Bis auf den eigenen Grund - Josef Raischl - E-Book

Bis auf den eigenen Grund E-Book

Josef Raischl

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Beschreibung

Der Mensch und seine Leiderfahrung sind nicht eindimensional auf den Körper bezogen, sondern vielschichtig zu begreifen. Schmerzen treffen uns in unserer ganzen Existenz. Josef Raischl und Dorothea Bergmann weiten das Verständnis von Schmerzen und definieren Dimensionen des spirituellen Schmerzes, die jeweils Erfahrungen des Mangels oder der Entfremdung umfassen. Wesentlich geht es um spirituelle Themen wie Sinnverlust, Versöhnung mit anderen und mit sich selbst, Hoffnung, transzendentale Verankerung. Spiritualität wird dabei als ein weit über religiöse Bindung hinausreichendes Phänomen aufgefasst. Auf Basis des Konzepts der Gestalttherapie und dem umfassenden System des mittelalterlichen Philosophen und Theologen Bonaventura zeigen die Autoren Wege, in der Begleitung Schwerkranker mit spirituellem Schmerz umzugehen.

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EDITION Leidfaden

Hrsg. von Monika Müller, Petra Rechenberg-Winter, Katharina Kautzsch, Michael Clausing

Die Buchreihe Edition Leidfaden – Begleiten bei Krisen, Leid, Trauer ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen für Tätige in der Begleitung, Beratung und Therapie von Menschen in Krisen, Leid und Trauer.

Josef Raischl/Dorothea Bergmann

Bis auf den eigenen Grund

Umgehen mit spirituellem Schmerz in Krisen und am Lebensende

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 5 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Wallis, Josef Raischl, 2022

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2198-2864

ISBN 978-3-647-99333-1

»alles

schmerzt sich

einmal durch

bis auf den eignen grund

und die angst vergeht

schön die scheune

die nach längst vergangenen ernten

leer am Wegrand steht«

(Jan Skácel, wundklee.

Übertragen von Reiner Kunze)

Inhalt

Einführung

1 Spiritualität und Spiritual Care

1.1 Verständnis von Spiritual Care

1.2 Spiritual Care und Seelsorge

1.3 Spiritualität und existenzielle Bedürfnisse

1.4 Identität und Spiritualität

1.5 Das Wegemodell des Bonaventura (1259)

2 Dimensionen des spirituellen Schmerzes: Wie sie uns begegnen und wie wir sie begleiten

2.1 Natur-los versus Natur erleben: Die gestörte Beziehung zur Natur heilen

2.2 Acht-los versus Achtsamkeit üben: Im Jetzt leben lernen

2.3 Ruhe-los versus da sein und Ruhe pflegen: Lernen, einfach da zu sein

2.4 Gedanken-los versus Dankbarkeit üben: Von der Erinnerung zum Dank

2.5 Zusammenhang-los versus Verbundenheit erleben: Verbindungen suchen und herstellen

2.6 Transzendenz-los versus Transzendenz erschließen: Sich verankern jenseits von Raum und Zeit

2.7 Sinn-los versus Sinn erfahren: Eine Deutung suchen und Unerklärliches aushalten

2.8 Versöhnungs-los versus Versöhnung feiern: Auf dem Weg zu innerem Frieden

2.9 Hoffnungs-los versus Hoffnungen stärken: Perspektiven entdecken

3 Best Practice: Spirituelle Begleitung in der stationären Altenhilfe

4 Palliation spiritueller Schmerzen?

5 Ein Ausblick

Literatur

Einführung

»Da hat die Bewohnerin einen spirituellen Weg gefunden, mit ihren Schmerzen umzugehen!«, so meinte eine Pflegeschülerin, nachdem sie die Geschichte von Frau L. gehört hatte. Frau L. war eine alle auf der Pflegestation eines Altenheims beeindruckende Dame. Trotz starker Hautläsionen und Schmerzen in den Knochen verzichtete sie vollständig auf Medikamente. Auf die Frage, wie sie denn dann die Berührung bei der Grundpflege aushält, sagte Frau L.: »Ich gehe dann außer mich und schaue auf mich herunter und sehe, wie die Pflegenden mich versorgen.« Die Pflegeschülerin versteht dies als spirituelle Umgangsweise mit Schmerzen.

