehr altmodische Weise hübsch. Ihre ungeschminkte Haut schimmerte perlmuttweiß, und in ihren dunkelbraunen Haaren trug sie eine brave schwarze Schleife. Lena starrte Anita aus sicherer Entfernung an und machte keinerlei Anstalten, auf sie zuzugehen. Während des Gesprächs sah Anita auf ihre Schuhe. Graue Halbschuhe aus Kunststoff. An den Schuhen erkennt man sie immer noch, dachte Charlotte. Kein Mensch im Westen trägt solche Schuhe. Anitas Schuhe rührten sie.

Wer? fragte Lena streng und deutete mit dem Zeigefinger auf Anita.

Das ist Anita, sagte Charlotte, sie wird vielleicht auf dich aufpassen, wenn ich arbeite.

Mama arbeitet, Lena weint, sagte Lena und fing an zu weinen.

Deine Mama kommt ja wieder, sagte Anita leise in ihrem weichen Sächsisch, das ist nicht weiter schlimm, sie kommt ja wieder.

[9] Charlotte fiel auf, daß sie nie zuvor in ihrem Leben einen jungen Menschen hatte sächsisch sprechen hören. Früher sprachen im Westen nur alte Tanten und aus der DDR ausgereiste Rentner sächsisch.

Sie sei erst seit zwei Wochen in München, erzählte Anita mit leiser Stimme, und wohne bei einer Kusine ihrer Mutter, aber dort könne sie nicht lange bleiben, und wenn sie nicht bald Arbeit fände, müsse sie zurück.

Zum Abschied gab Anita Charlotte eine kleine dünne Hand, und weil sie sich so zerbrechlich anfühlte, küßte Charlotte Anita spontan auf beide Wangen. Ich weiß noch nicht einmal, wo Zschopau liegt, sagte Charlotte, ist das nicht schrecklich? Ich war nie drüben. Das ist für mich immer noch wie ein weißer Fleck auf der Landkarte. Ich kann mir einfach nicht merken, wo die Städte liegen, welche Flüsse dort fließen, wie die Berge heißen. Jedes Land in Südamerika, jeder Staat in den USA ist mir vertrauter als Ostdeutschland… Charlotte kicherte.

Anita sah sie mit sanften Kuhaugen an und wartete. Es entstand eine kleine Pause. Ich rufe dich an, sagte Charlotte.

Vielen Dank, Frau Finck, antwortete Anita förmlich.

Bitte, nenn mich Charlotte, sagte Charlotte und berührte Anita am Arm, ich fühle mich sonst so furchtbar alt.

Anita sah sie ausdruckslos an, wandte sich dann ab und ging. Im Weggehen hob sie die Hand und nahm die Schleife aus ihrem Haar.

Hat sie ein gutes Karma? fragte Robert am Telefon. Es war zehn Uhr in Los Angeles. Ein Mädchen in rosa Uniform hatte ihm das Telefon an den Swimming-pool gebracht.

[10] Weißt du, wo Zschopau liegt? fragte Charlotte.

Klingt nach Zone und verpesteter Luft, sagte Robert.

Du bist furchtbar, sagte Charlotte.

Laß Lena entscheiden, wer sie verderben soll.

Sie hat die Polin gleich aufs Klo gezerrt und ihr vorgemacht, wie sie pinkeln kann.

Wenn das kein Zeichen ist… sagte Robert und lachte.

Dorota hat mich angesehen, als dächte sie, ›diese reiche Kuh‹…

Wer ist Dorota?

Die Polin. Du hörst mir nicht zu. Bist du allein?

Ich bin am Pool. Ich sehe den Marlboromann. Die Polizei fährt vorbei, hörst du die Sirene?

Charlotte hörte entfernt den Ton einer Polizeisirene wie aus einem Fernsehfilm. Sie nahm einen weißen Plüschaffen von Lena in die Hand und hielt ihn sich an die Wange. Sie schwiegen. Es zischte in der Leitung.

Ich möchte einen Babysitter, der mich verehrt, nicht stört und immer verfügbar ist, sagte sie.

Dann nimm die Sklavin, diese Eugenia, schlug Robert vor.

Sie würde mir auf die Nerven gehen.

Sie ist Italienerin, sie liebt Kinder.

Du nimmst die ganze Angelegenheit nicht ernst, sagte Charlotte. Wann kommst du wieder? Ihr Mann fehlte ihr nicht. Im Gegenteil, das Leben kam ihr leichter, unbeschwerter vor ohne ihn.

Ich vermisse dich, sagte sie, und auch das stimmte.

Welche ist die Billigste? fragte er.

Anita, sagte Charlotte, sie hat keine Ahnung.

[11] Dann nimm Anita.

Du bist ein widerlicher Kapitalist.

Ich vermisse dich auch, sagte er.

Charlotte betrachtete ihre Tochter im Schlaf. Mein armes Kind, flüsterte sie, deine egoistische Mutter will wieder arbeiten.

In der Küche schenkte sie sich ein Glas Rotwein ein, setzte sich an den Küchentisch, nahm ihren Ehering ab und umwickelte ihn mit einem Faden. Sie hielt das Pendel über den Tisch und pendelte die Babysitter aus: Eugenia gegen Dorota, da gewann Dorota. Anita schlug Eugenia, Dorota wiederum Anita. Das Pendel hatte sich für Dorota entschieden.

Nein, dachte Charlotte trotzig, ich nehme Anita. Anita aus der Zone. Der ehemaligen DDR. Ostdeutschland. Anita mit den Plastikschuhen. Sie braucht Hilfe. Sie hat nichts. Sie hat sich aufgemacht aus dem grauen, düsteren Zschopau (sahen so nicht alle Städte im Osten aus?) in das glitzernde München, und jetzt liegt es an mir, ob sie Hoffnung schöpfen kann oder enttäuscht sich vielleicht sogar die früheren Verhältnisse zurückwünscht. Charlotte wurde fröhlich. Sie fühlte sich wichtig. Sie legte eine Platte auf und rauchte den Rest eines alten Joints.

Karma, sagte sie laut vor sich hin, gutes Karma aus Zschopau. Sie lachte.

Anita kam am ersten Tag gleich eine halbe Stunde zu spät. Charlotte war außer sich, bemühte sich jedoch, Lena ihre Nervosität nicht spüren zu lassen. Lena befahl ihr, ein [12] Schwein zu malen. Ich hätte Eugenia nehmen sollen, dachte Charlotte wütend und malte ein Schwein, die wäre jetzt hier. Sozialistischer Schlendrian! Zum hundertsten Mal ging sie zum Fenster und sah jetzt Anita mit fliegenden Haaren über die Straße auf das Haus zurennen. Obwohl es ein eisiger Wintertag war, trug Anita nur eine dünne, spinatgrüne Strickjacke. Typisch, diese Farbe! dachte Charlotte.

Mit rotglühendem Gesicht kam Anita die Treppe hochgehechtet, sie habe die U-Bahn-Station nicht gefunden, keuchte sie, und da sei sie von der Briennerstraße aus gelaufen. So weit? fragte Charlotte ungläubig.

