Mitten im zweiten Leben - Karin Hildebrandt - E-Book

Mitten im zweiten Leben E-Book

Karin Hildebrandt

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Beschreibung

Ein Albtraum! Ben Berger wacht in einem fremden Körper auf - als Bruder Bo in einem Franziskanerkloster. Er zweifelt an seinem Verstand. Wer ist er überhaupt? Und wie ist er an diesen Ort gekommen? Ohne Näheres zu wissen, kann er sich kaum jemandem offenbaren, den er nicht kennt. Doch wie fügt man sich als Fremdling unauffällig in ein Klosterleben ein, ohne die geringste Ahnung vom Alltag der Mönche zu haben. Schlimmer noch, ohne selbst ein gläubiger Mensch zu sein, zumindest weiß er nichts davon. Dann erfährt er auch noch, dass sein körperlicher Sponsor schwul war. Irritiert, verunsichert und völlig überfordert versucht Bo, sich in sein aufgezwungenes Leben einzufügen. Er fühlt sich wie ein Alien, dessen Identität unerkannt bleiben muss. Lange Zeit auch für ihn selbst, denn er hat keine Erklärung für sein bitteres Los. Ist es ein Irrtum? Eine Strafe? Auf jeden Fall eine einzige Katastrophe. Ängste und Zweifel wechseln sich ab, während ein Dilemma das nächste ablöst. Um seine missliche Lage noch zu vergrößern, lernt er auch noch eine Frau kennen, die ihn fasziniert. Er will das alles nicht. Und nur sehr langsam offenbart sich sein Schicksal als Chance, die Fehler seines vorherigen Lebens wieder gutzumachen. So ist er am Ende froh, unerwartete Hilfe von unerwünschter Seite angenommen zu haben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 475

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Vorbemerkung der Autorin:

Alles ist erfunden und ausgedacht,

für gemütliche Stunden zu Papier gebracht.

Alles soll unterhalten und erfreuen

und schöne Gefühle in den Alltag streuen.

© 2025 Karin Hildebrandt

Coverdesign von: Christiane Kurschildgen

Satz & Layout von: Christiane Kurschildgen

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Karin Hildebrandt, Pottenmühlenweg 28, 52064 Aachen, Germany.

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:

[email protected]

ISBN Softcover: 978-3-384-58190-7

ISBN Hardcover: 978-3-384-58191-4

ISBN E-Book: 978-3-384-58192-1

Veröffentlichungen von Karin Hildebrandt:

Es war 1x (Gedichte)

ISBN 978-3-84821905-6

Alles Liebe, dein Krebs

ISBN 978-3-96051213-4

Bis bald in Frankreich (Bd.1)

ISBN 978-3-96051667-5

„Nimm mich!“

ISBN 978-1-98314803-3

Planet der Freiheit

ISBN 978-3-74828394-2

Ein Hauch Familie

ISBN 978-3-34726959-0

Glaubst du, dass der frühe Wurm wartet auf den Vogel? (Gedichte)

ISBN 978-3-34728970-3

Bis bald in Münster (Bd. 2)

ISBN 978-3-34763892-1

Enno

ISBN 978-3-34793054-4

Leben

Das Leben ist Vergangenheit und Zukunft, die Gegenwart die Verrücktheit der Gesamtheit.

KARIN HILDEBRANDT

MITTEN IM ZWEITEN LEBEN

und kein Weg zurück

Roman

Inhalt

Cover

Urheberrechte

Titelblatt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Mitten im zweiten Leben

Cover

Urheberrechte

Titelblatt

Kapitel 1

Kapitel 41

Mitten im zweiten Leben

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1

Ein zartes Klopfen drang in sein Bewusstsein. Nicht jetzt, dachte er grob und verknüpfte augenblicklich dieses lästige Geräusch mit dem zögerlichen Tocken eines jungen Spechtes, der versuchte, einer prachtvollen Eiche ein paar Würmer zu entlocken. Sicherlich hatte ihm sein Gehirn einen Streich gespielt, denn er konnte keinen einzigen Vogel entdecken. Dennoch war er ausschließlich von Natur umgeben. Einer zauberhaften einzigartigen Natur, mit der er bisher noch nie in Berührung gekommen war. Von üppigen grünen Bäumen, deren Art er nicht zu bestimmen vermochte. Von bunten zarten Blumen, deren Düfte ihn betörten und seine Sinne umschmeichelten, so dass sich sein ganzer Körper anfühlte, als sei er von einem Bouquet süßer Aromen eingehüllt, um nicht zu sagen ausgefüllt. Der leise Singsang eines neben ihm dahinplätschernden Baches ließ ihn träumen und gedankenversunken mitfließen. Wo kamen nur die Harfenklänge her? Sie flirteten mit ihm. Er hielt seine Augen geschlossen und nahm alles mit einer Intensität auf, die ihm höchste Höhen sinnlicher Freuden versprach. Ein Zauber, der seine Sinne entflammte und für den es keine Worte gab. Und solche brauchte er auch nicht zu suchen, denn es war niemand da, dem er seinen Zustand hätte beschreiben können. Und auch das genoss er in vollen Zügen, denn so gehörte ihm dieser magische Liebreiz ganz allein. Auch wenn diese Idylle von göttlicher Hand erschaffen schien, so spürte er doch mit jeder Faser seines beseelten Körpers, dass er sie sich verdient hatte, dass sie zu ihm gehörte wie eine zweite Haut. Er lächelte zufrieden und mild, vielleicht auch ein wenig generös. Aber auf jeden Fall erwartungsvoll in Anbetracht der Genüsse, die noch auf ihn warteten. Und eines wurde ihm in diesem köstlichen Augenblick bewusst: Um nichts auf der Welt würde er diesen Ort freiwillig verlassen.