Mit diesem Beispiel möchten wir Sie mitnehmen in den Alltag der Versorgung von hochbetagten und schwer kranken Menschen, der geprägt ist nicht nur von der Behandlung und Pflege körperlicher Symptome, sondern von allem davon, was die multidimensionale Wirklichkeit des menschlichen Lebens ausmacht.

Nehmen wir doch einmal an: Jeder Mensch hätte eine spirituelle Dimension! Und diese beeinflusste tatsächlich die mentalen, emotionalen und physischen Reaktionen. Sie beeinflusste in besonderer Weise die Konfrontation mit existenziell herausfordernden Situationen und in geradezu notwendender Weise auch die Situation einer unheilbaren Erkrankung, von Tod und Trauer. Dann müssten wir uns intensiv um diese Dimension bei Patient:innen wie aufseiten der Mitarbeitenden kümmern, wollten wir nicht an dieser wesentlichen Dimension »vorbeispazieren«.

Im Rahmen von Palliative Care sind physische Symptome, auch psychische und soziale bereits detaillierter beschrieben worden. Wenn es um die spirituelle Sorge angesichts von Sterben und Tod geht, entstehen immer wieder viele Fragen: Was ist »Spiritualität« überhaupt bzw. ist »spirituell« ein geeigneter Begriff innerhalb einer multiperspektivischen und ganzheitlichen Sichtweise?

Noch Mitte des 20. Jahrhunderts war der Begriff »Spiritualität« hauptsächlich ein christlicher Begriff, der traditionell eher mit Frömmigkeit übersetzt wurde. Es gab in den vielfältigen katholischen Ordensgemeinschaften »spirituelle« Institute, die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit den Wurzeln ihres Charismas, der besonderen Inspiration und Geisteshaltung der jeweiligen Richtung und Gründerpersönlichkeit beschäftigten. Auch in den evangelischen Glaubensrichtungen entwickelten sich Gemeinden und Gemeinschaften – teilweise auch freikirchlich –, die diesen Bedarf an ganzheitlicher Praxis aufgegriffen haben. Spiritualität wurde in modernen Formen des Gottesdienstes, in charismatischen Liedern und einem organisierten Tagesablauf mit Andacht und Reflexion gelebt, um zu sich und zur Gemeinschaft zu finden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich diese Begriffsbestimmung stark verändert. Als spirituell gelten aktuell alle Variationen von religiöser und auch existenzieller Sinnfindung, freie Lebensdeutungen ebenso wie tief konfessionell gebundene Lebensentwürfe. Häufig vermischen sich religiöse wie säkulare Anteile zu einer Form von Patchwork-Spiritualität. Sie bildet sich aus den diversen Lebensereignissen und Lebensaltern hindurch zu einer Art Sinn-Navigation (vgl. Rötting, 2022).

Was also ist spirituelle Begleitung am Lebensende bzw. in der Krise, wenn sich der Begriff derartig verändert und entwickelt hat?

Uns beschäftigen diese Fragen ganz besonders, weil wir seit vielen Jahren in multiprofessionellen Teams der ambulanten und stationären palliativen Betreuung und Versorgung tätig sind und erleben, wie groß die Herausforderung auch nach beinahe vierzig Jahren Hospizgeschichte in Deutschland ist, den ganzheitlichen und multiperspektivischen Ansatz von Palliative Care tatsächlich im Alltag in der Wahrnehmung und Begleitung von Schwerkranken und Sterbenden umzusetzen.

Lassen Sie uns gemeinsam auf die Suche gehen nach der Bedeutung von spirituellen Schmerzen im menschlichen Leben, insbesondere am Ende des Lebens, und nach Wegen, mit diesen Schmerzen in einem ausdifferenzierten Gesundheitswesen, aber auch im Privaten umzugehen.

Wir danken ganz herzlich allen, die uns zum Schreiben ermutigt und uns unterstützt haben, insbesondere der Herausgeberin der »Edition Leidfaden«, Monika Müller. Wir bedanken uns herzlich bei unserem Kollegen Michael Clausing, ebenfalls im Herausgeberteam, aber auch haupt- und ehrenamtlicher Begleiter im Leben und Sterben, der uns an seiner Begleitdokumentation Anteil gegeben hat.

Und wir danken herzlich allen Mitarbeitenden im hospizlichen, palliativen und (alten-)pflegerischen Kontext, die bereit sind, spirituellen Schmerzen eine Bedeutung in ihrer Arbeit zu geben. Viele ihrer Erfahrungen sind in unser Buch eingeflossen.

