Biomimetische Restaurative Zahnheilkunde - Pascal Magne - E-Book

Biomimetische Restaurative Zahnheilkunde E-Book

Pascal Magne

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Beschreibung

Die erste Auflage dieses Standardwerkes eroberte die Welt der Zahnmedizin 2002 im Sturm und wurde rasch zu einem der meistverkauften Titel des Quintessenz Verlags überhaupt. Von der nun vorgelegten Neuauflage ist mit Sicherheit Ähnliches zu erwarten, denn sie hebt die ästhetische Rekonstruktion von Zähnen wissenschaftlich wie praktisch auf ein neues Niveau. Das Buch bietet dem Lesenden alle wünschenswerten Informationen zur Indikationsstellung, zu den klassischen Arbeitsschritten der Präparation, Zahntechnik, CAD/CAM-Fertigung und adhäsiven Befestigung sowie zur Nachsorge und Erhaltung der Restaurationen. Was dieses Werk jedoch mehr als alles andere einzigartig macht, ist die Lebens- und Behandlungsphilosophie seines Verfassers Pascal Magne: Respektiere die Natur und nutze sie als Vorbild bei deinen Restaurationen! Das zentrale Konzept der Darstellung ist das der Biomimetik, also die Idee, dass der gesunde Zahn mit seinen idealen Farbabstufungen und mehr noch der Binnenstruktur seiner Krone und seiner Position im Zahnbogen das Muster für die Rekonstruktion und der Maßstab für ihren Erfolg ist. Über allem steht die Wiederherstellung und Nachgestaltung der biomechanischen, strukturellen und ästhetischen Einheit der Zähne. Anliegen dieses Buches ist es daher, ein neues biomimetisches Konzept für die ästhetische restaurative Zahnmedizin zu entwickeln. Die primären Motive der restaurativen Zahnmedizin sind die Erhaltung aller gesunder Hartsubstanz und der Vitalität des Zahns. Hierfür bietet das Buch ultrakonservative Behandlungsoptionen, die komplexeren Maßnahmen vorausgehen können. Im Mittelpunkt des Werks steht die Umsetzung des biomimetischen Konzeptes durch adhäsive Restaurationen aus Komposit und Keramik. Beschrieben wird das breite Indikationsspektrum adhäsiver Restaurationen, gefolgt von detaillierten Anleitungen zur Behandlungsplanung und Diagnostik, dem ersten Schritt jeder Behandlung. Es folgt die Darstellung der einzelnen Behandlungsschritte, von der Präration und Abformung über die zahntechnischen und CAD/CAM-Prozesse der Herstellung von Komposit- und Keramikteilen bis zu deren Eingliederung mit adhäsiven Befestigungstechniken. Der 1. Band umfasst Prinzipien und grundlegende klinische Abläufe, der 2. Band anspruchsvollere Techniken sowie die Nachsorge und Reparatur adhäsiver Restaurationen. Überall im Buch leiten QR-Codes den Lesenden zu Videos weiter, in denen das Konzept demonstriert und die Kunst der Biomimetik beleuchtet werden. Dieses große Buch eines Meisters und wahren Künstlers wird ohne Zweifel alle seine Leserinnen und Leser zu höchster Qualität anregen und inspirieren. Was ist neu in dieser Auflage? Für die Neuauflage wurde der frühere Inhalt grundlegend aktualisiert und um 500 Seiten neuen Materials ergänzt. Hinzu kommen fast 100 Videoclips, die über QR-Codes aufgerufen werden können. Die Erweiterungen der 2. Auflage umfassen detaillierte Erläuterungen der Morphologie aller Zähne (einschließlich Zeichenübungen), eine umfangreiche Aktualisierung der berühmten Magne/Belser-Ästhetikcheckliste, diagnostische Ansätze und Gesamtrehabilitationen mit verbesserten Mock-up-Techniken, sofortiger Dentinversiegelung und Anhebung zervikaler Ränder, ferner semi-(in)direkte Konzepte für den Front- und Seitenzahnbereich (einschließlich CAD/CAM-Verfahren), eine neue Klassifikation adhäsiver Keramikrestaurationen für Frontzähne sowie auf den neuesten Stand gebrachte Protokolle, insbesondere für die Präparation und provisorische Versorgung. Zu allen wichtigen Praxis- und Laborabläufen finden sich Tabellen und Schritt-für-Schritt-Anleitungen. Ein Bonuskapitel zum Leben des Autors und seiner Motivation rundet das Werk ab.

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Biomimetische restaurative Zahnheilkunde, Band 1

Prinzipien und grundlegende klinische Abläufe

Titel der Originalausgabe:

Biomimetic Restorative Dentistry / Pascal Magne, Urs Belser

© 2021 Quintessence Publishing Co, Inc.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <https://dnb.ddb.de> abrufbar.

Quintessenz Verlags-GmbH

Ifenpfad 2–4

12107 Berlin

www.quintessence-publishing.com

© 2023 Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Übersetzung: Peter Rudolf, München

Lektorat, Herstellung und Reproduktionen: Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-86867-672-3

Pascal Magne

Pascal Magne ist Dozent und Don and Sybil Harrington Foundation Professor of Esthetic Dentistry an der Abteilung für restaurative Zahnmedizin der Herman Ostrow School of Dentistry der University of Southern California in Los Angeles. Sein Studium der Zahnmedizin schloss er im Jahr 1989 an der Universität Genf als Med. dent. ab. Er promovierte sich im Jahr 1992 und erlangte 2002 den Titel eines Privatdozenten. Darüber hinaus absolvierte er postgraduale Curricula in festsitzender Prothetik und Okklusion, Zahnerhaltung und Endodontie und war von 1989 bis 1997 als Dozent an der Universität Genf tätig. Von 1997 bis 1999 arbeitete er als Gastwissenschaftler am Minnesota Dental Research Center for Biomaterials and Biomechanics der University of Minnesota School of Dentistry. Nach Abschluss des zweijährigen Forschungsaufenthaltes kehrte Dr. Magne an das Zahnärztliche Institut der Universität Genf zurück und übernahm die Position eines leitenden Oberarztes in der Abteilung für festsitzende Prothetik und Okklusion, bis er im Februar 2004 an die University of Southern California berufen wurde.

Dr. Magne erhielt mehrere Stipendien des Schweizerischen Nationalfonds und der Swiss Foundation for Medical-Biological Grants und wurde 2002 mit dem Young Investigator Award der International Association for Dental Research sowie 2007, 2009 und 2018 mit dem Judson C. Hickey Scientific Writing Award (für den besten im Journal of Prosthetic Dentistry veröffentlichten wissenschaftlichen/klinischen Artikel des Jahres) ausgezeichnet. Zudem erhielt er 2016 die Auszeichnung mit dem Distinguished Lecturer Award der Greater New York Academy of Prosthodontics.

Dr. Magne ist Autor zahlreicher klinischer und wissenschaftlicher Beiträge zur ästhetischen und adhäsiven Zahnmedizin und ein international bekannter Vordenker und Lehrer dieser Fächer. Die erste Ausgabe des vorliegenden Buches wurde in 12 Sprachen übersetzt und gilt als eines der herausragendsten Werke auf dem Gebiet der adhäsiven und ästhetischen Zahnmedizin. Dr. Magne ist Gründungsmitglied der Academy of Biomimetic Dentistry und Mentor der Bio-Emulation Group. Im Jahr 2012 führte er einen revolutionären Ansatz für die didaktische Vermittlung der dentalen Morphologie, Funktion und Ästhetik (das 2-D/3-D/4-D-Konzept) für Studienanfänger an der Herman Ostrow School of Dentistry der Universität von Südkalifornien ein.

Der Leser wird im gesamten Buch QR-Codes, wie dem hier abgedruckten, begegnen. Diese Codes ermöglichen den Zugang zu exklusiven Videoinhalten, in denen die beschriebenen Techniken demonstriert und weiterführende Erklärungen geliefert werden. Die Videos werden aktualisiert, sobald neues Material verfügbar ist.

Urs Belser

Urs Belser studierte Zahnmedizin an der Universität Zürich. Im Anschluss promovierte er an der Universität Zürich und arbeitete dort von 1976 bis 1980 als Assistent, später als Oberassistent in der Abteilung für Kronen-Brückenprothetik, Teilprothetik und zahnärztliche Materialkunde des Zahnärztlichen Institutes (Prof. Dr. Peter Schärer). Von 1980 bis 1982 war er Gastdozent in den Abteilungen für orale Biologie (Prof. Dr. A. G. Hannam) und klinische Zahnmedizin (Prof. Dr. W. A. Richter) an der zahnmedizinischen Fakultät der University of British Columbia in Kanada. Von 1983 bis 2012 war Urs Belser ordentlicher Professor und Direktor der Abteilung für Kronen-Brückenprothetik und Okklusion am Zahnärztlichen Institut der Universität Genf. Zudem hatte er von 1984 bis 1988 die Präsidentschaft der Schweizerischen Gesellschaft für Rekonstruktive Zahnmedizin inne.

Er erhielt 2002 den Scientific Research Award der Greater New York Academy of Prosthodontics, war von 2002 bis 2003 Präsident der European Association of Prosthodontics (EPA) und 2006 Gastprofessor am Department of Restorative Dentistry and Biomaterials Sciences der Harvard University (Prof. Dr. H. P. Weber). Seit 2012 ist er Gastprofessor an den Kliniken für Orale Chirurgie und Stomatologie (Prof. Dr. D. Buser) sowie für Rekonstruktive Zahnmedizin und Gerodontologie (Prof. Dr. Urs Brägger) der Zahnmedizinischen Kliniken der Universität Bern. Im Jahr 2013 wurde er zum Ehrenmitglied des International Team of Implantology (ITI) ernannt und war von 2013 bis 2017 Chefredakteur des Forum Implantologicum des ITI. In 2014 wurde er Ehrenmitglied auf Lebenszeit des American College of Prosthodontists (ACP) und erhielt dessen Lecturer of the Year Award. Im Jahr 2018 schließlich wurde ihm der Morton Amsterdam Interdisciplinary Teaching Award (zusammen mit Prof. Dr. D. Buser) verliehen.

Die Forschungsschwerpunkte von Prof. Belser liegen auf dem Gebiet der Implantologie mit besonderem Fokus auf ästhetischen Fragestellungen sowie bei den neuesten Entwicklungen in den Bereichen CAD/CAM-Technologie und Hochleistungskeramik und der adhäsiven rekonstruktiven Zahnmedizin.