Ein zweites Klopfen drang an sein Ohr. Dieses Mal lauter und drängender, irgendwie unverschämt. Er gab ein Schnauben von sich, das jeden normal sensiblen Menschen abgewehrt hätte, doch die Tür seines Zimmers öffnete sich lautlos.

»Bruder Bo«, plärrte eine hohe, leicht schrille Stimme an sein Ohr und zerstörte auf einen Schlag den Zauber der letzten Minuten. Oder waren es Stunden gewesen? Tage? Wochen? Er hoffte es inständig.

»Bruder Bo, aufstehen!« Eine Hand berührte ihn vorsichtig an der Schulter. »Du kannst nicht schon wieder zu spät zur Frühmette erscheinen. Du kennst doch die Regeln und Abt Thaddäus wird nicht noch einmal Gnade vor Recht walten lassen.«

Hä!? Was sollte das Gefasel von Mette und Abt? Er hatte mit einem Kloster noch nie etwas zu schaffen gehabt. Und wieso Bo? Er hieß Benjamin Kirchberger oder auch Ben Berger, seit er in Kanada gelebt hatte und seinen neuen Mitbürgern die Aussprache seines Namens erleichtern wollte. Doch das war lange her und spielte längst keine Rolle mehr. Was sollte also dieses Theater? Wo war er hier gelandet. Und wie? Aber vor allem, warum?

Während sich die Tür ebenso geräuschlos wieder schloss, öffnete er langsam die Augen, um sie mit einem Ruck sofort wieder zu schließen. Das konnte doch nicht wahr sein! Durfte einfach nicht wahr sein! Ein schlechter Traum? Ein ziemlich mieser Traum! Das war die einzig erklärbare Möglichkeit. Es konnte sich hier nur um einen schlechten Traum handeln, dem Gegenstück seiner lieblichen Erfahrung von eben, seinem wirklichen Zuhause, seiner Bestimmung. Dort gehörte er hin. An keinen anderen Ort. Es musste sich hier um eine Verwechslung handeln, kam ihm ein rettender Gedanke in den Sinn. Natürlich! Irgendetwas in seinem Lebensplan musste durcheinandergeraten sein. Doch welches der beiden Bilder entsprach nun der Realität? Seiner Realität. Ein kalter Luftzug durchfuhr ihn. Konnte das Paradies nur eine Illusion gewesen sein? Eine üble Täuschung seiner Sinne? Er brauchte Gewissheit und dazu musste er seine Augen öffnen. Wider Willen begann er zu blinzeln und erschrak erneut. Er befand sich tatsächlich in einer Klosterklause, wie er sie aus schlechten Filmen kannte. Spärlich möbliert mit Bett, Nachttisch und Spind. Der einzige Luxusgegenstand schien der moderne Drehstuhl vor dem Schreibtisch zu sein, lederbezogen und sicher sehr bequem. Offensichtlich war er für lange Schreibtischstunden gedacht oder für intensives Lesen oder Beten. Ach ja, fast hätte er sie übersehen: Zwei höchst erbärmlich aussehende Lampen zierten sowohl den Schreibtisch als auch das Holzgestell neben dem Bett, das einem Nachttisch ähnlich sah.

Er atmete tief durch und schob die Bettdecke zur Seite, die ebenfalls schon bessere Zeiten gesehen hatte. Er schwang sich auf. Doch es gelang ihm nicht, sich auf den Beinen zu halten. Mitten im Schwung ließ er sich lachend zurück aufs Bett fallen. Er wurde irre. Die Sinne, die ihn vor wenigen Augenblicken noch in einen erregenden Zustand versetzt hatten, wollten ihn jetzt in den Wahnsinn treiben. Noch einmal wagte er einen Blick auf seinen Körper. Einen solchen Schlafanzug hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht getragen. Die Streifen erinnerten ihn an einen Sträflingsanzug und die Hosenbeine gingen ihm gerade bis zu den Knöcheln. Mühsam setzte er sich auf. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Spielte ihm jemand einen Streich oder wurde er paranoid?

Leichte Panik keimte in seinem Inneren auf. Und doch, als hätte er es schon hunderte Male gemacht, stand er auf und griff nach seiner Wäsche. Dann schlüpfte er in das braune Habit und schlang das weiße Seil nachlässig um seinen Leib, damit die Kutte fest saß. Woher in Gottes Namen war diese Selbstverständlichkeit plötzlich gekommen? Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, jemals ein kleidgleiches Gewand getragen, geschweige denn, es eigenständig und mühelos angezogen zu haben. Er huschte in die Sandalen und zog die Kapuze über seinen Kopf. Dabei vermied er es, nach einem Spiegel Ausschau zu halten, und verbannte jeglichen Gedanken daran, sich über den Schädel zu streichen, um jeder weiteren erschreckenden Überraschung aus dem Weg zu gehen.

Stattdessen nahm er eine leichte Bewegung wahr. Oberhalb der Tür hing ein verblichenes Bild mit dem Portrait eines Engels. Bo erkannte nur an den Flügelspitzen zu beiden Seiten des Kopfes, dass es sich bei dieser Darstellung um einen Engel handeln musste. Dunkle Augen, voller Mund, schmale gerade Nase und lockiges schulterlanges Haar, all das hätte ebenso einem Menschen zugeordnet werden können. Bis auf die ebenmäßigen Gesichtszüge, die irgendwie überirdisch wirkten. Aber auf die Schnelle fühlte er sich nicht in der Lage, diesen Ausdruck näher zu beschreiben. Na ja, sagte er sich, in einem Kloster neigt man sicherlich zu Verklärungen. Andererseits, und bei diesem Gedanken wurde ihm leicht flau im Magen, kam ihm das Gesicht bekannt vor.