1 Spiritualität und Spiritual Care

Spiritualität entwickelte sich in den letzten sechzig Jahren zu »einem Breitbandbegriff, der nicht nur religiöse Überzeugungen, sondern auch atheistische Sinnentwürfe und philosophisch begründete Weltanschauungen umfasst« (Frick u. Hilpert, 2021, S. VIII). Der Begriff wird international in den verschiedenen Sprachen und Kulturen unterschiedlich bewertet und eingesetzt. Im Zuge der Begriffsbildung von »Palliative Care« hat er aber in einheitlichen Definitionen Einzug in die Welt der Gesundheitsversorgung und Medizin gefunden (Frick u. Hilpert, 2021, S. VIII).

Wir befinden uns gesellschaftlich in einem Prozess öffentlicher Distanzierung von scheinbar übermächtigen kirchlichen Institutionen. Deren Kernbotschaften kommen vor dem Hintergrund bedrückender Unfreiheit, Machtmissbrauch und Gewalt gegen Männer, Frauen und Kinder nicht mehr an. Die Entfernung von Religiosität und gleichzeitige Annäherung an Spiritualität ist weit fortgeschritten. Religionen hätten weniger Gott offenbart als ihn vielmehr »vergiftet«, so der Psychoanalytiker Tilmann Moser.1 Aber was ist »Spiritualität«? In der Alltagswelt erleben wir häufig, dass der Begriff vorschnell dem Bereich der Esoterik zugeordnet wird. Lässt sich »Spiritualität« überhaupt wissenschaftlich seriös »fassen«? Geht es nicht vor allem um Unfassbares, Transzendentes, Unbeschreibliches, das gerade in dem Augenblick entschwindet, in dem man es versucht zu beschreiben?

»In der spirituellen Erfahrung finden menschliches Offenwerden und gnadenhafte Berührung zusammen. Der Mensch kann sich selbst nicht heilen, er kann nur offen werden auf das unsagbare Heilende hin und hier, an einer äußersten Grenze in letzter Bereitschaft, ausharren: […] Was hier berührt, bleibt Geschenk, Erfahrung mit dem ewig Anderen, man mag es Gott nennen oder nicht« (Renz, 2006, in Kammerer, 2006, S. 54).

Angeregt von Elisabeth Kübler-Ross’ Buch »On Death and Dying« (1969, dt. 1971) prägte der kanadische Mediziner Balfour Mount (vgl. Müller-Busch, 2014, S. 36), der 1973 »hospice care« im Saint Christopher’s Hospice in London gelernt hatte, den Begriff »palliative (Für-)Sorge« (soins palliatifs). Diese »palliative care« wurde bereits in den 1970er Jahren zum fachlichen Begriff, der schließlich knapp zwanzig Jahre später und zuletzt 2002 von der Weltgesundheitsorganisation wegweisend formuliert wurde: »ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und deren Familien, die mit Problemen konfrontiert sind, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen: durch Vorbeugen und Lindern von Leiden, durch frühzeitiges Erkennen, untadelige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen belastenden Beschwerden körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art« (WHO, 2002; vgl. Sepulveda, Marlin, Yoshida u. Ullrich, 2002; s. a. www.who.int/health-topics/palliative-care).

Der nunmehr definierte Begriff schuf ein neues Paradigma der (Für-)Sorge inmitten einer zunehmend und dominant naturwissenschaftlich orientierten Medizin. Aber auch die psychosozialen und traditionell spirituellen Berufsgruppen tun sich nach Aufbrüchen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schwer, sich selbst integrativ zu gestalten. Es geht bei Spiritual Care um die Mitsorge für die Spiritualität dessen, der der Sorge bedarf und spirituelle Schmerzen hat, und zugleich darum, sich um die eigene Spiritualität zu sorgen und diese auch zu pflegen.

