Bis bald in Münster! - Karin Hildebrandt - E-Book

Bis bald in Münster! E-Book

Karin Hildebrandt

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Beschreibung

"Bis bald in Münster!" ist der Fortsetzungsroman von "Bis bald in Frankreich!". Die drei Freundinnen Johanna, Carla und Isabelle stehen immer noch unter dem Eindruck ihrer erlebnisreichen Ladiestour nach Südfrankreich, die inzwischen drei Wochen zurückliegt. Während sie in ihren Alltag eintauchen, bereiten sie eine Präsentation ihrer Reise vor, um Freunde und Familie an den Ereignissen teilhaben zu lassen. In diesem Jahr werden zwei Gäste erwartet, auf die alle äußerst gespannt sind. Zum einen ist da Maurice, der Tramper, den sie auf ihrer Fahrt aufgelesen haben, und zum anderen Antoine, der neue Freund von Isabelle. Doch die Frauen werden von der Vergangenheit eingeholt, denn der verschwundene Ehemann von Isabelle taucht unerwartet auf. Warum gerade jetzt? Was will er von Isabelle?

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EPUB
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Seitenzahl: 382

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Veröffentlichungen von Karin Hildebrandt:

Es war 1x (Gedichte)

ISBN 978-3-84821905-6

Alles Liebe, dein Krebs

ISBN 978-3-96051213-4

Bis bald in Frankreich

ISBN 978-3-96051667-5

„Nimm mich!“

ISBN 978-1-98314803-3

Planet der Freiheit

ISBN 978-3-74828394-2

Ein Hauch Familie

ISBN 978-3-34726959-0

Glaubst du, dass der frühe Wurm wartet auf den Vogel? (Gedichte)

ISBN 978-3-34728970-3

KARIN HILDEBRANDT

ROMAN

© 2022 Karin Hildebrandt

Autorin: Karin Hildebrandt

Umschlaggestaltung, Illustration & Satz: Christiane Kurschildgen

ISBN Softcover: 978-3-347-63892-1

ISBN Hardcover: 978-3-347-63893-8

ISBN E-Book: 978-3-347-63894-5

Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung »Impressumservice«, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Vorbemerkung der Autorin:

Alles, was in diesem Roman geschieht, ist nie geschehen. Alle Personen, die in diesem Roman leben, haben nie gelebt. Alle Örtlichkeiten und Firmen, die real existieren, haben meine Freude und Faszination dermaßen beflügelt, dass ich sie kreativ in die Handlungsstränge einbaute.

Ein kleiner Wal

Ein kleiner Wal sprach leis zum andern:

Sollen wir zur Welle wandern?

Sprach der andre: Das ist gut.

Die Welle trägt den Lebensmut,

schenkt Glück und Freude für den Tag,

grad so, wie ich es mag.

Kapitel 1

Seine Vorfreude war verflogen. Sein mit Liebe und Spannung aufgeputschtes Herz stand kurz vor einer Explosion und es gelang ihm nur mit äußerster Mühe, das kleine Zuckertütchen, das auf der Untertasse seines Milchcafés lag, aufzureißen. Er zwang sich, seine Hände zu beruhigen, in dem er sich mit allen Sinnen auf diese einfachen Handgriffe konzentrierte, die Hälfte des Zuckers langsam über den weißen Schaum mit dem Kakaoherzchen streute und den kleinen Löffel in die Hand nahm, ohne an der Tasse anzuschlagen. Er atmete einige Male tief durch, um seinen Körper vor der nächsten Herausforderung, also den Kaffee unfallfrei umzurühren, mit ausreichend Sauerstoff zu versorgen. Als die Kellnerin ihm seinen Apfelkuchen brachte, tanzte der Löffel immer noch in der Luft, doch sein Zittern hatte deutlich nachgelassen, so dass ihm diese Prozedur letztlich gelang. Was für eine erniedrigende Aktion. Er entschied sich, nicht näher über sie nachzudenken, sonst konnte er den Kuchen gleich an die Vögel verfüttern. Jetzt erst schaute er auf den Teller und erschrak erneut. Ein kleines rot-weiß-blaues Fähnchen steckte in der Mitte eines dicken Streusels.

»Holländische Woche!«, rief ihm die Kellnerin fröhlich zu und wand sich geschickt zwischen den Tischen hindurch zurück ins Café.

War es die Ironie des Schicksals, dass sich seine Vergangenheit in einer winzigen, an einem Zahnstocher befestigten niederländischen Flagge manifestierte, kaum dass er einen Schritt in diese Stadt gesetzt hatte? Sollte er sich von Anfang an der Verantwortung für sein Leben bewusst werden? Sich ihr bedingungslos stellen? Oder war der Wimpel ein Zeichen dafür, an anderer Stelle Ordnung in seine Vita zu bringen?

Mittlerweile dämmerte ihm, dass es wohl keine gute Idee gewesen war, sich hier so öffentlich zu präsentieren? Er hätte damit rechnen müssen, dass seine Stimmung umschlug. Schließlich kämpfte er seit Wochen mit diesem Phänomen. Mal himmelhochjauchzend, mal zu Tode betrübt. Mal optimistisch bezüglich seiner Reisepläne, dann wieder voller zermürbender Fragen und Zweifel. Und doch hatte er fahren müssen, allein um diesen Zustand zu beenden. Denn zu lange schon hatte er die Entscheidung vor sich hergeschoben, tausendmal abgewogen, tausendmal wieder verworfen, weil es für jedes Für und Wider tausend gute Gründe gab.

Der Apfelkuchen sah sehr verlockend aus. Er griff langsam nach der Kuchengabel und wunderte sich darüber, wie zielsicher und ruhig, ja wie normal er diesen banalen Handgriff wieder managen konnte. Der Anfall war vorüber. Glücklicherweise hatte er nur kurz gewährt. Und doch gab er sich nicht der Illusion hin, dass dieser friedliche Zustand lange andauern würde. Stirbt die Hoffnung wirklich zuletzt?

Der Himmel war überzogen von einem samtigen Blau. Fast wie im Süden während der gesamten Sommerzeit oder wie im Norden an den selteneren und dadurch besonders geschätzten Tagen. Die Sonne lachte, wie man so sagt. Lachte sie ihn an oder eher aus? Er entschied sich für an, obwohl ihm nach aus zumute war, und hoffte inständig, dass sie seine Stimmung bleibend anhob. Doch er hatte berechtigte starke Zweifel, zumindest in dieser seiner Situation.

Das Hotel war in Ordnung. Ein kleines Stadthotel im Zentrum eines belebten Ortsteils. Sein Einzelzimmer befand sich unter dem Dach. Es war schlicht und funktional eingerichtet und verfügte über alles, was er für einige Tage benötigte. Er war ohnehin nicht sehr anspruchsvoll. Sein Bedürfnis nach Komfort war in den letzten beiden Jahren auf ein Minimum gesunken. Allein auf die Dachschräge musste er ein wenig achten, damit er sich nicht ständig den Kopf anstieß. Doch nachdem er den Sessel auf die andere Zimmerseite gestellt hatte, konnte er sich nach dem Sitzen wenigstens sofort gerade aufrichten.

Noch immer besaß er seinen alten Seesack aus Jugendzeiten. Er hatte ihn bei seiner Ankunft achtlos aufs Bett geworfen und das Hotel sogleich wieder verlassen. Er war außerstande gewesen, sich noch länger in geschlossenen Räumen aufzuhalten. Eine Manier, die sich in den letzten Jahren verstärkt hatte, und nach dem heutigen stundenlangen Sitzen im Flughafen, Flugzeug und im Zug hatte er Bewegung und vor allem frische Luft gebraucht.

