Birdgirl - Mya-Rose Craig - E-Book

Birdgirl E-Book

Mya-Rose Craig

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Beschreibung

Wie uns die Natur durch schwere Zeiten helfen kann: Das berührende Memoir einer besonderen jungen Frau. Mya-Rose ist neun, als ihre Mutter versucht, sich das Leben zu nehmen. Die Diagnose: bipolare Störung. Nichts scheint zu helfen. Bis der Vater, ein begeisterter Vogelkundler, die entscheidende Idee hat: Mya-Rose und ihre Eltern packen die Ferngläser ein und machen sich auf nach Südamerika, um die Harpye zu finden, den stärksten Greifvogel der Welt. Ihre Reise, die nicht die einzige bleiben wird, ist voller Abenteuer und Hindernisse. Doch die Natur und die Vögel geben der Familie Halt und Kraft. Für Mya-Rose ist es der Start in ein außergewöhnliches Leben.

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Seitenzahl: 447

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Mya-Rose Craig

Birdgirl

Meine Familie, die Natur und ich

 

Aus dem Englischen von Andrea Fischer

 

 

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Die Vögel wissen nicht, dass sie beobachtet werden, sie nicken mir nicht zu, wenn sie über mich hinwegfliegen. Aber ihre einfache Anwesenheit hat mir mehr als nur Freundschaft geschenkt. Ich fühle ihre Kraft, ihre Unabhängigkeit. Sie verteidigen ihre Familie mit einer unerschütterlichen Loyalität. Wenn meine eigene Familie litt, machten wir uns auf den Weg über die Hügel, mit nichts als einem Fernglas in der Hand. Ich schwang mich mit ihnen auf in den Himmel, und als ich wieder zurückkam, konnte ich dem neuen Tag trotzen.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Mya-Rose Craig, geb. 2002, liebt Vögel. Denn das Vogelbeobachten hat ihre Familie gerettet. Diese Leidenschaft teilt sie mit der Welt: Ihr Blog birdgirluk.com hat über 5,5 Millionen Aufrufe und als Person of Colour mit Wurzeln in Großbritannien und Bangladesh setzt sich Mya-Rose mit ihrer Organisation Black2Nature für Naturschutz und Diversität ein. Zusammen mit Greta Thunberg macht sie ihre Stimme auf Klimakonferenzen stark für den Erhalt unseres Planeten. Mit 17 wurde ihr für ihr Engagement die Ehrendoktorwürde der Bristol University verliehen.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Vorwort

Ich weiß nicht, seit wann ich von Vögeln besessen bin, aber es kommt mir vor, als sei es schon immer so gewesen. Wenn man bedenkt, dass ich neun Tage alt war, als meine Eltern mich zum ersten Mal zum Vogelbeobachten mitgenommen haben, ist leicht zu verstehen, warum das so ist. Bei uns zu Hause stehen hohe Regale voller Bücher mit Titeln wie Würger, Nektarvögel, Spechte oder Nachtschwalben, wunderschön illustrierte Führer zu Vögeln in jedem Winkel der Welt. Noch bevor ich lesen konnte, habe ich mir diese dicken Bände auf den Schoß gehievt, um mir die Bilder anzusehen. Ich habe die Umrisse der Vögel mit den Fingerspitzen nachgezeichnet, mir vorgestellt, die weichen Federn eines Kolibris zu streicheln, eine Lärmpitta im dunklen Regenwald zu entdecken oder mich im Glanz des goldenen Gefieders eines Gelbnacken-Laubenvogels zu sonnen. Wenn wir später lange Beobachtungstouren planten, die unsere Familie in die entlegensten Regionen der Welt führen sollten, kopierte ich die Vogelzeichnungen in meine Notizbücher.

Als ich zur Welt kam, waren Mum, Dad und meine ältere Schwester Ayesha schon eine bekannte Birding-Familie. Jung und cool hoben sie sich von den weißen Männern mittleren Alters in wetterfester Kleidung ab, die die Szene damals prägten. Meine Mutter stach noch in anderer Hinsicht heraus – sie ist eine Sylheti-Bangladescherin, und der Kreis der Vogelbeobachter war nicht gerade bekannt für seine ethnische Diversität. Wir waren so »skurril«, dass wir 2010 in einer Dokumentation der BBC gezeigt wurden.

Vögel lockten mich nach draußen in die britische Natur und weiter, und so bereiste ich mit meinen Eltern alle sieben Kontinente, wo ich nicht nur seltene, prächtige neue Vogelarten kennenlernte, sondern auch die Auswirkungen der Zerstörung von Lebensräumen auf Menschen und Tiere erlebte. Ich wurde Zeugin davon, wie Klimawandel, Kahlschlag, Palmölplantagen und anderer Raubbau an der Natur die biologische Vielfalt bedrohen.

Die Entwicklung zur Umweltaktivistin war für mich ein logischer Schritt. Und meinen ersten Schritt in die Welt des politischen Aktivismus machte ich, wenig überraschend, wegen eines Vogels: wegen des winzigen Löffelstrandläufers, dessen Bestand durch den Verlust seines Lebensraums in den sibirischen Brutgebieten stark zurückgegangen war. Die globale Erwärmung war ein Problem, ebenso die Eindeichung großer Feuchtgebiete in China und Südkorea, wo der Vogel auf seiner Zugroute gen Süden eine Pause einlegt, um zu fressen. Auch die Fallen sind eine große Bedrohung für den Strandläufer; katastrophalerweise wird er oft zum Beifang bei der Jagd auf größere Watvögel, die von der armen Bevölkerung in den Überwinterungsgebieten Myanmars und im südlichen Bangladesch wegen ihres Fleisches geschätzt werden. Dieser Mikrokosmos zeigt, mit welchen Umweltproblemen die Welt konfrontiert ist.

Im Sommer 2011 brachte der weltweite Bestand von 200 Löffelstrandläufern weniger Gewicht auf die Waage als ein Schwan. Wissenschaftler prognostizierten, dass die Art ohne Eingreifen des Menschen höchstwahrscheinlich innerhalb von zehn Jahren ausgestorben sein würde. In dem verzweifelten Versuch, eine Reservepopulation zu schaffen – eine Arche sozusagen –, brachten Umweltschützer 13 junge Strandläufer aus der sibirischen Tundra ins Slimbridge Wetland Centre in Gloucestershire, nur eine Autostunde von unserem Haus in der Nähe von Bristol entfernt. Im darauffolgenden Jahr wurde die Population in Gefangenschaft noch vergrößert: 14 Eier wurden aus Russland geholt und erfolgreich in Slimbridge ausgebrütet. Ich erinnere mich noch daran, wie ich die Nachricht hörte; es war ein außergewöhnlicher und ergreifender Moment, der zeigte, was erreicht werden kann, wenn Umweltschutzorganisationen weltweit zusammenarbeiten.

Die Erkenntnisse, die bei der Aufzucht der gefangenen Vögel gesammelt werden konnten, führten zur Entwicklung eines Programms namens »Head-Starting«. Dabei sammeln Naturschützer die Eier und bebrüten sie künstlich. Die Küken werden mit der Hand aufgezogen, bis sie gefahrlos freigelassen werden können. Mit Hilfe dieses Programms hat die Zahl der jährlich überlebenden Vogeljungen um 20 Prozent zugenommen. Seit 2015 wurden 180 Strandläufer in die Wildnis entlassen. Heute schätzt man den Bestand auf rund 1000 Vögel.

Als Mitglied der internationalen Projektgruppe hatte ich 2015 das große Glück, die Insel Sonadia in Bangladesch zu besuchen, um dort an einer Zählung der Zugvögel teilzunehmen. Jeden Winter verlässt der Strandläufer seine abgelegenen Brutgebiete im äußersten Nordosten Russlands und macht sich auf eine 8000 Kilometer lange Reise entlang der Küsten von Russland, China und Südkorea hinunter nach Myanmar und Bangladesch. Der kleine Vogel misst nur 14 Zentimeter; sein ungewöhnlicher, löffelartig geformter Schnabel verleiht ihm sein einzigartiges Aussehen und ist das Werkzeug, mit dem er den Schlick in den Tümpeln an Stränden, Wattflächen und anderen seichten Feuchtgebieten nach kleinen wirbellosen Tieren durchsucht, von denen er sich ernährt.