Neue Konzepte der biomimetischen restaurativen Zahnheilkunde (Biomimetic Restorative Dentistry, BRD) ermöglichen die Wiederherstellung der biomechanischen, strukturellen und ästhetischen Integrität von Zähnen unter größtmöglicher Schonung biologischer Strukturen (Pulpa und Parodont). Den Grundpfeiler der biomimetischen restaurativen Zahnheilkunde bildet die Adhäsivtechnik, während neuartige Restaurationsformen diesen aufstrebenden restaurativen Ansatz als markante Elemente prägen. Das Indikationsspektrum für adhäsive Restaurationen hat sich deutlich erweitert und umfasst nun auch stark zerstörte Zähne, Kronenfrakturen und avitale Zähne. Damit werden erhebliche Fortschritte in medizinisch-biologischer wie auch in sozioökonomischer Hinsicht möglich: Es kann mehr gesundes Gewebe geschont werden, die Vitalität der Zähne bleibt erhalten und die Behandlung ist weniger kostspielig als die invasivere klassische Prothetik.

Die biomimetische restaurative Zahnheilkunde bietet restaurative Lösungen, mit denen die funktionellen und ästhetischen Bedürfnisse der Front- und Seitenzähne in Einklang gebracht werden können. Es steht eine breite Palette von Restaurationstechniken zur Verfügung, die von direkten über semi(in)direkte bis hin zu indirekten Methoden reichen und die spezifischen Bedürfnisse jedes Patienten erfüllen. Die Kombination von Keramik und Komposit kann – dank optimaler Steifigkeit, Abrasivität und Oberflächengüte sowie der mittels Hochleistungsadhäsion erzeugten biomechanischen Festigkeit – die Zahnkrone insgesamt wieder für die Kaufunktion fit machen. Zudem ist dieser restaurative Ansatz – aufgrund der dem Zahn innewohnenden optischen Effekte und der Möglichkeit ihrer Nachahmung mit Komposit und Keramik – für Zahnärzte und Patienten gleichermaßen mit einer hohen ästhetischen Befriedigung verbunden.

WIDMUNG

Meiner Frau Geibi und meinen Kindern Erine und Santiago, Gottes wertvollsten Geschenken in meinem Leben. Meinem Bruder Michel, den ich sehr liebe und der die Leidenschaft für Gott, Zahnmedizin und Zahntechnik mit mir geteilt und in mir zum Leben erweckt hat. Meiner Schwester Marina, ihrem Mann und meinen Neffen, die trotz der räumlichen Entfernung zwischen uns immer bei mir und für mich da waren. Meinen Nichten, die ebenfalls weit entfernt leben, aber immer in meinem Herzen sind. Dem Andenken an meine Mutter Agnès, die uns durch eine Krebserkrankung viel zu früh genommen wurde, und an meinen Vater Albin, der mich in allen Lebenslagen unterstützt und ermutigt hat.

– P. M.

Dem Andenken an meine Mutter Heidi und meinen Vater Theodor. Meiner Frau Christine für ihre unermüdliche Unterstützung und Geduld. Meinen Kindern Marc und Michèle und meinen Enkelkindern.

– U. B.

Genf, 2018

Eisen wird an Eisen geschliffen; so schleift einer den Charakter des andern. Sprichwörter 27,17

INHALTSVERZEICHNIS

BAND 1

Geleitwort William H. Douglas

Geleitwort Panaghiotis K. Bazos

Vorwort

Die vier Elemente

Galerie

1Der gesunde Zahn und das Prinzip Biomimetik

1.1Biologie, Mechanik, Funktion, Ästhetik

1.2Nachgiebigkeit und Flexibilität

1.3Grundzüge der Frontzahnform

1.4Grundzüge der Seitenzahnform

1.5Mechanik und Geometrie der Zähne in Funktion

1.6Physiologische Rissbildung im Schmelz und die SDG

1.7Natürliche Zahnalterung und Schmelzabnutzung

1.8Mechanische Anwendung des biomimetischen Prinzips

1.9Kopieren versus Simulieren der Natur

1.10Biomimetische Implantatprothetik

2Natürliche orale Ästhetik

2.1Allgemeine Überlegungen

2.2Grundlegende Kriterien

2.3Ästhetische Integration und Balance des Lächelns

2.4Morphologie der Seitenzähne

2.5Didaktische Übungen zur Zahnmorphologie

2.6Zeichnen nach Modellen

3Ultrakonservative Behandlungsmethoden

3.1Zahnaufhellung und Biomimetik

3.2Home-Bleaching

3.3Mikro- und Makroabrasion

3.4Remineralisation und Kunststoffinfiltration

3.5Walking-Bleach-Technik

3.6Wiederbefestigung von Zahnfragmenten

3.7Materialien und Instrumente für adhäsive Restaurationen

3.8Direkte Fronzahnrestaurationen

3.9Überlegungen zu direkten Seitenzahnrestaurationen

3.10Anheben tiefer Ränder

4Semi(in)direkte Restaurationen für Seiten- und Frontzähne

4.1Entwicklungsgeschichte und Klassifizierung

4.2Das Chairside-CAD/CAM-Zeitalter

4.3CAD/CAM-Restaurationen Im Seitenzahnbereich

4.4Sofortige Dentinversiegelung

4.5Die natürliche CAD/CAM-Restauration

4.6Endokronen und zusammengesetzte CAD/CAM-Restaurationen

4.7Befestigung von Seitenzahnrestaurationen

4.8CAD/CAM-Restaurationen Im Frontzahnbereich

BAND 2

5Ästhetische Behandlungsplanung und diagnostisches Konzept

5.1Interaktive Beziehung zwischen Patient, Praxis und Labor

5.2Patientenmanagement

5.3Photoshop Smile Design

5.4Behandlungsplanung und Vorbehandlung

5.5Diagnostisches Wax-up Schritt für Schritt

5.6Diagnostisches Mock-up

5.7Sonderfälle

5.8Abnutzung und enger Biss

5.9Grundlagen der Dentalfotografie

5.10Farbbestimmung und -Kommunikation

6Indirekte adhäsive Keramikrestaurationen im Frontzahnbereich

6.1Geschichte und Klassifikation

6.2Typ I: Aufhellungsresistente Zähne

6.3Typ II: Grössere morphologische Veränderungen

6.4Typ III: Ausgedehnte Restaurationen bei Erwachsenen

6.5Kombinierte Indikationen

6.6Typn IV und V: Vollkronen und Endokronen

6.7Biologische Überlegungen

6.8Perspektiven für okklusale Veneers

6.9Präparationsregeln

6.10Abformung

6.11Provisorische Versorgung

6.12Zahntechnische Arbeitsschritte

6.13Einprobe und adhäsive Befestigung

7Nachsorge und Reparatur

7.1AKR – Hervorragende Bewährung bei geringem Nachsorgeaufwand

7.2Regelmässige professionelle Zahnreinigung

7.3Komplikationen und Reparaturen

7.4Infiltration von Keramikrissen

7.5Ersatz von Klasse-III-Kompositrestaurationen in Kontakt mit Keramik

αΩDie ganze Geschichte: Von La Chaux-De-Fonds nach Los Angeles

αΩ.1Frühe Herausforderungen: Die Bühne wird bereitet

αΩ.2Erste Universitätsjahre, die Brüder

αΩ.3Von Gott berührt

αΩ.4Die Minnesota-Erfahrung

αΩ.5Von Genf nach Los Angeles

Sachregister

GELEITWORT

Es ist mir eine große Freude, ein Geleitwort zu dem Buch von Dr. Magne und Prof. Belser beisteuern zu dürfen. Denn zum einen hebt dieses Werk die Wissenschaft der ästhetischen restaurativen Zahnmedizin klinisch und akademisch auf ein neues Niveau und zum anderen verbrachte Dr. Magne zwei Jahre als Gastwissenschaftler am Minnesota Dental Research Center for Biomaterials and Biomechanics der Universität von Minnesota, wo viele der in diesem Buch vorgestellten Ideen heiß diskutiert und ausgearbeitet sowie im numerischen Modell und experimentellen Rahmen getestet wurden. In diesem Buch werden praktisch tätige Zahnärztinnen und Zahnärzte all das zu Indikationen, Präparation, Labor- und CAD/CAM-Verfahren, adhäsiver Befestigung und Nachsorge finden, was sie sich immer gewünscht haben. Wer bereits Vorlesungen oder Vorträge von Dr. Magne gehört hat, wird nicht enttäuscht sein. Im Gegenteil: Dieses Buch bietet noch viel mehr praktisch Wertvolles und intellektuell Anregendes.

Die zentrale Philosophie des vorliegenden Werkes ist das Prinzip der Biomimetik, basierend auf der Idee, dass der intakte Zahn mit seinen natürlichen Farben und Schattierungen und – wichtiger noch – seinen intrakoronalen Strukturen und seiner Lage im Zahnbogen das Referenzmodell für die Rekonstruktion und der entscheidende Faktor für den Behandlungserfolg ist. Der Ansatz ist grundsätzlich konservativ und biologisch orientiert und steht in scharfem Kontrast zu Metallkeramik-Restaurationen, bei denen der Metallguss mit seinem hohen Elastizitätsmodul das darunter liegende Dentin hypofunktionell macht. Ziel der Autoren ist es, die gesamte präparierte Restsubstanz wieder voll funktionell nutzbar zu machen, indem ein adhäsiver Verbund mit dem Hartgewebe hergestellt wird, der die Ableitung funktioneller Spannungen in den Zahn ermöglicht und zudem die gesamte Krone in das ästhetische Resultat einbindet.

Ich bin sicher, dass auch diese neue Ausgabe des Buches eine breite Leserschaft findet, die seine Prinzipien sorgfältig studieren und in Lehre und Forschung wie auch in der zahnärztlichen Praxis umsetzen wird.

William H. Douglas, BDS, MS, PhD

Ehemaliger Direktor, Minnesota Dental Research Center for Biomaterials and Biomechanics

Ehemaliger Lehrstuhlinhaber, Department of Oral Science, University of Minnesota

Professor Emeritus, University of Minnesota Dental School

Minneapolis, 1998

GELEITWORT

In unserer heutigen Kultur permanenter medialer Präsenz fühlt sich mancher zum Experten berufen. Allerdings nicht jedem ist klar, wieviel Mühe es kostet, das Niveau eines Meisters zu erreichen. Wahre Meisterschaft fordert ein enormes Maß an Arbeit, Ausdauer und Beharrlichkeit, an Zeit und Disziplin, an Standhaftigkeit und Anstrengung. Und nicht zuletzt verlangt sie durchgestandene Misserfolge und Rückschläge.