Sind Sie mir böse? flüsterte Anita.

Du sollst mich doch nicht siezen, sagte Charlotte.

Während Charlottes Schüler, Deutschlehrer aus China, ihre Eindrücke von Deutschland beschrieben, überlegte Charlotte, was Anita jetzt wohl gerade mit Lena anstellte. Wußte sie, wie man den Playmobilmännchen die Haare auf- und absetzt, kannte sie Kaspar Mütze, Tiger oder Bär? Sie hätte sie Vorspielen lassen sollen, wie Vorsingen oder vorsprechen. Woher wollte sie wissen, ob Anita nicht Szenen stalinistischen Terrors mit Lena inszenierte, Jugendweihe oder Militärparade spielte, Lena erzählte, Gott existiere nicht, und ihr Zucker zu essen gab?

Deutschland erinnert mich an ein Theaterstück, das ich in China einmal gesehen habe, sagte ein großer, sehr gut aussehender Chinese, Herr Zhou, ich weiß leider nicht mehr, wie es hieß. Zwei Menschen saßen die ganze Zeit unter einem Baum und machten sich sinnlose, quälende Gedanken…

[13] Warten auf Godot, sagte Charlotte, es ist ein englisches Stück.

Lena sah glücklich aus.

Was habt ihr gemacht zusammen? fragte Charlotte Anita. Anita zuckte die Achseln.

Quats macht, sagte Lena.

Ah, ihr habt Quatsch gemacht, wiederholte Charlotte und nickte Anita lächelnd zu. Sie lächelte nicht zurück, sah auf die Uhr.

Kann ich gehen? fragte sie.

Charlotte nahm einen alten, aber noch sehr schönen Mantel aus dem Schrank. Du bist zu dünn angezogen, sagte sie zu Anita und legte ihr den Mantel in den Arm. Wenn du ihn nicht mehr brauchst, gibst du ihn mir zurück. Es sollte nicht aussehen wie ein Almosen.

Anita schien sich zu freuen. Sie fuhr mit der Hand über den Stoff. Es war ein echter Kaschmirmantel.

Das ist ein Herrenmantel, sagte Anita.

Ich trage fast nur Herrenmode, sagte Charlotte, sie ist meistens schicker.

Anita sah sie nachdenklich an. Na, dann danke, sagte sie, kann ich jetzt gehen?

Tschüß, sagte Lena.

Ich freue mich, daß ihr beide so gut miteinander auskommt. Charlotte legte Anita die Hand auf den Arm.

Kein Problem, erwiderte Anita und blieb so lange bewegungslos stehen, bis Charlotte ihre Hand von ihrem Arm nahm.

[14] Charlotte brachte Anita bei, wie man die Geschirrspülmaschine ein- und ausräumte, den Anrufbeantworter einschaltet, die Zentralheizung regelt, wie man Gemüse vitaminschonend kocht und daß man Naturkosmetik am besten im Kühlschrank aufbewahrt. Sie erklärte ihr die Grundzüge einer angstfreien Erziehung, das Faxgerät und warum Lena nicht fernsehen durfte. Sie war sich nicht sicher, ob Anita begriff, was sie sagte, denn sie sah sie meist nur ausdruckslos an.

In der ersten Woche ließ sie zwei Teller fallen, in der zweiten ging der Fernseher kaputt. Sie habe ihn ganz bestimmt nur während Lenas Mittagsschlaf eingeschaltet, gestand sie mit leiser Stimme, und plötzlich sei er nicht mehr gegangen. Plötzlich, wiederholte Charlotte scharf. Anita hob den Blick und sah sie ruhig an.

Ja, plötzlich, sagte sie und zog ihre billige spinatgrüne Strickjacke glatt.

Charlotte schenkte ihr einen indigoblauen Angorapullover, den sie selbst nicht mehr anzog, weil sie ihre Garderobe auf Brauntöne umgestellt hatte, und als sie feststellte, daß sie dieselbe Schuhgröße hatten, gleich eine ganze Tasche voller Schuhe. Vernünftige feste Schuhe und ein Paar Goldpumps.

Gefällt es dir bei uns? fragte sie Anita.

Ja, sagte Lena. Sie ritt auf Anitas Knien.

Der Himmel hat eine andere Farbe, sagte Anita.

Das ist der bayerische Himmel, sagte Charlotte, und bei uns, gefällt es dir bei uns?

Klo, sagte Lena und nahm Anita bei der Hand.

Charlotte blieb in der Küche zurück. Sie holte sich aus [15] einem Versteck in einer Suppenschüssel ein Stück Schokolade. Sie hörte Lena und Anita im Wohnzimmer miteinander reden. Sie konnte aus der Entfernung nicht unterscheiden, wer wer war. Sie klangen wie Erwachsene. Wie Fremde.

Nachts um vier wachte Lena schluchzend auf und schrie: Nita! Nita!

Anita kommt ja gleich, sagte Charlotte, sie stand schwindelig vor Müdigkeit vor Lenas Bett und beugte sich zu ihrer Tochter herab. Du mußt nur noch ein bißchen schlafen, dann kommt sie.

Lena sah sie zweifelnd an. Ihr kleiner Brustkorb hob und senkte sich. Nita, flüsterte Lena und sah an Charlotte vorbei in die Dunkelheit.

Charlotte rief Robert an. Er zog sich gerade um zum Abendessen.

Sie läßt sich auch nur noch von Anita den Po abputzen, sagte Charlotte.

Was willst du? fragte Robert, einen Babysitter, den dein Kind liebt, oder einen Babysitter, den dein Kind haßt?

Sie soll sie nicht mehr lieben als mich, sagte Charlotte und versuchte zu lachen. Mit wem gehst du essen?

Mit vier langweiligen Männern in schwarzen Anzügen.

Aha.

Ich bin schon spät dran, sagte Robert, schlaf schön.

Ja, sagte Charlotte.

Sie lud Herrn Zhou, den schönen Chinesen, zu sich nach Haus zum Kaffee ein.

[16] Herr Zhou schien sie falsch verstanden zu haben. Er kam mit einem Rucksack voller Lebensmittel, einem Wok und diversen chinesischen Kochutensilien.

Wo ist die Küche? fragte er. Wie heißen Ihre Kinder?

Das ist nicht meine Tochter, das ist der Babysitter, sie heißt Anita, und das ist Lena, aber Sie müssen doch nicht für uns kochen, bitte, Herr Zhou, ich wollte Sie einladen zum Kaffeetrinken, eine deutsche Sitte, Kaffeeklatsch…

Mögen Sie kein chinesisches Essen?

O doch, natürlich, sagte Charlotte.

Herr Zhou kochte eineinhalb Stunden und aß dann nicht mit.

Charlotte tauschte die Stäbchen neben Anitas Schälchen gegen eine Gabel aus, um Anita nicht in Verlegenheit zu bringen.

Herr Zhou beobachtete Charlotte, Lena und Anita beim Essen und tat ihnen sofort, wenn ihre Teller leer waren, eine neue Köstlichkeit auf. Auf eine Yin-Mahlzeit folgt eine Yang-Mahlzeit, erklärte er.