1.1 Verständnis von Spiritual Care

Spiritual Care ist eine (neue) Aufgabe im Gesundheitssystem des 21. Jahrhunderts, ja, nicht nur im Gesundheitswesen. Es geht um eine Art der Begleitung in existenziellen Fragen. Während christliche Seelsorge sich als »die zielgerichtete Zuwendung zum einzelnen Menschen im Kontext der Kommunikation des Evangeliums« definiert (Meyer-Blanck, zit. nach Frick u. Hilpert, 2021, S. 296), ist Spiritual Care eine Wortschöpfung in Analogie zu Palliative Care. »Ebenso wie die Weltgesundheitsorganisation die Sorge für sterbende Menschen interprofessionell und multidimensional versteht (bio-psycho-sozio-spirituell), ist auch Spiritual Care ein Ansatz, der alle Gesundheitsberufe anspricht. Längst hat Spiritual Care die Begrenzung auf das Lebensende gesprengt« (Frick u. Hilpert, 2021, S. VIII).

Annette Haußmann hat in einem bemerkenswerten Beitrag zur konzeptionellen Begleitung von pflegenden Angehörigen formuliert: »Spiritual Care könnte so als gegenseitiges kommunikatives Geschehen verstanden werden, das primär an einem gemeinschaftlichen Sorgen Interesse hat und dem sorgenden Tun pflegender Angehöriger vorwiegend Wertschätzung und Respekt entgegenbringt« (Haußmann, 2022, S. 111).

1.2 Spiritual Care und Seelsorge

Wenn also Spiritual Care eine Aufgabe des gesamten begleitenden Teams ist, wie steht dann Seelsorge dazu – vorne dran bzw. mittendrin? Mit der Sektion Seelsorge der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin sind wir der Meinung, dass Seelsorge »aus Glauben motivierte Zuwendung [ist]. Für die christlichen Kirchen gehört Seelsorge zu den Kernaufgaben und Kernkompetenzen. Die professionelle Seelsorge ist bestimmt durch eine qualifizierte Ausbildung, die Beauftragung (in der Regel durch eine christliche Kirche) und die Verpflichtung zur Wahrung des Seelsorgegeheimnisses« (Labitzke u. Kuhn-Flammensfeld, 2017).

Da dieser dynamische Prozess des Aushandelns von Rollen in Deutschland und international noch lange nicht abgeschlossen ist, lässt sich die Bedeutung der religiös beauftragten Seelsorge für Spiritual Care und umgekehrt noch nicht abschließend beurteilen. Die Seelsorge würde in jedem Fall einen sehr wichtigen Anteil für die Konzeption von Spiritual Care beanspruchen. »Spirituelle Unterstützung ist Aufgabe des interdisziplinären Teams. Die Seelsorge als spezialisierte Spiritual Care […] ist Teil davon und ist dazu aufgerufen, auf ihre Art für die Seele hochbetagter Menschen zu sorgen« (Fachgesellschaft Palliative Geriatrie, 2021, S. 8). Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Seelsorge als Teil religiös-kirchlicher Praxis multiperspektivisch gedacht werden muss, insbesondere jüdisch, christlich und muslimisch. Auch hier sind durchaus sensible Prozesse der Verständigung im interreligiösen Bereich zu gestalten.

Wir sind als christliche Theologen der Meinung, dass Seelsorge Teil von Spiritual Care ist, aber nicht darin aufgeht, dass Seelsorgende wesentlich zu einer Kultur und Praxis von Spiritual Care beitragen können und sollten.

In welcher Form dies geschieht und geschehen kann, beschreibt eindrücklich Traugott Roser (2017, S. 15): »Spiritual Care ist die Organisation gemeinsamer Sorge um die individuelle Teilnahme und Teilhabe an einem als sinnvoll erfahrenen Leben im umfassenden Verständnis.« Roser beschreibt, wie Seelsorge im System Krankenhaus immer wieder diesen spirituellen Fokus setzt und ins Blickfeld rückt. Sie kann durch die Patient:innengespräche einen wesentlichen Beitrag in den multiperspektivischen Fallbesprechungen zu einem ganzheitlichen Heilungsprozess bzw. Therapieplan leisten. Dabei heißt Seelsorge für Roser: mitleben, mitarbeiten, da sein und dabei sein. Es geht darum, »dass konfessionelle Seelsorgerinnen und Seelsorger ihr jeweiliges Gegenüber dabei unterstützen, auf eigene religiöse und spirituelle Ressourcen zurückzugreifen und/oder das Angebot explizit religiöser Begleitung in Anspruch zu nehmen oder abzulehnen« (S. 508 f.).