Während ich in den Jahren 2005 bis 2007 an der Seite von Michel Magne und Dr. Pascal Magne an der USC Herman Ostrow School of Dentistry unterrichtete, konnte ich in ihrem Streben nach Exzellenz die personifizierte Meisterschaft erleben. Nichts wurde dem Zufall überlassen – angefangen von der Spezialausrüstung, mit der Nullhypothesen getestet wurden, bis hin zu den von talentierten Postdoktoranden durchführten Forschungs- und Entwicklungsarbeiten –, um kontinuierlich Protokolle zu optimieren, mit denen Zahnärztinnen und Zahnärzte weltweit ihren Patienten höchste Behandlungsqualität bieten konnten.

Von Anfang an und über die Jahre hinweg war Pascal mir ein verehrter Mentor und geschätzter Freund, und er wird für mich immer ein ganz besonderer Kollege bleiben. Die Authentizität seines didaktischen Ansatzes, gepaart mit klarer, vernünftiger klinischer Methodik, hat eine neue Generation von adhäsiv arbeitenden restaurativen Zahnärzten dazu inspiriert, die Wissenschaft und Kunst der Zahnheilkunde weiter zu erforschen, um die Natur getreu und biologisch adäquat nachzubilden.

Als Universalgelehrter in jeder Hinsicht hat Dr. Pascal Magne den Weitblick eines perioralen Architekten, der gleichzeitig wie ein intraoraler Ingenieur arbeitet. Den göttlichen Plan unseres Schöpfers zu bestaunen, zu bewundern und zu entschlüsseln, sind seine Leidenschaft, seine Berufung, sein Beruf geworden.

Zugleich liegt die Einfachheit und Tiefe seiner Botschaft darin, die Harmonie der dentalen Strukturen zu beobachten und zu bewahren und nur dann, wenn es absolut notwendig ist, mit größtmöglicher Rücksicht auf die natürliche Substanz zu intervenieren, indem biomimetische Prinzipien und analoge restaurative Biomaterialien in einer Weise zusammengeführt werden, dass die gesunde Restsubstanz erhalten und gestärkt wird.

Panaghiotis K. Bazos, DDS, MClinDent Orthodontics, MOrth RCS (Edin.)

Gründer und Geschäftsführer, Bio-Emulation, private Praxis für restaurative Zahnmedizin und Kieferorthopädie, Aigio, Griechenland

Los Angeles, 2007

Die biomimetische restaurative Zahnheilkunde hat eine neue Generation vielfältig begabter Zahnärzte und Zahntechniker hervorgebracht, die voller Enthusiasmus an der Weiterentwicklung des Konzeptes arbeiten und versuchen, den natürlichen Zahn als Referenzmodell noch besser zu verstehen. Eine schöne Frucht dieses arbeitsreichen Unterfangens ist die Bio-Emulation-Bewegung. Wenn ein einziges Wort beschreiben kann, was kreative Menschen von anderen unterscheidet, dann ist es Einfachheit: Viele Köpfe, die durch einen gemeinsamen Denkansatz verbunden sind, der es ihnen ermöglicht, kollektive Erfahrungen und implizites Wissen durch freien Austausch von Ideen und Konzepten miteinander zu teilen. Besondere Anerkennung und Dank geht an meinen geschätzten Bio-Emulation-Kollegen und guten Freund Dr. Javier Tapia-Guadix (Madrid, Spanien), eines der anregendsten und tragendsten Mitglieder unserer Gruppe. Seine Kreativität und sein erstaunliches Händchen für 3-D-Computergrafik und faszinierende Animationen können in den Kapiteln 1 und 2 in vollem Umfang bewundert werden.

VORWORT

Die letzten zehn Jahre haben aufregende und faszinierende Entwicklungen in der Zahnmedizin gesehen: Die digital geführte Implantologie, die gesteuerte Geweberegeneration, die Adhäsivtechnik und CAD/CAM-Restaurationen sind zu immer wichtigeren Wachstumsbereichen mit großer Bedeutung in Forschung und Praxis avanciert. Allerdings war dieser Fortschritt bei den zahnmedizinischen Materialien und Techniken auch von einer Flutung des Marktes mit Dentalprodukten begleitet. Zahnärzte und Zahntechniker haben immer häufiger die Qual der Wahl, da die Zahl der Behandlungsmodalitäten und technologischen Hilfsmittel ständig zunimmt. Zudem führen technologische Weiterentwicklungen nicht immer zu einer Vereinfachung von Techniken oder Senkung der Behandlungskosten. Deshalb müssen Umsicht und Klugheit mit den neuen Erkenntnissen und technischen Fortschritten kombiniert werden, wenn es darum geht, das Wohl und die Gesundheit unserer Patienten zu verbessern. In dieser komplexen Situation wird niemand bestreiten, dass kostengünstigere, rationellere Ersatzlösungen für manche der aktuellen Behandlungsansätze wünschenswert sind. Die Lösungen für diese Problematik werden von einer interdisziplinären Wissenschaft der Biomaterialien, der so genannten Biomimetik, geliefert1. Der Ansatz dieser medizinischen Forschungsdisziplin besteht in der Untersuchung der Strukturen und der Physik biologischer „Kompositmaterialien“ und der Entwicklung neuer und besserer Ersatzstoffe. Auch in der Zahnmedizin gewinnt die Biomimetik zunehmend an Bedeutung. In ihrer primären Bedeutung bezieht sich Biomimetik auf die Verwendung von Materialien in einer Weise, die den Prozessen in der Mundhöhle ähnelt, z. B. der Verkalkung eines Weichgewebevorläufers. Sekundäre Bedeutung ist die Nachahmung oder Wiederherstellung der biomechanischen Eigenschaften des ursprünglichen Zahns durch die Restauration. Hierin liegt das Ziel der restaurativen Zahnmedizin.

Mehrere zahnmedizinische Forschungsansätze haben sich aus dem Bestreben entwickelt, orale Strukturen nachzubilden. Das noch junge Konzept wird hauptsächlich auf molekularer Ebene verfolgt, um die Heilung, Reparatur und Regeneration von Weich- und Hartgeweben zu verbessern2,3. Wird der biomimetische Ansatz auf die makrostrukturelle Ebene ausgedehnt, kann er jedoch auch für die restaurative Zahnmedizin innovative Lösungen hervorbringen. Hierbei ist die Wiederherstellung oder Nachahmung der biomechanischen, strukturellen und ästhetischen Integrität von Zähnen das Ziel. Das vorliegende Buch möchte deshalb auf dem biomimetischen Prinzip basierende neue Ansätze für die ästhetische restaurative Zahnheilkunde vorstellen.

Biomimetik beginnt in diesem Kontext mit einem Verständnis der Hartsubstanzen und der mit den Hartsubstanzstrukturen verbundenen Spannungsverteilung innerhalb des gesunden natürlichen Zahns, die im Mittelpunkt des ersten Kapitels dieses Buches stehen. Daran schließt sich ein systematischer Überblick über die wichtigsten Merkmale natürlicher oraler Ästhetik an. Da die primären Ziele der restaurativen Zahnmedizin in der Erhaltung der Vitalität und größtmöglichen Schonung der gesunden Substanz liegen, werden in weiteren Kapiteln ultrakonservative Behandlungsoptionen beschrieben, die einer anspruchsvolleren Behandlung vorausgehen können. Eine Darstellung der semi(in)direkten Restaurationstechniken schließt den ersten Band ab. Diese Techniken kommen in Betracht, wenn direkte Restaurationen problematisch (große Restaurationsvolumina mit zervikalen Rändern im Dentin) und die Kosten für indirekte Restaurationen nicht gerechtfertigt oder für den Patienten einfach nicht tragbar sind.

Im Mittelpunkt des zweiten Bandes steht die Umsetzung des biomimetischen Prinzips in Form von indirekten adhäsiven Keramikrestaurationen im Frontzahnbereich unter Verwendung von (Befestigungs-)Komposit und Keramik. Zunächst wird das breite Indikationsspektrum dieser Restaurationen beschrieben, gefolgt von einer detaillierten Anleitung zur Behandlungsplanung und Diagnostik, die den ersten Schritt jeder Behandlung darstellt. Die vorgestellten Versorgungsoptionen werden über beide Bände hin Schritt für Schritt illustriert, einschließlich Präparation und Abformung, Labor- und CAD/CAM-Verfahren zur Herstellung der Komposit- und Keramikrestaurationen sowie der Eingliederung mittels adhäsiver Befestigungsverfahren. Auch CAD/CAM-Techniken wurden einbezogen, insofern sie relevante Werkzeuge für die Umsetzung des biomimetischen Prinzips darstellen. Der zweite Band endet mit einem Kapitel zur Nachsorge, Pflege und Reparatur adhäsiver Restaurationen.

Dank

Wir dürfen nicht vergessen, dass eine zuverlässig erfolgreiche Restauration auf Teamarbeit beruht. Eine wesentliche Voraussetzung für Teamarbeit ist die Bescheidenheit, andere für besser zu halten als sich selbst. Wir sollten versuchen, einander zu dienen, anstatt zu erwarten, dass wir bedient werden. Ohne die geschätzte Zusammenarbeit mit den im Folgenden genannten Zahnärzten, Zahntechnikern, Fachleuten und Wissenschaftlern, hätte ich dieses Buch nicht schreiben können.

Im Jahr 2003 hatten Dr. Harold Slavkin als Dekan und Dr. Cherilyn Sheets die Idee, mich an die University of Southern California (USC) zu holen, und so begann 2004 meine wunderbare Reise in die Vereinigten Staaten. All die vielen Gastwissenschaftler und Doktoranden an meinem Forschungslabor haben meinen akademischen Alltag ungemein bereichert. Sie waren eine ständige Quelle frischer Luft für mein Leben an der USC. Unsere Forschungsarbeiten wurden nicht zuletzt dank der uneigennützigen Spenden verschiedener Kollegen, insbesondere von Dr. Parto Ghadimi, möglich. Ebenso möchte ich mich bei allen Unternehmen bedanken, die ihre Materialien für Untersuchungen zur Verfügung gestellt haben, ohne Bedingungen daran zu knüpfen.

Eine große Zahl von Dentalkeramikern und zahntechnischen Laboren hat mich sehr inspiriert und auf die eine oder andere Weise unterstützt. Von ihnen gilt mein besonderer Dank Willi Geller, Klaus Müterthies, Claude Sieber, Enrico Steger, Naoki Hayashi, Sascha Hein, August Bruguera, Giuseppe Romeo, Milos Miladinov und Sam Alawie, um nur einige zu nennen.

Die Gründung der Academy of Biomimetic Dentistry mit Dr. David Alleman und der Bio-Emulation Group mit Dr. Panaghiotis Bazos, Javier Tapia Guadix und Gianfranco Politano gehören zu den denkwürdigsten Momenten meiner Reise. Die Mitglieder beider Gruppen haben mich geistig angeregt und meinen kreativen Horizont erweitert.