Guten Appetit, rief Lena und nahm Herrn Zhou bei der Hand. Später griff sie in den Reis und streute ihn auf Charlottes Kopf.

Anita gab Lena einen Klaps auf die Finger. Mit dem Essen spielt man nicht, sagte sie streng. Herr Zhou nickte und servierte zum Abschluß eine Suppe.

Er packte seinen Wok wieder ein. Sie lächeln sehr schön, sagte er zum Abschied zu Charlotte. Als Charlotte in die Küche zurückkam, lächelte sie immer noch.

Er ist in dich verliebt, sagte Anita.

[17] Wie bitte? lachte Charlotte.

Er hat dich keinen Augenblick aus den Augen gelassen. Anita pickte mit Charlottes Stäbchen geschickt die verstreuten Reiskörner von der Tischdecke.

Du machst dich lustig über mich, sagte Charlotte. Anita sah sie mit klaren Augen an und schüttelte langsam den Kopf.

Zusammen brachten sie Lena ins Bett. Sie bestand darauf, mit beiden ihr Nachtgebet zu sprechen. Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm, flüsterte Anita. Sie kann mit Stäbchen essen und beten, dachte Charlotte, sie sagt mir nicht die Wahrheit.

Anita zog ihre Strickjacke an. Den blauen Angorapullover oder den Kaschmirmantel hatte sie noch kein einziges Mal getragen.

Bleib noch einen Moment, sagte Charlotte und legte ihr die Hand auf die Schulter, ich meine, wenn du Lust hast…

Anita betrachtete Charlottes Hand auf ihrer Schulter, dann zog sie ihre Strickjacke wieder aus.

Charlotte gab Anita ein Glas Wein.

Erzähl mir was von dir, sagte Charlotte. Hast du einen Freund?

Er heißt Mirko und kommt aus Jugoslawien, antwortete Anita gehorsam.

Der Arme, sagte Charlotte.

Warum?

Dieser schreckliche Krieg, dieser Haß, diese Grausamkeiten, die sie aneinander begehen, sagte Charlotte. Was ist er, Serbe, Kroate?

Anita zuckte die Schultern.

[18] Du fragst ihn noch nicht einmal, woher er kommt?

Nein, sagte Anita, er fragt mich ja auch nicht.

Sie war vor drei Wochen zu ihm in sein winziges Apartment gezogen. Er war Kellner in einem Szene-Lokal. Anita holte ihn dort jede Nacht um drei Uhr ab. Sonst baggern ihn noch diese dünnen Wessi-Weiber an, sagte sie zu Charlotte.

Was macht ihr so zusammen? fragte Charlotte. Anita sah sie verständnislos an. Ich meine, wenn ihr nicht gerade im Bett liegt, fügte Charlotte grinsend hinzu.

Nichts, sagte Anita.

Aber irgend etwas müßt ihr doch zusammen machen…

Anita schwieg.

Manchmal gehen wir mit Lena in den Zoo, sagte sie schließlich.

Ach, Lena kennt ihn? fragte Charlotte erstaunt.

Wir sehen uns Videos an. Ohne Lena, meine ich, sagte Anita und trank ihr Glas aus. Charlotte schenkte ihr nach.

Und welche Filme?

Gestern haben wir Gesichter des Todes gesehen. Das war so ein Dokumentarfilm, den hat Mirko von einem Freund ausgeliehen. Da sieht man, wie jemand gehenkt wird, und einer wird geköpft in Afrika oder so, und irgendwo in China, in Tibet, glaube ich, war das, da nehmen sie deine Leiche, wenn du tot bist, und zerhacken sie mit einem großen Beil, und die Einzelteile werfen sie dann den Geiern vor. Mitten durchgehackt haben sie diese Frau, die Rippen konnte man sehen, und es klang genau wie beim Metzger, wenn er ein Kotelett abhaut, dann die Beine ab, die Arme, und der Kopf, der wollte [19] gar nicht so richtig abgehen, da mußten sie mehrmals draufhauen, und dann hat man gesehen, wie sie den Kopf ganz weit über die Wiese geworfen haben, und gleich sind die Geier gekommen und haben sich draufgesetzt und in die Augen gepickt… das sah ganz komisch aus, als wäre der Mensch in die Erde eingegraben, und nur der Kopf sieht raus, und auf dem Kopf dieser riesige Vogel… Anita verstummte. Wenn man sich vorstellt, daß man das selber ist, sagte Anita leise. Charlotte legte den Arm um sie.

Sie traf Anita mit Mirko ein paar Tage später zufällig in der Stadt. Fast hätte sie Anita nicht erkannt, sie trug Charlottes Goldpumps zu einem schwarzen Lackmini, ihre Haare waren auftoupiert, ihre Augen hatte sie schwarz umrandet, den Mund blutrot geschminkt, die Fingernägel silbern lackiert. Jetzt sieht sie aus wie alle, dachte Charlotte enttäuscht, schade, der verdammte Westen, ihre ganze altmodische Schönheit zum Teufel.

Das ist meine Freundin Charlotte, erklärte Anita stolz. Mirko nickte knapp. Er war klein und hatte eine bläulich verfrorene Gesichtsfarbe. Er trug Charlottes Kaschmirmantel.

Mirko Quats macht, sagte Lena in der Badewanne unvermittelt zu Charlotte.

Was hat er denn gemacht? fragte Charlotte vorsichtig.

Lena lächelte selig. Bumbumbumbum, rief sie und richtete die Dusche auf Charlotte wie ein Gewehr.

Charlotte verbot Anita, Mirko mitzubringen, wenn sie [20] auf Lena aufpassen sollte. Ich glaube, daß es Lena verwirrt, wenn ihr zusammen seid, sagte sie zu Anita, besonders jetzt, wo ihr Vater verreist ist.

Anita sah sie ausdruckslos aus schwarz gemalten Eulenaugen an. Seit ihrem zufälligen Aufeinandertreffen in der Stadt war sie jetzt immer geschminkt.

Und bitte spiel nicht Krieg mit ihr, fuhr Charlotte fort, ich mag das nicht. Und fütter sie mittags nicht mit Hamburgern, ich habe die Plastikschachtel im Müll gesehen. Gesunde Ernährung ist Erziehungssache.

Ich hasse gesunde Ernährung, sagte Anita langsam.

Du weißt doch gar nicht, was das ist, du bist doch dein ganzes Leben falsch ernährt worden! rief Charlotte wütend.

Nach einer kleinen Pause sagte sie leise: Entschuldige. Das war gemein von mir. Bitte entschuldige.

Anita zuckte die Schultern.

Ich bin sehr froh, daß ich dich gefunden habe, sagte Charlotte, wirklich sehr froh. Sie umarmte Anita, dabei kam es ihr so vor, als weiche Anita leicht vor ihr zurück, aber sicher war sie sich nicht.

Die chinesischen Schüler planten eine dreitägige Reise zu den Königsschlössern und baten Charlotte, mit ihnen zu kommen. Herr Zhou nahm ihre Hand. Bitte, sagte er, ohne Sie werden wir nicht lächeln.