Der Kuchen schmeckte ausgezeichnet. Appeltaart met slagroom. Seine Kehle verengte sich. Jetzt nur keine Erinnerungen wachrufen, mahnte er sich und verbarg die kleine liebgemeinte Fahne seines Heimatlandes in den bunten Blüten des Blumentöpfchens auf dem Tisch. Er saß am Hafen. Das neu entstandene Szeneviertel an einem Seitenarm des Dortmund-Ems-Kanals hatte sich gut entwickelt. Zahlreiche Bars, Kneipen und Cafés hatten sich in den ehemaligen Lagerhallen eingefunden und wurden offensichtlich sehr gut angenommen. Die lange Promenade schien mittlerweile ein beliebter Treffpunkt für Jung und Alt zu sein, sowohl für die Stadtbewohner als auch für Touristen. Er sollte sich die Zeit nehmen, um Neues zu entdecken. Zwei Jahre waren eine lange Zeit. Sicherlich hatten sich innovative oder originelle Künstlerateliers, Musikclubs, Geschäfte, Werbeagenturen oder auch Büros angesiedelt. Schließlich war das nördliche Ufer als Kreativkai geplant worden. Trotz der alten Bausubstanz wirkte alles sehr modern und einladend.

Auf der gegenüber liegenden Kanalseite entdeckte er eine kleine Motorjacht. Ihr schneeweißer Rumpf strahlte ihm entgegen, lockte ihn und weckte eine Vielzahl von Emotionen, die er im Augenblick überhaupt nicht gebrauchen konnte. Wie hatte sein Leben nur derart aus dem Ruder laufen können? Er hatte doch alle Möglichkeiten für eine erfolgreiche Zukunft gehabt. Lag es in seinen Genen vergraben, dass es ihm nie gelungen war, den geraden Weg zu gehen, den direkten Weg in Richtung Zufriedenheit und Erfolg? Dass er immer nach unerreichbaren Sternen gegriffen hatte und dabei gestolpert war, konnte er nicht wirklich von sich behaupten. Dass er in Lebensumstände hineingerutscht war, die ihn überfordert hatten, schon eher. Woran hatte es ihm also gefehlt? Als Kind, als Teenager und vielleicht sogar heute noch als erwachsener Mann? Mut, Intelligenz, Halt, Charakter? Oder brauchte er gar nicht bei sich selbst zu suchen? Es wäre ein Leichtes für ihn, die Verantwortung auf andere abzuschieben, zum Beispiel auf seine Eltern, Lehrer, die Erziehungsberechtigten im Internat, seinen Onkel oder das Au Pair Mädchen Claire. Ach ja, nicht zu vergessen Greet, die gute Seele seines Elternhauses.

Er trank den letzten Schluck seines Kaffees, während er in die fröhlichen Gesichter der vier jungen Frauen am Nachbartisch schaute. Sie schienen das Leben zu genießen, einfach so, völlig unbeschwert und frei. Und vor allem so mühelos. Wann hatte er sich selbst zuletzt so leicht gefühlt? Es wollte ihm nicht einfallen, aber er wusste genau, wann er sich wieder so fühlen würde. Was geschehen musste, damit sein Leben wieder gut und richtig würde. Und er würde sich dafür nicht nur sehr anstrengen müssen, nein, eher anstrengen wollen. Er wusste nur zu genau, dass er seinen Einsatz dafür sehr hoch bemessen musste, damit seine Sehnsucht gestillt würde, seine Sehnsucht nach Heimat, Zuhause, Liebe, Vertrautheit und Sicherheit. Ja, auch Sicherheit, nicht nur für seine Seele.

Kapitel 2

Der Mai zeigte sich von einer wunderbaren Seite. Die Sonne strahlte schon am frühen Morgen, so dass sich jedes kleine Wölkchen längst aufgelöst und einen makellosen blauen Himmel zum Vorschein gebracht hatte. Und die Temperaturen waren auch schon so angenehm, dass Carla nur eine dünne schwarze Strickjacke über ihre ebenso schwarze Berufskleidung, eine hautenge Hose und eine lockere Leinenbluse, angezogen hatte. Sie war heute früh genug unterwegs, um sich an der Luft, am Frühling, an den bunten Blumenkästen auf den Fensterbänken und den leuchtenden Blumenampeln an den Straßenlaternen zu erfreuen. Nicht immer war ihr Blick offen für die Schönheiten der Stadt. Oft genug war sie spät dran und hetzte durch die Straßen oder das Wetter spielte nicht mit. Dann war sie froh, möglichst schnell oder auch trocken ihr Geschäft zu erreichen. Doch heute war der Start in den Tag, die Fahrt auf ihrem weißen Hollandrad so angenehm wie er nur sein konnte. Sie sollte lediglich ein wenig aufpassen, dass sich die Absätze ihrer Pumps nicht in den Pedalen verfingen. Besonders an einem Freitag, wenn sich die Woche dem Ende neigte und das Wochenende winkte, wäre ein solches Missgeschick mehr als unerwünscht.

Was nicht heißen sollte, dass sie nicht gerne arbeitete. Ganz im Gegenteil. Sie liebte ihr Handwerk. Friseurin zu werden, war seit Kindertagen ihr großer Traum gewesen. Woher dieser Wunsch kam, hatte sie nie herausfinden können. Sie kam zwar aus einer Handwerkerfamilie, wo alle gerne mit den Händen etwas schafften, doch das waren andere Gewerbe. Ihr Onkel Hans, der Bruder ihres Vaters, war Schreiner und seine Frau, Tante Elsbeth, bemalte mit Leidenschaft so manches fertig gestellte Möbelstück mit wunderbaren Ornamenten. Und dann gab es noch ihren Cousin Peter, der am liebsten in der Werkstatt seines Fahrradladens saß und schraubte, ölte und reparierte, während seine Frau Maria schneiderte. Carla war die Einzige, die gerne frisierte.

Inzwischen lag ihr Urlaub drei Wochen zurück. Doch noch immer spürte sie den Erholungswert ihrer Frankreichreise, die einen kurzen Zwischenstopp in der Provence und einen längeren Aufenthalt in der Camargue umfasst hatte. Es war bisher die längste Fahrt ihrer Ladiestouren gewesen, die sie schon an die Nord- und Ostseestrände, an die Mosel oder auch in die Niederlande geführt hatten. Sie und ihre beiden besten Freundinnen kannten sich seit Ewigkeiten. Johanna hatte sie auf der Realschule kennengelernt. Wenn sie nachrechnete, so lag das jetzt vier Jahrzehnte zurück. Puh, eine ganz schön lange Zeit. Isabelle war zehn Jahre später zu ihnen gestoßen und fünf Jahre jünger. Carla war sehr glücklich darüber, dass das Schicksal keine von ihnen bisher aus Münster hinausgetragen hatte, so dass sich die drei sehr oft sehen und intensiv am Leben der anderen teilhaben konnten. Ihre Familien waren eng miteinander verwoben und gemeinsam hatten sie schon so manchen Schicksalsschlag überwunden. Carla musste unwillkürlich an ihre eigene Scheidung denken, an ihre Ehe mit Manni und die anschließende Zeit als alleinerziehende Mutter, eine recht große Herausforderung in den 1980er Jahren. Nur ihren Freundinnen hatte sie es zu verdanken, dass diese Zeit nicht in einer Katastrophe geendet war und sie heute ein vertrauensvolles Verhältnis zu ihrer Tochter pflegte. Ja, Corinna war eine wundervolle junge Frau, äußerst selbstständig und zielstrebig. Im Grunde genommen wie ihre Mutter, also wie sie selbst.