»Das gemeinsame Ringen um Leben fordert alle beteiligten Berufe heraus in ihrer Praxis und der Theorie dieser Praxis« (S. 511). Im Bereich der Hospizarbeit gilt es hier ausdrücklich, auch die qualifizierten Ehrenamtlichen mit einzubeziehen.

Im Kontext der christlichen Seelsorgeausbildung sind gute Modelle und Methoden entwickelt worden, die zur Reflexion der Zugehörigkeit spiritueller Fragen beitragen. Die kritische Reflexion der eigenen Religiosität und Spiritualität gehört hierbei grundlegend dazu, um andere Menschen frei von jeglichem »Missionsgedanken« zu begleiten und sie dabei zu unterstützen, das, was sie trägt und hält, zu entdecken. Es geht darum, zu explorieren, was für die Seele und den Spirit des Gegenübers maßgeblich stützend ist, ohne zu bewerten. Dabei kann es natürlich wichtig sein, auch andere Sinndeutungen zur Verfügung zu stellen. Das darf aber keinesfalls manipulativ geschehen. Die auf Selbsterfahrung und Selbstreflexion gründende Seelsorgeausbildung der christlichen Kirchen kann ein grundlegendes Modell sein, um auch bei anderen Berufsgruppen oder nicht konfessionell gebundenen Begleitenden den Blick und die Allparteilichkeit für die spirituelle Begleitung zu schulen. Dies könnte für alle Bereiche, in denen Spiritual Care einen Platz finden sollte, von Bedeutung sein.

Aufbauend auf diesen Begriffsbestimmungen und Grundlagen möchten wir nun ganz konkret versuchen, unser Verständnis von spirituellen Schmerzen in ein Modell zu fassen, das praxisnah wie auch theoretisch beschreibt, worum wir in diesem Büchlein kreisen.

1.3 Spiritualität und existenzielle Bedürfnisse

Der katholische Theologe und Seelsorger Erhard Weiher versteht unter Spiritualität das innere Erfülltsein, aus dem heraus der Mensch seinem Leben – ausdrücklich oder nicht – Wert und Bedeutung gibt. Weiher (2007, S. 439) meint mit Spiritualität »die innere Einstellung, mit der ein Mensch auf Widerfahrnisse des Lebens reagiert und auf sie zu ›antworten‹ versucht«. Dagegen wäre Religion ein Sinngebungssystem, das von einer Gemeinschaft getragen wird, mit bestimmten Symbolen und Praktiken. »Glaube« definiert er im Unterschied dazu als persönlich angeeignete Haltung, sich von einer umfassenden heiligen Wirklichkeit getragen zu wissen. Die persönliche Glaubenshaltung sieht er als eine Bündelung geistig-seelischer Energie (S. 440).

In einer international erarbeiteten Definition sprechen die Autor:innen von Spiritualität als der Art und Weise, wie der Einzelne nach Sinn und Zweck in seinem Leben suche und dies zum Ausdruck bringe. Spiritualität umfasse alle religiösen und philosophischen Überzeugungen und Praktiken, wozu Symbole, Rituale, Verhaltensweisen, Gesten, Kunstformen, Gebete und Meditation zählen. Dies sei nicht darauf beschränkt, wie der Einzelne eine Verbundenheit empfinde. Was uns jedoch am wichtigsten ist, wird hier ebenfalls angedeutet: Es geht um ein Verbundensein bzw. um ein Sich-verbunden-Fühlen: mit dem Augenblick, mit sich, den anderen, der Natur sowie dem Wichtigen oder Heiligen (vgl. Puchalski, Ferrell et al., 2009).

Für uns ist der große Psychotherapeut Erich Fromm mit seinen »existenziellen Bedürfnissen« ein wichtiger Orientierungspunkt geworden (vgl. Fromm, 1955/1980). Wir beschreiben hier seine existenziellen Bedürfnisse des Menschen mit unseren Worten. Es könnte durchaus sein, dass der große Psychologe des letzten Jahrhunderts das beschreibt, was wir heute im Kern mit multiperspektivisch und ganzheitlich, psycho-sozial-spirituell bezeichnen:

• wissen und spüren können, woher ich komme;

• sich mit anderen verbunden fühlen;

• wissen und spüren können, wer ich bin;

• sein Leben deuten und Sinn erfahren können;

• etwas schaffen und weitergeben bzw. teilen können.