Als Mum und ich in ein Motorboot zu den Wattgebieten von Sonadia Island stiegen, war nur eins wichtig: Hatte sich der Bestand der winterlichen Besucher vergrößert oder verringert? Es herrschte drückende Hitze, die flirrend über dem Land lag. War das ein Löffelstrandläufer dort in der Ferne? Ja! Wir erkannten seinen ungewöhnlich geformten Schnabel, den flaumigen weißen Unterbauch und die braun-grau gesprenkelten Flügel. Es war ergreifend, den Vogel in Fleisch und Federn zu sehen und zu wissen, dass er seine lange Reise erfolgreich hinter sich gebracht hatte. Das war ein Projekt, hinter dem ich stehen konnte. Ein Jahr zuvor hatte ich mit meinem Blog »Birdgirl« begonnen, in dem ich die vielen Vögel vorstellte, die ich auf der ganzen Welt gesehen hatte; nun ergänzte ich einen Bericht über die Notlage des Löffelstrandläufers. Tatsächlich war mir meine wachsende Social-Media-Reichweite in Dhaka von Nutzen, denn ich konnte im bangladeschischen Fernsehen und in überregionalen Zeitungen ebenso wie in der britischen Diaspora auf die missliche Lage des Vogels aufmerksam machen. So begann mein Engagement für den Naturschutz. Ich möchte zeigen, wie sich Klimaschäden und menschengemachte Zerstörung auf die Natur auswirken, auf Vögel, das Land und die Menschen.

Beim Klimawandel sind die Vögel quasi der Kanarienvogel im Bergbau. Die internationalen Bemühungen zur Rettung des Löffelstrandläufers werden umso brisanter, wenn man bedenkt, dass die prognostizierte Erhöhung des Meeresspiegels um einen Meter bis 2050 nicht nur Sonadia Island, sondern fast 20 Prozent der Fläche von Bangladesch betreffen würde – eines der am dichtesten besiedelten Länder der Erde. Eine Katastrophe für den Strandläufer wie für den Menschen gleichermaßen. Doch wenn wir den Vogel retten, retten wir auch alle Säugetiere, Fische und Insekten, die sich den gefährdeten Lebensraum mit ihm teilen.

 

Ich war 18 Jahre alt, als ich 2020 eingeladen wurde, zusammen mit der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg auf der Kundgebung Youth Strike 4 Climate in Bristol aufzutreten. Die Feuchtgebiete von Sonadia Island waren schon weit weg, in der Zwischenzeit hatte ich meine Botschaft und mein Engagement weiterentwickelt. Naturschutzprojekte für Vögel und Wildtiere haben natürlich weiterhin Priorität für mich, doch in Bristol sprach ich vor 40000 Menschen über jene, die keine Stimme haben: indigene Völker, die im Namen des Naturschutzes aus dem Land ihrer Vorfahren verdrängt werden. Ich machte auf die Ungerechtigkeiten aufmerksam, die der Globale Süden im Namen von Klimaschutzaktionen hinnehmen muss. Ich habe meine eigene Stimme gefunden, und obwohl ich das Gefühl habe, dass dieser Weg sich viel länger anfühlt als nur ein paar Jahre, ist es eine Reise, die ich fortsetzen möchte.

Privat gestaltete sich unser Familienleben vor dem Hintergrund meiner wachsenden öffentlichen Arbeit schwierig. Den Großteil meiner frühen Kindheit hatte meine Mutter mit einer schweren psychischen Erkrankung gekämpft, war zwischen Depression und Manie geschwankt, während mein Vater verzweifelt nach Möglichkeiten gesucht hatte, ihr zu helfen. Die Vögel sind unsere Rettung gewesen, eine Art von Therapie. Immer wieder holten sie uns mit ihrem aufblitzenden bunten Gefieder aus unserem Alltag, brachten uns zum Staunen und gaben uns die Kraft, uns allen Herausforderungen zu stellen.

Das Erwachsenwerden war nicht einfach für mich. In diesem Buch möchte ich gern zeigen, wie alles mit den Vögeln seinen Anfang nahm. Nichts ist mit dem Moment vergleichbar, wenn der gesuchte Vogel endlich erscheint. Vielleicht hat man stundenlang auf ihn gewartet, in den trüben Himmel gestarrt, vom Wind bis auf die Knochen durchgefroren oder durchgeschwitzt in der stickigen Hitze des Dschungels, geplagt von nervtötenden Moskitos, die man nicht vertreiben kann, weil das den Vogel verscheuchen würde. Dieser einmalige Moment ist ein großes »Wow!«, ein Staunen mit offenem Mund. Er ist ein Fest, eine unglaubliche Freude. Es gibt nichts Schöneres, als diese Minuten mit Gleichgesinnten zu teilen. Es ist, als hätte die eigene Fußballmannschaft gerade den Siegtreffer im Endspiel erzielt. Schulterklopfen, Jubel, breites Grinsen, Lachen. Und dieses Gefühl bleibt, den ganzen Tag über, am nächsten Tag und noch länger. Der Anblick eines Vogels, der entgegen jeder Wahrscheinlichkeit von seiner Zugroute abkommt und kurze Zeit in einem fremden Land verbringt, ist ein einzigartiges Erlebnis, ein Nirwana, ein wunderschönes Geschöpf, das sich für immer ins Gedächtnis brennt.

1. KapitelMeine Familie und andere Vögel

Goldfasan

 

Als Bewohner dichtbewaldeter Bergregionen im Westen Chinas wurde der Goldfasan seit langem wegen seiner Schönheit geschätzt, was dazu führte, dass er in die ganze Welt exportiert wurde. Rund um den Globus – in Großbritannien, den USA, Kanada, Mexiko, verschiedenen europäischen wie südamerikanischen Ländern, auch in Australien und Neuseeland – gibt es Bestände, die sich aus entflogenen oder freigelassenen Exemplaren entwickelt haben. Aufzeichnungen aus dem Jahr 1740 legen nahe, dass der Goldfasan die erste Fasanenart in Nordamerika war. Manche Historiker vertreten die Auffassung, dass George Washington mehrere Exemplare auf seinem Landsitz Mount Vernon hielt.

 

Meine Eltern lernten sich in einem Underground-Club in Bristol namens The Tube kennen, eine Hommage an die psychedelischen sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Es war im März 1995, das Kondenswasser tropfte von den Wänden des Kellergewölbes, als sie im Gedränge tanzender Körper Blickkontakt aufnahmen. Der Boden vibrierte zum Bass von »Venus« von Shocking Blue, die Lichtshow – ein Konzertmitschnitt in Endlosschleife – warf flackernde Bilder auf ihre Gesichter. In einer abgeschiedenen Ecke des Clubs fingen sie an zu flirten. Mein Vater Chris stellte sich meiner Mutter Helena als Elektriker vor, der in einer Hühnerfabrik arbeitet. Inmitten seiner Freunde mit Universitätsabschluss hielt sie ihn für einen Rohdiamanten, der noch geschliffen werden musste. Erst viel später fand sie heraus, dass sein Spruch eine unbekannte Textzeile aus einem Lied der Band The Specials war. Songtexte zu zitieren, ist eine Angewohnheit, die mein Vater bis heute pflegt. Er war 27 Jahre alt und hatte Erfahrungen mit Jagdsabotage, Tierschutz und Umweltschutz; vor allem aber war er Vogelbeobachter.

Wenn ich Dad frage, was ihn zu Mum hingezogen hat, sagt er: »Hast du mal ein Foto von ihr aus dieser Zeit gesehen?« Es gibt viele Bilder von meiner Mutter in ihrer Jugend: schwarzäugig und schlank mit sehr langen, sehr glatten schwarzen Haaren. Wir haben auch Fotos von meinem Dad, auf denen er oft einen schwarzen Rollkragenpulli und ein schwarzes Sakko trägt. Sein hübsches Gesicht wurde von langen blonden Haaren eingerahmt. Nicht nur sein Aussehen sprach meine Mutter an, ihr gefielen auch sein Selbstbewusstsein und die Art, wie er ihr beim Flirten in die Augen sah.

Auch wenn bei der ersten Begegnung die Funken sprühten, haben meine Eltern keinen leichten Weg gehabt.

 

Seit ihrer Jugend kämpft meine Mutter mit einer psychischen Erkrankung, doch erst mit Mitte 40 wurde bei ihr offiziell eine bipolare Störung diagnostiziert. Mit 15 Jahren hatte sie zum ersten Mal eine Überdosis Tabletten genommen, und als sie später die Universität besuchte, ging es ihr richtig schlecht. Manische und depressive Phasen wechselten sich ab. Manchmal ging sie wochenlang jeden Abend tanzen, dann wieder blieb sie tagelang im Bett liegen.

In einer ihrer manischen Phasen lernte sie ihren ersten Mann kennen; in der Hochphase einer weiteren heiratete sie ihn heimlich in Sheffield.