Bo schaute noch einmal genau hin und sah, wie sich der Mund des Engels zu einem Schmunzeln formte.

Was hast du denn erwartet?

Verwirrt und erschrocken verließ Bo den Raum.

2

Sein Zimmer befand sich in der Mitte eines langen breiten Ganges. Bo sah sofort, dass die Holzdielen die beste Zeit längst hinter sich gelassen hatten und dringend einer Aufarbeitung bedurften. Nur wenige Bilder schmückten recht lieblos die weißen Wände und gaben ihr Bestes, ein wenig Atmosphäre zu verbreiten. In seinen Augen vergebens. Vielleicht hätten farbige Bilder etwas mehr bewirken können. Doch was soll’s. Es konnte ihm egal sein.

Er schaute nach rechts und links, nichts rührte sich. Wohin sollte er gehen? Wollte er sich überhaupt auf den Weg machen? Offensichtlich schon, kam ihm in den Sinn. Schließlich war er ohne mit der Wimper zu zucken sehr routiniert in diese fremden Kleidungsstücke geschlüpft, um der fremden Stimme zu folgen. Nun ja, er konnte ja schlecht in seinem Sträflingsschlafanzug dem Störenfried nachjagen. Und trotzdem. Warum hatte er keinen Blick in den Schrank gewagt? Vielleicht hätte er dort etwas Anständiges zum Anziehen gefunden. Ja, das wäre eine Option gewesen, doch jetzt war es zu spät. Und obwohl ihm dieser Gedanke überhaupt nicht behagte, musste er sich eingestehen, dass er sich in diesem langen braunen Gewand nicht unwohl fühlte.

Noch einmal schaute er in beide Richtungen. Nun nahm er am Ende des Ganges nach links eine winzige Bewegung wahr. Der Zipfel einer Kutte bewegte sich kurz über dem Boden leicht hin und her. Bo folgte diesem Wink und stieß auf den Bruder, der ihn geweckt hatte.

»Na endlich!«, platzte es aus diesem heraus. Und ohne ein weiteres Wort von sich zu geben, schritt der Fremde zügig voraus, den Kopf gesenkt und die Arme in den weiten Ärmeln seines Gewandes verborgen.

Bo tat es ihm nach und schob ebenfalls seine Hände in die Ärmel seiner Kutte, doch er nahm nicht die demütige Kopfhaltung an. Stattdessen verfolgten seine Augen unablässig ihren Weg, um einen ersten Eindruck vom Kloster zu gewinnen. Denn daran, dass er sich in einem Kloster befand, hegte er inzwischen keinen Zweifel mehr. Nachdem sie den Hauptgang erreicht hatten, sah er, dass das Gebäude ein großes Karree bildete, in dessen Innenhof sich eine schön angelegte Gartenanlage mit blühenden Sträuchern, Blumenreihen und einem mittig gebauten Brunnen befand. Ein zum Träumen einladender Ort, der offensichtlich auch dazu gedacht war, denn etliche Bänke und kleine Gartentische verteilten sich an den Randzonen.

Der Hauptgang war mit seinem alten Mosaiksteinboden weniger dürftig gestaltet als sein Schlaftrakt. Die auch hier weiß getünchten Wände wurden immer wieder von schönen Reliefbildern geschmückt und sogar von einem kleinen Steinaltar. In seiner anspruchsvollen Ausgestaltung zeigte er den Reichtum des Ordens, vielleicht auch nur den früheren. Am liebsten hätte Bo ein wenig innegehalten, um einen näheren Blick darauf zu werfen, doch sein angeblicher Mitbruder bestimmte im Augenblick das Tempo, das er nicht langsam nennen konnte, obwohl er einen Kopf kleiner war als Bo selbst. So marschierten sie an einer Reihe in tiefen Mauernischen verborgenen Fenstern auf ihrer Linken vorbei, die immer wieder einen Blick hinaus in den wundervollen Klosterhof ermöglichten. Ein Kreuzgang, von dem auf der rechten Seite viele Türen ausgingen. Dezente Schilder wiesen auf die Nutzung der Räume hin: Refektorium, Necessarium, Skriptorium konnte er im Vorbeigehen erhaschen. Ein schwerer Seufzer entfuhr ihm. Sein Lateinunterricht lag lange zurück.

Plötzlich öffnete sich wie von Geisterhand geführt eine breite dunkle Holztür vor ihnen. Bo erkannte sogleich einen Kirchenraum und senkte seinen Kopf. Ein zarter Weihrauchduft umfing ihn. Sein Retter, Bo musste bei diesem Namen leicht in sich hineingrinsen, ging nach einem tiefen Kniefall schnurstrakts in die dritte Reihe und setzte sich auf die Holzbank, die Hände in seinem Schoß faltend. Wie selbstverständlich, doch eher alternativlos, schloss Bo leise die Tür und landete schließlich neben ihm.

Alle schienen auf diesen Augenblick gewartet zu haben, denn sofort ertönte von irgendwoher ein helles Glöckchen. Anschließend setzte ein leises Gemurmel ein. Bo fühlte sich sofort an seine Kindheit erinnert und stimmte wie selbstverständlich in das Gebet ein: Angelus Domini nuntiavit Mariæ… Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft …

Nach der Andacht erklang wiederum ein Klingeln, das Zeichen für alle, sich zu erheben und schweigend die Kapelle zu verlassen. Bo hielt sich ein wenig abseits, beeilte sich jedoch, in den Gang zu treten. Einmal, um sich zu orientieren, und zum anderen, um die Mönche näher in Augenschein nehmen zu können. Besonders seinen Helfer. Er musste unbedingt dessen Namen erfahren, wenn er nicht offenbaren wollte, was ihm heute widerfahren war und was er selbst nicht verstehen konnte. Wie hätte er jemandem seine Situation erklären sollen? Und was überhaupt? Er suchte ja selbst nach Antworten. Und es war ihm sonnenklar, dass er ohne schlüssige Erklärungen Gefahr lief, in einer psychiatrischen Einrichtung zu landen.