Als besonderes Glück empfinde ich, dass ich bei Prof. Urs Belser studieren durfte. Sein Unterricht, seine Anleitung und seine stets rückhaltlose Unterstützung waren für mich von unschätzbarem Wert. Ihm verdanke ich Lektionen fürs Leben, er ist mein erster Mentor.

Auch meinem zweiten Mentor, meinem Bruder Michel Magne, bin ich unendlich dankbar. Er hat entscheidende Beiträge zu den Abschnitten über die zahntechnischen Verfahren beigesteuert und für die meisten der in diesem Buch gezeigten Fälle die Keramikrestaurationen geschaffen. Unser brüderlicher Zusammenhalt ist mit einem optimalen adhäsiven Kunststoff-Keramik-Verbund zu vergleichen, der zahlreiche Stürme des Lebens überstanden hat. Auch unsere Synergie ist die einer perfekt verklebten Keramikrestauration: „Michel, fragil wie Keramik, aber stark im Verbund. Pascal, resilient wie Komposit und schön durch Michels Fähigkeiten.“

Ein besonderer Dank gilt Dr. William Douglas, meinem dritten Mentor, ebenso wie Dr. Ralph DeLong, Maria Pintado, Antheunis Versluis und Thomas Korioth von der University of Minnesota für ihre Hilfe und Freundschaft während meines zweijährigen Forschungsaufenthaltes, der meine Promotion ermöglichte. Sie alle haben meinen Blick und mein Verständnis der wissenschaftlichen Forschung im Bereich Biomaterialien und Biomechanik erweitert.

Ein weiterer Dank gilt meinen geschätzten Patienten, die unmittelbaren Anteil an der Entstehung dieses Buches haben, sowie all jenen praktizierenden Zahnärzten, die extrahierte Zähne für die Studien und Abbildungen zur Verfügung gestellt haben.

Danken möchte ich auch William Hartman und dem Team von Quintessence Chicago – Lea Huffman, Sue Zubek und Sue Robinson –, die meine Kreativität bis an ihre Grenzen ausgereizt und das Buch auf die schönste Weise umgesetzt haben. Ein besonderer Gedanke gilt an dieser Stelle Peter Sielaff vom Quintessenz-Verlag Berlin, der maßgeblich an der Herstellung der ersten Ausgabe des Werks beteiligt war, aber leider nicht mehr unter uns weilt.

Schließlich gebührt meinem Herrn und Erlöser Jesus Christus, dem größten und wichtigsten Mentor, der alle meine Projekte durch seine gnädige Liebe möglich gemacht hat, Ehre und Ruhm. Er hat mir in meiner Frau Geibi eine Seelenverwandte geschenkt und in unseren Kindern Erine und Santiago zwei weitere unschätzbare Geschenke gemacht, ohne die nichts von dieser Arbeit möglich gewesen wäre.

Ich wünsche Ihnen viel Freude bei der Lektüre des vorliegenden Buches und der Anwendung seines Inhalts zum Wohle Ihrer Patienten und zur Freude an der biomimetischen restaurativen Zahnheilkunde.

Gott segne Sie!

Literatur

1.Sarikaya M. An introduction to biomimetics: A structural viewpoint. Microsc Res Tech 1994;27:360–375.

2.Slavkin HC. Biomimetics: Replacing body parts is no longer science fiction. J Am Dent Assoc 1996;127:1254–1257.

3.Mann S. The biomimetics of enamel: A paradigm for organized biomaterial synthesis. Ciba Found Symp 1997;205: 261–269.

Pascal Magne

Die vier Elemente ...

1. WISSENSCHAFT.Wissen entsteht durch die Arbeit von Menschen.

Daher kann Wissenschaft fehlerhaft sein. Menschen machen Fehler, und während der vielen Schritte einer wissenschaftlichen Arbeit können sich Ungenauigkeiten summieren. Die Interpretation der Erkenntnisse kann zu breitgefassten Vorhersagewerten führen. Obwohl Wissenschaft unbestreitbar für den Wissenszuwachs notwendig ist, kann sie leicht viel von ihrem Wert verlieren, wenn sie nicht mit gesundem Menschenverstand gepaart wird.

2. ERFAHRUNG.Erfahrung ist IHRE Geschichte.

Sie setzt sich aus praktischem Wissen, aus Fertigkeiten sowie aus Kenntnissen zusammen, die durch direkte Beobachtung, Teilnahme an Ereignissen oder Ausführen einer bestimmten Tätigkeit erworben werden. Erfahrung kann als Teil der Wissenschaft betrachtet werden, wird aber nicht per se als wissenschaftlich akzeptiert, was einen Widerspruch darstellt, da Erfahrung wirklich unbezahlbar ist.

3. GESUNDER MENSCHENVERSTAND.Gesunder Menschenverstand ist Ihnen von Gott mitgegeben.

Gesunder Menschenverstand verleiht die Fähigkeit, gute Entscheidungen zu treffen. Er basiert auf Wissen (wissen, was zu tun ist) und richtigem Ermessen (wissen, wann und wo man es tun sollte) und treibt uns zur weiteren Untersuchung wissenschaftlicher Fakten, die nicht zusammenpassen. Der gesunde Menschenverstand ermöglicht es uns, Situationen so zu betrachten, wie Gott es tut.

Mein Sohn, lass beides nicht aus den Augen: Bewahre Umsicht und Besonnenheit! Dann werden sie dir ein Lebensquell, ein Schmuck für deinen Hals; dann gehst du sicher deinen Weg und stößt mit deinem Fuß nicht an. Sprichwörter 3,21–22

4. DER PATIENT!

Wissenschaft, gesunder Menschenverstand und Erfahrung können zu einem bestimmten therapeutischen Ansatz führen. Der Patient muss jedoch durch seine informierte Einwilligung der Hauptentscheidungsträger sein. Der zeitliche Aufwand, die Kosten, der kulturelle Hintergrund und Anamnese können die gewählte Therapie ausschließen und einen anderen Ansatz erforderlich machen. Die Zwänge und Präferenzen der Patienten müssen stets respektiert werden.

Ich möchte wissen, was Gott denkt ... alles andere sind bloße Details. – Albert Einstein

Wissenschaft, Erfahrung, gesunder Menschenverstand und der Patient

Es steht außer Frage, dass wir in einer sehr intensiven Zeit innerhalb der Geschichte der Menschheit leben. Die Zukunft verspricht alles andere als einfach zu werden. Deshalb ist es um so wichtiger, den Glauben nicht zu verlieren, einen Glauben, der beweisen wird, dass jenes fragile Mosaik, das wir sind (jeder von uns ist ein Stück zerbrochenes Glas), die Kraft hat, sich in ein ewiges Kunstwerk zu verwandeln. In diesem Kontext, der unsere Überzeugungen herausfordert, versuchen wir zugleich, Fachleute auf hohem Niveau zu sein. Und wir müssen eingestehen: In der Zahnmedizin kann die Fülle der verfügbaren Materialien und Techniken unseren „zahnärztlichen Glauben“ durchaus auf die Probe stellen. Als Praktiker, die sich durch die Lawine neuer zahnmedizinischer Produkte, neuer Technologien, widersprüchlicher wissenschaftlicher Veröffentlichungen usw. kämpfen müssen, ist es wichtiger denn je, die eigenen Überzeugungen, Werte und Prinzipien zu prüfen, auf deren Grundlage wir versuchen, adäquate Entscheidungen zu treffen. Vier synergetische Komponenten, beeinflussen die Entscheidung über den optimalen Behandlungsplan:

1. Wissenschaft: Die wissenschaftliche Methode ist a priori ein grundlegendes Verfahren zum Testen von Hypothesen auf verschiedenen Evidenzniveaus (Expertenmeinungen, In-vitro-Tests, klinische Fallberichte, Fallserien, Kohorten- und randomisierte kontrollierte Studien, systematische Übersichten und Meta-Analysen). Leider ist der wissenschaftliche Ansatz jedoch nicht frei von Mängeln. So entsprechen die Rahmenbedingungen wissenschaftlicher Studien nicht immer der klinischen Realität. Aus medizinethischen Gründen ist es nicht möglich, alle klinischen Bedingungen zu standardisieren. Eine Vielzahl von Störfaktoren, wie z. B. der ausführende Wissenschaftler, die Art der klinischen Situation, die Gewohnheiten des Patienten usw., „verderben“ die Ergebnisse. Daher ist eine Bestätigung der Nullhypothese (kein Unterschied zwischen der getesteten Methode oder dem getesteten Material und der Kontrolle) nicht ungewöhnlich, insbesondere in klinischen Studien, die naturgemäß eine große Zahl von Störfaktoren aufweisen. Insofern stellt die kombinierte Untersuchung als numerische Simulation und In-vitro-Test aufgrund der umfangreichen Möglichkeiten zur Vereinheitlichung ein sehr nützliches Forschungsinstrument dar1,2. Leider sind In-vitro-Tests nicht Teil der offiziellen Hierarchie der evidenzbasierten Medizin.

2. Erfahrung: Es hat sich gezeigt, dass der Zahnarzt selbst mit seiner Fähigkeit, einen bestimmten Ansatz zu beherrschen, eine der wichtigsten Variablen in der klinischen Praxis darstellt. Bspw. hat eine Studie zum Carotis-Stenting eindeutig nachgewiesen, dass die Patienten erfahrener Operateure ein geringeres Komplikationsrisiko haben3. Ähnliche Daten gibt es aus In-vitro- und In-vivo-Studien4,5 auch für die Bewährung des adhäsiven Verbundes am Zahn: Zahnärzte, die an vielen Schulungen teilnehmen und ihre diesbezüglichen Fähigkeiten entwickeln, werden tendenziell zuverlässigere Ergebnisse erzielen6.

3. Gesunder Menschenverstand: Es ist offensichtlich, dass viele Maßnahmen und Arbeitsschritte in der täglichen Praxis nicht durch qualitativ hochwertige Evidenz gestützt sind. Die wissenschaftliche Gemeinschaft selbst erkennt die Existenz eines „sprechenden Schweins“ an7. Dieses Bild soll verdeutlichen, dass der gesunde Menschenverstand auch innerhalb der wissenschaftlichen Methodik gehört werden muss: Ein Forscher will einem Schwein das Sprechen beigebracht haben. Zunächst denken sie: „Was für ein Unfug!“. Er aber führt Ihnen das Schwein vor. Das Schwein sagt: „Guten Abend“, und liefert Ihnen anschließend eine Zusammenfassung der Nachrichten des Tages. Der Forscher geht davon aus, dass sie durch diese Vorführung überzeugt sind und nicht unbedingt nach einer zufälligen Stichprobe von 100 Schweinen verlangen, um die Sache zu validieren. Entscheidend ist, dass ein beliebiges Schwein sprechen kann. Nach ähnlichem Muster kann man sich fragen, ob eine randomisierte kontrollierte Studie notwendig ist, um nachzuweisen, dass die Verwendung eines Fallschirms den Tod im Fall eines Flugzeugabsturzes verhindert8. Diese Beispiele zeigen, dass in jeder Situation auch der gesunde Menschenverstand eingesetzt werden muss. Es ist nicht ungewöhnlich, dass widersprüchliche wissenschaftliche Daten vorliegen, die dann eine Entscheidung auf der Grundlage von Erfahrung und gesundem Menschenverstand erfordern.