Als Kind einer ziemlich strengen muslimischen Familie hatte Mum ihre Unabhängigkeit an der Uni anfangs sehr genossen, doch die Mischung aus neu gefundener Freiheit und Manie war Gift für sie. Sie hörte gar nicht mehr auf zu feiern. Anders als viele andere Bangladescher legte mein Großvater großen Wert auf Bildung und schickte alle seine fünf Kinder, darunter drei Töchter, auf weiterführende Schulen. Er wünschte sich, dass Mum erfolgreich war, aber ebenso wollte er, dass sie einen »geeigneten« Mann heiratete. Das hieß: eine arrangierte Ehe. Wie viele muslimische Mädchen hatte Mum mit den unterschiedlichen Kulturen zu kämpfen. Am Ende ihres ersten Jahres an der Uni schlug sich das auf ihre Noten nieder. Außerdem hatte sie sich in einen Engländer verliebt, und ihre Manie war in eine schwere Depression übergegangen.

In ihrem zweiten Studienjahr redete Mum sich ein, von der Uni geworfen zu werden und dann heiraten zu müssen. Voller Verzweiflung nahm sie eine Handvoll Tabletten und fiel in einen tiefen Schlaf, aus dem sie nicht geweckt werden konnte. Ihr wurde der Magen ausgepumpt, und sie erholte sich so weit, dass sie heimlich mit dem Engländer durchbrannte und ihn heiratete.

Als ihre Eltern das erfuhren, regten sie sich natürlich furchtbar auf, doch es war zu spät. Meine Mutter brach ihr Mathematik- und Philosophiestudium ab, um es mit Rechtswissenschaften zu versuchen. Als sie merkte, dass sie mit meiner Schwester Ayesha schwanger war, meldete sie sich an einem örtlichen College an und holte zwei A-Levels nach (in Jura und Politik). Anschließend stellte sie sich persönlich – bewaffnet mit guten Zeugnissen und einem Baby – bei 50 Anwaltskanzleien vor, bis sie eine Stelle als Anwaltsgehilfin ergatterte. Dann schrieb sie sich für Jura ein. Dieser kurze Abriss zeigt, wie meine Mutter ist, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Sie lässt nicht eher locker, bis sie bekommt, was sie will. Ob sie in dieser Zeit manisch war? Mit Sicherheit.

Als ihr klarwurde, dass ihre Heirat ein Fehler gewesen war, war sie mitten im Jurastudium. Sie ging zu ihren Eltern zurück, fest entschlossen, als alleinerziehende Mutter für Ayesha und sich selbst zu sorgen.

1994 zog sie mit meiner vierjährigen Schwester bei meinen Großeltern aus und nahm sich eine Wohnung in Clifton, einem angesagten Stadtteil auf der anderen Seite von Bristol. Der Vollzeitjob, das abendliche Lernen und die Betreuung ihrer kleinen Tochter schienen ihr nichts auszumachen. Sie hing weiter in Clubs ab; sie hatte manische Energie, und ihre Eltern wohnten nah genug, um sich um das Kind zu kümmern.

Als Mum meinen Vater kennenlernte, quälte sie sich mit ihren Stimmungen. Regelmäßig wurde sie von der ausgelassenen Partylöwin zur tief in Depressionen versunkenen einsamen Wölfin.

Als Dad in das Leben meiner Mutter trat, ahnte sie nicht, dass er ihr eine Welt jenseits der Wände eines düsteren, verschwitzten Nachtclubs eröffnen würde. Sie sollte mit Kreaturen in Berührung kommen, die ihre Beziehung zur Natur für immer verändern würden.

Doch das war später; jetzt, in diesem unterirdischen Club, hatten Mums Freundinnen von der seltsamen Leidenschaft des jungen Mannes für die Vogelbeobachtung gehört. »Sei vorsichtig!«, sagten sie zu ihr. »Chris ist ein Twitcher!« Mum hatte natürlich keine Ahnung, was ein Twitcher war (sie dachte, es sei ein Slangausdruck für einen Drogenabhängigen, doch zumindest in ihren Augen entpuppte es sich als etwas viel Schlimmeres). Die Offenbarung läutete zwar nicht das Ende der Beziehung ein, doch Mum machte Dad sofort klar, dass er seinem Hobby allein würde nachgehen müssen. »Ich bin Bangla. Wir beobachten keine Vögel!«, erklärte sie ihm.

 

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass die Leben meiner Eltern unterschiedlicher nicht hätten sein können.

Meine bangladeschische Mutter wurde in Bristol geboren und wuchs dort auf. Beschäftigungen an der »frischen Luft«, wie Vögelbeobachten, Bergsteigen, Wandern oder Spazierengehen, kamen in ihrer Kindheit nicht vor.

1955 war ihr Vater, ein Sylheti-Bengale, nach Großbritannien immigriert. Mein nanabhai war damals 19 Jahre alt und hatte keinen Penny in der Tasche. Er kellnerte in einem gutgehenden indischen Restaurant in Oxford, wo es von wohlhabenden Studierenden nur so wimmelte. Als er bereit war, sein eigenes Glück zu versuchen, entschied er sich für Bristol, eine Stadt mit ebenso gutsituierten jungen Leuten, in der es noch kein indisches Restaurant gab. Drei Jahre später eröffnete mein Großvater das Taj Mahal, das erste indische Lokal im Südwesten Großbritanniens.

1961 kehrte er nach Ostbengalen zurück, um meine Großmutter zu heiraten, meine nanu. Sie hatten sich vor der Hochzeit nicht kennengelernt, aber kamen als Mann und Frau nach England zurück. Lediglich mit einem dünnen Baumwollsari und einer Strickjacke bekleidet, traf nanu in einem der kältesten Winter ein, die es jemals gegeben hatte. Es lag hoher Schnee.

An westlichen Maßstäben gemessen, führten meine Großeltern ein ziemlich traditionelles muslimisches Leben, doch für südasiatische Begriffe war ihr Haushalt liberal. Die Bildung ihrer Töchter lag ihnen am Herzen, ermutigt durch Indira Ghandis Besuch der Badminton School in Bristol in den dreißiger Jahren. Dieser Bildungshunger war noch in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts ungewöhnlich für bengalische Familien. Mein Großvater stand im Morgengrauen auf, um die Einkäufe auf dem Großmarkt zu erledigen, und arbeitete von früh bis spät im Restaurant. Alle fünf Kinder schickte er auf eine Privatschule, denn ihm war klar, wie wichtig akademischer Erfolg für Immigranten war. Nur zu gut kannte er die bengalische Community in East London, wo die Söhne mit 15 Jahren von der Schule abgingen, um im Familienbetrieb mitzuarbeiten, und die Töchter mit 13 Jahren zurück nach Bangladesch geschickt wurden, um einen passenden Mann zu finden. Es war kein leichtes Leben für meine Großeltern; die feindselige politische Landschaft, in die ihre Kinder geboren wurden, setzte ihren Träumen und Zielen Grenzen.

In den 1950er Jahren war Rassendiskriminierung noch nicht verboten. In den Fenstern von Pensionen, Pubs und Mietwohnungen hingen Schilder mit Aufschriften wie »Schwarze, Iren und Hunde verboten«. Es kam durchaus vor, dass Rassisten am Wochenende das Restaurant betraten und meinen Großvater verhöhnten, um eine Schlägerei anzuzetteln. Doch nanabhai ging lieber auf Kundgebungen, um gegen Rassismus zu protestieren, als sich mit den Fäusten zu wehren. Ich habe ein Foto von ihm, da nimmt er 1963 am Marsch des Bristol Bus Boycott teil. Es fällt schwer, zu glauben, dass ein Unternehmen – in diesem Fall die Bristol Bus Company – sich weigern konnte, schwarze oder asiatische Menschen einzustellen. Die Bevölkerung schloss sich zusammen und boykottierte die Busse, bis diese Unternehmenspolitik aufgegeben wurde. Man geht davon aus, dass der Boykott die Verabschiedung des Race Relations Act im Jahre 1965 vorangetrieben hat, der Rassismus in der Öffentlichkeit unter Strafe stellte. Ein Jahr später wurde das Gesetz um das Verbot von Diskriminierung am Arbeitsplatz und im Wohnungswesen erweitert.

Ende der siebziger Jahre marschierten Mitglieder der National Front, einer ultrarechten faschistischen Partei, am Haus meiner Großeltern vorbei und riefen: »If you’re white, you’re all right« – Wenn du weiß bist, bist du richtig. Die Familie hatte große Angst, die Kinder wurden angewiesen, sich von den Fenstern fernzuhalten. Vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen und des öffentlichen Kampfs meines nanabhai gegen bigotte Intoleranz entwickelte sich das politische Bewusstsein meiner Mutter und meiner Tanten. Schon in früher Jugend wurden sie lautstarke Gegnerinnen der südafrikanischen Apartheidpolitik, die alle nicht Weißen unterdrückte.