Die Tür ihres Friseurgeschäfts stand bereits offen. Carla sah, wie Catharina Melis die beiden Blumenkübel draußen mit Wasser versorgte. Sie klingelte laut, grüßte und schob ihr Rad in den Hof. Dann umarmte sie ihre Kollegin, stellte sich auf die Straße und begutachtete den Gesamteindruck des Ladens. Noch immer war sie sehr stolz auf ihre gemeinsame Leistung, aus dem kleinen, etwas verstaubten Salon, wie man früher sagte, einen modernen Friseurbetrieb auf zwei Etagen entwickelt zu haben. Dass Catharina ihr vor 15 Jahren die Teilhaberschaft angeboten hatte, war ein großes Glück für beide Seiten gewesen. Carlas Blick wanderte an der herrlichen roten Backsteinfassade mit den schneeweißen Fensterrahmen hinauf bis zum typischen Mansardendach. Ihr Blick blieb wie so oft an ihrem Firmenschild hängen. Das moderne Design bildete einen wunderbaren Kontrast zu dem alten Gemäuer und gefiel ihr immer noch ausgesprochen gut.

Glücklicherweise war es irgendwann einmal gestattet worden, im Erdgeschoss große Fenster einzubauen. Das war lange vor ihrer Zeit gewesen und heute aus Denkmalschutzgründen wahrscheinlich nicht mehr möglich. Doch der Salon bestand schon vor dem Krieg. Catharina hatte ihn später von ihren Eltern übernommen, jedoch nicht allzu viel verändert. Die Moderne hatte mit Carla Einzug genommen und war auch Teil ihrer geschäftlichen Vereinbarung gewesen.

Die beiden Frauen verstanden sich gut, sowohl beruflich als auch privat. Die Einstellung, dass das Geschäft immer Vorrang hatte, teilten sie beide gleichermaßen, ebenso die Überzeugung, dass nur ein angenehmes Betriebsklima eine gleichbleibend gute Arbeit gewährleisten konnte. Zufrieden folgte Carla ihrer Kollegin ins Haus.

»Gesten Abend hat sich noch eine neue Kundin angemeldet, so dass du dich heute früh noch nicht um die Steuersachen kümmern kannst. Ich könnte das am Wochenende übernehmen«, schlug Catharina mit dem Blick auf den Terminkalender des heutigen Tages vor.

»Wer ist es denn?«

»Eine Heike Nass. Hatte eine junge Stimme am Telefon. Sie kommt um Neun.«

»Dann geh ich noch kurz rauf und mach mich fertig. Und was die Steuersachen angeht, schauen wir einfach mal, was der Tag so bringt. Vielleicht sagt ja noch jemand ab.«

Carla hatte es übernommen, sich um die finanziellen Angelegenheiten zu kümmern und Catharina um Organisatorisches, den Einkauf, das Personal und die Fortbildungen. Eine sinnvolle Arbeitsteilung, die den jeweiligen Interessen und Fähigkeiten der beiden entsprach. Sie funktionierte seit Jahren gut. Als Carla mit einem Arm voller Handtücher die Treppe herunterkam, stand die neue Kundin bereits in der Tür.

»Mein Name ist Heike Nass. Ich habe gestern angerufen.«

»Guten Morgen. Ja, meine Kollegin hat den Termin gemacht. Ich bin sofort bei Dir.«

Carla verstaute die Handtücher in einem offenen Regal in der Nähe der Waschbecken und streckte Frau Nass dann ihre Hand entgegen.

»Guten Morgen noch einmal. Ich bin Carla. Wir duzen uns hier alle. Ist das okay?«

»Ja, gerne«, erwiderte Frau Nass. »Ich heiße Heike.«

»Dann nimm doch bitte hier Platz«, antwortete Carla und wies ihr den zweiten der vier Plätze vor der langen Spiegelwand zu. Danach stellte sie sich hinter Heike und befühlte sehr vorsichtig ihr Haar.

»Was kann ich denn für dich tun?«

Heike war Mitte bis Ende Zwanzig, so alt wie Corinna, schätzte Carla. Ihr schulterlanges Haar hatte eine gescheckte Maserung, anders vermochte es Carla nicht zu beschreiben. Von Blond bis Braun konnte sie alle Schattierungen ausmachen. Es wirkte uneinheitlich und dadurch sehr unklar. Ja, so war es richtig ausgedrückt. Heikes Ausstrahlung ließ jegliche Klarheit vermissen. Nicht nur ihre Haarfarbe und der Haarschnitt, sondern auch ihr Gesicht. Sie hatte schöne hellblaue Augen, deren Strahlkraft durch eine dicke schwarze Kajalumrandung dermaßen in den Hintergrund trat, dass Carla sie fast anstarren musste, um das Blau zu erkennen. Irgendwie passte nichts zusammen.

»Meine Haare brauchen mal wieder einen Schnitt«, erklärte Heike und schob sich eine Strähne hinter das Ohr.

»Sie fühlen sich recht trocken an«, begann Carla vorsichtig.

»Das stimmt. Meinen Sie, meinst du, eine Packung würde da helfen?«

»Auf jeden Fall«, bestärkte Carla. »Ich vermute, das Färben ist der Grund für die Austrocknung.« Sie hob fragend eine Augenbraue und schaute aufmunternd in das Spiegelgesicht.

Als sie keine Antwort erhielt, sagte Carla: »Ich vermute, dieses Braun ist deine Naturfarbe,« und zeigte auf eine Strähne, die Heikes Augenbrauen glich.

»Ja, das stimmt.«

»Gefiel dir die Farbe nicht mehr?«

»Eine Freundin meinte, mir würde blond besser stehen. Und da sie gerade eine Ausbildung beim Theater macht, probierte sie bei mir einiges aus.«

»Mmh. Und was ist heute deine Meinung zu diesem Experiment?«

»Am Anfang fand ich das blond gut. Es ist ja auch gerade sehr modern.«

»Das stimmt wohl.«

»Aber die Farbe veränderte sich von Mal zu Mal. Also von einer Färbung zur nächsten.«

»Vielleicht gerade deswegen. Weißt du, Heike, es ist schwer zu verstehen, aber Haare leben. Und deswegen reagieren sie auf ihre eigene Weise. Und die ist nicht immer vorhersehbar, besonders dann nicht, wenn man ihnen keine Zeit zum Regenerieren einräumt.«

»So habe ich das noch nie gesehen.«

»Mit scheint aber, dass bei dir noch andere Faktoren eine Rolle spielen. Was machst du denn beruflich? Kommst du mit irgendwelchen Chemikalien in Berührung?«

»Nein, überhaupt nicht.« Heike dachte eine Weile nach, während Carla einen schwarzen Frisierumhang holte und ihre neue Kundin damit einhüllte. Inzwischen hatte sich auch der Laden gefüllt. Sandra, ihre Mitarbeiterin, bediente einen jungen Mann zwei Sitze weiter und Catharina hatte sich mit einer Stammkundin auf die erste Etage begeben. Leise Musik ertönte aus den kleinen Lautsprechern in der Decke.

»Könnte Chlor eine Rolle spielen?«, fragte Heike dann. »Ich gehe sehr viel schwimmen.«

»Oh ja. Das könnte eine Erklärung sein. Wie oft ist das denn der Fall?«

»Mindestens viermal die Woche. Ich bin Triathletin und muss viel trainieren.«

»Triathletin, puh. Das klingt anstrengend. Respekt! Da ziehe ich meinen Hut vor dir.«

Carlas überschwängliche Art schmeichelte Heike und sie wurde ein wenig lockerer.