4. Der Patient: Schließlich ist es durchaus möglich, dass Wissenschaft, Erfahrung und gesunder Menschenverstand dieselbe therapeutische Lösung nahelegen, während es dem Patienten aus wirtschaftlichen oder zeitlichen Gründen unmöglich ist, sich für diese Lösung zu entscheiden. Dann müssen eine Segmentierung der Behandlung oder kostengünstigere Alternativen überlegt werden, die nicht unbedingt der vom Behandlungsteam vorgeschlagenen Ideallösung entsprechen.

Alle in diesem Buch gezeigten Patientinnen und Patienten wurde unter Berücksichtigung dieser VIER Elemente behandelt.

Literatur

1.Korioth TW, Versluis A. Modeling the mechanical behavior of the jaws and their related structures by finite element (FE) analysis. Crit Rev Oral Biol Med 1997;8:90–104.

2.Magne P, Versluis A, Douglas WH. Rationalization of incisor shape: Experimental-numerical analysis. J Prosthet Dent 1999;81:345–355.

3.Calvet D, Mas JL, Algra A, et al. Carotid Stenting Trialists’ Collaboration. Carotid stenting: Is there an operator effect? A pooled analysis from the carotid stenting trialists’ collaboration. Stroke 2014;45:527–532.

4.Unlu N, Gunal S, Ulker M, Ozer F, Blatz MB. Influence of operator experience on in vitro bond strength of dentin adhesives. J Adhes Dent 2012;14:223–227.

5.Kemoli AM, van Amerongen WE, Opinya G. Influence of the experience of operator and assistant on the survival rate of proximal ART restorations: Two-year results. Eur Arch Paediatr Dent 2009;10:227–232.

6.Bouillaguet S, Degrange M, Cattani M, Godin C, Meyer JM. Bonding to dentin achieved by general practitioners. Schweiz Monatsschr Zahnmed 2002;112:1006–1011.

7.Bandolier, “Evidence based thinking about health care.” On knowledge and pigs (editorial). http://www.bandolier.org.uk/band44/b44-1.html.

8.Verkamp J. Why we should stop proving a parachute works in a RCT. Eur Arch Paediatr Dent 2010;11:216.

Dr. Magne, ich danke Ihnen dafür, dass Sie die nächste Generation von Zahnärzten zu erstklassiger Behandlungsqualität und hochwertiger Arbeit befähigen. Ich bewundere ihre Arbeit als Zahnarzt!Ein Patient

GALERIE

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Der gesunde Zahn und das Prinzip der Biomimetik

Mimetik in der Wissenschaft setzt ein Modell voraus, das reproduziert oder kopiert wird – eine Referenz. Wenn wir als Zahnärzte verlorengegangene Hartsubstanz ersetzen wollen, müssen wir uns daher auf eine sinnvolle Referenz einigen. Diese Referenz sollte für den gesamten Berufsstand gelten und zeitlos konstant sein. Ist sie einmal gefunden, können geeignete Forschungsansätze, gültige Konzepte und sinnvolle zahnmedizinische Behandlungspläne konzipiert, ausgearbeitet und umgesetzt werden. In der restaurativen Zahnmedizin ist der gesunde natürliche Zahn diese unbestrittene Referenz. Überreste der Inka-Kultur in Südamerika, Mumien in Ägypten1 oder auch Funde aus der Steinzeit2 bezeugen: Die ursprüngliche Anzahl, Größe und Form der Zähne hat sich nicht verändert. Während die Formen der Zahnerkrankungen (Infektionen, Abnutzung, Parafunktionen) vom Wandel unserer Lebensweisen und -stile beeinflusst werden, ist die ursprüngliche Struktur von Zahnschmelz und Dentin heute offenbar noch dieselbe wie vor 5 000 oder 6 000 Jahren. Bevor die Konzepte der restaurativen Zahnmedizin im Einzelnen besprochen werden, lohnt es sich daher zunächst, die wunderbare Form und Gestalt der natürlichen Zähne zu erkunden und zu verstehen.

1.1 Biologie, Mechanik, Funktion, Ästhetik

Die Physiologie gesunder Zähne ergibt sich aus dem engen und ausgewogenen Zusammenspiel biologischer, mechanischer und funktioneller Aspekte (Abb. 1-1a). Ästhetik sollte nicht die treibende Kraft der Behandlung sein, sondern ein Resultat dieses Zusammenspiels, „die Kirsche auf der Sahne“. Dominierendes Element in dieser Gleichung ist die Biologie, und alle Anstrengungen sollten auf die Erhaltung der Zahnvitalität gerichtet sein. Endodontisch behandelte Zähne – gleichgültig wie gut sie restauriert werden – haben verglichen mit vitalen Zähnen immer eine schlechtere Prognose (d. h. ein höheres Frakturrisiko)3.

ABB. 1-1Physiologie des Zahns.(a) Zähne erfüllen ihren Zweck als Ergebnis eines komplizierten physiologischen Puzzles aus Biologie, Mechanik, Funktion und Ästhetik. (b bis h) Fallbeispiel: Der Zahn 21 war nach einem Zahnunfall, der die beiden oberen mittleren Schneidezähne betraf, frakturiert (b). Das Zahnfragment wurde geborgen (c). Die Vitalität war infolge der Pulpaexposition gefährdet (d). Nach direkter Überkappung unter Kofferdam wurde das Fragment wieder mit der Restsubstanz verklebt (siehe Abb. 3-24). Das eine Woche postoperativ aufgenommene Bild zeigt eine günstige Entwicklung (e). Einen Monat später ist offensichtlich, dass der nicht frakturierte Zahn 11 eine Pulpaschädigung erlitten hat (f). Nach erfolgter Wurzelkanalbehandlung konnte die starke organische Verfärbung durch ein internes Bleaching („Walking-Bleach-Technik“, siehe Abb. 3-17 bis 3-19) vollständig entfernt werden. (Die Wurzelkanalbehandlung war aufgrund der Symptome und des Röntgenbefundes indiziert.) Der Zahn wurde etwas stärker aufgehellt, um ein zu erwartendes anfängliches Rezidiv der Verfärbung zu kompensieren (g). Die postoperative Ansicht nach 5 Jahren zeigt ein stabiles Behandlungsresultat (h). (Genehmigter Nachdruck der Bilder b bis g aus Magne und Magne4.)

Besonders gut lassen sich die komplexen Wechselwirkungen zwischen Biologie, Funktion/Mechanik und Ästhetik an Zahnunfällen, wie dem in Abbildung 1-1 dargestellten, verdeutlichen. Die Verletzung hat entweder mechanische (Beteiligung des Hartgewebes) oder biologische Konsequenzen (Beteiligung der Pulpa). In beiden Fällen ergeben sich Folgen für die Ästhetik und die Funktion. Zum Glück für die Patientin in Abbildung 1-1konnte das Problem mit einfachen und kostengünstigen Ansätzen gelöst werden4(Wiederbefestigung des Fragments am Zahn 21, Wurzelkanalbehandlung und internes Bleaching des Zahns 11), die in Kapitel 3 ausführlich erörtert werden. Gleichzeitig stellt sich die hypothetische Frage, wie das Ergebnis ausgefallen wäre, wenn die Zähne 11 und 21 nicht gesund, sondern bereits mit zwei starren, hochfesten Vollkronen (VMK oder verstärkte Keramik) versorgt gewesen wären. Aus Bruchlastversuchen wissen wir, dass starre und unelastische Kronen tiefere Frakturen (mit Wurzelbeteiligung) begünstigen, deren Behandlung problematisch ist5. Einen Gegensatz hierzu bildet das Verhalten der fragileren zementierten Jacketkronen, die leichter brechen, aber die natürliche Restsubstanz intakt lassen. Sicher ist eine partielle Kronenfraktur vorzuziehen, insbesondere wenn man bedenkt, dass die Absorption der Impulsenergie durch das Brechen der Krone weitere biologische Schäden oder Wurzelverletzungen verhindern kann.

Angesichts dieser Überlegungen sollten wir uns die Frage stellen: Ist es besser, die Entwicklung von festen und steifen Restaurationen voranzutreiben oder Behandlungsmodalitäten zu finden, die das biomechanische Verhalten des gesunden Zahns reproduzieren? Fester und steifer ist nicht immer auch besser!

1.2 Nachgiebigkeit und Flexibilität

Die Überlegungen im vorigen Abschnitt rufen nach einem starken natürlichen Schutzmechanismus, wie er in natürlichen Zähnen wirksam ist und mit den Begriffen Flexibilität oder Nachgiebigkeit beschrieben werden kann. Diese entscheidende Eigenschaft6 ermöglicht es einer Struktur, einwirkende Kräfte zu absorbieren. Mit anderen Worten: Eine nachgiebige Struktur dämpft einen plötzlichen Stoß ab, indem sie sich unter der einwirkenden Kraft elastisch verformt. Bis zu einem gewissen Punkt gilt, dass eine Struktur umso besser ist, je nachgiebiger sie sich verhält. Der intakte natürliche Zahn hat die Fähigkeit, Energie zu absorbieren, ohne bleibenden Schaden zu nehmen, und kann als Referenz angesehen werden. Schlüsselelement hierbei ist das Dentin. Die Abbildungen 1-2a und 1-2b zeigen die genaue Form und Struktur dieser entscheidenden „elastischen“ Komponente. Stokes und Hood5 haben gezeigt, dass ein gesunder Frontzahn bei einem Aufprall verglichen mit Zähnen, die mit unterschiedlichen Kronentypen versorgt wurden, die meiste Stoßenergie absorbieren kann. Obwohl Energieabsorption durch Elastizität einen Schutz vor Stoßkräften bietet, kann übermäßige Elastizität eine Struktur auch zu „weich“ für ihre Aufgabe machen (Abb. 1-2b, links). Der Dentinkern allein wäre ohne seine starre Außenhülle aus Schmelz funktionell unzureichend (Abb. 1-2b, rechts).