Als Mum schließlich ihren Abschluss als Anwältin machte, nutzte sie ihre Erfahrungen, um auf rassistische Vorurteile in ihrer Branche aufmerksam zu machen. 1996 trat sie in ihre Kanzlei ein, als eine von nur zwei nicht weißen Mitarbeitern. In den folgenden Jahren setzte sie sich für die ethnische Vielfalt im Unternehmen ein. Vorher waren Bewerbungen aussortiert worden, wenn der Bewerber oder die Bewerberin kein erstklassiges Examen von einer Eliteuni vorweisen konnte oder einen »komischen« Namen hatte. In der Kanzlei wimmelte es von weißen Männern im Anzug. Mum stellte Anwaltsgehilf:innen jeglicher Herkunft ein und konnte den Teilhabern beweisen, dass hervorragende Leistungen im Beruf nicht von der Hautfarbe oder dem Universitätsnamen abhängig sind.

*

Dad wurde 1968 in Rainhill, Merseyside, geboren. Sein Vater arbeitete im Labor von Imperial Chemical Industries (ICI), damals der größte Arbeitgeber im Nordwesten. Gebildet und sportlich, wie mein Großvater war, war er ein Allroundtalent. Meine Großmutter stammte aus dem Arbeitermilieu und war nicht so selbstbewusst, was ihre akademischen Fähigkeiten anging, aber durchaus klug genug, eine Oberschule zu besuchen. Danach arbeitete sie eine Zeitlang für eine Versicherungsgesellschaft, aber gab, als sie schwanger wurde, wie ihre Altersgenossinnen ihre Stelle auf, um Hausfrau zu werden. Dads jüngere Schwester Penny liebte Pferde und lange Spaziergänge mit der Familie, während Dad lieber mit sich alleine war.

Von klein an fühlte er sich draußen wohler als drinnen. Die Familie besaß einen großen Garten mit einem annähernd zwei Meter hohen Zahn. Über den kletterte Dad, um in den nahegelegenen Wald zu gehen. Im Garten hatte er ein Vogelhäuschen und einen Nistkasten aufgestellt, der jedoch leer blieb, abgesehen von dem Jahr, in dem ein männlicher Zaunkönig tagelang sein kuppelförmiges Nest darin baute, das dann aber vom Weibchen zurückgewiesen wurde.

Zu seinem siebten Geburtstag bekam Dad ein Buch geschenkt, mit dem man die Vögel Europas bestimmen konnte, und identifizierte gleich den ersten Flachsfinken im Vorgarten der Nachbarn. Seine Leidenschaft fürs Vogelbeobachten war geboren.

Durch die Campingurlaube der Familie im Lake District, in Wales und im Südwesten Englands war die Natur Teil von Dads Kindheit und Jugend geworden, so wie es zu der meiner Mutter gehörte, an politischen Kundgebungen teilzunehmen.

Als Dad zehn Jahre alt war, zog er mit seinen Eltern ins nördliche Yorkshire, wo er seine Liebe zur Natur voll ausleben konnte. An den Wochenenden wanderte die Familie durchs Moor, bestieg die eindrucksvollen Sandsteinfelsen der Wainstones oder die unverwechselbare halbkegelförmige Spitze des Roseberry Topping, die einen weiten Blick über die Cleveland Plains bietet. Tagesausflüge an die malerische Küste von Yorkshire zwischen Runswick Bay und Staithes führten die Familie zu Buchten, Stränden und Fischerdörfern, die an den schroffen Klippen hingen. Dad griff oft nach dem Fernglas und richtete es auf der Suche nach Vögeln auf Moore, Wälder, Felder, Bergrücken, Flüsse und Seen. Die Beschreibungen aus dem Vogelführer kannte er auswendig.

Schnell kamen neue Vögel hinzu. Dad beobachtete das Schottische Moorhuhn, allgegenwärtig in der Heidelandschaft mit seinen schwirrenden Flügeln und seinem Ruf »Go-bäk, bäk-bäk-bäk«, wenn es aufsteigt. Es war schwer zu glauben, dass dieser plump aussehende Vogel Geschwindigkeiten von bis zu 115 Kilometern pro Stunde erreichte, wenn er vor einem Raubvogel floh oder, was wahrscheinlicher war, vor Jägern mit Gewehren. Das Schottische Moorhuhn ist als Federwild eingestuft. Jedes Jahr werden im Vereinigten Königreich ungefähr eine halbe Million Moorhühner erlegt. Auch wenn das Moor auf den ersten Blick natürlich wirkt, wird es vielerorts intensiv bewirtschaftet, um den Bestand der Moorhühner zu vergrößern. Andere Tiere, die eine Gefahr für sie darstellen könnten, werden hingegen ausgerottet. In manchen Gegenden werden sogar Raubvögel gesetzeswidrig bejagt.

Dad sah die klugen, sommerlich goldgelb gefiederten Goldregenpfeifer, die ihr »Düh« auf kleinen Erhebungen in der Heide flöteten.

An der Küste kreisten Eissturmvögel auf steifen Flügeln über den Klippen. Der Eissturmvogel trägt den wissenschaftlichen Namen »Fulmarus«, eine Zusammensetzung aus den altisländischen Wörtern für »faul« (also »übel riechend«) und »Möwe«, mit der der Vogel Ähnlichkeit aufweist. Der unschuldige Blick aus den weit auseinanderstehenden Augen verrät nicht, dass sie eine stinkende Flüssigkeit aus dem Schnabel auf alles und jeden schleudern, der ihren Nistplätzen inmitten der Kolonien kreischender Dreizehenmöwen auf den Steilfelsen zu nahe kommt.

Im Alter von zehn Jahren erstellte Dad handschriftlich seine erste Vogelliste: 89 gesichtete Arten! Doch erst bei einem Familienurlaub auf Korfu wurde sein ganzer Ehrgeiz geweckt. Dort sah und bestimmte er so viele Arten, von denen er bis dahin nur geträumt hatte: die Samtkopf-Grasmücke mit den roten Augen, die kobaltfarbene Blaumerle und die Rötelschwalbe, die direkt auf dem Hotelbalkon nistete und auf den ersten Blick eine Kreuzung aus Mehlschwalbe und einer gemeinen Schwalbe zu sein schien, sich bei genauerem Hinsehen jedoch sehr deutlich von beiden unterschied. Es war eine aufregende Reise für meinen Vater, eine völlig andersartige, aufregende Erfahrung. Neue Vögel erweiterten sein Repertoire, und seine Leidenschaft für das Beobachten von Vögeln wurde so groß, dass sie jede freie Minute einnahm.

 

Bevor meine Mutter und meine Schwester meinen Vater kennenlernten, hatten sie keinerlei Interesse an Vögeln, genauso wenig wie an der freien Natur. Als Bangladescherin zweiter Generation, die in Bristol aufgewachsen war, hatte Mum sich immer als Großstadtpflanze gesehen. Vogelbeobachtung beschränkte sich in ihrer Kindheit darauf, den Tauben zuzusehen, wenn die Familie in den Park ging, um Cricket zu spielen, oder wenn Mum bei Ausflügen ans Meer Möwen vertrieb, die von ihren Pommes frites naschen wollten (heute gibt sie allerdings zu, dass sie die kleinen Spatzen in ihrem Garten niedlich fand, die sich einfanden, wenn meine nanu die Reisreste verfütterte).

Als Mum schließlich begriff, was es bedeutete, mit einem Vogelbeobachter zusammen zu sein, war es schon zu spät: Sie hatte sich verliebt. Dennoch wollte sie meinen Vater immer noch nicht auf seinen frühmorgendlichen Touren begleiten, wohin auch immer der Pager-Alarm der Vogelbeobachter ihn schickte. Sie malte sich aus, dass er stundenlang im Regen stand, nur um einen einzigen Vogel zu sehen, der von seinem üblichen Kurs abgekommen war. Und damit lag sie durchaus richtig.

Am Wochenende nahm Dad Ayesha manchmal mit zum Chew Valley Lake oder in die nahegelegenen Hügel. Ihr allererster gemeinsamer Ausflug führte sie zum Cheddar-Stausee, wo sie ein Thorshühnchen sehen wollten, einen kleinen, vom Wind herangetragenen grauweißen Watvogel mit schwarzer Maske. Er brütet in der arktischen Tundra und verbringt den Rest des Jahres draußen auf dem Meer. Wenn ein Exemplar also zufällig auf einem Stausee im britischen Inland auftauchte, musste es sehr zahm sein, da es noch nie zuvor auf einen Menschen getroffen war. Ayesha verliebte sich in den kleinen Vogel, der sich wie ein Kreisel auf der Wasseroberfläche drehte und im Schlamm wühlte, um wirbellose Tiere aufzuspüren.