Vor dem Portal wartend, tat er es seinen Mitbrüdern nach und schob seine Kapuze vom Kopf. Niemand nahm Anstoß an seiner Person. Jeder grüßte, lächelte und folgte den anderen gemessenen Schrittes, wohin auch immer. Ein mehr als eigenartiges Gefühl ergriff ihn. Wie war es möglich, dass alle ihn kannten und er niemanden? So etwas war doch gar nicht möglich. Jetzt nur nicht hysterisch werden, ermahnte er sich. Alles wird sich aufklären. Dann sah er auch seinen Retter die Kapelle verlassen und ein irgendwie vertrautes Gefühl erfüllte ihn. Die feinen schmalen Hände waren ihm bereits beim Morgengebet aufgefallen. Seine kräftige Figur schien nicht so richtig zu ihnen zu passen, doch sein fein geschnittenes Gesicht und die dünnen blonden Haare wiederum schon.

Lächelnd kam sein Assistent, die Bezeichnungen Retter oder Störenfried empfand er inzwischen unpassend, auf ihn zu. Bo hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte. Ohne Namen konnte er ihn auch nicht ansprechen.

»Danke für heute früh«, sagte er schließlich neutral und fragte sich gleichzeitig, wer ihm diesen rettenden Gedanken eingeflößt hatte. Spürte er jetzt ein vibrierendes Lachen in seinem Bauch? Er wurde tatsächlich verrückt und vielleicht war es sogar besser, in einer geschlossenen Einrichtung zu sich zu kommen. Oder war dieses Kloster sogar eine solche? Verwirrt und verärgert schob er all diese Gedanken von sich und konzentrierte sich wieder auf sein Gegenüber.

»Gern geschehen, Bo, aber …«

Ein anderer Mitbruder kam würdevoll auf sie zu und Bo beobachtete, wie sein Assistent eine respektvolle Haltung einnahm. Es musste also eine angesehene Persönlichkeit sein, vielleicht der Abt oder sein Stellvertreter.

»Guten Morgen, Bruder Antonius. Bruder Bo.« Ein freundliches Lächeln wanderte von einem zum anderen und die beiden grüßten ebenso freundlich zurück.

»Möchtest du über unser Projekt sprechen, Bruder Thaddäus?«, hörte Bo Antonius fragen und speicherte gleichzeitig beide Namen ab.

»Vielleicht heute Nachmittag, Bruder Antonius. Doch es ist noch nicht sicher, ob ich im Hause sein werde. Ich lasse es euch rechtzeitig wissen.«

Antonius nickte und Bo fragte sich, was das Wort euch in diesem Zusammenhang wohl zu bedeuten hatte.

»Auf ein Wort«, wandte sich Bruder Thaddäus dann an Bo und bat ihn, ihm zu folgen. Bo rutschte das Herz in die Hose, in die Unterhose genau gesagt. War es jetzt soweit? War er aufgeflogen? Es würde ihn nicht wundern. Nach wenigen Schritten öffnete Thaddäus eine Tür, an der nur schlicht Abt Thaddäus stand, und ließ ihn eintreten. Sie setzten sich nicht. Bruder Thaddäus stellte sich zwei Schritte entfernt vor Bo auf und fragte ihn: »Fällt dir etwas an mir auf, Bruder Bo«?

Bo hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit einer solchen Frage. Er zwang sich zur Konzentration.

Schau auf seinen Leib, vernahm er ein inneres Vibrieren.

»Oh«, begriff er sofort und sagte kleinlaut. »Der Strick.«

Thaddäus schaute ihn streng an, öffnete leicht den Mund, um zu seinem nächsten Satz anzusetzen, und schloss ihn wieder. Stattdessen atmete er tief durch.

»Es musste heute früh wohl alles sehr schnell gehen«, mahnte Thaddäus milde und Bo senkte den Kopf.

»Ich bitte um Entschuldigung«, brachte er mühsam heraus.

»Und sonst?«, fragte Thaddäus nach einer längeren Pause.

Was sonst? Bo war irritiert und restlos überfordert. Außerdem hatte er seit dem Morgen jeglichen Realitätssinn verloren und noch nicht gefrühstückt. Und ohne Kaffee war ihm schon immer das Denken schwergefallen.

»Kann ich mein Fehlverhalten irgendwie wieder gutmachen?«, fragte er, sichtlich erleichtert über diesen vom Himmel gefallenen Einfall.

»Wir sind eine Klostergemeinschaft und keine Erziehungsanstalt«, erklärte ihm Thaddäus ruhig. »Wir haben uns Regeln auferlegt, nach denen wir leben. Das ist richtig, ja, und die Einhaltung ist auch sehr wünschenswert. Doch wenn wir eine davon einmal nicht einhalten, ist das zwar nicht gut zu heißen, aber lässlich.«

Bo atmete tief ein. Der Kelch war wohl an ihm vorüber gegangen. Der Abt schien ihn zu mögen. Aber wahrscheinlich mochte er alle seine Schäfchen, schon seines Amtes wegen. Doch Thaddäus rührte sich immer noch nicht. Bo wurde ärgerlich. So langsam ging ihm die ganze Situation auf die Nerven. Sollte er den Raum einfach verlassen? Weinend zusammenbrechen? Oder Thaddäus anschnauzen? Schon allein, um seine unendliche Ruhe zu erschüttern? Was wollte er denn?