ABB. 1-2Elastische Komponente des Zahns. Die Schmelzhülle eines extrahierten Zahns wurde durch eine spezielle Säurebehandlung entfernt, um den Dentinkern darzustellen (a, links: Ansicht von approximal, rechts: Ansicht von palatinal). Das verlorene Schmelzvolumen wird in b deutlich. Der Dentinkern allein ist schwach, und die Verformung unter einer Kraft von 5 kg kann bereits mit bloßem Auge wahrgenommen werden (b, unten links, die Verformung an der Schneidekante beträgt etwa 0,5 mm). Die Schmelzhülle verleiht der Zahnkrone ausreichend Widerstand gegen Verformungen (b, unten rechts, Schneidekantenverlagerung etwa 0,1 mm). (Die Grafiken unter b wurden mit der Finite-Elemente-Methode erstellt. Siehe auch Abb. 1-5 bis 1-9).

In dieser Hinsicht stellen natürliche Zähne durch die optimale Kombination von Schmelz und Dentin den idealen, unübertroffenen Kompromiss zwischen Steifigkeit, Festigkeit und Elastizität dar. Restaurative Maßnahmen und Veränderungen der strukturellen Integrität von Zähnen können dieses feine Gleichgewicht leicht stören.

1.3 Grundzüge der Frontzahnform

Von distal nach mesial in der Zahnreihe fortschreitend zeigt sich das Phänomen der „Inzisivierung“ (Abb. 1-3a), das heißt, die Okklusalfläche geht allmählich in die Inzisalkante über, deren offensichtliche Funktion das Schneiden ist.

ABB. 1-3Grundlagen der Frontzahnanatomie. Vergleichende Ansichten der Funktionsflächen extrahierter Zähne. Die Palatinalflächen der Eckzähne (a: Mitte, b: rechts sowie c und d) weisen weiche, konvexe Krümmungen auf – im Gegensatz zur Konkavität der Schneidezähne (b, links).

An den Schneidezähnen fällt ein deutlicher Gegensatz zwischen der labialen und der lingualen/palatinalen Oberflächenmorphologie auf. Die labiale Kronenfläche hat glatte und überwiegend konvexe Konturen, während die linguale Oberfläche eine tiefe Konkavität zeigt, die sich vertikal vom Cingulum bis zur Inzisalkante und mesiodistal zwischen den beiden prominenten approximalen Randleisten erstreckt (Abb. 1-3b). Damit ist die Inzisalkante wie eine Klinge gestaltet, was eine wichtige Rolle für die Schneideleistung des Zahns spielt. In manchen Fällen gliedern vertikale Schmelzleisten, die vom Cingulum ausgehen, die palatinale Konkavität. Der Teil der Zahnkrone, der die dünnste Schmelzschicht aufweist, nämlich das zervikale Drittel, ist auch der Bereich mit der größten Dentinstärke. Umgekehrt wird der dicke inzisale Schmelz nur von einer dünnen Dentinwand gestützt.

Die Morphologie der Eckzähne weicht hiervon ab. Das Cingulum ist groß und die Randleisten sind stark ausgeprägt. Diese konvexen Strukturen fließen ineinander, sodass sich keine größere palatinale/linguale Konkavität findet (Abb. 1-3b bis 1-3d). Die Bedeutung der konvexen Form wird später im Kontext der spezifischen funktionellen Anforderungen dieses strategisch besonders wichtigen Zahns erläutert.

Detaillierte Erläuterungen zur Form der Frontzähne finden sich in Kapitel 2 (Abschnitt 2.2, Kriterium 8, Abb. 2-5 und 2-6).

1.4 Grundzüge der Seitenzahnform

Während die Frontzähne die Hauptrolle beim Abbeißen und Zerteilen der Nahrung spielen, besteht die Hauptfunktion der Backenzähne in der Zerkleinerung in feine Stückchen, die geschluckt und verdaut werden können.

Das Zerkauen der Nahrung wird durch das Ineinandergreifen der antagonistischen Höcker ermöglicht (Abb. 1-4a). Die kräftige Makrostruktur der einzelnen Höcker wird durch die Konturen der Schmelzoberflächen bestimmt, die sowohl an der Außenfläche als auch an der Schmelz-Dentin-Grenze (SDG) abgerundet und konvex sind7. Demgegenüber sind die Konturen des Dentins konkav und scharfkantig. Während die Schmelzoberfläche durch tiefe Fissuren und Fossae gekennzeichnet ist, ist die Oberfläche des Dentins an der SDG eher glatt (Abb. 1-4b bis 1-4d).

ABB. 1-4Grundlagen der Seitenzahnanatomie.(a, links) Antagonistische Seitenzähne in maximaler Interkuspidation. Die Stützhöcker sind sowohl im Ober- als auch im Unterkiefer durch eine dickere, bikonvexe Schmelzschicht gekennzeichnet (gestrichelte Pfeile), während das Dentin unter den Höckerspitzen scharfe Kanten aufweist. (a, rechts) Oberkieferprämolar: Ansicht von approximal (oben) und bukkal (unten) mit und ohne Schmelz. (b und c) Unterkiefermolar: 3-D-Rekonstruktion von µCT-Daten. Man beachte die breite Basis der Stützhöcker und die konkaven Höckerabhänge des Dentins. (d) Oberkieferprämolar: 3-D-Rekonstruktion von µCT-Daten. (Genehmigter Nachdruck der Bilder in Teil a der Abbildung aus Bazos und Magne7.)

Detaillierte Erläuterungen zur Form der Seitenzähne finden sich in Kapitel 2 (Abschnitt 2.4, Abb. 2-21 bis 2-28).

1.5 Mechanik und Geometrie der Zähne in Funktion

Ausgehend von einem gründlichen Verständnis der Spannungen und damit verbundenen Verformungen während der Kaufunktion lassen sich unsere Restaurationstechniken optimieren. Unter den zahlreichen mechanischen Prüfverfahren ist vor allem der Bruchlastversuch populär. Die Erkenntnisse solcher „konventionellen“ Festigkeitsuntersuchungen sind jedoch trotz aller Sorgfalt beim Testen nicht aussagekräftig genug, um strukturelle Integrität unter realer Funktion garantieren zu können. Denn Strukturen mit kleinen Rissen oder rissähnlichen Fehlern, wie Zähne oder Restaurationen aus bestimmten Dentalwerkstoffen, versagen häufig bereits bei Belastungen weit unterhalb der In-vitro-Bruchlast. Moderne Prüfkonzepte sollten deshalb auch nichtdestruktive Methoden umfassen. Die Auswirkungen funktioneller Belastung lassen sich bspw. über die Verformung der Krone quantitativ bestimmen, die unter Kausimulation mit aufgeklebten Dehnungsmessstreifen (Abb. 1-5a) gemessen oder mit numerischen Verfahren wie der Finite-Elemente-Methode (FEM, siehe Abb. 1-5b bis 1-8) berechnet werden kann8–12.

ABB. 1-5Nichtdestruktive mechanische Prüfmethoden.(a) Probe (intakter mittlerer oberer Schneidezahn), versehen mit Dehnungsmessstreifen zum Vergleich der Dehnung in der Konkavität mit derjenigen im Cingulum. Die Messstreifen wurden parallel zur Längsachse des Zahns ausgerichtet. (b) Numerische Modellierung von Frontzähnen als vestibuloorale Querschnitte für die Analyse mit der 2-D-Finite-Elemente-Methode* (Genehmigter Nachdruck von Bild a aus Magne et al.12)

*Bei der FEM wird eine große Struktur in eine Reihe kleiner, einfach geformter Elemente (b) zerlegt, für die sich die individuelle Verformung (Dehnungen und Spannungen) leichter berechnen lassen als für die Gesamtstruktur als Ganzes. Durch Berechnung der Verformung aller kleinen Teilelemente wird die Verformung der Gesamtstruktur rekonstruiert. Die FEM hat sich zu einem anerkannten Modellierungswerkzeug entwickelt, und neue Trends in der Forschung kombinieren den experimentellen Ansatz mit Dehnungsmessstreifen und die FEM-Analyse in einer Untersuchung.

Mechanik und Funktion der Frontzähne

Die genannten Untersuchungsverfahren müssen die Konfiguration der Belastung von Frontzähnen reproduzieren. Diese ist gut bekannt und kann folgendermaßen beschrieben werden kann:

Infolge der Position und Anordnung der Frontzähne wirken mechanische Belastungen primär in vestibulooraler Richtung auf die Zähne. Die approximalen Kontakte halten mesiodistale Belastungen zurück (Abb. 1-5b).

Die horizontale Komponente normaler Belastungen beim Beißen führt zur Biegung, die die größte Herausforderung für den Schneidezahn darstellt.

Bei numerischen Analysen muss die Fließbedingung beachtet werden, die der Bruchprognose zugrunde liegt. Normalerweise wird hierzu das Von-Mises-Kriterium verwendet. Dieses eignet sich für Materialien, bei denen die Fließspannungen unter einachsigem Zug und Druck gleich sind. Schmelz und Dentin sind jedoch spröde Materialien, die eine höhere Druck- als Zugfestigkeit besitzen.

Das jeweilige Verhältnis zwischen Druck- und Zugfestigkeit wird in einem angepassten Bruchkriterium für spröde Materialien berücksichtigt, dem modifizierten Von-Mises-Kriterium13. Die Abbildungen 1-6a und 1-6b zeigen die Spannungsverteilung (bei Verwendung des modifizierten Von-Mises-Kriteriums) im oberen mittleren Schneidezahn während der Protrusion.

Die initiale Schneidezahnführung, die in der Interkuspidationsposition beginnt (Abb. 1-6a), verursacht bei Verwendung des modifizierten Von-Mises-Kriteriums keine signifikanten Spannungen. In dieser Position wird der größte Teil der Zahnkrone durch Druckkräfte belastet. Ihre Verformung ist minimal. Wird jedoch im Verlauf der Protrusion eine Kante-auf-Kante-Position (Abb. 1-6b) erreicht, kommt es zu einer deutlichen Konzentration von Zugspannungen entlang der palatinalen Konkavität. Aber selbst in dieser ungünstigen Position, die mit maximalen Biegemomenten einhergeht, treten weder am Cingulum noch in der labialen Hälfte des Zahns schädigende Spannungen auf.