Irgendwann fühlte Mum sich von ihrer Tochter und ihrem neuen Freund ein wenig ausgeschlossen und alleingelassen. Deshalb willigte sie ein, beim nächsten Abenteuer dabei zu sein. »Ich komme mit. Aber nur ein Mal, damit ich weiß, um was es überhaupt geht.«

Die erste Familientour fand an einem kalten Märztag im Jahr 1997 statt. Auf der Suche nach einer Riesentafelente ging es zum Welney Wetland Centre in Norfolk. Diese amerikanische Tauchente war noch nie zuvor in Großbritannien gesichtet worden. Der Wecker piepste mitten in der Nacht (noch sechs Monate zuvor wäre Mum zu dieser Uhrzeit vom Feiern zurückgekommen). Es ging also los. Mum schlief auf der gesamten Hinfahrt und nickte sogar im Versteck wieder ein. Der Beobachtungsposten war alles andere als primitiv, es gab sogar einen Teppich und eine Fensterscheibe. Wahrscheinlich der luxuriöseste Posten im ganzen Land, hatte Dad gesagt. Konnte es einen besseren Ort für Mums Premiere geben?

Dad, Ayesha und die anderen Birder, die sich inzwischen in diesem Tempel eingefunden hatten, richteten ihre Ferngläser auf die Feuchtgebiete ringsum, überschwemmte Felder mit großen Wasserflächen, Teil des deutlich größeren Gebiets Ouse Washes, der Überflutungsfläche zwischen den Flüssen Old Bedford und New Bedford. Allmählich wurde Mum ungeduldig. So lief dieses Vogelbeobachten also ab? Wo waren denn die Vögel? Von dieser Riesentafelente war nichts zu sehen. Die drei waren im Dunkeln aufgebrochen und durch das halbe Land gefahren, nur um jetzt stundenlang auf einen morastigen Sumpf zu starren, für nichts und wieder nichts. Vielleicht hatte der Vogel beschlossen, vernünftig zu sein und in seine Heimat nach Nordamerika zurückzufliegen, überlegte Mum laut.

Doch sie irrte sich. Über dem Wasser erschien die Riesentafelente. Ihr kastanienbrauner Kopf mit dem auffällig langen schwarzen Schnabel saß auf einem blassgrauen Körper, der von den schwarzen Federn an Brust und Hinterteil gerahmt wurde. Eine edle Ente inmitten eines Schwarms ihrer fröhlichen europäischen Cousinen, der Tafelenten.

Meine Schwester entdeckte sie zuerst und wies die versammelten Twitcher hilfsbereit darauf hin, die alle erpicht darauf waren, einen Blick auf den seltenen Besucher in unseren Breiten zu erhaschen. Ayesha beschrieb detailliert, wie sich die Riesentafelente inmitten der anderen Enten verhielt, bis auch der Letzte sie gesehen hatte.

Angesteckt von der Aufregung der anderen Beobachter, von Ayeshas Freude, den Vogel als Erste entdeckt zu haben, und von Dads offensichtlichem Stolz, dämmerte es Mum langsam, um was es ging.

Stunden später, mit der Sichtung eines weiteren Vogels, packte diese oft missverstandene, oft mit Besessenheit betriebene Freizeitbeschäftigung dann auch Mum.

Auf dem Heimweg hatte Dad nämlich beschlossen, einen Zwischenstopp einzulegen, um einen in Norfolk ansässigen Vogel zu suchen: den Goldfasan. Er stammte zwar aus den Bergen Zentralchinas, hatte sich aber in Großbritannien etabliert, nachdem er in Jagdrevieren ausgesetzt worden war. Der Goldfasan ist selten und äußerst scheu, so dass er selbst für einen erfahrenen Birder wie meinen Vater schwer zu finden ist.

Die Sonne ging bereits hinter dem Horizont unter, als die drei in Wayland Wood ankamen; Ayesha erinnert sich daran, dass trockenes Laub auf dem Boden knisterte, die Luft kalt und still war und ein Muntjakhirsch in der näheren Entfernung seine bellenden Laute von sich gab. Jetzt ging es nicht mehr so sehr darum, Mum von den Vorzügen der Vogelbeobachtung zu überzeugen, sondern um Dads verzweifelten Wunsch, endlich einen Goldfasan zu finden. Schon ein Dutzend Mal war er nach Wayland Wood gefahren, hatte aber nie Glück gehabt.

Er ging vor, suchte das Unterholz nach einem golden blitzenden Farbfleck ab, doch Ayesha war völlig erschöpft vom frühen Aufstehen und schlurfte mit den Füßen. Nach einer Runde durch den Wald hatte sie keine Lust mehr. Mum auch nicht. Es war unheimlich still. Nur die Blätter knisterten, und Dad war genervt, weil er glaubte, dass sie jedes Lebewesen in der Gegend längst in die Flucht geschlagen hätten, vor allem den scheuen Fasan. Schließlich war er so frustriert, dass er Mum und Ayesha zurückließ, um allein weiterzusuchen.

Die beiden warteten auf Dads Rückkehr. Nach einigen Minuten fast völliger Stille knackte es hinter ihnen. Langsam drehte Mum sich um und erblickte ein Wesen, das ihr den Atem raubte.

Der Goldfasan ist ein Spektakel der Primärfarben: Leuchtend gelbe Federn bedecken Kopf und Rücken; der Nacken ist von einem schillernden tiefen Grün, die feuerwehrrote Brust kontrastiert mit dem Blau der Flügel. Getoppt wird dieses Fest der Farben von einem prächtigen Schwanz, doppelt so lang wie der Vogel selbst. Er stolzierte umher auf der Suche nach Beeren und Larven zwischen den Blättern, ohne die fassungslosen Gesichter meiner Mutter und meiner Schwester zu beachten. Ungläubig starrten sie auf dieses Wunder, auf das nun auch noch das Licht der untergehenden Sonne fiel.

Mum hatte den Fasan vor Dad gesehen, das machte diese seltene Begegnung noch kostbarer für sie. Jetzt wollte sie alles. Mum behauptet, dass dieser magische Moment sie zur Vogelbeobachterin machte und dass er auch den Grundstein für die Konkurrenz zwischen meinen Eltern legte, an der sie sich bis heute »erfreuen«.

Voller Ehrgeiz, Dad einzuholen, ging Mum in ganz Großbritannien twitchen, besuchte die Hotspots auf den Shetlands, Fair Isle und den Isles of Scilly. Seine Liebe zu den Vögeln mit Mum zu teilen, katapultierte Dad zu den Anfängen seines Hobbys zurück. Er brachte ihr alles bei, was er über Vogelbestimmung und den Wert geduldigen Wartens wusste, bei welchem Wetter auch immer.

Mit zwölf Jahren war Ayesha schließlich der jüngste Mensch, der den unglaublichen Meilenstein erreichte, 400 Vogelarten im Vereinigten Königreich gesichtet zu haben.

 

Als Dad seiner weißen Mittelklassefamilie eröffnete, dass er seine neue bangladeschische Freundin zusammen mit ihrer sechsjährigen Tochter zu Weihnachten mitbringen würde, zuckte niemand auch nur mit der Wimper.

Bei Mum war es anders; seit früher Jugend führte sie ein Doppelleben, war aus dem Haus geschlichen, um feiern zu gehen, hatte getroffen, wen auch immer sie wollte und egal zu welcher Ethnie er gehörte. Auch wenn meine Großeltern mütterlicherseits keine ultrakonservativen Muslime waren, wurden Partys und Freunde von der Gemeinschaft nicht toleriert – zumindest nicht offiziell. Obwohl Mum zu dem Zeitpunkt, als sie Dad kennenlernte, eine geschiedene alleinerziehende Frau war, konnte sie nicht mit ihm über die Straße gehen – man hätte sie ja zusammen sehen können. Gute bangladeschische Mädchen machten so was nicht. Das ungeschriebene Gesetz allerdings lautete nicht: »Tu das nicht!«, sondern: »Lass dich nicht erwischen!«

Ironischerweise war Mums erster Ehemann auch ein weißer Nichtmoslem gewesen. Mit ihm war sie völlig unerwartet durchgebrannt, so dass ihre Eltern keine Möglichkeit gehabt hatten, Widerspruch zu erheben. Später war er zum Islam übergetreten, was man ihm zugutehielt.

Dad war von Anfang an der Meinung, die Heimlichtuerei sei ungesund; er konnte keinen Sinn darin erkennen, zwei Leben zu führen. Außerdem fand er es sehr verletzend, geheim gehalten zu werden. Hatten seine eigenen Eltern Mum und Ayesha nicht vorbehaltlos in die Familie aufgenommen, nur wenige Monate nachdem sie zusammengekommen waren? Irgendwie verstand er Mums Angst vor ihrer Familie, aber in gewisser Weise war Dad kulturell unbedarft. Er war noch nie mit jemandem aus einem anderen Kulturkreis oder mit einer anderen Religionszugehörigkeit zusammen gewesen. Als er Mums Familie schließlich kennenlernte, hatte er das Gefühl, bei einem Vorstellungsgespräch zu sein.