»Wäre da nicht ein Kurzhaarschnitt praktischer, weil er weniger aufwendig ist und auch ohne viel Pflege immer gut aussieht?« Carla witterte ihre Chance, Heikes Typ ein wenig zu verändern.

»Aus dieser Perspektive betrachtet schon.«

»Darf ich ehrlich sein?«, fragte Carla.

»Natürlich, gerne.«

»Du hast eine sehr aparte Gesichtsform. Ein kurzer Haarschnitt würde deine zarten Gesichtszüge angenehm unterstreichen. Außerdem könnten sich deine Haare dann wesentlich schneller regenerieren und neue Kraft schöpfen. Und wir könnten eher beobachten, wie sich dein Naturhaar mit dem Chlor auseinandersetzt.«

Carla ließ noch einmal eine lange Strähne durch ihre Finger gleiten. Dann schmunzelte sie.

»Auf jeden Fall wäre das der schnellste und vor allem kostengünstigste Weg, wieder gesundes Haar zu bekommen.«

Jetzt erst entdeckte Carla in der sportlichen Kleidung Heikes durchtrainierte Figur. Beige Chino Hose, ein beige gemustertes T-Shirt und weiße Sportschuhe. Eine attraktive junge Frau, die sich offensichtlich anderen zuliebe verunstaltete, zumindest in Carlas Augen.

»Möchtest du über meinen Vorschlag in Ruhe nachdenken oder vielleicht …?«

»Nein. Du hast recht«, unterbrach Heike Carla. »Meine Haare wirken völlig kaputt und fühlen sich auch so an. Wenn ich sie in dieser Länge lasse, dauert es wahrscheinlich Jahre, bis sie sich erholt haben. Außerdem geht mir schon lange das ständige Föhnen auf die Nerven. Bei einem Kurzhaarschnitt würde ein Handtuch ausreichen. Eine höchst verlockende Vorstellung.« Sie lächelte.

Carla hätte ihrer Kundin diese spontane Entscheidung auf Anhieb nicht zugetraut, ließ sich aber gerne eines Besseren belehren.

»Soll ich dir meinen Vorschlag in einer Frisurenzeitschrift einmal zeigen?«

»Auf gar keinen Fall!«, antwortete Heike. »Fang einfach an. Ich vertraue dir. Du scheinst ein gutes Auge zu haben und hast sicherlich auch viel Erfahrung.«

»Also gut«, sagte Carla anerkennend, »dann fange ich mal an.«

Noch einmal betrachtete sie ihre neue Kundin von allen Seiten, bevor sie sie zum Waschen in den hinteren Teil des Raumes führte. Und während sie Heikes Kopf behutsam und ausgiebig massierte und mit einem speziellen Pflegemittel bearbeitete, spürte sie unter ihren Händen, wie sich die junge Frau langsam entspannte und begann, das kleine Verwöhnprogramm zu genießen. Und Carla selbst nutzte die Zeit, den neuen Haarschnitt für sie zu entwerfen.

Eine dreiviertel Stunde später war es dann geschafft. Eine neue Frau saß im Spiegel. Sie wirkte chic, sportlich und klassisch modern. Aber auch glücklich? Noch war ihr Gesichtsausdruck ernst. Carla holte einen großen Handspiegel, damit sich Heike von allen Seiten begutachten konnte, schwieg und wartete. Als sie schließlich zu einer Erklärung ansetzen wollte, begann ihre Kundin, ihren Kopf zu drehen und mit den Händen ihre Haare zu befühlen. Dann schaute sie Carla direkt ins Gesicht und strahlte.

»Es sieht toll aus! Ich werde ein wenig Zeit brauchen, um mich an mich selbst zu gewöhnen.«

»Du siehst toll aus,« sagte Carla. »Schau mal, hier sind nur noch die Spitzen gefärbt. In zwei Monaten hast du wieder gesunde Haare. Und wenn du danach gerne eine neue Farbe ausprobieren möchtest, dann …«

»Das glaube ich vorerst nicht«, unterbrach Heike sie. »Ich habe auf einen Schlag meinen ganzen Typ verändert, ich glaube, das reicht erstmal.«

»Das war ein mutiger Schritt.«

»Der sich gelohnt hat.«

»Ja, das sehe ich ebenso. Ich finde auch, dass deine schönen blauen Augen jetzt viel mehr strahlen.«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich«, antwortete Carla und hoffte insgeheim, dass Heike auch ihr Schminkverhalten in nächster Zeit anpassen würde. Aber für heute war es genug an Veränderung. Vielleicht hatte sie eine neue Kundin gewonnen. Man würde sehen. Aber in erster Linie ging es ihr immer um die Zufriedenheit ihrer Kunden und um eine gute Arbeitsleistung. Carla liebte kreative Herausforderungen. Allerdings sollte Heikes Haarschnitt die einzige für diesen Tag bleiben. Was folgte waren Stammkunden, die ihre liebgewonnenen Frisuren behalten, lediglich die Schnitte erneuern oder die Farbe auffrischen wollten. Also Routine.

In der Mittagspause schwang sich Carla auf ihr Rad und drehte eine Runde durch das Viertel. Je mehr sich die Woche dem Ende neigte, desto voller wurde es in ihrem Geschäft. Das war schon immer so gewesen und hing vielleicht damit zusammen, dass sich die Leute für die Events der freien Tage herausputzen wollten. Oder sie hatten einfach mehr Zeit für sich selbst. Wie auch immer, die Freitage und Samstage bedeuteten für sie und ihre Mitarbeiterinnen lange Arbeitstage. Entsprechend kurz plante sie ihre Tour. Sie folgte einer gewohnten Runde, vorbei an einem Park mit etlichen alten Bäumen, einer Kita und Grundschule, die auch von Corinna besucht worden waren, und einigen kleinen Geschäften. In einer Bäckerei kaufte sie ein paar Teilchen für den Nachmittag, um die Kolleginnen bei Laune zu halten. Alle liebten Kuchen. Schon auf dem Rückweg, passierte sie noch das Geschäft ihrer Tochter, den ehemaligen Schusterladen ihrer Eltern. Nach deren Tod, ihre Mutter war vor einigen Jahren an Krebs gestorben und ihr Vater hatte ohne sie nicht mehr leben wollen und war ihr schnell gefolgt, was ein großer Schock und Verlust für die beiden Frauen gewesen war, hatte Corinna das Geschäft übernommen und modernisiert. Carla war überaus stolz auf ihre Tochter. Maßschuhmacherei las sie zum tausendstel Mal und trat in die Pedale. Die erste Kundin des Nachmittags würde vielleicht schon warten.

Carla freute sich. Noch ein paar Stunden, dann konnte sie schon das Wochenende einläuten. Am morgigen Samstag war Catharina im Geschäft, so dass sie zwei volle Tage zur freien Verfügung hatte. Und sie hatte viel vor. Am Samstagvormittag wollte sie zum Markt fahren und einkaufen, vor allem Obst und Gemüse, Käse, etwas Schinken und frische Blumen. Mal sehen, was ihr bis dahin noch einfiel. Einen Einkaufszettel trug sie stets in ihrer Hosentasche. Als Vollzeitgeschäftsfrau blieb ihr nichts anderes übrig, als sich gut zu organisieren, damit ausreichend Freizeit zur Verfügung stand. Abends wollte Corinna vorbeischauen. Aber vor allem plante sie, sich endlich um die Urlaubsbilder zu kümmern, damit sie für ihren Dia-Abend gerüstet war.