Es ist sinnvoll, die Spannungen in einer Wirkrichtung zu analysieren, in der die x- und y-Komponenten der Spannungen ihre Maximalwerte haben. Eine entsprechende Analyse (Abbildungen 1-6a und 1-6b, jeweils rechts oben) zeigt die Hauptspannungen in Form von Druck- und Zugbereichen. Bei maximaler Biegung lassen sich am intakten Oberkieferschneidezahn zwei Bereiche unterscheiden: Die palatinale Hälfte des Zahns zeigt positive Spannungswerte, das heißt sie unterliegt Zugspannungen, während die labiale Hälfte Druckspannungen aufweist. Auch hier fallen die geringen Zugspannungen im Bereich des Cingulums auf.

An Unterkieferschneidezähnen finden sich in vergleichbaren Belastungssituationen umgekehrte Spannungsmuster (Abb. 1-7a). Wie bei den oberen Schneidezähnen führt die initiale Führung aus der Interkuspidationsposition heraus nicht zu signifikanten modifizierten Von-Mises-Spannungen. In dieser Position wirken nur Druckkräfte auf die Unterkieferkrone (Abb. 1-7b). Im Verlauf der Protrusion in eine inzisalere Kontaktposition bauen sich Zugspannungen entlang der Labialfläche auf (Abb. 1-7c). Das Spannungsmuster ist dem des Antagonisten genau entgegengesetzt. Aufgrund der günstigen labialen Form der unteren Schneidezähne, die durch flache bis konvexe Konturen gekennzeichnet ist (Abb. 1-7a), bleibt das Niveau der labialen Zugspannungen moderat und weniger kritisch als in der palatinalen Konkavität des Antagonisten (Abb. 1-6b und 1-7c).

Wie bereits dargelegt, sind die Form (d. h. Geometrie) und die Funktion wesentliche Determinanten der Spannungsverteilung.

So finden sich in den Kronenbereichen mit starker konvexer Krümmung, das heißt im Cingulum und im zervikalen Teil der Labialfläche, geringe Spannungen. Hieraus ist zu folgern, dass sich Spannungen entlang konvexer Flächen mit dicker Schmelzschicht weniger konzentrieren als in konkaven Bereichen, die dazu neigen, Spannungen zu akkumulieren12.

Diese Schlussfolgerung wird durch Abbildung 1-8a gestützt, die den Einfluss der Schmelzgeometrie und -dicke anhand einer Modifikation des palatinalen Profils eines Schneidezahns zeigt. Konturen dieser Art können etwa im Bereich der approximalen Randleisten oder eines vertikalen Schmelzlobus, der sich vom Cingulum des Schneidezahns aus koronal erstreckt, vorliegen (Abb. 1-8b). Der zusätzliche Schmelz führt offenbar zu einer besseren Balance und Spannungsverteilung. Ausgehend hiervon ist darüber hinaus anzunehmen, dass an den vollständig konvexen Lingual-/Palatinalflächen, wie sie bei Eckzähnen zu finden sind, mäßige Spannungskonzentrationen auftreten. Eckzähne haben stark gekrümmte Labialflächen, die Druckkräften besser standhalten können. Mit seinem akzentuierten bikonvexen Profil (vestibulooraler Schnitt) weist der Eckzahn eine nahezu perfekte konvexe Form auf, die eine besonders günstige mechanische Konfiguration darstellt.

ABB. 1-8Spannungsverteilung bei unterschiedlicher Schmelzdicke und -geometrie.(a) Ursprünglicher vestibulooraler Querschnitt (links) verglichen mit einem modifizierten Schneidezahn mit verdicktem, konvexem palatinalem Schmelz (rechts). Die Spannungen in der Palatinalfläche sind beim modifizierten Zahn geringer. Zwei kleinere noch vorhandene palatinale Spannungsspitzen korrespondieren mit den konkaven Stellen, die den verdickten Schmelz begrenzen.* (b) Das modifizierte Finite-Elemente-Modell in a reproduziert die Geometrie der markanten distalen Randleiste des Zahns. Dieses typische Merkmal der Schneidezähne trägt zu einer besseren Spannungsverteilung im Bereich der Palatinalfläche bei.

*Die Lastbedingung (50 N palatinale Last) wurde so gewählt, dass sie einer realen Belastungssituation entspricht. Zu beachten ist, dass die hier gezogenen Schlussfolgerungen nur auf diesem einen Lastfall basieren. Die Schlussfolgerungen bezüglich des Einflusses der Form (konvex versus konkav) und des Aufbaus (Schmelz-Dentin-Verteilung) auf die Spannungsverteilung sind jedoch allgemeingültig und hängen nicht von der genauen Belastungsrichtung oder -höhe ab.

Eine unregelmäßige Oberflächenanatomie, wie die der Lingual-/Palatinalflächen der Schneidezähne (Abb. 1-8b), führt demgegenüber zu einem anderen Muster der Spannungsverteilung. Die Spannungskonzentration entlang der palatinalen Konkavität kontrastiert mit den geringen Spannungen, die in Bereichen mit geradem oder konvexem Profil beobachtet werden (d. h. sowohl im Bereich der zervikalen Hälfte der Lingual-/Palatinalflächen als auch der Labialflächen). Daraus lassen sich die folgenden Schlussfolgerungen ziehen12:

Die palatinale Konkavität verleiht dem Schneidezahn seine scharfe Schneidekante und Schneidefähigkeit, erweist sich aber auch als ein Bereich, in dem sich während der Funktion Spannungen konzentrieren.

Strukturen mit dickem Schmelz, wie das Cingulum und die Randleisten, kompensieren diesen Mangel und sorgen für eine Umverteilung der Spannungen.

Das Cingulum und die Randleisten der oberen Frontzähne sind außerdem wichtige palatinale Stopps, welche die Vertikaldimension der Okklusion (VDO) im Frontzahnbereich sicherstellen.

Mechanik und Funktion der Seitenzähne

Im Gegensatz zu den Frontzähnen verformen sich Höcker unter Belastung nicht einfach nach Art von Kragarmen14. Das Muster der Verformung ist komplex, da zahlreiche Formen der Krafteinleitung (Arbeit, Balance, Schließen) auftreten. Allgemeine Annahmen über die schädliche Wirkung lateraler Belastungen (Rissbildung) wurden sowohl experimentell14,15 als auch klinisch bestätigt16. Die vertikale Belastung des Zahns (Pressen in Richtung seiner Hauptachse) erzeugt dagegen keine schädlichen Spannungskonzentrationen. Eine größere Beanspruchung tritt bei Arbeits- und Balance-Mikrobewegungen auf, die umgekehrte Spannungsmuster erzeugen (2D-Finite-Elemente-Analyse, Abb. 1-9a bis 1-9c). Die Stützhöcker sind im Allgemeinen sowohl bei Arbeits- als auch bei Balancebewegungen gut geschützt (sie sind meist Druckspannungen ausgesetzt), aber der Bereich der Zentralfissur kann besonders bei Nicht-Arbeitsbewegungen stark beansprucht werden. In diesem Fall erweisen sich Schmelzbrücken und -leisten als wesentliche Strukturen für den natürlichen biomechanischen Schutz der Krone (Abb. 1-9d). Folgende Schlussfolgerungen lassen sich hieraus ableiten:

Prominente Stützhöcker verleihen den Prämolaren und Molaren ihre Fähigkeit zum Zerquetschen und Zerreiben der Nahrung, sind aber nachweislich an balanceseitigen Interferenzen beteiligt.

Verdickte Schmelzstrukturen, wie die Cristae obliquae und Randleisten, können diesen Mangel ausgleichen und als Schutz dienen.

Cristae obliquae und Randleisten stellen zudem wichtige okklusale Stopps dar, die für die Positionsstabilität der Seitenzähne sorgen und die Vertikaldimension im Seitenzahnbereich definieren (siehe Kapitel 2, Abb. 2-29).

Eine weitere wichtige Struktur, die zu den natürlichen Schutzmechanismen des Zahns zählt, ist die SDG (siehe nächster Abschnitt). Zu beachten ist ferner, dass okklusale Abnutzung nicht unbedingt zum Verlust der Vertikaldimension führt, da das Wachstum des Alveolarfortsatzes die Abnutzung ohne einen Verlust an Vertikaldimension kompensieren kann.

1.6 Physiologische Rissbildung im Schmelz und die SDG

Die Kombination von zwei Hartsubstanzen mit sehr unterschiedlichen Elastizitätsmodulen erfordert, um langfristig funktionell erfolgreich zu sein, einen komplexen Verbund. Die Spannungsübertragung in einfachen bilaminären Strukturen mit unterschiedlichen Eigenschaften führt in der Regel zu hohen Spannungen an der Grenzfläche17. Wären der Schmelz und das Dentin im Bereich der Funktionsflächen eines Zahns ein solches einfaches Bilaminat, würden im Schmelz beginnende Risse die SDG leicht überschreiten und sich in das Dentin ausbreiten. Die reale Situation ist jedoch eine ganz andere. Obwohl in gealterten Zähnen typischerweise multiple Schmelzrisse vorhanden sind, beeinträchtigen diese nur selten die strukturelle Integrität des Schmelz-Dentin-Komplexes. Die Erklärung hierfür liegt in einem der faszinierendsten Merkmale des natürlichen Zahns: dem komplexen Verbund von Schmelz und Dentin an der SDG (Abb. 1-10a bis 1-10d), die als faserverstärkte Verbindung betrachtet werden kann18.

Die SDG ist eine moderat mineralisierte Schnittstelle zwischen zwei stark mineralisierten Geweben (Schmelz und Dentin). Grobe parallele Kollagenbündel (wahrscheinlich die von-Korff-Fasern des Manteldentins) bilden hier eine robuste Verstärkung, die Schmelzrisse durch plastische Verformung umleiten und abstumpfen kann.

Mittels rasterelektronenmikroskopischer Fraktografie von SDG-Proben wurde gezeigt, dass Risse bei der Propagation durch die SDG in eine andere Bruchebene abgelenkt werden19. Die SDG weist eine wellenförmige Strukturierung in zwei Größenordnungen auf (Abb. 1-10a und 1-10b), die zu einer deutlichen Oberflächenvergrößerung führt und den Verbund zwischen Schmelz und Dentin verstärkt. Diese Strukturierung ist dort am stärksten ausgeprägt, wo die Grenzfläche den größten funktionellen Belastungen ausgesetzt ist20.

Interessanterweise bildet sich die SDG bereits im frühesten Entwicklungsstadium der Zahnkrone, zum Zeitpunkt der beginnenden Mineralisation, und viel früher als eine als solche erkennbare Pulpa (Abb. 1-10e). Diese Reihenfolge ist nicht zufällig: Eine andere Abfolge würde die Entwicklung eines derart komplexen Schmelz-Dentin-Verbundes nicht zulassen. Die Bildung der Zahnkrone sollte vermutlich korrekter als von der SDG ausgehender bidirektionaler Wachstumsprozess betrachtet werden denn als Wachstum aus der Pulpa.