Weil sich Mums Eltern angekündigt hatten, musste Dad die Wohnung verlassen. Er ging mit seinen Kumpeln auf eine Party. Mum wusste nicht, dass ihre Eltern Gerüchte von Helenas neuem englischem Freund gehört und beschlossen hatten, dass es an der Zeit sei, ihn kennenzulernen. Als Dad zu später Stunde leicht angeduselt zu Mum heimkam, waren ihre Eltern noch da. Geduldig hatten sie auf seine Rückkehr gewartet.

Nachdem er förmliche Fragen zu seiner Ausbildung und seiner Arbeit beantwortet hatte, stellte ihm mein nanabhai die einzig wirklich wichtige Frage: »Werden Sie für meine Enkeltochter sorgen?«

Meine Schwester war fünf Jahre alt, als Dad in ihr Leben trat. Nach ihrer ersten offiziellen Begegnung sagte sie zu Mum: »Ich finde, er sieht gut aus, nur das Piercing mag ich nicht. Er kann dein Freund sein.« (Den Nasenstecker hat er bis heute.) Ayeshas Vater war damals nicht oft da, und Dad sorgte für eine gewisse Struktur.

Zwei Wochen nach dem Zusammentreffen bestanden meine Großeltern darauf, dass Mum und Dad muslimisch heirateten. Niemals hätten sie Mum erlaubt, mit einem »Freund« durch die Stadt zu laufen, ohne sich öffentlich zu ihm zu bekennen.

Die Hochzeit sollte an einem Sonntagabend in Mums Wohnung in Clifton stattfinden. Während ihre Familie die Vorbereitungen traf, waren Mum und Dad in Highbridge, im Süden von Somerset, und suchten eine Zwergdommel. Es war ein neuer Vogel für Mum und Ayesha, und Mum hätte nicht zugelassen, dass ihre bevorstehende Eheschließung einem guten Twitch in die Quere kam. Versteckt im Röhricht, lagen die drei auf der Lauer. Die Minuten verstrichen. Irgendwann rief Mum zu Hause an und bat darum, die Hochzeit um eine Stunde zu verschieben; sie könnten nicht ohne die Zwergdommel fahren.

Für Dad war es ein Tag mit vielen Premieren: Er war noch nie auf einer muslimischen Hochzeit gewesen, bis zu jenem Abend hatte er Moms Brüder nicht kennengelernt, und nun heiratete er sogar selbst muslimisch und sagte mit verschwitztem Hemdkragen Koranverse auf. Natürlich konnte er kein Arabisch, deshalb sprachen Mums Brüder ihm die komplizierten Sätze vor, und er musste sie so oft wiederholen, bis die Aussprache stimmte. Anschließend zog Mum einen weißen Salwar Kamiz an, und die Familie ging gemeinsam essen. Die »offizielle« Eheschließung fand sieben Monate später statt.

 

Unsere Familie wohnt in einem alten Bergarbeiterhaus an der Nordseite der Mendip Hills. Für mich ist es kaum vorstellbar, dass in meinem Zimmer vor 250 Jahren vielleicht eine zehnköpfige Familie geschlafen hat, zusammengedrängt auf dem unebenen Dielenboden. Das Haus liegt in einer Sackgasse, dahinter erstreckt sich dichter Wald, in dem es in den Frühlingsmonaten nach wildem Knoblauch duftet. Von unseren Fenstern blicken wir auf sanfte Hügel und einen großen See. Im Sommer klettern Heckenrosen und Blauregen an den Mauern empor.

Ich bin südlich von Bristol im Chew Valley groß geworden, wo ich die freie Natur und die Weite der Mendip Hills genoss. In meiner Kindheit beobachtete ich, wie Vögel zu den Futterstellen flogen oder flügelschlagend in der Tränke badeten. Ganz nebenbei lernte ich, die vielen kleinen braunen Arten voneinander zu unterscheiden. An warmen Nachmittagen lauschte ich dem Ruf des Bussards, abends hörte ich den Raben zu. Nachts lag ich wach im Bett und ahmte das »Huhu« des Waldkauzes nach.

Von klein auf streunte ich mit anderen Kindern durch die Gegend, lief die Trampelpfade der Tiere ab, erkundete Dachsbauten und die zerklüfteten alten Ockerminen. Ich steckte die Hände in Tümpel und tastete nach Tieren, nur um die Finger mit einem spitzen Schrei herauszuziehen, wenn ich etwas berührte. Im Garten rannte ich den Schmetterlingen und Bienen nach, beobachtete, wie Motten um die Lampen schwirrten, und spürte im Dunkeln den leichten Schlag von Fledermausflügeln knapp über meinem Kopf. Im Frühjahr legte ich mich auf den mit Glockenblumen übersäten Waldboden. In den Wintermonaten rodelte ich den Hang vom Wald bis zu unserem Haus hinunter.

Ich wuchs in einer vogelverrückten Familie auf, die ihre Wochenenden damit verbrachte, in unserer Gegend oder in der näheren Umgebung nach neuen Arten zu suchen. Eine Familie, die versuchte, einen Blick auf jedweden seltenen Vogel zu erhaschen, der beschlossen hatte, einen Zwischenstopp an den kalten Küsten Großbritanniens einzulegen. Innerhalb von zwei Tagen von Somerset nach Orkney und wieder zurück zu fahren, war in meiner Familie normal. Eine lange Reise schreckte niemanden ab, egal wie mies das Wetter war. Twitchen mag übertrieben klingen, aber eigentlich ist es eher ein Fall von »Tun, was getan werden muss«.

Die Fernsehserie »Deadly 60 – Die gefährlichsten Tiere der Welt« war ein Highlight meiner Kindheit. Darin spürte der britische Naturforscher Steve Backshall die tödlichsten Raubtiere der Welt auf, wie den Weißen Hai, die Schwarze Mamba oder einen Eisbären. Mit zehn Jahren erlebte ich Backshall live auf der Bühne in Bristol. Er hatte ein gebrochenes Bein, was seine verrückten Abenteuer noch beeindruckender machte. Steve verkündete seinem jungen Publikum, wenn wir wie er Abenteurer im Fernsehen werden wollten, müssten wir in der Schule fleißig sein und Zoologie studieren. Bis es so weit sei, sollten wir nach draußen gehen und alles über die Tierwelt und die Natur lernen, was es zu lernen gebe. Das löste etwas in mir aus, und ich trat sowohl der Mädchen- als auch der Jungengruppe der Pfadfinder bei, wo wir Dinge unternahmen wie klettern, abseilen, höhlenwandern, Höhlen erkunden, Filme drehen, Tiere zeichnen, zelten und Unterkünfte für die Nacht errichten.

Zu Hause zog ich Vogelbücher aus den Regalen und prägte mir die Farben und Gewohnheiten von so vielen Arten ein, wie ich behalten konnte. Mit sechs Jahren las ich Meine Familie und andere Tiere von Gerald Durrell – ein Buch über eine chaotische Familie, in der sich alles um die Natur dreht. Ich fand mein eigenes Leben darin wieder.

Richard Attenboroughs Dokumentarserie »Das Leben der Vögel« war für mich eine Art Erweckungserlebnis. Wanderfalken, Bussarde, Kolibris, Papageien und Seeschwalben füllten den Bildschirm. Es war nicht nur ein Fest für die Sinne, es war der Inbegriff meiner Träume. Die Vögel zogen mich in ihren Bann.

Wenn man sich für Musik begeistert, hört man Lieder, wo auch immer man ist: im Wohnzimmer, im Schlafzimmer, im Auto. Man macht Musik an, um dazu zu tanzen, sich zu entspannen oder um bessere Laune zu bekommen. Sie ist so sehr Teil des eigenen Lebens, dass man sie gar nicht bewusst hört. So ähnlich ist es mit meiner Liebe zu den Vögeln, ich betrachte sie weniger, sondern verliere mich in ihnen, egal ob sie an den Futterstationen im Garten sitzen, im See unweit unseres Hauses schwimmen oder auf einem Bergkamm in den Anden hocken. Sie geben mir immer genau das, was ich brauche.

Vögel zu beobachten, war für mich nie ein Hobby, keine Freizeitbeschäftigung, die ich aufnehmen und wieder ablegen kann, sondern der Faden, der sich durch mein ganzes Leben zieht, so fest mit ihm verwoben, dass man ihn nicht herausziehen kann, ohne den Rest meines Lebens zu zerstören.