In einem Schaubild lässt sich das so zeigen (Abbildung 1):

Abbildung 1: Erich Fromms existenzielle Bedürfnisse (Darstellung: J. Raischl)

Diese Bedürfnisse gewinnen gerade im Blick auf das Sterben eine ganz besondere Dynamik. Wenn am Lebensende eine dieser fünf »Welten« verletzt ist und der betroffene Mensch nach Heilung sucht, dann sind diese Aspekte ganz bestimmt Indikatoren und Annäherungen an das, was wir als spirituelle Schmerzen beschreiben. Gemäß Abbildung 1 sind wir alle »Migrant:innen«, die ihre Heimat, in der sie auf die Welt gekommen sind – christlich gesprochen die Geburt im Herzen Gottes –, verlassen haben und nun auf der Suche danach sind, Heimat(en) zu finden und zu gestalten.

Seit dem Tod meiner Mutter vor sechs Jahren spüre ich (J. R.) diesen Heimatverlust und die Sehnsucht nach diesem Boden viel stärker als in jüngeren Jahren. Immer wieder hat mich der Satz des indischen Jesuiten Anthony de Mello beeindruckt, der einmal schrieb: »Wenn wir entdecken, dass die Schöpfung unser Zuhause ist, dann hören wir auf, im Exil zu leben!« (1986; Übers. J. R.)

Die Entfremdung der Natur gegenüber, die unserer technisierten Welt eigen ist, stellt sicherlich eine der größten Gefährdungen für unser spirituelles Wohlbefinden dar. Unsere westliche Welt hat ein tiefgründendes Misstrauen gegenüber der Natur kultiviert. Das führt natürlich auch dazu, dass viele Menschen die Erde nicht als »Schwester und Mutter« erleben, wie sie Franz von Assisi in seinem Sonnengesang von 1225 besungen hat. Erst mit der zunehmenden Klimakrise rückt die rücksichtslose Ausbeutung in den Mittelpunkt politischer Auseinandersetzung. Und es entwickelt sich eine Tendenz in der Gesellschaft, sich wieder mehr nach einer Versöhnung mit der Natur und Rückbindung an die Natur auszurichten.

Neben dieser Grundverbindung zu allen Elementen sind unsere Beziehungssysteme elementar, wenn es um das Erleben, sich gehalten zu fühlen, geht. Wenn wir geliebte Menschen verlieren, wenn wir schuldig werden an unseren Nächsten, wenn wir uns abhängig oder kontrolliert fühlen, wenn wir uns missbraucht oder schlicht nicht beachtet und gesehen fühlen, fallen wir ins scheinbar Leere, ins Nichts. Wir vermuten, dass viele sich allein schon deshalb am Ende gern selbst das Leben nehmen würden, weil sie es als würdelos erachten, sich anderen in ihrer Schwäche zumuten zu müssen, anderen zur Last zu fallen. Unsere Beziehungen haben uns wesentlich zu dem gemacht, wer und was wir heute sind: unsere Eltern und Vorfahren, Geschwister, Freunde, Lehrer:innen, Ausbilder:innen usw., alle, die uns in unserem Leben bedeutungsvoll geworden sind. Die soziale Frage am Ende des Lebens ist beileibe nicht nur die Frage nach einer sogenannten Vorsorgevollmacht, die, wenn wir es selbst nicht mehr können, jemanden autorisiert, der das umsetzt, was uns wertvoll und wichtig war. Die soziale Frage geht viel weiter! Es geht um Verlustangst und Festhalten wie um das Loslassen, um Reue, Schuld und Scham, Neid, Eifersucht und um Verzeihen und Freigeben, um die Auseinandersetzung mit dem, was und wer wir sind, für uns selbst und für andere, oder auch gern sein möchten oder sein wollten. In gewisser Weise geht es auch um eine Bilanz, sozusagen eine Abrechnung, um die ewig menschliche Frage der Gerechtigkeit. Das soziale Leid kann in der palliativen Begleitung unendlich schwer wiegen.