Mit anderen Worten: Die SDG ist das „Zentrum“ des Zahns, nicht die Pulpa.

Aufgrund der inhärenten Sprödigkeit des Zahnschmelzes und der kollagenen Verstärkung der SDG sollten Schmelzrisse als normale Alterungsphänomene betrachtet werden (Abb. 1-10f). Weitere Auswirkungen von Schmelzrissen lassen sich in Finite-Elemente-Modellen sichtbar machen. Dank der SDG werden Spannungen im Schmelz um den Riss herum umverteilt, wodurch eine Spannungskonzentration an der Rissspitze entsteht, während die Zahnoberfläche im Bereich des Risses relativ ruhig bleibt (Abb. 1-10g).

Schmelzrisse sind somit als akzeptables Schmelzmerkmal zu betrachten, und die SDG stellt ein wichtiges Element für die Spannungsübertragung (im Gegensatz zur Spannungskonzentration) und Eindämmung der Risspropagation dar (Abb. 1-10h). Die faszinierenden Eigenschaften der SDG sollten als Vorbild für die Entwicklung neuer Dentinadhäsive dienen, mit denen die biomechanische Integrität der restaurierten Krone wiederhergestellt werden kann.

All diese Beobachtungen zeigen, dass restaurative Maßnahmen die schützenden „Biomechanismen“ nachahmen sollten, die in natürlichen Zähnen zu finden sind (Abb. 1-11). Außerdem führen sie zu der Frage, ob Fissurenkaries tatsächlich durch die schlechte Zugänglichkeit bei der Reinigung oder vielmehr dadurch verursacht wird, dass es sich um einen mechanisch anfälligen Bereich handelt. Eine Hypothese könnte lauten, dass das initiale Ereignis ein Schmelzriss ist, der das Eindringen der Bakterien bis zur SDG ermöglicht (Abb. 1-12). Die große Ähnlichkeit zwischen der Geometrie der höchsten Zugspannungen in Fissuren und der Form von Fissurenkaries ist verblüffend und zeigt, dass die Biomechanik nie unterschätzt werden sollte.

ABB. 1-11Emulation der schützenden „Biomechanismen“ (Randleisten und Schmelzbrücke).(a) Kroneninfraktion in Form eines ausgeprägten Risses unter einer Amalgamrestauration (Basis des distopalatinalen Höckers). (b) Die Restauration (MOD-Kompositinlay mit minimalem Schutz des distopalatinalen Höckers) wurde mit starken Randleisten und einer zentralen Schmelzbrücke modelliert.

ABB. 1-12Fissurenkaries ausgehend von einem mechanischen Defekt?(a) Zahnschnitt in polarisiertem Licht mit kariösem Befall der Hauptfissur. (b) Bei stärkerer Vergrößerung ist in der Mitte der Läsion ein Schmelzriss zu erkennen. War der Riss bereits vor Beginn der Demineralisation vorhanden? (c und d) Die Ähnlichkeit zwischen der Geometrie der maximalen modifizierten Von-Mises-Spannungen in der Hauptfissur (c, hellgrauer Bereich) und dem Bereich der Schmelzdemineralisation (d) ist verblüffend. (Abdruck von a, b und d mit freundlicher Genehmigung von N. Allenspach, Universität Genf.)

1.7 Natürliche Zahnalterung und Schmelzabnutzung

Wie bereits erwähnt, haben Zahnschmelz und Dentin unterschiedliche physikalische Eigenschaften.

Schmelz ist sehr resistent gegen okklusale Abnutzung, aber spröde und fragil. Dentin hingegen ist biegsam und nachgiebig, aber nicht verschleißfest, und es altert, wenn es dem Milieu der Mundhöhle direkt ausgesetzt ist.

Infolge ihrer jeweiligen spezifischen Nachteile wären weder Schmelz noch Dentin per se als Restaurationsmaterialien geeignet. Als „Verbundstruktur“ hingegen verleihen sie dem Zahn einzigartige Eigenschaften21: Die große Härte des Schmelzes schützt das darunter liegende weichere Dentin, während die risshemmende Wirkung des Dentins und die kräftigen Kollagenfasern im Bereich der SDG19 die inhärente Sprödigkeit des Schmelzes ausgleichen. Diese strukturelle und physikalische Wechselbeziehung zwischen einem harten, spröden und einem elastischen Material verleiht dem natürlichen Zahn nicht nur seine ursprüngliche Schönheit, sondern auch die Fähigkeit, Kauvorgängen, thermischen Belastungen und Abnutzungsprozessen ein Leben lang standzuhalten.

Alterung und Abnutzung der Frontzähne

Die ursprüngliche Form und Dicke der Schmelzschale (Abb. 1-13a) scheint so gestaltet zu sein, dass sie die Anforderungen durch Abnutzung und Funktion antizipiert22: Die Bereiche, die der stärksten Abnutzung unterliegen, sind auch die mit der größeren Schmelzdicke, das heißt im Fall der Frontzähne: die Inzisalkanten. Diese „präventive“ Architektur lässt dennoch inzisale Dentinexpositionen durch die physiologische Abnutzung zu (Abb. 1-13b bis 1-13d). Nach demselben Prinzip haben die Seitenzähne, die größeren Kaukräften ausgesetzt sind, einen dickeren Schmelz als die Frontzähne23.

ABB. 1-13Die Jahreszeiten eines Zahnlebens.(a) Frontzähne weisen anfangs typische Mamelons und eine charakteristische Oberflächentextur auf. Diese Elemente verschwinden nach und nach durch die Abnutzung der Zähne. (b bis d) Fortschreitende Schmelzrisse und freiliegendes Dentin gehen mit deutlichen Farbveränderungen einher. (e und f) An stark abgenutzten Zähnen lässt sich die optische Interaktion zwischen Schmelz und Dentin studieren, insbesondere die Verringerung der Lichttransmission im inzisalen Drittel durch den Einfluss des Dentins. Um diese selektive Lichtdurchlässigkeit von Schmelz und Dentin zu reproduzieren, sind ausgefeilte Keramik- oder Komposit-Schichttechniken erforderlich.

Das dynamische Abnutzungsmuster der Inzisalkante muss als Referenz für die Entwicklung neuer Materialien dienen, die in der Lage sein sollten, ähnlich zu altern wie Schmelz und Dentin.

Die natürliche Zahnalterung wirkt sich auch auf die optische Interaktion zwischen Schmelz und Dentin aus (Abb. 1-13e und 1-13f). Wieder ist die Inzisalkante am stärksten von altersbedingten Veränderungen betroffen (siehe auch Kapitel 2, Abb. 2-8).

Altersbedingte Veränderungen des Gebisses gehören zu den größten Herausforderungen der modernen Zahnmedizin. Diese sieht sich einer immer älter werdenden Bevölkerung gegenüber, die auch ihre natürlichen Zähne immer länger behält.

Ein Lächeln kann physische und ästhetische Zeichen von Alterung aufweisen. Zu diesen gehört auch die fortschreitende Abnutzung der Schneidezähne, die in einem Verlust der Schneidezahndominanz und einer unzureichenden Frontzahnführung resultiert, was besondere Herausforderungen für den restaurativen Zahnarzt mit sich bringt. Dieser degenerative Prozess wird von Farbveränderungen infolge von Dentinfreilegung, Schmelzrissen und der so ermöglichten extrinsischen Infiltration begleitet (Abb. 1-14a und 1-14b). Die Zahnaufhellung ist daher zu einem zentralen Aspekt der ästhetischen Zahnmedizin geworden, da ein Bleaching das Aussehen der Zähne kostengünstig verjüngen kann. Allerdings behandelt die ultrakonservative chemische Behandlung nur die kosmetische Komponente eines komplexen Problems.

ABB. 1-14Alterung des Zahnschmelzes.(a und b) Zähne eines 70-jährigen Patienten mit deutlicher altersbedingter Abnutzung, Rissbildung und extrinsischer Infiltration des Schmelzes an beiden mittleren Schneidezähnen. Durch eine Zahnaufhellung lassen sich die biomechanischen Probleme nicht beheben. Vielmehr muss die Kronensteifigkeit durch geeignete restaurative Maßnahmen wiederhergestellt werden (detaillierte Darstellung dieser Behandlung in Kapitel 5, Abb. 5-3, und Kapitel 6, Abb. 6-45). (c bis e) Detailaufnahmen extrahierter mittlerer Schneidezähne. Unter tangentialer Beleuchtung werden der Verlust der Zahnform und Oberflächentextur sowie die palatinal-inzisale Abnutzung sichtbar.

Im Rahmen des physiologischen Alterungsprozesses nimmt die ursprüngliche Schmelzdicke allmählich ab (Abb. 1-14c bis 1-14e). Daher sollten die farblichen und kosmetischen Probleme im Zusammenhang mit der Zahnalterung nicht die einzige Sorge des Zahnarztes sein8. Wie bereits dargelegt, verleiht das Dentin dem Zahn Nachgiebigkeit und Elastizität, während die Schmelzhülle seine Steifigkeit und Festigkeit gewährleistet. Die erhöhte Verformbarkeit abgenutzter Zähnen kann mit funktionellen und mechanischen Problemen einhergehen. Eine adäquate einheitliche Dicke des labialen Schmelzes ist für die gleichmäßige Verteilung funktioneller Belastungen im Frontzahnbereich von zentraler Bedeutung12.

Durch Kombination der Ergebnisse verschiedener Studien können aussagekräftige Erkenntnisse über die Auswirkungen verschiedener Formen von Hartsubstanzverlust auf die Verformbarkeit der Frontzahnkronen gewonnen werden10–12. So wirken sich fortgeschrittener labialer Schmelzverlust oder endodontische Zugangskavitäten stärker auf die Kronensteifigkeit aus als eine approximale Schmelzreduktion oder ausgedehnte Klasse-III-Präparation (Abb. 1-15a). Dünner, gealterter labialer Schmelz kann zu hohen Spannungskonzentrationen während der Kaufunktion führen. Grund hierfür sind Oberflächenrisse, wie sie typischerweise an gealterten Zähnen auftreten. Die entscheidende Bedeutung der Schmelzschale für die Spannungsverteilung im Zahn wurde sowohl in Versuchsanordnungen mit Dehnungsmessstreifen als auch durch Finite-Elemente-Modelle nachgewiesen (Abb. 1-15b und 1-15c)10-12. Ein vollständiger Verlust des labialen Schmelzes hat negative Folgen für den palatinalen Restschmelz. Umgekehrt hat ein Verlust von palatinalem Schmelz deutliche Auswirkungen auf den noch vorhandenen labialen Schmelz.