2. KapitelMein kleines großes Jahr

Schwarzbrauenalbatros

 

Schwarzbrauenalbatrosse sind monogam und bleiben einander ein Leben lang treu. Das Weibchen legt ein einziges Ei, das von beiden Eltern ungefähr 70 Tage lang bebrütet wird. 75 Prozent des weltweiten Bestands leben auf Südgeorgien und den Falklandinseln. Zwar kehren Jungvögel ab einem Alter von drei Jahren zu den Brutkolonien zurück, um Paarungsrituale einzuüben, beginnen aber erst mit sieben Jahren mit der Fortpflanzung. Schwarzbrauenalbatrosse leben lange, in der Wildnis können sie bis zu 70 Jahre alt werden.

 

Als ich sechs Jahre alt war, waren sowohl meine Mutter als auch mein Vater beruflich sehr eingespannt, und Mum arbeitete oft noch bis spätabends. Wenn ich von der Schule kam, kümmerte sich meistens meine zwölf Jahre ältere Schwester Ayesha um mich. Die Stunden zwischen dem Aussteigen an der Bushaltestelle und der Rückkehr meiner Eltern waren für mich lange die schönste Zeit des Tages.

Ayesha und ich setzten uns vor den Fernseher, aßen aufgebrühte Instantnudeln, Veggieburger oder Pommes und ließen uns von »Buffy«, »Charmed – Zauberhafte Hexen« oder sogar »CSI« unterhalten. Von der letzten Serie durfte ich nichts erzählen, was sie natürlich nur noch aufregender machte. Mit ihren 18 Jahren fand ich Ayesha cool, auch wenn sie sich leider nicht mehr so für Vögel interessierte. Es war, als hätte sie den Staffelstab an mich übergeben, und ich lief mit ihm weiter.

Viele Jahre später besuchten Mum, Dad und ich Familientherapiesitzungen, um über die Auswirkungen von Mums psychischer Krankheit auf die Familie zu sprechen. Vor Therapiebeginn legte man meinen Eltern nahe, eine Liste der wichtigsten Ereignisse einschließlich Mums Krankengeschichte zusammenzustellen. Dieses Dokument würde uns in den Sitzungen viel Zeit sparen und als Orientierungshilfe dienen, wenn Mum an einen neuen Psychiater oder eine neue Psychiaterin überwiesen würde. Als erfahrene Vogelbeobachterin ist Mum eine akribische Listenerstellerin. Alles wurde in einer Liste mit dem Titel »Wichtige Ereignisse Chris & Helena«, kurz »WECH«, aufgeschrieben, darunter auch ein Eintrag für Dezember 2002: Ayesha wird 13 und anstrengend. Meine Schwester schlug tatsächlich ein wenig über die Stränge, nicht wie meine Mutter vor ihr, aber Ayesha ging durchaus gern feiern.

Mit gerade mal 18 Jahren verkündete sie meinen Eltern, sie sei schwanger.

Mein Vater war gerade als Programm-Manager eines multinationalen Konzerns geschäftlich in Amerika. Seine Zeiten als Jagdsaboteur lagen weit zurück. Die Verwandlung zum Geschäftsmann war nicht so abstrus, wie sie vielleicht klingt. Er hatte Ingenieurwesen studiert und direkt nach seinem Master bei Hoover angefangen. Als er nach ein paar Jahren genug Geld gespart hatte, kündigte er, um auf Reisen zu gehen. Er ließ sich die Haare wachsen und erwartete, dass es immer so weitergehen würde: arbeiten, Geld sparen, reisen. Mit Kurzhaarfrisur im Bürojob stellte er fest, dass er Gefallen an der Arbeit und an Beförderungen gefunden hatte. Als er meine Mutter kennenlernte, wurden die Wurzeln, die er bereits geschlagen hatte, noch tiefer.

Sein Job führte ihn oft ins Ausland. Deshalb vermutete er, dass Ayesha aus Angst vor seiner Reaktion gewartet hatte, bis er weg war, um die Bombe platzen zu lassen. In einem Hotelzimmer in Washington D.C. bekam er einen Anruf von Mum, die ihn fragte: »Sitzt du?« Er nahm den nächsten Flieger nach Hause.

Am Samstag kam Dad zurück, und am Sonntag, immer noch erschüttert von der Nachricht, fuhr er mit uns dreien nach Norfolk, um eine Dachsammer zu suchen. Er sagte, er müsse die Nachricht erst mal »verarbeiten« und das Vogelbeobachten helfe ihm dabei.

Mein Vater war ein »achtsamer« Twitcher, schon lange bevor Achtsamkeit »erfunden« beziehungsweise populär wurde. Die Konzentration, die notwendig ist, um ganze Vogelschwärme abzusuchen und ähnlich aussehende Arten voneinander zu unterscheiden, spricht ihn an. Die komplexe Leistung, auf die kleinste Bewegung oder den leisesten Laut zu achten, mit denen sich ein versteckter Vogel verrät, die vorhandenen Vögel zu zählen, ihre Eigenheiten und ihre Schönheit zu bestaunen – das alles hält ihn in der Gegenwart, im Hier und Jetzt, so dass die Sorgen um Vergangenheit und Zukunft von ihm abfallen. Er behauptet, dafür müsse er sich nicht mal anstrengen. Um sich mit Ayeshas Nachricht auseinanderzusetzen, wollte er mental besser drauf sein, und er wusste, dass er diesen Zustand draußen in der Natur ohne weiteres Zutun erreichen würde. So wirkt Vogelbeobachtung auf meinen Vater.

Zurück zur Dachsammer: Dieser Vogel lebt normalerweise in den USA, war aber schon drei Mal in Großbritannien gesichtet worden. Nun war er in Cley aufgetaucht, aber nicht in dem bekannten Vogelschutzgebiet, diesem Mekka für Birder aus ganz Großbritannien, sondern im Garten eines pensionierten Pfarrers im nahegelegenen Dorf. Das Pfarrerehepaar hatte Vogelfutter auf einen Schotterweg gestreut, der am Haus entlang verlief, und von Zeit zu Zeit schoss der Vogel aus der Buchenhecke, in der er sich versteckte, und fraß etwas. Inmitten seiner unauffälligen britischen Sperlingscousins, mit denen er sich herumtrieb, erkannte man ihn an den feinen weißen Streifen am Kopf. Ein Pulk von Twitchern stand erwartungsvoll am Ende der Auffahrt und wartete auf den nächsten Auftritt des Vogels.

Der Ausflug schenkte uns eine kurze Atempause von Ayeshas Nachricht, vom Stress und den unzähligen Entscheidungen, die nun zu treffen waren.

Die Aussicht, eine Nichte oder einen Neffen zu bekommen, erschütterte mich nicht, sondern erfüllte mich mit Freude. Stolz beschloss ich, in einer Präsentationsrunde in der Schule meine Neuigkeit mit den anderen zu teilen. Bei diesen Runden brachte man einen Gegenstand von zu Hause mit und sprach darüber. Muscheln oder Geburtstagsgeschenke wurden vorgestellt, begleitet von Berichten über Kurzurlaube oder Geburtstagsfeiern – ein Mädchen brachte sogar ihre neuen Kätzchen mit –, doch ich hatte etwas Wichtiges zu verkünden!

»Meine Schwester ist schwanger!«, rief ich freudestrahlend. »Ich werde Tante!« Meine Mitschüler jubelten, nur meine Lehrerin sah mich verwirrt und leicht beunruhigt an. Sie kannte Ayesha – meine Schwester war auf derselben Grundschule gewesen.

»Wirklich?«, fragte sie. »Bist du dir sicher?«

Später, als es bei uns zu Hause immer wieder zu Streitereien und Wutausbrüchen kam, leuchtete mir die Skepsis meiner Lehrerin mehr ein. Ayesha hätte im kommenden Sommer ihre A-Levels machen und dann zur Universität gehen sollen, stattdessen zog sie einen Monat vor dem errechneten Geburtstermin mit ihrem Freund zusammen. Mum und Dad waren nicht gerade begeistert von den ausweichenden Antworten, die sie von den werdenden Eltern auf die Fragen bekamen, mit denen sie sie bombardierten: Wovon wollt ihr leben? Wie wollt ihr euch um ein Kind kümmern? Wann willst du deinen Schulabschluss nachholen?

Weder Mum noch Dad waren besonders erpicht darauf, nur wenige Wochen nach dem 40. Geburtstag Großeltern zu werden, aber was sollten sie tun?

Bevor meine Schwester auszog, war sie so etwas wie meine Ersatzmutter gewesen: Jeden Morgen weckte sie mich und machte mir Frühstück, um mich anschließend zur Bushaltestelle zu bringen, von der sie mich jeden Nachmittag wieder abholte. Oft war sie auch diejenige, die mich ins Bett brachte. Nicht verwunderlich, dass ich eifersüchtige Gefühle in Bezug auf das Baby entwickelte, das sie in sich trug. Es würde nicht mit mir um Ayeshas Aufmerksamkeit streiten müssen, es hatte sie ja längst. Von nun an stände er oder sie bei Ayesha an erster Stelle. Ich bin froh, dass meine Schwester sagt, sie könne sich nicht erinnern, dass ich auch nur die geringste Eifersucht an den Tag gelegt hätte.