Irgendwann am Anfang ihrer Ladiestouren hatte sie damit begonnen, ihre Reisen bildlich zu dokumentieren. Und das war so gut angekommen, dass ihr diese Aufgabe dauerhaft zugefallen war. Verantwortungsvoll in ihre Hände gelegt wurde, würden Johanna und Isabelle jetzt lachend sagen. Nun ja, in einem Punkt musste sie ihnen recht geben, sie hatte wirklich ein gutes Auge für interessante Motive und Perspektiven. An den meisten Fotos hatte sie selbst große Freude und nur wenige fielen durchs Raster und wurden endgültig aussortiert. Doch der Aufwand ließ sich nicht wegdiskutieren, im Gegenteil, er hat sich von Jahr zu Jahr erhöht. Vor allem durch die Digitalisierung, die den gesamten Prozess zwar vereinfacht, aber vor allem kostenneutral gestaltet hat, wodurch man sich später vor Fotos nicht retten konnte. Von Jahr zu Jahr arbeitete Carla daran, sich selbst zu disziplinieren, um nicht mit einem Wust von tausend oder mehr Bildern umgehen zu müssen.

Während die ersten Fotoabende in intimer Frauenrunde, später eventuell mit den aktuellen Partnern stattgefunden hatten, so waren sie inzwischen zu einem größeren Event mutiert, das sich keiner entgehen lassen wollte. Schon der enge Kreis der Freundinnen und ihrer Angehörigen umfasste knapp zehn Personen. Wenn sich Johannas Eltern und ihre Brüder einschließlich ihrer Familien anmeldeten, konnten sie leicht die doppelte Zahl erreichen. Und genauso würde es wohl in diesem Jahr werden. All diese Gedanken schossen Carla durch den Kopf, als sie am Abend müde und zufrieden nach Hause radelte. Ein ausgefülltes Wochenende stand ihr bevor.

Kapitel 3

»Habe ich dich etwa geweckt?« Carla schlurfte verschlafen zum Telefon und gähnte in den Hörer.

»Das tut mir leid. Was ist los? Du bist doch sonst um diese Zeit längt auf. Ist alles okay bei dir?«

»Ich bin gestern vor dem Fernseher versackt, das ist alles«, antwortete Carla, den Hörer mit in die Küche nehmend, wo sie die Kaffeemaschine anwarf und ein Pad in die Halterung legte. »Was gibt’s denn, Isabelle?«

»Ich wollte dich nur fragen, ob du zum Markt fährst? Wenn ja, könnten wir uns anschließend bei Eva treffen.«

Evas Kaffeestübchen lag ein wenig abseits in einer ruhigen Nebenstraße des Domviertels. Der Kaffee schmeckte dort großartig, ebenso die kleinen, aber feinen Küchlein. Am Wochenende bot Eva zusätzlich Mini-Quiches und Suppen an, alles selbst gemacht.

»Das klingt gut. Bei mir wird’s nur nicht ganz so früh werden.«

»Schon klar. Lass dir ruhig Zeit. Was hältst du davon, wenn wir uns einfach zusammentelefonieren?«

Isabelle wusste, wie schwer es ihrer Freundin fiel, morgens vor dem Kaffee Pläne zu schmieden.

»So machen wir’s. Bis dann. Tschüs.«

»Salut.«

Die französische Grußformel erinnerte Carla sofort an ihre Frankreichreise und an Antoine, Isabelles neuen Freund, den sie dort kennenlernen durften. Sein Anwesen in Saint-Rémy-de-Provence würde bald Feriengäste aufnehmen. Carla war sich sicher, dass sie nicht zum letzten Mal dorthin gereist waren. Sollte sie Französisch lernen, um dann freier zu sein? Ein guter Gedanke, der jedoch mit dem Wasser einer ausgiebigen Dusche fortschwamm.

Carlas Einkaufskorb war gut gefüllt, als ihr Handy klingelte. Wie erwartet war es Isabelle, die sich gerade bei Eva eingefunden hatte. In zehn Minuten würde sie selbst dort sein. Die beiden Frauen umarmten sich herzlich. Wir immer trug Isabelle ihre dunkelbraunen Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Sie konnte anziehen, was sie wollte, auf Carla wirkte sie immer wie aus dem Ei gepellt. Auch heute, wo sie eine sportliche blaue Jeans zu einer schlichten weißen Bluse trug. Natürlich waren auch ihre weißen Sneaker darauf abgestimmt. Sie sah einfach großartig aus.

»Du siehst gut aus«, sagte Isabelle stattdessen.

»Tatsächlich?«

»Ja, erholt. Der Schlaf hat dir gutgetan. War gestern noch viel los im Geschäft?«

»Wie immer freitags. Ich war um sieben zu Hause und froh, endlich die Füße hochlegen zu können.«

»Das kann ich mir gut vorstellen. Was hast du denn Gutes eingekauft? Dein Korb ist so voll.«

»Eigentlich nur ein wenig Grundausstattung, mein Kühlschrank ist gähnend leer. Und heute Abend kommt Corinna. Da habe ich zusätzlich ein paar Leckereien beim Türken eingekauft und ein Baguette. Das wird für uns beide ein Festschmaus.«

»Dazu Wein aus der Provence! Oder ist dein Kasten schon leer?«

Jede der Frauen hatte eine Kiste Rotwein aus Frankreich mitgebracht. Leider war damit der Stauraum in Johannas Mini restlos ausgelastet gewesen. Wie gerne hätten sie mindestens die doppelte Menge eingeladen, denn der Sommer lag noch vor ihnen und viele laue Sommerabende hoffentlich auch, vom Winter ganz zu schweigen.

Carla stupste ihre Freundin an. »Jetzt reicht’s aber. Die einzige Flasche aus dem Karton, die schon fehlt, habe ich neulich mit euch getrunken. Es sind also noch fünf ganze Flaschen vorhanden. Wenn ich jedoch darüber nachdenke, ist das eine gute Idee und die nächste wird heute Abend geköpft.«

»Das sieht nach einem europäischen Abend aus mit türkischer Küche und französischem Wein.«

»Dazu deutsches Stangenbrot französischer Art«, ergänzte Carla schmunzelnd. »Klingt auf jeden Fall verlockend.«

»Allerdings.«

Isabelle hatte einen der wenigen Tische im Garten ergattert. In einer windgeschützten Ecke konnten sie die volle Frühlingssonne genießen. Sie bestellten Kaffee.

»Wie sieht dein Wochenendprogramm aus?«, fragte Carla.

»Heute Abend gehe ich mit Marga ins Programmkino. Es läuft ein alter Film über Galileo Galilei. Kein Thema für dich.«

»Hm. Wahrscheinlich hast du recht. Aber Marga interessiert sich doch genau wie du für Mathe und Physik.«

»Ja, Gottseidank. So muss ich nicht alleine gehen. Für mich war dieser Mann ein Genie.«

»Lebte er nicht in Italien?«

»Genau. Wenn ich richtig informiert bin, dann war er Professor in Pisa und hatte ein unfassbares Wissen für große Zusammenhänge. Seine Neugier fasziniert mich. Er beschäftigte sich intensiv mit allen Bereichen, die ihn interessierten, zum Beispiel Philosophie, Physik, Mathematik, aber auch mit Astronomie oder den Ingenieurwissenschaften, besonders der Mechanik. Ich hätte ihn gerne kennengelernt.«

Isabelle war ins Schwärmen geraten.