Am Ende fiel Bos Blick erneut auf den weißen Strick, den Thaddäus um seinen Leib gelegt hatte, und er entdeckte drei kunstvoll geknüpfte Knoten, die diesen zierten. Erschrocken schaute er an seinem eigenen Leib hinunter. Dort fehlten sie. Jetzt verstand er.

In diesem Augenblick trat der Abt näher an ihn heran.

»Du scheinst heute Morgen neben dir zu stehen«, sagte er freundlich. »Ich hoffe, du wirst nicht krank.«

Und mit diesen Worten löste er Bos Kordel, legte sie ihm erneut um den Bauch und knotete sie vorschriftsmäßig und überaus gekonnt neu. Dabei hob Bo beide Arme nach oben und breitete sie weit aus wie das Kruzifix in der Kapelle.

»Nun ist dein Zingulum korrekt geknotet. Lass uns frühstücken gehen, Bruder Bo.«

3

Robotergleich folgte Bo seinem Vorgesetzten in den Speiseraum, der sich nicht allzu weit von der Kapelle befand. Einerseits freute er sich wie ein Kind darüber, dass Thaddäus ihn nur sanft zurechtgewiesen hatte. Er schien ein weiser Mann zu sein, der seinen wirren Zustand sofort erkannt, wenn auch nicht verstanden hatte. Er würde ihm zutrauen, später noch einmal auf sein Fehlverhalten zu sprechen zu kommen. Bis dahin jedoch hoffte Bo, etwas Klarsicht gewonnen zu haben. Im Augenblick war er nur froh und dankbar über die gewonnene Zeit, denn andererseits gärte es in seinem Inneren wie in einem angesetzten Sauerteig.

Refektorium las Bo, als sie den Speiseraum betraten. Es war ein gemütlicher, teilweise holzgetäfelter Raum mit einer langen Tafel. Bis auf zwei Stühle waren alle Plätze besetzt. Bo hatte gehofft, sich neben Antonius setzen zu können, doch jetzt blieb ihm nur die Option, den Stuhl neben Thaddäus zu benutzen. Eine angenehme ruhige Gesprächsatmosphäre beherrschte den Raum und lenkte ihn von seinen inneren Nöten ein wenig ab. Offensichtlich bestand in diesem Kloster kein Schweigegelübde beim Essen, was irgendwie angenehm, doch in seiner Situation auch nicht ungefährlich war. Sobald die beiden sich gesetzt hatten, verstummten alle Gespräche und ein kurzes gemeinsames Tischgespräch wurde gemurmelt. Dann griffen alle zu und erst jetzt entdeckte Bo den üppig gedeckten Frühstückstisch. Offensichtlich vertrat man hier die Ansicht, dass nur ein gut gefüllter Bauch ein gutes Tageswerk vollbringen konnte. Wie wahr. Wie wahr.

Auch Bo griff zu. Bis zu diesem Augenblick hatte er noch keinen Hunger verspürt, doch die lockere Atmosphäre am Tisch und besonders die Tatsache, dass niemand so richtig Notiz von ihm nahm, ermutigte ihn, sich mehr und mehr zu entspannen und etwas Leichtes zu sich zu nehmen. Das ihm dargebotene Rührei lehnte er jedoch ab, fasste stattdessen bei Honig und Marmelade zu.

Ihm gegenüber saß Antonius und lächelte ihm vertraut zu. Bo lächelte zurück und freute sich über die Tatsache, dass in dieser Runde auch eine ihm zugewandte Seele saß. Dennoch blieb ein gewisses Unbehagen bestehen. Wie konnte es auch anders sein? Aber was half es. Er konnte es im Augenblick nicht ändern. Der Kaffee tat gut. Als er sich die dritte Tasse einschenkte, zog Antonius fragend seine linke Augenbraue hoch. War die Anzahl an Tassen etwa limitiert? Bo ignorierte sein Gegenüber und schaute in die Runde seiner Mitbrüder. Vielleicht sollte er sich so langsam an den Ausdruck Bruder gewöhnen. Ein befremdlicher Gedanke, mit dem er sich auf keinen Fall anfreunden wollte. Auf keinen Fall!

Am Tisch saßen dreizehn Männer. Oder sollte er Individuen sagen? Nein, eher Neutren, wenn er sich die einheitliche Kluft ansah. Sie sollte doch wohl eine Art von Gleichheit ausdrücken, oder? Er hatte sich nie mit der Bedeutung von Ordensregeln befasst. Auf jeden Fall trug keiner der Männer eine Tonsur, was ihn zuerst einmal über alle Maßen beruhigte, dennoch ein leichtes Jucken seiner Kopfhaut auslöste. Mit aller Kraft gelang es ihm, sich nicht zu kratzen. Wenn er jetzt wider Erwarten einen kahlen Schädel vorfände, würde er zusammenbrechen. Noch einmal ließ er seinen Blick in die Runde schweifen. Und bei genauerem Hinsehen klärte sich nun sein Blick ein wenig und er entdeckte tatsächlich große Unterschiede zwischen den einzelnen Männern. Braune, blonde, schwarze und graue Köpfe mit und ohne Bart, kurze, längere, lockige und glatte Haare, Augen in den verschiedensten Farbtönen und Helligkeiten, ernste, nachdenkliche und fröhliche Gesichter, auf jeden Fall ein Potpourri an Diversität. Bo war beruhigt. Also ein ganz normaler Haufen. Ein Funken Zuversicht regte sich am Horizont.