Ich zahle dir hundert Mark am Tag als Pauschale, sagte Charlotte zu Anita, zuzüglich Essensgeld für Lena und dich. Einverstanden?

Anita lächelte und nickte. Dann sagte sie: Ich muß aber [21] erst Mirko fragen… er schläft nicht gern allein. Sie wischte sich die Haare aus dem Gesicht. Ihren altmodischen Haarreif trug sie schon lange nicht mehr.

Charlotte wandte sich ab und sah aus dem Fenster. Herr Zhou, dachte sie. Eine Nacht mit Herrn Zhou?

Mirko kann hier übernachten, sagte Charlotte, ich möchte nur nicht, daß Lena anfängt zu glauben, ihr wärt ihre Eltern. Verstehst du? Ich möchte nicht, daß Mirko ihre männliche Bezugsperson wird.

Männliche Bezugsperson, wiederholte Anita. Was macht dein Mann in Amerika?

Oh, sagte Charlotte leichthin, er arbeitet.

Anita sah sie aufmerksam an, als erwarte sie weitere Auskünfte. Nach einer Weile fügte Charlotte hinzu: Wir brauchen Ferien voneinander. Wir möchten auch mal wieder einzeln sein, nicht immer nur ein Paar. Das kannst du wahrscheinlich nicht verstehen…

Hm, sagte Anita, wie man’s macht, macht man’s falsch, was? Sie sahen sich an.

Könnte man so sagen, seufzte Charlotte. Sie lächelten beide. So ein junges Huhn versteht mich, dachte Charlotte verblüfft.

Die Nacht vor ihrer Abreise konnte Charlotte nicht schlafen. Zum ersten Mal seit Lenas Geburt würde sie wieder allein sein. Sie würde denken können, lesen, allein aufs Klo gehen, in Ruhe essen, flirten, schlafen. Sie schrieb alle Notrufnummern säuberlich auf einen Zettel und verfaßte einen Katalog mit sämtlichen Ermahnungen, die ihr einfielen: Lena keine Erdnüsse geben! Waschmittel wegschließen! [22] Pfannen auf dem Herd mit dem Stiel nach innen drehen! Beim Baden Lena nie allein lassen!

Anita kam am Morgen pünktlich um halb sieben, eine kleine Plastiktasche über der Schulter. Sie sah ungewöhnlich blaß aus. Es gäbe noch etwas zu besprechen, sagte sie so leise, daß Charlotte sie nicht gleich verstand. Einhundert Mark am Tag ist zu wenig, fuhr sie fort und starrte auf Charlottes Goldpumps an ihren Füßen, ich habe mich erkundigt.

Ein einziges Wort blinkte vor Charlottes Augen auf wie eine rote Neonschrift: UNDANKBAR, UNDANKBAR, UNDANKBAR. Aha, sagte Charlotte kühl, wieviel?

Dreihundert, sagte Anita, ohne sie anzusehen, am Tag.

Sie schwiegen. Charlottes Gesicht glühte vor Wut.

Ich bekomme ja auch keine Arbeitslosenversicherung, keine Lohnsteuerversicherung und keine Rentenversicherung, flüsterte Anita und sah weiter auf ihre goldenen Schuhspitzen.

Diese Wörter hat ihr Mirko eingebleut, dachte Charlotte, dieses kleine Aas, will mich erpressen!

Mit leiser, enttäuschter Stimme sagte Charlotte zu Anita, während sie ihr leicht über den Kopf strich: Hast du wirklich das Gefühl, ich behandele dich unfair? Ich?

Anita fing unvermittelt an zu heulen. Ihr billiges Maskara lief ihr in breiten schwarzen Strömen über die Backen.

Ich kann so schlecht über Geld reden, schniefte sie.

Charlotte gab ihr ein Taschentuch. Anita legte den Kopf auf den Tisch und heulte um so mehr. Charlotte betrachtete sie mit untergeschlagenen Armen. Du Ratte, dachte [23] sie. Du miese, kleine Ratte. Und ich habe geglaubt, ich müßte dir auf die Beine helfen.

In zwanzig Minuten geht mein Zug, sagte sie.

Anita legte die Stirn auf das blaue Wachstuch. Ihr Rücken zuckte.

Charlotte schwieg eisern.

Schließlich zog Anita ihr Portemonnaie aus der Tasche und holte, ohne hinzusehen, ein Foto heraus. Sie legte das Foto auf den Tisch neben sich. Charlotte ging um den Tisch herum und nahm das Foto in die Hand. Anita, mit blond gefärbten Haaren und riesigen Ohrringen, hielt einen dicken Säugling in einem lila Strampelanzug auf dem Arm. Neben ihr stand ein blasser, ebenso blonder Mann, dessen Gesicht nicht mehr zu erkennen war, so zerknickt war das Foto. Anita drückte ihren Kopf gegen Charlottes Bauch und schlang ihre Arme um ihre Hüften. Nach einer Weile hob sie das Gesicht und sah Charlotte an. Ihre Augen waren trocken.

Zweihundert, flüsterte Anita.

Hundertfünfzig, sagte Charlotte.

[24] Trinidad,

Liebe Kathy,

stell Dir vor, jetzt bin ich im Jodelland gelandet, wo dicke blonde Männer mit roten Backen tatsächlich am hellichten Tag Lederhosen tragen, Frauen im Dirndl auf dem Fahrrad herumsausen, Kühe auf der Straße herumrennen wie andernorts Hunde und die Fliegen direkt von der Kuhscheiße auf deinem Kuchen landen.

Solange wir in der Stadt waren, war es noch erträglich. Das kleine Ungeheuer ging bis drei Uhr in den Kindergarten. Ich mußte sie abholen, mit ihr auf den Spielplatz gehen, wo lauter gehirnamputierte, aber teuflisch schicke, schlanke Mütter Frauenzeitschriften lesen und, ohne aufzublicken, brüllen: Stefanie, schmeiß nicht mit Sand! Hau nicht den Sascha! Lauf nicht vor die Schaukel! Und wenn ihre Erpel auf die Schnauze zu fallen drohen, wollen sie auf keinen Fall, daß man sie vielleicht vor dem Tod oder schweren Verletzungen bewahrt. Anfangs bin ich immer aufgesprungen und hingerannt, aber die Mütter sahen mich nur beleidigt an und sagten: Danke, aber das muß das Kind schon selbst in den Griff bekommen, es stärkt seine Selbständigkeit. Was? Ein Loch im Kopf? Du kannst dir nicht vorstellen, wie deprimierend es ist, diesen Frauen dabei zuzusehen, wie sie sich, ihre Kinder und ihr Leben hassen.

[25] Neulich saß ich neben einer Frau mit goldenen Turnschuhen und trainiertem braungebrannten Körperchen im weißen Stretchkleid, die überhaupt nicht aussah wie eine Mutter –, aber das scheint hier der allgemeine Ehrgeiz zu sein – ihr Erpel war noch winzig, saß im Sand und fraß Steine, was seine Mutter nicht weiter kümmerte. Sie sagte zu ihrer Freundin: Dieses Kind nimmt mir alles, was ich einmal war. Ich bin niemand mehr. Alles, was ich war – futsch. Und dann fing sie auch noch an zu heulen.