Auch in Bezug aufs Vogelbeobachten war es ein chaotisches Jahr. Als Ayesha auszog, kamen unsere Wochenendausflüge zum Erliegen. Es war keine Zeit mehr zum Twitchen, zum Aufladen der Akkus; unsere Priorität war es nun, Ayesha dabei zu helfen, sich auf das große Ereignis vorzubereiten und das Baby zu versorgen. Die Begeisterung meiner Schwester für das Birden war ein wenig abgekühlt, dennoch begleitete sie die Familie immer mal wieder. Die Sorgen wegen ihrer unsicheren Zukunft hatten dem Vogelbeobachten ein wenig von seinem Zauber genommen.

Zu der Zeit vibrierte Mum nur so vor nervöser Energie; es war anstrengend für sie, sich um Ayesha zu kümmern und gleichzeitig ihre Arbeit zu erledigen, auch wenn ich nichts von ihren Problemen ahnte. Alle Gespräche drehten sich um die Situation meiner Schwester. Es laugte meine Eltern aus, und am Ende des Jahres waren alle erschöpft, ich eingeschlossen.

 

»Ich muss mal was für mich tun«, verkündete Dad. Wir saßen im Wohnzimmer und schauten fern. Der Regen prasselte gegen die dunklen Fensterscheiben.

»Was denn?«, fragte ich.

»Ein Big Year«, antwortete er und sah zu Mum hinüber.

»Ab Januar?« Sie machte ein verwirrtes Gesicht. »Nächstes Jahr?«

»Genau.« Dads Kiefer war angespannt.

Irgendetwas war seltsam an diesem Gespräch, aber ich hatte keine Ahnung, was. »Laila ist doch noch so klein«, gab Mum zurück. »Sie ist erst vier Monate alt.«

»Ich will doch nicht zum Mond fliegen, Helena«, beharrte Dad. »Es ist doch nur ein Big Year.«

Seine Ankündigung sollte den Lauf unser aller Leben verändern.

Als Big Year bezeichnet man ein Kalenderjahr, in dem man versucht, innerhalb eines bestimmten Gebiets so viele Vogelarten wie möglich zu sehen; in unserem Fall wäre das innerhalb Großbritanniens. Dad beteuerte zwar, es sei eigentlich nichts Besonderes, aber Big Years werden tatsächlich mit extremen Ausdauersportarten verglichen.

Es geht darum, eine »Jahresliste« zu führen, in die man jede Vogelart einträgt, die man zwischen Januar und Dezember entdeckt, dazu Ort und Zeit der Sichtung. Jede Vogelart wird nur einmal gezählt, alle Arten sind gleichwertig; ein Rotkehlchen zählt genauso viel wie ein Vogel, der noch nie zuvor in Großbritannien gesichtet worden ist.

300 oder mehr Arten sind ein guter Wert für eine Jahresliste im Vereinigten Königreich, auch wenn man damit keinen Rekord aufstellen würde. Es ist nicht leicht, aber wenn man durchhält, ist es machbar, genau wie ein Ausdauersport. Großbritannien hat seine eigenen Regelungen in Bezug auf Jahreslisten. Verglichen mit anderen Ländern, kommt durch die Insellage eine überproportional große Anzahl von Zugvögeln vorbei – beispielsweise aus Europa, Afrika, Asien und Amerika. Das sind Arten, die nicht in Großbritannien leben. Sie können jederzeit überall auftauchen. Natürlich gibt es ein paar Gesetzmäßigkeiten und Stellen, wo man zu bestimmten Jahreszeiten suchen sollte. Leider befinden die sich oft an entgegengesetzten Enden des Landes. Bei der Jahresliste versucht man, alle Arten zu sehen, die normalerweise bei uns vorkommen, manche nur im Winter oder Sommer oder in der Zeit des Vogelflugs im Frühjahr und Herbst, manche nur in besonderen Landesteilen. Wenn Sichtungen von seltenen Arten gemeldet werden, muss man schnell reagieren. Früher bekam man die Meldungen fast nur über Pager. Erst seit relativ kurzer Zeit kommen sie über Smartphone-Apps oder als Nachrichten über Social Media wie zum Beispiel Twitter. Meldungen von anderen Twitchern oder auf Websites wie Rare Bird Alert setzen eifrige Vogelbeobachter in Bewegung und locken mit der Aussicht auf ein seltenes Exemplar.

Den Vögeln ist unser Big Year natürlich egal; oft sind sie alles andere als hilfsbereit: Sie fliegen weg, verstecken sich, wenn man sie sucht, oder tauchen zu unpassenden Zeiten an weit entfernten Orten auf. Manchmal können sie nur rückwirkend anhand von Fotos im Internet identifiziert werden. Hinzu kommen natürlich das englische Wetter und die logistischen Herausforderungen, abgelegenere Stellen zu erreichen. Letztendlich muss man schon so besessen sein wie Dad, um sich einer zwölf Monate dauernden Vogelsuche quer durchs Land zu verschreiben.

Mein Vater erstellte jedes Jahr beiläufig eine »Jahresliste«, weil er es sich immer notierte, wenn ein Vogel seinen Weg kreuzte. Aber 2009 wollte Dad sie alle sehen, und das würde viele Wochenendtrips bedeuten.

Er erklärte uns, er bräuchte diese Herausforderung, um sich wieder »normal« zu fühlen. Er sei erst 40 Jahre alt, beharrte er, keine 60. Er sei nicht bereit, als Großvater rund um die Uhr für die kleine Laila zuständig zu sein. Es sei ein hartes Jahr gewesen, und er sei an einem kritischen Punkt angelangt.

»Ich mache es, egal ob du mitkommst oder nicht. So oder so«, sagte er zu Mum. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er ohne uns twitchen gehen wollte. Es ging nicht.

Im Dezember notierte Dad sich alle Arten, die er möglicherweise sehen könnte, von gewöhnlichen wie Amseln, Rotkehlchen und Staren bis zu den exotischeren, selteneren Arten, all den heimatlosen Vögeln, die, von ihrem Kurs abgetrieben, im Vereinigten Königreich landen mochten. Dads Ziel war der »Goldstandard«: mindestens 300 Arten. Das war ehrgeizig. Um es zu erreichen, musste er in seiner Freizeit hauptsächlich birden gehen.

Mein Vater ist ein Mensch, der sich sorgfältig vorbereitet. Er stellt sicher, dass er die richtige Ausrüstung hat, dass das Gelände sicher ist, dass er an nassen Tagen genug warme Kleidung und heißen Tee dabeihat. Nicht vorbereitet war er allerdings auf meine Hartnäckigkeit, ihn zu begleiten, bei Tag und Nacht, wohin auch immer es ihn verschlug.

Ein ganzes Jahr, in dem wir an allen Wochenenden Vögel suchten? Ich war dabei.

Mum war nicht so begeistert: Ich war erst sechs Jahre alt. Wie sollte ich mit den langen Strecken, den Touren nach Schulschluss, den Wochenenden ohne Verabredungen mit meinen Freundinnen zurechtkommen? Doch ich war genauso entschlossen wie Dad. Mum gab mehr oder weniger nach: »Gut, du kannst öfter mal mitfahren, Mya. Für dich wird es ein kleines Big Year.«

Sie gab zu, dass sie genauso erschöpft war wie Dad und uns gern bei unserem Big Year begleiten würde.

Und Ayesha? Ich habe zwar gerade erklärt, dass ein Big Year viel Zeit in Anspruch nimmt, aber die Menge neuer Vögel variiert im Laufe des Jahres. Es würden viele Wochenenden und Abende kommen, an denen es nichts zu sehen gäbe und Ayesha die ungeteilte Aufmerksamkeit meiner Eltern hätte. Sie hatten nicht die Absicht, ihre ältere Tochter im Stich zu lassen, doch sie würden das Vogelbeobachten an erste Stelle setzen – zumindest für eine Weile.

 

Die Silvesterparty war noch in vollem Gange, als Dad kurz nach Mitternacht verschwand, um sich auf den ersten Ausflug des Jahres vorzubereiten. Mum und ich wollten nicht mitkommen, weil wir beide keine Lust auf einen Frühstart hatten. Als Dad zum Mittagessen nach Hause kam und über 50 Vögel abgehakt hatte, hing Mum allerdings am Haken. Wenn sie erst mal anfing, würde es nicht allzu lange dauern, bis sie diese Vögel auch gesehen hätte. Aber darum ging es nicht – ihr Wettkampfgeist war geweckt.

Ich begann mein kleines