»Was macht die Arbeit an unserem Zaunprojekt, Bruder Bo? Schreitet sie voran?«

Thaddäus hatte ihm die Frage gestellt, ohne aufzuschauen. Glücklicherweise! Denn Bos entsetztes Gesicht hätte nur weitere Fragen aufgeworfen. Doch er hatte sich nur für den kurzen Augenblick verunsichern lassen, bevor das Heilmittel seines Vaters in sein Gedächtnis schoss: Angriff ist die beste Verteidigung. Natürlich nur im übertragenen Sinn und ausschließlich mit Worten. Plötzlich erinnerte er sich, dass er in einem Pastorenhaushalt aufgewachsen war und diese Worte ihn durch seine Kindheit begleitet hatten. Seltsam, dass ihn dieser Erinnerungsfetzen gerade jetzt einholte. Aber egal, er passte hervorragend zu seiner derzeitigen Stimmung.

»Läuft!«, antwortete er etwas flapsig, schöpfte sich Obstsalat in ein Glasschälchen und füllte seinen Mund in der Hoffnung, auf diese Weise jeder weiteren Nachfrage aus dem Weg zu gehen. Doch Thaddäus ließ sich so schnell nicht abspeisen. Auch wenn ihn Bos Antwort leicht irritiert haben sollte, in welche Richtung auch immer, ließ er sich nichts anmerken.

»Benötigst du noch Unterstützung?«

»Nein«, erwiderte Bo nach einem kurzen Zögern vollmundig und da er nicht davon ausging, ohne Handlanger einen Zaun errichten zu müssen, schoss er ins Blaue: »Wir sind im Plan.«

Jetzt schaltete sich Antonius ein, der Bos Einsilbigkeit nicht länger ertragen und erst recht nicht verstehen konnte. Er kannte ihn doch sonst nicht so zurückhaltend und bescheiden. Was war nur heute in ihn gefahren!

»Wir sind gut vorangekommen, Bruder Thaddäus. Das Wetter der letzten Tage hat uns in die Hände gespielt und die Holznachlieferung für die Vergrößerung wurde gestern auch geliefert, so dass wir morgen Abend fertig werden. Ganz fristgerecht.«

Der Abt schaute Antonius an und lächelte freundlich.

»Das hört sich gut an. Dann werde ich alles nach meiner Rückkehr aus Brest bewundern können.« Und mit diesen Worten blickte er in die Runde und sah, dass alle Mönche ihr Frühstück beendet hatten. Mit einem Kopfnicken beendete er das Mahl und die Mönche verließen den Raum.

An der Tür wartete Antonius auf Bo und führte ihn wieder zügig durch die Gänge. Bo versuchte, sich zu orientieren. Beide schwiegen. Als sie ihren Zimmertrakt erreichten, blieb Antonius vor der Tür schräg gegenüber Bos Stube stehen. Offensichtlich lagen ihre Zimmer nah beieinander.

»Ich nehme an, du brauchst noch etwas Zeit für dich heute früh.« Unschlüssig sah er Bo an.

Bo nickte. »Danke, Antonius. Ich weiß auch nicht, was gerade mit mir los ist.«

Und beides stimmte nur zu gut. Sowohl seine Dankbarkeit für seinen Mitbruder, der ihn nichtsahnend durch den verstörenden Morgen geführt hatte und ein echter Kumpel zu sein schien, als auch seine eigene Unsicherheit und die damit verbundenen Gefühlsschwankungen.

»Ich hol dich dann kurz vor acht ab.«

Und mit diesen Worten verschwand Antonius in seiner Klause schräg gegenüber und Bo tat es ihm schnell nach, denn ein Anflug von Aggressivität nistete sich in ihm ein. Natürlich wusste er nur zu gut, dass solche Gefühle absolut nicht in diese Umgebung passten und ihm vielleicht auch nicht zustanden, doch er konnte sich ihrer einfach nicht erwehren. Er schaute in sein ärmliches Reich und eine Woge Selbstmitleid ergriff ihn. Einer plötzlichen Eingebung folgend, vielleicht auch in einem Anflug von Wagemut öffnete er seinen Schrank und stieß auf den Gegenstand, den er bisher gefürchtet hatte wie der Teufel das Weihwasser. Der Spiegel umfasste die gesamte Innentür des Schrankes. Als er sich selbst in dem schmucklosen Mobiliar erblickte, schaute er in das Gesicht eines ihm gänzlich fremden Mannes. Voller Verzweiflung warf er sich auf sein Bett.

4

Früher hatte er Science-Fiction-Filme geliebt. Das Schlüpfen in eine Welt, die es nicht gab oder die er sich nicht hatte vorstellen können, hatte ihn fasziniert. Nie war ihm etwas unmöglich erschienen, weder das Aussehen völlig verrückter, oftmals verunstalteter Wesen noch ihre unbekannten Welten, ihre neuartigen Waffen oder die utopischen Fahr- und Fluggeräte. Er hatte nichts ausgeschlossen, weder für die Vergangenheit noch für die Zukunft. Keine noch so wirre Idee hatte er für unrealisierbar gehalten und sich mit ihr intensiv beschäftigt. Er erinnerte sich jetzt, dass er sich schon in seiner Kindheit stundenlang in seinem Zimmer vergraben hatte, um entsprechende Bücher zu lesen, sofern er sie in der Bibliothek hatte aufstöbern können.

Und doch waren das alles nur eingebildete Welten gewesen, Phantasien, die ihn zwar aus seiner realen Welt hinausgeführt hatten, jedoch immer nur kurzfristig und vor allem von ihm gewünscht in der Gewissheit, dass seine wahrhaftige Umgebung, seine Familie, sein Alltag mit allem, was dazu gehörte, ein grundlegender Bestandteil seines Lebens war. Sein Fundament. Der Boden unter seinen Füßen. Nur dieses Wissen hatte ihm die Möglichkeit gegeben, unbeschadet durch alle Welten zu reisen.