Du willst wissen, wie ich Deutschland finde? Keine Ahnung. Alle sprechen die Sprache meiner Mutter; anfangs bin ich manchmal richtig zusammengezuckt, weil ich dachte, meine Mutter ist wieder da und spricht mit mir. Es ist wie ein pawlowscher Reflex, ich möchte auf den Schoß und meine Milchflasche haben. Manchmal fing ich unvermutet an zu flennen. Inzwischen habe ich mich dran gewöhnt.

Ich hoffe, Du putzt ihren Grabstein, wie Du es mir versprochen hast. Und nicht einfach so husch, husch, sondern schön gründlich, wie ich es Dir gezeigt habe. Es stimmt, was sie immer gesagt hat: Deutschland ist sauber. Und soooo weiß. Ich komme mir manchmal vor wie eine Fliege in der Milch. Und so sehen mich manche auch an. Angeekelt. Schmutz. Bäh.

Ansonsten verstehen die Deutschen sich darauf, sich das Leben gründlich zu vermiesen. Die Geschäfte sind fast immer geschlossen, die Waschmaschinen brauchen drei Jahre, bis sie fertig sind, die Kühlschränke sind winzig, es passen etwa fünf Eiswürfel rein, und die nimmt man offensichtlich nur an hohen Feiertagen, ansonsten trinkt man das Cola warm, das deutsche Klopapier ist so hart wie [26] Schmirgelpapier, daß man sich einen wunden Hintern holt. Das erklärt auch, warum alle so mißmutig wirken und wenig lachen.

Aber: es gibt einen genauen Fahrplan für die U-Bahn mit Minutenangabe, und tatsächlich kommen die Züge auch auf die Sekunde genau an.

Alle schweigen. Es ist überall mucksmäuschenstill. In der U-Bahn sah ich ein Schild, man solle seinen Walkman leiser stellen, um den Nachbarn nicht zu stören. Stell Dir mal so ein Schild bei uns in New York vor!

Und kein Mensch hat Geld. Sie steigen aus ihren fetten Mercedessen, wohnen in riesigen Apartments, tragen teure Designerklamotten, aber mit wem du auch sprichst – sie behaupten alle steif und fest, sie hätten überhaupt kein Geld, als schämten sie sich.

Ungewöhnliche Gemeinheiten habe ich noch nicht erlebt. Sie reden mit mir wie mit einem Vollidioten, weil sie sich nicht vorstellen können, daß ich deutsch kann. An der Kasse vom Supermarkt nimmt mir die Kassiererin das Geld aus der Hand, weil sie mich für zu blöd hält, es selbst abzuzählen, viele brüllen, als sei ich taub, naja. ln der Straßenbahn hat mir eine alte Frau von hinten in die Haare gefaßtes ist ein bißchen so wie in diesen alten Expeditionsfilmen: Eingeborene sehen zum erstenmal weißen Mann, nur umgedreht, und für Gott hält mich hier eher niemand.

Wirklich nervig ist eigentlich nur Charlotte, die mir dauernd erzählt, sie fände schwarze Haut so viel schööööner als weiße, ehrlich, so viel ästhetischer, und die mich behandelt, als wäre ich krank, oder behindert, als müsse man besonders vorsichtig mit mir umgehen. Aus purer Bosheit, weil sie mir[27] damit so auf den Wecker ging, habe ich ihr erzählt, ich sei Moslemin. Das war ziemlich unklug, denn seitdem fragt sie mich über den Koran aus und hält Vorträge, wie weise und zivilisiert es sei, auf Schweinefleisch und Alkohol zu verzichten.

Zu fressen gibt es in ihrem Haushalt fast nichts, sie kocht nach irgendwelchen komplizierten Yin-Yang-Rezepten, das Kind bekommt nur Sojamilch und Reiswaffeln mit Gomasin oder so ähnlich – das schmeckt wie Pappkarton mit Klebstoff. Also gehe ich mit Lena heimlich zu McDonald’s, was für sie der Himmel auf Erden zu sein scheint – sie hat nämlich noch nie in ihrem Leben Fleisch gegessen! Ich habe sie mit Schwüren dazu verdonnert, ihrer Mutter kein Sterbenswörtchen davon zu verraten, aber Charlotte bemängelt, daß neuerdings die Scheiße ihres Kindes anders stinkt, und sie kann sich überhaupt nicht erklären warum. Sie selbst wirkt trotz all ihrer gesunden Ernährung blaß, nervös und immer ein wenig deprimiert, obwohl ich beim besten Willen keinen Grund dafür entdecken kann. Sie seufzt sehr viel, ich nenne sie deshalb ›die Seufzerbrücke‹, das ist diese Brücke zum Knast in Venedig.

Es gibt ein Foto von meinen Eltern auf ihrer Hochzeitsreise, wie sie auf dieser Brücke stehen, zwei Gesichtslose, denn das Gesicht meines Vaters ist so dunkel, daß man es nicht erkennt, und ihres ist so weiß, daß es aussieht wie ausgebrannt. Ein paar Monate später gab’s genug für sie zu seufzen, da war er schon über alle Berge, vielleicht war es ein Fehler, sich mit ihm auf diese Brücke zu stellen.

Ohne jede Warnung fing also Charlotte, die Seufzerbrücke, eines Tages an, die Koffer zu packen, und zwei [28] Stunden später fand ich mich in einem zweihundert Jahre alten Bauernhaus wieder ohne Kühlschrank, ohne Fernseher, ohne Heizung, aber mit Kuhscheiße vor der Tür.

Das Haus gehört ihnen, und sie finden es wahrscheinlich schrecklich urig und natürlich, ihre Lebensmittel in einer lauwarmen Speisekammer aufzubewahren, sich den Hintern abzufrieren, wenn es regnet, mit zehntausend Insekten kämpfen zu müssen, die man natürlich nicht einfach besprühen darf, damit man seine Ruhe hat, weil jede Mücke Natur ist und deshalb fast so heilig wie eine Kuh in Indien. Sie scheinen den Ehrgeiz zu haben, es sich mit all ihrem Geld so unbequem wie möglich zu machen. Hurra, hier werden wir sechs Wochen lang bleiben!

Jetzt habe ich Lena den ganzen Tag am Hals, soll mit ihr basteln und spielen – aber bitte mit natürlichen Materialien! Wir könnten ja Aschenbecher aus Kuhscheiße formen, wie wäre es damit? Natürlich raucht hier niemand – daß ich Nichtraucherin bin, war ja auch Bedingung für den Job. Nach allem hat sie mich gelöchert in ihren endlosen Briefen, nur nach meiner Hautfarbe hat sie mich nie gefragt. Den Moment, als ich aus dem Flughafen kam und auf diese dünne blonde Frau zuging mit dem Schild ›Jeannie Bowles‹ in der Hand, den hätte ich gern auf Video. Den könnte ich glatt einschicken zu der Sendung ›Der komischste Moment Ihres Lebens‹.