»Dann ist der Film genau das Richtige für dich«, bestätigte Carla. »Geht ihr vorher noch zusammen essen?«

»Das nicht, aber anschließend hoffentlich noch ins Bistro am Kino, um den Film nachzubereiten. Ich bin sicher, dass ich nicht alles verstehen werde. Aber zu lange darf es nicht dauern, ich habe meinen Schreibtisch voller Klausuren. Die muss ich am Wochenende noch korrigieren.«

»Lehrer scheinen auch nie Feierabend zu haben.«

»Dafür sechs Wochen Sommerferien«, lachte Isabelle. »Übrigens die Ferien. Wie weit bist du denn mit den Fotos?«

»Gutes Stichwort. Das ist mein Wochenendprogramm. Endlich habe ich nicht nur die Zeit dazu, sondern auch die Lust. Und morgen soll es regnen, das erleichtert solche Arbeiten kolossal.«

»Das stimmt wohl. Wie viele Aufnahmen sind es denn?«

»Keine Ahnung, aber ein paar Hundert werden es wohl sein. Johanna hat mir auch noch welche zugeschickt. Ich brauche bestimmt allein den heutigen Tag nur zum Sichten und groben Sortieren.«

Carla setzte ihre riesige Sonnenbrille auf, über die sich die Freundinnen immer köstlich amüsierten, und inspizierte den Garten. Inzwischen waren alle Tische besetzt. An den großen gefüllten Einkaufstaschen sah sie, dass auch andere Gäste schon den Markt erfolgreich besucht hatten. Eine mannshohe Mauer aus Klinkersteinen, geschmückt mit vielen bunten Töpfen voller Frühlingsblumen, umgab diese kleine grüne Oase mitten in der City. Alle schienen sich hier wohlzufühlen. Auf jeden Fall machten alle einen entspannten Eindruck auf Carla.

»Sollen wir uns noch ein Eis gönnen, bevor wir uns an die Arbeit machen?«, unterbrach Isabelle ihre Gedanken.

»Eine hervorragende Idee«, antwortete Carla und freute sich darüber, die Zeit an der frischen Luft und zusammen mit ihrer Freundin noch ein wenig verlängern zu können. Als die Eisbecher serviert wurden, hörten sie eine fröhliche Stimme hinter sich.

»Na, da hatte ich doch den richtigen Riecher. Sich im hintersten Winkel der Stadt verstecken und heimlich dicke Eisbecher verputzen.«

Carla und Johanna drehten sich ertappt um. Sie hatten die Stimme von Johannas ältesten Tochter allerdings sofort erkannt und lachten.

»In dieser Stadt kann man auch nichts unbeobachtet tun«, konterte Isabelle. Sie umarmten sich herzlich.

»Hast du Zeit, dich zu uns zu setzen, Franz?«

Außer von ihrer Mutter, die von Namensabkürzungen nichts hielt, wurde Franziska von allen Franz genannt. Ein Relikt aus ihrer Kindheit, in der sie sich ausschließlich mit typischen Jungenspielsachen und technischen Dingen beschäftigt hatte. Nicht einmal ihre Mutter konnte sich daran erinnern, dass ihre Tochter jemals eine Puppe in der Hand gehabt hatte, höchstens um sie ihren Brüdern weiterzureichen. Und heute war sie mit ihren 16 Jahren schon eine kleine IT-Spezialistin, zu deren Freunden ausschließlich Jungen mit gleichen Interessen zählten. Jeder von ihnen brauchte regelmäßig ihre Hilfe, auf jeden Fall jeder mit einem Computer, und wer hatte den nicht?

»Na klar«, antwortete Franz, »wenn es um Eis geht, habe ich immer Zeit.«

Und schon wenige Minuten später schleckte sie strahlend an einem riesigen Nussbecher.

»Was treibt dich denn heute in die Stadt?«, fragte Carla und deutete auf die große abgewetzte Ledertasche, die recht ausgebeult neben Franz‘ Stuhl stand.

»Mmmmh«, schmatzte Franziska, während sie sich genüsslich einen Löffel Eis mit Sahne auf der Zunge zergehen ließ. »Ich brauchte neue Schuhe.«

»Und da wollte Johanna dich nicht begleiten?«

Der Teenager lachte. »Erstens hat sie heute keine Zeit, weil sie für Oma und Opa backen muss. Und zweitens habe ich mir die Schuhe von meinem eigenen Ersparten gekauft. Da kann sie mir nicht mehr reinreden.«

»Zeig doch mal.«

Franziska öffnete ihre Tasche und holte ein paar in Papier eingeschlagene Sportschuhe heraus. Giftgrün. Bis auf die Farbe sahen sie ganz normal aus.

»Die erinnern mich an deine grünen aus dem Urlaub,« sagte Isabelle zu Carla.

»Seit wann trägt Carla denn solche Treter?«, fragte Franziska. »Die sind doch viel zu bequem. Darin kriegt sie doch sofort Schwielen.«

Alle schmunzelten. Es war eine Anspielung auf Carlas Vorliebe, ausschließlich Pumps oder Schuhe mit hohem Absatz zu tragen. Nur in ihrer Wohnung schlurfte sie mit Filzpantoffeln herum, um das Parkett zu schonen.

»Nicht frech werden!« Carla nahm einen Schuh in die Hand, drehte und wendete ihn und fragte dann: »Und darin kann man laufen? Na ja, auf jeden Fall hast du jetzt warme Winterschuhe.«

Isabelle grinste in sich hinein, während Franziska sich entrüstete.

»Wieso Winter? Das sind normale Schuhe fürs ganze Jahr.« Und mit vollem Mund zeigte sie auf ihre Füße, die in ähnlichen, nur ziemlich abgelaufenen und verblichenen schwarzen Sportschuhen steckten.

»Die jungen Leute haben heute einen komischen Geschmack«, sagte Carla. »Ich habe mich in deinem Alter ein wenig anders rausgeputzt.«

»Du wolltest dir ja auch Manni angeln«, konterte Franziska. »Und was hat es dir gebracht? Ganze zwölf unglückliche Ehejahre. Vielleicht hat es einfach an den falschen Schuhen gelegen? Hast du mal darüber nachgedacht?«

Jetzt musste auch Carla grinsen. »Ehrlich gesagt nicht.«

»Meine Freunde legen auf solche Äußerlichkeiten jedenfalls keinen Wert.«

»Deine Freunde sind Nerds. Die sehen nur Computer und entsprechendes Zubehör mit erotischen Augen.«

Franziska dachte kurz nach. »Kann schon sein«, antwortete sie. »Und ehrlich gesagt tu ich das auch.«

»Das wird sich schon rechtzeitig ändern«, schaltete sich Isabelle ein. »Was hast du denn am Wochenende vor?«

»Noch nichts. Die Jungs müssen sich auf ihre nächsten Klausuren vorbereiten, die fallen also aus. Habt ihr nichts zu tun für mich? Irgendetwas zu reparieren oder aufzurüsten? Vielleicht bei dir im Laden, Carla?«

»Da läuft alles wie geschmiert.«

»Schade.«

»Eventuell kannst du bei den Urlaubsbildern helfen? Da könnte doch etwas anfallen. Was meinst du, Carla?«

»Au ja! Und vor allem kriege ich dann den Ausschuss zu sehen, der vor allen immer erfolgreich versteckt wird, obwohl er am interessantesten ist«.

Franziska funkelte Carla mit leuchtenden Augen an. »Sag ja, Carla. Bitte!«

Eigentlich hatte Carla geplant, sich allein und in Ruhe in diese Arbeit zu vertiefen und dabei ein wenig in Erinnerungen zu schwelgen.

»Ich bring auch Kuchen mit. Mama backt mal wieder für eine Fußballmannschaft, da fällt bestimmt was ab«, drängte Franziska.

»Und ich dachte, sie backt für Oma und Opa?«, warf Isabelle neckend ein.