Bo berührte mit seiner rechten Hand seinen linken Arm und strich über das Lederband seiner Uhr, eine ihm seit langer Zeit vertraute Geste. Die Uhr war ein Geschenk seiner zweiten Frau Almuth, da war er sich zu hundert Prozent sicher. Er hatte sie sich gewünscht und all die Jahre in Ehren gehalten und gut gepflegt. Sie war ihm so vertraut wie der kleine Leberfleck zwischen Mittel- und Ringfinger seiner linken Hand. Plötzlich verunsichert, riss er seinen Arm hoch. Das Muttermal war verschwunden. Doch es war seine Uhr. Gottseidank wenigstens das! Er atmete tief durch, um sich ein wenig zu beruhigen, denn in diesem Moment wurde ihm schlagartig klar, dass die Uhr, dieses winzige Utensil das einzig sichtbare Zeichen seiner Person war, seines richtigen Lebens, seines Selbst, seines Ichs. Er war zu durcheinander, um die passenden Worte zu finden. Doch das Wichtigste war, er hatte sein Leben zurück. Jetzt war er sich sicher, dass er nicht übergeschnappt war, und ein wohliges Gefühl umfing ihn. Für ein paar Augenblicke schloss er die Augen. Er brauchte unbedingt Zeit, um seine innere Balance zu finden. Er war und blieb Ben Berger.

Bruder Bo.

Bruder Bo!

‚Ich heiße Ben Berger‘, antwortete Bo, ohne dass auch nur ein Buchstabe seinem Mund entwich. Seltsamerweise wusste er sogleich, woher die Stimme kam, und schaute auf das Konterfei über der Tür. Der Mund des Engels lächelte nachsichtig.

Das war in deinem anderen Leben, Bo.

‚Das verstehe ich nicht. Ich will kein neues Leben. Ich will mein altes zurück.‘

Dein altes Leben? Wenn ich mich recht erinnere, hast du alles dafür getan, es hinter dir zu lassen.

‚Daran kann ich mich nicht erinnern.‘

Das Lächeln des Engels wurde breiter.

Das wird schon noch kommen.

‚Und das Paradies heute früh? Das kann doch nicht nur ein Traum gewesen sein?‘

Der Engel ging nicht direkt auf Bos Frage ein.

Wer weiß schon immer, was Imagination oder Realität ist.

Dann zog er seine Stirn in Falten, ohne das geduldige Lächeln einzustellen. Oder war es ein höhnischer Zug?

Ist dir denn inzwischen eingefallen, wer ich bin?

‚Nein‘, schoss es sogleich ärgerlich aus Bo heraus, doch der Engel ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

Versuche, dich zu erinnern, Bo. Du hast jetzt nicht mehr viel Zeit, weil dein lieber Mitbruder Antonius dich in wenigen Minuten abholen kommt.

‚Das ist mir alles egal. Ich will mich nicht erinnern. Ich will nicht hier sein. Ich will überhaupt nichts mehr. Ich spring gleich aus dem Fenster.‘

Der Engel lachte herzhaft und laut auf, was wiederum nur Bo vernehmen konnte.

Das wird deinen Mitbrüdern schwer zu erklären sein, mein lieber Bo. Zu deiner Erinnerung, du bist hier im Erdgeschoss. Solltest du mit dieser Aktion deinem Leben wiederum ein Ende setzen wollen, so wird das aus dieser Höhe schwierig, um nicht zu sagen unmöglich werden.

‚Was heißt hier wiederum?‘

Ein langes Schweigen folgte.

Es wird Zeit, Bo.

‚Jetzt weiß ich wieder, wer du bist. Dein Lachen hat dich verraten.‘

Ich hatte nicht vor, meine Identität geheim zu halten.

‚Sariel. Engel Sariel, ja.‘

Und eine gewisse Erleichterung umfing Bo, obwohl die gewonnene Erkenntnis seinen Zustand in keiner Weise verbesserte.

‚Du hast mir geholfen, als …‘ Seine Erinnerung verschwamm.

Ich war immer an deiner Seite und es tut gut, dass du jetzt meinen Namen wieder kennst. Die Erinnerung, Bo, sie wird dich aufklären.

Seltsamerweise empfand Bo es nicht als komisch oder verrückt, einen Engel an seiner Seite zu wissen. Es war ein ihm durchaus vertrautes Gefühl. Sariel. Auch der Name erschien ihm nicht fremd. Und trotzdem: Was sollte das alles? Warum ließ er ihn nicht einfach in Ruhe?

Nur die Erinnerung wird dir Klarheit verschaffen, Bo. Denk über dein Leben nach, dann wirst du verstehen. Du hast deinen Weg selbst gewählt und eine neue Chance bekommen. Deine letzte.

‚Und Ben Berger?‘

Benjamin Kirchberger. Ben Berger. Das sind nur Worte, Namen, die jetzt keine Rolle mehr spielen. Es sind nur flüchtige Episoden.

‚Flüchtige Episoden? Das ist meine Identität!‘ Seine Stimme war lauter und aufgeregter geworden.

Du weißt doch, dass nur ich dich hören kann. Also beruhige dich wieder.

‚Aber …‘

Es gibt kein Aber, Bo. Deine Seele birgt deine Identität, deine Persönlichkeit und alles, was dich ausmacht. Und nichts anderes. Sie ist nicht austauschbar und wie du spürst, gehört sie immer noch dir.

‚Ich stecke also in einem fremden Körper‘, resümierte Bo fassungslos.

Genauso ist es.

Sariel wurde jetzt sehr ernst.

Bruder Bo, beziehungsweise sein Körper gab dir die Möglichkeit, das zu vollenden, was du begonnen, jedoch nicht beendet hast.

Bo hatte keine Ahnung, wovon Sariel sprach und fühlte sich mehr und mehr elend.

‚Was ist mit Bruder Bo geschehen?‘

Das muss dich nicht interessieren. Du bist jetzt Bruder Bo. Doch wenn es dich beruhigt, es geht ihm gut. Vergiss ihn jetzt und konzentriere dich auf deine Aufgabe, auf dein neues Leben. Du weißt, wie du mich findest. Ich bin immer noch an deiner Seite.