Die Barbiepuppe, die ich dem Erpel für teures Geld mitgebracht hatte, wurde sofort eingezogen, denn Plastikspielzeug ist bei den Eltern so verpönt wie bei den Moslems Schweinefleisch. Das Kind heulte den ganzen Nachmittag, und Charlotte erklärte mir mit hochrotem Kopf, sie halte[29] Barbiepuppen für ein falsches weibliches Vorbild, ich solle es ihr bitte, bitte nicht übelnehmen. Für alles entschuldigt sie sich.

Kurz darauf aß ich nichtsahnend einen Oreo-Keks aus meinem Vorrat, der jetzt leider ziemlich zur Neige geht (dabei rationiere ich schon so eisern, als befände ich mich im Krieg!), sie sah das, schloß sofort die Tür vor Lena, so daß wir uns allein im Zimmer befanden, und flüsterte mir beschwörend zu, ich soll Lena niemals Zucker geben oder Schokolade, denn davon würde sie high wie von einer Droge. Hm. Sie kennt wohl wenig wirkliche Drogen. Sie versucht, locker und hip zu erscheinen, ist aber pingeliger, als meine Mutter jemals war. Nichts kann ich ihr recht machen. Fege ich die Küche, fegt sie hinterher. Mache ich die Betten, streicht sie gleich noch einmal die Laken glatt. Decke ich den Tisch, rückt sie das Besteck gerade. Schickt sie mich zum Brotholen, bemängelt sie, daß es das falsche Brot ist. Ziemlich neurotisch, wenn Du mich fragst. Kein Wunder, daß ihr Alter ständig auf Reisen ist.

Seit wir hier im Lederhosenparadies sind, ist er allerdings wieder da, er heißt Robert, sieht nicht übel aus und fällt nicht weiter unangenehm auf. Er spielt sogar manchmal Musik, Steel, die er aus Trinidad mitgebracht hat, gar nicht mal so schlecht, aber Charlotte verläßt dann immer sofort das Zimmer.

Ich muß Schluß machen, ich hör sie keifen, ich solle Milch holen gehen. Direkt von der Kuh beim Bauern nebenan, ob Du es glaubst oder nicht. Wie im Mittelalter. Aber die Bauern haben eine Satellitenschüssel neben der Scheune stehen, vielleicht frage ich sie mal, ob ich bei ihnen ein bißchen [30] fernsehen darf. Ja, ich komme ja schon! Mein Gott, diese Frau macht mich noch krank mit ihrer Hektik.

Alles Liebe, Deine Jeannie.

Sie steht nicht auf. Sie steht einfach nicht auf. Sie behauptet, sie habe keinen Wecker. Ich könnte ihr einen kaufen, aber ich will mich nicht zur Idiotin machen. Es ist ihr verdammter Job, auf mein Kind aufzupassen! Einmal nur, ein einziges Mal nur möchte auch ich ausschlafen dürfen! Warum darf ich nicht? Warum immer nur Robert? Wutschnaubend stehe ich im Flur vor Jeannies Zimmer, Lena an der Hand, aber ich werde sie nicht wecken, nein. Ich will nicht die verbitterte Alte sein, die sie mit falscher Fröhlichkeit aus ihrem süßen, juvenilen Tiefschlaf reißt. Ich will nicht sein wie meine eigene Mutter.

Geh in ihr Zimmer, und weck sie, fordere ich Lena auf. Sie schüttelt den Kopf.

Ich traue mich nicht, flüstert sie.

Wir gehen barfuß zusammen die warme Holztreppe hinunter, dann über den kalten Steinfußboden hinaus in den Garten, es riecht nach Kühen, nach Heu, nach Blumen. In der Sonne ist es schon heiß, obwohl es noch so früh ist. Im Nachthemd sitzen wir auf der Gartenbank hinter der riesigen Satellitenschüssel unserer Nachbarn, der Freisingers, den Bauern von nebenan. Sie haben einen neunjährigen verstockt wirkenden Sohn, Frau Freisinger ist noch jung, bestimmt vier, fünf Jahre jünger als ich, aber ihre Haut sieht aus wie ein alter Lederhandschuh. Sie ackern den ganzen Tag, um dann mit dem Geld, was sie so mühsam verdienen, ihren wunderschönen alten Hof mit Glasbausteinen und [31] Alufenstern zu verschandeln. Die Satellitenschüssel und eine betonierte Terrasse haben sie sich erst kürzlich zugelegt und dafür kaltlächelnd ihren alten Kräutergarten geopfert. Kein einziges Mal habe ich sie bisher auf dieser Terrasse sitzen sehen, denn sie arbeiten ja den ganzen Tag. Pünktlich um halb sechs Uhr früh springt die Melkmaschine an, und abends laden sie immer noch Heu ab, wenn es bereits dunkel ist. Wenn sie mich im Garten sitzen sehen, lächeln sie mir zu in einer Mischung aus Amüsement und leichter Verachtung, und ich schäme mich meines luxuriösen, nutzlosen Lebens. Vielleicht hassen sie uns.

Lena drückt mir ihre Puppe in die Hand. Spiel! befiehlt sie. Ich mag nicht spielen. Ich eigne mich nicht zum Spielen, ich möchte Ergebnisse sehen.

Spiel, wiederholt Lena und sieht mich mitleidig an. Sie weiß, daß ich es nicht kann.

Oh, bitte, Lena, flehe ich, laß mich noch ein bißchen in Ruhe.

Warum?

Ich schließe die Augen. Ich werde mir Mühe geben, dieser Tag wird schön werden, ein wunderschöner Sommertag in der Erinnerung aller, o ja.

Drei Stunden später poltert Jeannie die Treppe hinunter. Lena und ich haben dreimal Peter und der Wolf angehört, wir haben zweimal Hochzeit gespielt, geschaukelt, Sandkuchen und Blumenpizzas gebacken, wir haben Bilder gemalt und einen ganzen Zoo aus Knetgummi geformt, wir haben frisches Vollkornbrot geholt, Honig und Butter. Drei lange Stunden haben wir uns verkniffen, davon zu [32] essen, alle sollen zusammen an einem Tisch frühstücken, so sollte es doch sein, wenigstens in den Ferien, obwohl der Mann von den Frauen der Karibik träumt und das Kind von seinen Freunden in der Stadt.

Jeannie kommt in lila Radlerhosen und einem goldenen Lurex-BH in die Küche gestolpert. Ihr dunkles Fleisch quillt üppig hervor, ihren Mut möchte ich haben, wie kann man nur so selbstbewußt sein?

Sie wirft im Vorbeigehen ihre verbrauchten Walkmanbatterien in den Abfalleimer für Kunststoffe und Folien und läßt sich auf den ersten besten Stuhl fallen. Diese verdammten geilen Katzen, seufzt sie, die ganze Nacht. Sie macht sie nach, jault in den höchsten Tönen. Lena kichert. Kein Auge habe zugetan, jammert Jeannie.