»Ja klar, die kriegen Besuch. Aber ihr wisst ja, wie Mama ist. Wenn sie in der Küche einmal loslegt, gibt es kein Halten mehr.«

»Wohl wahr, wohl wahr. Das mit dem Kuchen ist allerdings eine völlig neue Perspektive«, sagte Carla gespielt nachdenklich »Aber trotzdem lasse ich mich auf diesen Deal nur unter einer Bedingung ein.«

Sie kratzte den letzten Rest Eis aus ihrem Becher und lehnte sich zurück in ihren Stuhl. »Also, nur wenn ich deine Haare nachschneiden darf. Da fehlt inzwischen jegliche Fasson.«

Franziska war nicht begeistert. Sie hatte die dicken braunen Haare ihres Vaters geerbt und trug eine stachelige Kurzhaarfrisur. Sie liebte das Praktische, doch im Augenblick brauchte sie viel Gel, um die Haarspitzen aufzustellen. Das wusste sie selbst und obwohl sie sich jederzeit an Carla wenden konnte, war sie meist viel zu faul und uneitel dazu.

»Also was ist?«

»Na gut«, maulte sie, die letzte Nuss auf ihren Löffel schiebend.

»Morgen ab 10 Uhr kannst du antanzen. Dann schauen wir mal, wie weit wir mit den Fotos kommen. Und Montagnachmittag nach der Schule erwarte ich dich dann im Geschäft.«

Carla wusste genau, dass sie Franziska keine Zeit für Ausreden lassen und den Termin zeitlich sehr eng fassen musste. Wie bei einem Hund, den man sofort loben oder tadeln musste, um den direkten Zusammenhang zur Tat zu nutzen. Ein guter Deal. Sie grinste in sich hinein. Johanna würde ihr dankbar sein.

Sie plauderten noch ein Weilchen über Dies und Das, bevor sich jede von ihnen auf den Weg machte. Carla radelte auf direktem Weg nach Hause. Sie wollte den Nachmittag voll ausschöpfen und setzte sich sofort an ihren Schreibtisch, nachdem sie ihren Einkauf verstaut hatte. Zuerst legte sie auf ihrem Laptop zwei Dateien an. In die eine überspielte sie die gesamte Ausbeute an Fotos einschließlich Johannas Bilder. In der zweiten würden ausschließlich die ausgewählten Exemplare für die Präsentation landen. Puh, sechshundert Fotos. Das bedeutete eine Menge Zeit. Carla schaute nach draußen. Sowohl der blaue Himmel als auch der herrliche Sonnenschein erinnerten sie an ihre Reise. Das Wetter war einfach zu schade, um in der Wohnung zu sitzen. Kurzerhand zog sie mit einer Karaffe Wasser auf ihren Balkon um und machte sich ans Werk.

Ihre Fahrt durchs Münsterland in Johannas nagelneuem Mini. Das Violett des Autos gab den Fotos eine strahlende Note, das musste Carla einräumen, wenngleich niemand die Vorliebe ihrer Freundin für diese Farbe teilte. Zumindest nicht bei einem Auto. Leider konnte man das viel zu laute Plärren von Charly, dem Navigationsgerät, nicht auf ein Foto bannen. Es war allen auf die Nerven gegangen, bis auf Johanna, die sich jegliche Einmischung, den Ton zu verringern, verboten hatte. Der kurze Stau auf der Autobahn bei der Großbaustelle vom Braunkohletagebau Garzweiler. Ah, und dann das Stresspärchen im roten BMW neben ihnen, erinnerte sie sich. Leider gab es davon kein Foto. Es wäre wohl auch zu indiskret gewesen, die beiden streitenden Personen abzulichten. Dann die Raststätte kurz hinter der Grenze in Belgien. Ihr erster Stopp. Der Alltagsstress war schon von ihnen abgefallen. Jede von ihnen lachte in die Kamera. Gelöste, fröhliche Stimmung. Bis zur Weiterfahrt. Jetzt waren sie zu dritt. Johanna hatte ohne Absprache einen Tramper mitgenommen. Ihr Mitgefühl war mal wieder mit ihr durchgegangen. In diesem Zustand konnte man nicht mit ihr verhandeln, das wussten alle. Maurice! Er musste sich trotz seiner Länge von ca. 1,90 m auf den Rücksitz klemmen. Unverständnis von Johanna. Doch das war Carla egal gewesen. Der Störenfried sollte es möglichst unbequem haben, damit er bald wieder ausstieg. Schließlich befanden sie sich auf ihrer Ladiestour und nicht auf einem Benefizausflug. Metz. Ihr Zwischenstopp. Das grandiose Hotel, das Franz für sie gesucht und gebucht hatte. Mit Parkplatz mitten in der Stadt.

Die Stadtführung von Maurice als kleines Dankeschön für ihre großherzige Tat, ihn aufgegabelt zu haben. In Metz hatte sie viele Fotos geschossen. Da musste sie kräftig aussortieren. Der vermeintliche Ladendiebstahl von Maurice. Einfach göttlich. Wieder waren sie seine Retter gewesen. Er hatte sich selbst als wandelnden Notfall bezeichnet. Das geniale Abendessen im Le Toque. Variationen von Schnecken. Und dieses Sauerkrautgericht. Wie hieß es noch? Carla kam nicht drauf. Kein Problem. Johanna würde es sicherlich noch wissen. Ach ja, Maurice‘ Outing als Teil des Stresspärchens auf der Autobahn. Und seine Schwester, die Raserin, von der er sich auf der Raststätte getrennt hatte und die während der alleinigen Weiterfahrt noch in einen Unfall verwickelt worden war. Welch eine Dramatik in den ersten Tagen ihrer Reise! Dann die Weiterfahrt am nächsten Tag. Maurice durfte bei ihnen bleiben. Beide Frauen genossen inzwischen seine Anwesenheit. Sie selbst ganz besonders. Wer hätte das gedacht? Sie hatten sich halt inzwischen besser kennengelernt.

Unterwegs dann der Stopp durch die französische Polizei und die deutschen Zollbeamten. Der Verdacht, dass sie eine wertvolle Skulptur gestohlen hatten. Einfach lächerlich, aber Johannas Mini war am Tatort gesehen worden und zusammen mit dem großen Paket auf der Rückbank hatten sich ausreichende Indizien ergeben. Bei den folgenden Fotos musste Carla herzlich lachen. Johannas vergeblicher Kampf, das liebevoll und aufwendig eingepackte Geschenk nicht öffnen zu müssen. Sie hatte sich wirklich ins Zeug gelegt. Letztendlich hob sie den Inhalt, einen in der Sonne blinkenden Kronleuchter, in die Höhe. Das Geburtstagsgeschenk für ihren Gastgeber in der Provence, dem neuen Freund von Isabelle, die dort bereits auf sie wartete. Zu dritt wollten sie nach diesem Kennenlern- und Geburtstagszwischenstopp in die Camargue weiterreisen. Also kein Kunstwerk. Waren die Beamten enttäuscht? Zumindest das Gesicht von Commissaire Mireaux wirkte eher schmunzelnd.