Die nächste Frage richtet sich an unsere biografisch geprägte Identität: Wer bin ich (geworden)? Wir möchten spüren können, wer wir selbst sind im Kreis der Menschen, mit denen wir leben und geworden sind. Was macht uns aus? Wer wollten wir sein? Und wie sehen wir uns selbst heute? Die Antwort darauf mag uns innerlich mit großem Frieden oder mit einem mehr oder weniger intensiven Schmerz erfüllen. Jenseits der Rollen und des Ansehens sind wir mit uns selbst konfrontiert. Wenn es also gelingt, den Menschen dabei zu begleiten, der zu sein, der er ist, und ihn in seinem Sosein anzunehmen, dann kann Linderung des spirituellen Schmerzes geschehen. Der Betroffene muss sich nicht mehr »innerlich genötigt« anders darstellen und gegen das ankämpfen, wer und was er wirklich ist. Er kann zu sich und damit mit sich in Frieden kommen. Über das ihn akzeptierende »Du« des Begleitenden kann er zu dem »Ich« werden, das er ist, und in der Begegnung dieser Erfahrung sogar über sich selbst hinauswachsen. »Alles wirkliche Leben ist Begegnung« (Buber, 1984, S. 15).

Daran schließt sich die häufig als zentral angesehene spirituelle Sinnfrage an. Wir haben alle den Anspruch, unser Leben zu deuten. Das Leben verlangt uns einen Sinn ab, das Sterben erst recht! Oft ist es einfacher, mit den Dingen, dem Schicksal, all dem, was das Leben uns zumutet, zurechtzukommen, wenn wir dahinter einen Sinn erkennen können.

Was ist die Bilanz unserer Existenz? Wofür war das alles gut? Und was hinterlassen wir? Was ist unser Vermächtnis?

Wir wissen, wie viel Unfrieden allein im materiellen Erbe »begraben« liegt. Wie ist es erst um unsere spirituelle bzw. existenzielle Ernte bestellt? Wie vielen raubt es heute eine große Erfüllung, wenn sie all ihr Erspartes für ihre eigene Versorgung einsetzen müssen, statt es an die »Nachwelt« weitergeben zu können? Wir meinen, dass diese gesellschaftliche Herausforderung tatsächlich in erster Linie eine spirituelle darstellt – vergleichbar mit der Frage der Folgen des Klimawandels für die nächsten Generationen.

1.4 Identität und Spiritualität

Lassen Sie uns noch ein weiteres, grundlegendes Modell der Neuzeit rekapitulieren. Am Ende des 20. Jahrhunderts formulierte Hilarion Petzold (1992) in einem plausiblen Modell, was die menschliche, einmalige Identität ausmacht:

• der Leib und damit auch das Geschlecht und die Gestalt:

alles, was mit meinem Leib zu tun hat, »in mir drin« ist, mit Gesundheit, Kranksein, Leistungsfähigkeit, Aussehen, mit der Art und Weise, wie ich mich selbst mag und »in meiner Haut« wohlfühle – oder eben nicht;

• die sozialen Beziehungen:

das soziale Netzwerk, also meine Freunde, meine Familie, mein Arbeitsplatz, die sozialen Beziehungen, Ehe, Freizeitgestaltung, Vereinsleben u. a.

• die Heimat bzw. materielle Sicherheit, Wohn- und Zeiträume:

Einkommen, Geld, Materielles, aber auch der Raum, dem ich mich zugehörig fühle, der Stadtteil, in dem ich mich beheimatet oder fremd fühle;

• die Fähigkeiten, die sich im Beruf, im gesellschaftlichen Engagement und in Hobbys ausdrücken:

Arbeit und Leistung, Tätigkeiten, mein »Tätig-Sein«, mit dem ich mich identifiziere und mit dem ich identifiziert werde. Lebensleistung ist mehr als bezahlte Arbeit, sie besteht auch in den Rollen, die ich ausgefüllt habe, über die ich mich definiert habe. Was bin ich wert im Kontext meiner Arbeit und bin ich dann wertlos, wenn ich das erwartete Pensum nicht mehr leisten kann? Sich als selbstwirksam zu erleben, bedeutet für viele Menschen, dass sie sich selbst als wertvoll erleben können.

• die Ideen und Wertewelt eines Menschen:

Moral, Ethik, Religion, Liebe, Hoffnungen, Traditionen, Glaube, Sinnfragen (gesellschaftliche und persönliche sowie deren Verhältnis zueinander); das, was ich für richtig halte, von dem ich überzeugt bin; meine persönliche Lebensphilosophie und Grundüberzeugungen.

Die Identität kann nach Petzold als Bündel dieser Identitätsmomente aufgefasst werden. Menschen identifizieren sich auf der