Ihr Deutsch hat einen leichten, undefinierbaren Akzent und macht mich nervös. Ich fange innerlich an zu beben, als sei ich schnell gelaufen.

Es ist heiß, stöhnt sie.

Ja, sage ich und klaube ihre Batterien aus dem Abfalleimer.

Geiler Bikini, sagt Lena.

Ich höre, wie Robert ins Badezimmer geht.

Laß uns den Tisch decken, sage ich zu Jeannie.

Sie steht ächzend auf und holt drei Teller aus dem Schrank.

Wir sind doch vier, lache ich und möchte schreien. Sie denkt nicht von hier bis an die Wand. Alles muß ich erklären, alles vormachen, alles sagen. Da mache ich es lieber selbst. Wenn sie die Betten macht, zieht sie nicht die Laken glatt, wenn sie den Tisch abwischt, vergißt sie regelmäßig [33] die obere Ecke, für die man sich ein wenig strecken müßte, lasse ich sie staubsaugen, vergißt sie, unter dem Sofa zu saugen. Und wenn ich es ihr dann sage, fühle ich mich wie eine alte, spießige Ziege, die nur meckert.

Sie holt einen vierten Teller, knallt ihn auf den Tisch, setzt sich wieder.

Wie wär’s mit Messern, frage ich in scherzhaftem Ton.

Wieder steht sie schwerfällig auf, geht zur Schublade, holt ein Messer heraus – ein einziges Messer! –, legt das Messer neben ihren Teller und setzt sich hin.

Ich warte, sage nichts. Jeannie nimmt sich eine Scheibe Brot und beschmiert sie seelenruhig mit Butter. Überrascht höre ich mich kreischen, spüre, wie sich mein Gesicht verkrampft, wie ich häßlich und verkniffen aussehe. Interessiert betrachten mich Jeannie und Lena, als säßen sie im Zirkus. Und da trabe ich auch schon in die Arena, Robert sitzt auf meinen Schultern, er liest die Zeitung, Lena steht in einem rosa Tütü in meiner Handfläche und lächelt albern in die Runde, die fette Jeannie sitzt auf meinem Kopf und tritt mir zum Takt der Musik aus ihrem Walkman die Hacken ins Kreuz. Ich drehe Runde um Runde, meine Knie zittern, meine Muskeln schmerzen, in Strömen läuft mir der Schweiß herunter, keiner darf mir herunterfallen, keiner. Das Publikum applaudiert müde, da geht der Vorhang hinter mir auf, und eine andere Frau kommt in die Arena galoppiert, sie trägt vier Kinder auf ihren Hüften, ihren Ehemann und seine Geliebte auf den Schultern, ihre alte Mutter im Nachthemd auf dem Kopf, zwei Hunde machen Männchen auf ihren Handflächen, und zu allem Überfluß hat sie auch noch eine knackige Figur, ein strahlendes Lächeln [34] und wache Augen. Das Publikum tobt, beschämt trabe ich hinaus, was will ich hier überhaupt mit meinem erbärmlichen Akt? Ein Beispiel sollte ich mir nehmen.

Ich erwarte doch wirklich nicht viel, wirklich nicht! schreie ich. Hast du noch nie in deinem Leben einen Tisch gedeckt? Muß ich denn alles selber machen? Siehst du denn nicht, was getan werden muß? Bist du blind? Ich kann nicht mehr! Ich kann auch mal nicht mehr!

Ich fange an zu heulen. Lena streckt die Hand nach mir aus. Jeannie steht wortlos auf und holt drei weitere Messer.

Lena bekommt doch kein Messer, wie off soll ich das noch sagen? schluchze ich.

Jeannie legt ein Messer wieder in die Schublade.

Entschuldige, sage ich zu Lena.

Was ist? fragt sie.

Ich weiß nicht, sage ich, gleich ist es wieder vorbei. Sie sieht mich besorgt an, ich stehe auf und laufe aus der Küche zum Bücherregal im Wohnzimmer, dort steht ein Buch mit Visualisierungsübungen gegen Angst und Depressionen, das habe ich meiner Schwester geklaut, als ich sie vor einer Woche besucht habe, kurz nachdem Robert aus Trinidad zurückgekehrt war und im Wohnzimmer anfing zu tanzen wie ein Verrückter.

Davon erzählte ich meiner Schwester nichts. Wir hassen uns, aber unser Haß fühlt sich an wie die ganz normale Liebe in einer Familie, und wenn ich sie länger nicht sehe, werde ich unruhig.

Oh, là là, sagte meine Schwester, als sie Jeannie sah, todschick, ein schwarzes Kindermädchen.

[35] Sie spricht deutsch, erwiderte ich.

Hey, prima, sagte meine Schwester und ergriff Jeannies Hand, dann kannst du ja wenigstens in der Zeitung nachlesen, was dir in diesem Scheißland irgendwann passieren wird. Irgendwo hinten im Lokalteil: FARBIGE AMERIKANERIN VON SKINHEADS…

Afroamerikanerin, korrigierte Jeannie.

Hast du gar keine Angst? fragte meine Schwester.

Nö, murmelte Jeannie und sah sich in der chaotischen Wohnung meiner einundvierzigjährigen Schwester um, die immer noch aussieht wie eine Studentenbude. Lena darf dort an die Wände malen und mit Schuhen auf dem stets ungemachten Bett herumspringen, meiner Schwester ist alles egal. Auf dem Stuhl, auf den ich mich setzen wollte, lag unter Schichten von Unterwäsche und verfärbten T-Shirts dieses Buch.

Hat sie gewußt, daß du Afroamerikanerin bist? fragte meine Schwester Jeannie und deutete mit dem Kopf in meine Richtung.

Nö, sagte Jeannie und grinste.

Meine Schwester lachte schallend.

Worüber lacht ihr? fragte Lena streng.

Über deine Mutter, sagte meine Schwester, wir lachen nur über deine Mutter, und da kicherte auch Lena.

Im Inhaltsverzeichnis finde ich Lebensangst, schlage mit zitternden Fingern das Kapitel auf, lese: die Mumie. Stellen Sie sich vor, Sie seien gestorben, werden einbalsamiert und mit Bandagen umwickelt, bis kein Zentimeter Ihrer Haut mehr zu sehen ist. Sie werden in einen Sarg gelegt, in eine [36] dunkle Höhle geschoben. Jetzt richten Sie sich auf, lösen Ihre Bandagen, eine nach der anderen, Sie werfen sie hinter sich, steigen aus dem Sarg und gehen hinaus aus der Höhle ins Freie. Dort scheint die Sonne, der Himmel ist blau, Sie haben keine Angst mehr.

Musik erklingt. Eine zwölfköpfige Steelband spielt in der Küche. Lena kreischt vor Vergnügen. Guten Morgen, kleine Schnecke, höre ich Robert sagen, und dann: guten Morgen, wunderbare Jeannie!

Wissen Robert und Charlotte wirklich nicht, daß ich in meinem Dachkämmerchen jedes Wort genau verstehen kann, das sie in ihrem Schlafzimmer sprechen? Es dringt durch den Kamin wie durch einen Lautsprecher direkt an mein Ohr. Hier ist ein Dialog von gestern nacht, den ich aus purer Langweile mitgeschrieben habe.