Auf der nächsten Raststätte das zufällige Zusammentreffen mit Florence, Maurice‘ Schwester. Ganz anderer Typ, doch ebenso gutaussehend. Klassische Eleganz und Stutenbissigkeit. Wäre nicht der Anruf vom Zusammenbruch ihrer Tante in Avignon gewesen, hätten sie die Weiterfahrt zu dritt genossen. Aber so stieg Maurice zu Florence ins Auto, die versprochen hatte, jetzt wirklich gemäßigt zu fahren. Dann die störungsfreie und ruhige Weiterreise nach Saint-Rémy-de-Provence. Endlich Isabelle treffen. Und Antoine, ihre neue Liebe, kennenlernen. Sein Anwesen mit den beiden Ferienwohnungen, dem wunderschönen Garten und dem Pool. Oh je, ihr Auftritt am Morgen nach dem wundervollen feuchtfröhlichen Abend. Der weiße Bademantel über ihren nackten Beinen und die überdimensionierte Sonnenbrille. Sie sah aus wie ein Gespenst. Wie peinlich. Sie sollte weniger trinken, denn an diesen Morgen danach brauchte sie immer zuerst viel Kaffee und Zucker, bevor sie sich unter die Menschheit trauen konnte. Warum hatten ihre Freundinnen sie nicht gerettet wie sonst? Natürlich wegen Antoine. Sie wollten ihn endlich kennenlernen und hatten sie daher alleingelassen. Nun ja, sie durfte nicht ungerecht sein. Ihre Freundinnen hatten sie einfach nur weiterschlafen lassen. Wahrscheinlich in der trügerischen Hoffnung, dass dann ein Teil ihres Blutalkohols zwischen den Laken vertrocknen würde. Carla legte einen dritten Ordner an und beschriftete ihn mit Privat. Diesen musste sie vor Franz verstecken.

Sie schaute auf die Uhr. Noch hatte sie ein wenig Zeit, bevor ihre Tochter auftauchen würde. Daher ging sie in die Küche und öffnete eine Flasche des provenzalischen Weines, damit er ein wenig atmen konnte. Noch nie hatte eine ihrer Ladiestouren sie emotional so ergriffen. Lag es an den aufregenden Ereignissen dieser Reise? Sie waren in jeder Beziehung sehr ungewöhnlich, um nicht zu sagen abenteuerlich gewesen. Oder war es das fremde Land mit seinen wunderbaren Farben und Gerüchen, das sie immer noch anrührte? Schließlich hatten sie das Glück gehabt, durch Isabelle einen tieferen Einblick in die Kultur und die Lebensgewohnheiten der Südfranzosen genießen zu dürfen, und zwar außerhalb des typischen Touristenprogramms. Oder lag es vielmehr an den Menschen, die sie dort kennenlernen durften? Sie waren von Antoines‘ Familie mehr als offenherzig und freundlich empfangen worden und hatten sich bei ihnen sauwohl gefühlt. In der Rückschau betrachtet war ihr Zwischenstopp in Saint-Rémy viel zu kurz ausgefallen. Doch keine von ihnen hatte den Verlauf ihrer Fahrt vorhersehen können, sinnierte Carla und spürte dabei, dass all diese Überlegungen zwar zutrafen, jedoch nicht den Kern ihrer inneren Unruhe ausmachten. Lag sie vielleicht an dem Tramper?

Kapitel 4

»Habt ihr schon einen Termin gefunden?«

»Wir haben überhaupt noch nicht angefangen, danach zu suchen. Aber ich denke, es wird in den nächsten Tagen losgehen. Carla hat sich letztes Wochenende mit den Fotos beschäftigt. Und Franz hat ihr am Sonntag dabei geholfen«.

»Das bedeutet dann wohl, dass es doppelt so schnell ging«, hoffte Antoine.

»Wenn sie sich nicht bei jedem Bild verquatscht oder kaputtgelacht haben, ja.«

»Ach so.«

»Das bedeutet aber auf jeden Fall, dass die Erstellung der Präsentation viel schneller ging, weil Franz ein Profi ist.«

»Sie ist doch noch ein Teenager.«

Isabelle lachte. »Das stimmt. Sie ist erst 16, aber im Gegensatz zu uns anderen ein EDV-Vollprofi. Und was sie nicht weiß, das kann einer ihrer Freunde. Die bewegen sich alle in diesem Metier. Für mich wäre das absolut nichts.«

»Für mich auch nicht, aber solche Spezialisten werden immer wertvoller.«

»Das stimmt, wir alle profitieren von Franz‘ Know-how«, antwortete Isabelle. »Auf jeden Fall sag ich dir sofort Bescheid, wenn der Termin feststeht. Und ich werde auch ein wenig drängeln. Aber Johannas Familie ist groß. Da muss viel abgestimmt werden. Und dazu kommt, dass in diesem Jahr alle dabei sein wollen.«

»Um Frankreich kennenzulernen?«

»Das auch, aber vor allem, um dich kennenzulernen.«

Antoine konnte das strahlende Gesicht seiner deutschen Freundin leider nicht sehen, weil er im Garten saß und sie vom Handy aus anrief. Im Gegensatz zu seiner gemütlichen Position lief Isabelle gerade in die Küche. Sie liebte es, beim Telefonieren durch die Wohnung zu spazieren. Wenn sie mit Antoine sprach, ging das meist nicht, da sie normalerweise Videotelefonate führten. Auch das war Franz‘ Verdienst, die ihr alles entsprechend eingerichtet hatte. Es war wunderbar, den geliebten Menschen nicht nur zu sprechen, sondern auch zu sehen, obwohl er 900 km entfernt lebte. Nein, gerade weil er so weit von ihr entfernt lebte.

»Im Vordergrund steht doch eure Reise!«, wehrte Antoine ab.

»Das schon, aber du bist neu und außerdem der französische Exot.«

»Exot? Ich bin doch in Deutschland aufgewachsen.«

»Für die sesshaften Münsterländer bist du so etwas wie ein Außerirdischer.«

Für einige lange Minuten, so kam es Isabelle jedenfalls vor, hörte sie nichts. Sie schmunzelte sich selbst zu, denn ab und zu genoss sie es, Antoine ein wenig aufzuziehen, besonders in dem Wissen, dass er so schnell nicht aus der Ruhe zu bringen war. Dann vernahm sie ein Räuspern.

»Das war ein Witz, nicht wahr? So rückständig könnt ihr doch nicht mehr sein.«

Isabelle hatte das ihr sehr wohl registriert. Sie war zwar selbst zur Hälfte Französin, hatte jedoch ausschließlich in Deutschland gelebt. Mit dem ihr hatte er sie geschickt mit auf die Stufe der Gestrigen gestellt.

»Natürlich war das ein Witz. Alle sind nur neugierig darauf, in wen ich mich verliebt habe.«

»Ich bin sehr froh, dass ich es bin. Da werde ich auch mit eurer Rückständigkeit fertig.«

Beide lachten.

»Alle mögen dich sehr, nicht wahr?«

»Ja. Sie sind seit vielen Jahren meine Familie hier.«

Konnte sie sich vorstellen, nicht mehr in Münster, nicht mehr bei ihren Freunden zu leben? Familiär bedingt gehörte sie sicherlich nicht zu den sesshaften Menschen. Ihre Mutter war Französin und hatte aufgrund ihrer Herkunft schon Europäisches in die Familie hineingetragen und damit auch eine gewisse verwandtschaftliche Reiselust. Isabelle und ihr älterer Bruder waren in Düsseldorf aufgewachsen, wo ihre Eltern ein Ausstattungsatelier geführt hatten. Während Pascal lange in München gewohnt hatte, bevor er vor drei Jahren nach Basel umgezogen war, um eine neue Stelle in der Pharmaindustrie anzutreten, war Isabelle nach ihrem Studium in Münster ansässig geworden. Erstaunlicherweise hatten ihre Eltern anschließend eine Vereinbarung ihres Ehevertrages eingelöst, in der stand, dass sie nach dem Studium der Kinder ihren Lebensmittelpunkt nach Südfrankreich verlegen würden. Also zurück in die Heimat ihrer Mutter. Alle hatten von diesem Arrangement gewusst, doch keines der Kinder hatte ernsthaft mit der Umsetzung gerechnet. Heute lebten Isabelles Eltern glücklich in Montpellier und arbeiteten in der Tourismusbranche.