Er: Wofür willst du dich rächen, hm?

Sie: Bist du so naiv?

Er: Jetzt komm schon…

Sie: Mach den Test, dann reden wir weiter.

Er: Das ist doch lächerlich.

Sie: Meinst du, ich weiß nicht, warum du dauernd diese Musik hörst, warum du von Trinidad schwärmst, als sei es das Paradies auf Erden?

Er: Es ist das Paradies auf Erden.

Sie: Ach, Scheiße. Und faß mich nicht an.

Er: Heißt das, du verlangst von mir…

Sie: Genau.

Er: Du bist doch verrückt.

Sie: Ach ja?

[37] Er: Woher nimmst du das?

Sie: Ich sehe es dir an.

Er: Gut. Ich war glücklich da. Ja.

Sie: Ohne uns.

Er: Ja.

Sie: Warum?

Er: Die Menschen sind anders.

Sie: Die Frauen, meinst du.

Er: Auch die Frauen.

Sie: Wie?

Er: Das willst du doch gar nicht wissen.

Sie: Doch.

Er: Wenn ich es dir sage, drehst du durch, das weiß ich doch.

Sie: Tue ich nicht.

Er: Tust du doch.

Sie: Sag es mir.

Er: Was?

Sie: Was so toll ist an den Frauen in Trinidad.

Er: O Gott.

Sie: Was?

Er: Sie führen keine Gespräche wie dieses.

Sie: Weiter.

Er: Sie sind lockerer.

Sie: Und?

Er: Freier.

Sie: Toll. Und weiter?

Er: Sie leben einfach.

Sie: O ja, die tollen, lockeren Frauen der Karibik. Sie wiegen sich in den Hüften, hören den ganzen Tag nur[38] Musik und lieben das Leben. Sag mal, wie blöd bist du eigentlich f

Er: Du hast mich gefragt.

Sie: Meinst du, ich möchte so sein, wie ich jetzt bin?

Er: Ich weiß nicht, wovon du sprichst.

Sie: Ich würde mich auch lieber in den Hüften wiegen, das kann ich dir sagen. Aber zufällig habe ich ein Kind und einen Beruf, und ich bin müde, verdammt müde. Zu müde, um die Hüften zu schwingen!

Er: Ja, ich weiß.

Sie: Was soll das heißen?

Er: Ich weiß, daß du es schwer hast.

Sie: Wie du das sagst! Du bist ein richtiges Arschloch.

(Er schweigt.)

Sie: Für dich hat sich doch nichts geändert durch das Kind, gar nichts. Du fährst weiterhin in der Weltgeschichte rum, machst, was du willst, und darüber hinaus hast du eine Familie. Prima.

Er: Was willst du?

(Die Seufzerbrücke seufzt.)

Sie: Warum verbringst du nie mehr Zeit mit mir?

Er: Weil du müde bist. Weil du schlecht gelaunt bist. Weil du deine Ruhe haben willst.

Sie: Wenn ich den ganzen Tag mit dem Kind unterwegs war…

Er: Du hast doch immer einen Babysitter gehabt.

Sie: Den ich organisieren muß. Wie ich alles organisieren muß. Wieso habe ich ein Problem, wenn ich arbeiten gehen will, und du nicht?

Er: Ich verstehe nicht, was du meinst.

[39] Sie: Genau das ist das Problem. Selbst wenn wir vögeln wollten – was wir ja nicht tun –, selbst wenn, müßte ich es ORGANISIEREN.

Er: Das ist das Problem. Daß du alles organisieren willst.

Sie: Ich verstehe. Ich bin an allem schuld. – War’s wenigstens schön?

Er macht eine spannende Pause.

Er: Ich weigere mich, so zu reden.

Sie: Du mußt einen Aids-Test machen, das ist dir doch hoffentlich klar.

Er: Das ist doch absurd.

Sie: Wieso?

Er: Weil da nichts war.

Sie: Ich glaube dir nicht.

Er: Das ist dein Problem.

Sie: Nein, deins. Denn ohne Test…

Er: Hast du denn gar kein Vertrauen zu mir? (Sie schweigt.) Wenn ich da irgendwas gehabt hätte, nur mal hypothetisch, dann hätte ich doch aufgepaßt.

Sie: Ich habe es gewußt.

(Pause.)

Er: Es tut mir leid…

Sie: Ich hasse dich.

Er: Es tut mir leid.

Sie: Warum? Erklär mir, warum!

Er: Ich weiß es nicht.

Sie: Erklär es mir!

(Sie heult, schlägt ihn, glaube ich, an dieser Stelle, auf jeden Fall klatscht es mehrmals, aber vielleicht erlegt sie[40] auch nur ein paar Fliegen, du glaubst nicht, wieviel Fliegen es hier gibt!)

Sie: (schreit) Warum?

Er: Ich habe gerade versucht, es dir zu erklären.

(Sie schluchzt.)

Er: Ich habe mich dort lebendig gefühlt.

Sie: O Gott.

Es geht die Tür, ich höre Schritte auf der Treppe, sie geht wohl ins Wohnzimmer und schläft auf der Couch. Ende. Musik. Reklame.

Ist das nicht wunderbar? Fast so schön wie Fernsehen.

Es ist ein wunderschöner Tag, der Himmel klar, eine leichte Brise geht, die Vögel zwitschern, das Au-pair-Mädchen schläft, Mutter und Kind machen Obst ein, Vater mäht den Rasen. Es könnte ein wunderschöner Tag sein. Robert sitzt auf seinem brandneuen Rasenmäher und fährt Achten um Jeannie, die mit geschlossenen Augen in ihrem goldenen Bikini im Liegestuhl liegt. Sie hat ein Bein aufgestellt, ein schmaler Streifen Gold bedeckt notdürftig ihre Scham. Breit und gemütlich liegt ihr dicker Leib da. Weißer Speck ist ekelhaft, schwarzer dagegen irgendwie schön. Einen kurzen Augenblick lang verstehe ich, wie man sich sehnlichst wünschen kann, sich auf dieses Fleisch zu werfen, es zu walken, zu kneten, zu unterwerfen, in ihm zu versinken.

Lena und ich halten beim Johannisbeerenpflücken inne, wir starren Jeannie und Robert an. Wie lächerlich er aussieht, wie ein Affe auf dem Schleifstein hockt er auf dem Mäher, sein weißer, behaarter Bauch hängt über den Gürtel seiner Bermudas, seine Basketballmütze hat er mit dem [41] Schirm nach hinten aufgesetzt, weil er hip sein möchte, jung, lebendig. Wie sehr ich ihn in diesem Augenblick dafür hasse. Prügeln könnte ich ihn, windelweich schlagen, seinen erbärmlichen Körper grün und blau hauen.

Lena legt die Finger auf die Lippen, leise schleichen wir um Jeannie herum auf die andere Seite zu den schwarzen Johannisbeeren, wir alle bewegen uns um sie herum, als sei sie das Zentrum und wir die Satelliten.