Dann klopfte es.

5

Bo sprang aus dem Bett und eilte zur Tür. Auf wundersame Weise fühlte er sich plötzlich voller Kraft und sogar ein wenig beschwingt. Wie konnte das sein? Wurde er doch nicht paranoid, sondern manisch-depressiv? Gehörten Gefühlsschwankungen zu seinen neuen Herausforderungen? Oder hatte ihn Sariel mit frischer Energie aufgepumpt? Ein feines Kichern vibrierte in seinem Bauch. Nein, wehrte er energisch ab, nein, nein. Er hatte nur den einen Wunsch, dass dieser Spuk ein Ende fand.

Antonius empfing ihn lächelnd.

»Geht es dir etwas besser, Bo? Ich habe mir Sorgen gemacht.«

»Danke für deine Fürsorge, Antonius. Ich weiß auch nicht so recht, was mit mir los war.«

Mehr sagte Bo nicht, denn er hatte nicht das Bedürfnis, sich näher zu erklären. Das Eis war ihm zu dünn geworden. Daher ergänzte er lächelnd:

»Die Ruhe tat mir gut. Jetzt bin ich wieder der Alte.«

Oh Gott, dachte Bo, der Alte. Welcher Alte bin ich denn gerade? Jedes Wort, das er sagte oder dachte, klang falsch, war falsch und doch sah er keine Möglichkeit, sich aus dieser Misere herauszuwinden.

»Auf jeden Fall fühle ich mich ausgeruhter und voller Energie. Wir können mit dem Zaun starten.«

Schwungvoll schloss er die Tür hinter sich und schritt eilig voran auf dem einzigen Weg, den er bisher kannte, nämlich Richtung Kapelle.

»Wo willst du hin?«

Antonius‘ Stimme hielt ihn zurück. Scheinbar verwirrt schlug sich Bo vor die Stirn und folgte seinem Mitbruder in die andere Richtung.

Das kann ja noch heiter werden, frotzelte er im Stillen. Wenn das so weitergeht, lande ich tatsächlich schneller in einem psychiatrischen Krankenhaus, als ich denken kann. Er musste zurückhaltender zu sein, solange er sich so unsicher auf diesem fremden Terrain bewegte. So folgte er Antonius den rechten Teil des Flures entlang, der bereits nach wenigen Schritten in den Garten führte. Sie durchquerten schön angelegte Gemüsebeete, die meisten mit kurzen Buchsbaumhecken eingefasst. Die Wege waren mit einfachen Pflastersteinen belegt, auf denen man gut laufen konnte.

»Ich habe mich über deinen Kaffeekonsum gewundert«, hörte er seinen Mitbruder sagen. »Du hast doch bisher immer nur Tee getrunken. Hatte das mit deiner Müdigkeit zu tun?«

»Ja genau. Ich wollte es einfach mal ausprobieren«, improvisierte Bo, »und ich glaube, es hat auch gewirkt. Lustigerweise schmeckte mir der Kaffee sogar.«

Und mit diesen Worten hoffte er, das Thema geschickt und für alle Zeit vom Tisch gewischt zu haben, denn ein Leben als Teetrinker behagte ihm überhaupt nicht.

Er schaute auf seine Uhr. Es war August. Also Erntezeit. Irgendwie verwundert stellte er fest, dass er neben seinem Lebensgefühl auch jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Vielleicht hatte ihm Sariel aus diesem praktischen Grund seine Armbanduhr genehmigt, die nicht nur die Tageszeit, sondern auch das jeweilige Datum aufzeigte. Na ja, vielleicht.

Sie steuerten auf ein fest gemauertes, recht großes Gartenhaus zu. Wenn er über die hohe Buchenhecke am Ende des Gartens blickte, konnte er einige Dachziegeln erkennen. Vor der Hecke hatten die Mönche eine Reihe Himbeer- und Johannisbeersträucher angepflanzt. Sie trugen in diesem Sommer gut, die Zweige neigten sich tief. Es musste bald geerntet werden. Das alles nahm Bo nur im Vorbeigehen auf. Er versuchte, den Grundriss des Anwesens zu entschlüsseln, um sich eine gewisse Orientierung zu erarbeiten und nebenbei noch einen Teil von Antonius‘ Redeschwall aufzuschnappen. Wahrscheinlich hatte er die Hälfte davon bereits verpasst.

»Hoffentlich können wir unseren Zeitplan wirklich einhalten. Es wäre mir sehr unangenehm, wenn wir Bruder Thaddäus falsche Hoffnungen gemacht hätten.«

»Er ist doch gar nicht da«, versuchte Bo, seinen Mitbruder zu beruhigen.

Antonius drehte sich vorwurfsvoll zu Bo herum, der immer noch auf dem schmalen Weg hinter ihm herlief.

»Du weißt, dass das überhaupt keine Rolle spielt. Er verlässt sich auf uns.«

Bo nickte versöhnlich.

»Außerdem weiß man bei ihm nie so richtig, ob er seine Pläne nicht kurzfristig ändert. Das ist schließlich schon oft genug vorgekommen.«

Bo nickte wieder verständnisvoll, als ihr Weg sie durch eine schmale Öffnung in der Hecke weiterführte. Hier endete der plattierte Teil.

»Aber wahrscheinlich hast du recht«, beschwichtigte Antonius. »Er will ja nicht nur die Hühner abholen, sondern auch seine Mutter besuchen.«

»Die wird ihn bestimmt überreden, länger zu bleiben«, freute sich Bo, einen angemessenen Wortbeitrag geleistet zu haben.

»Das glaube ich auch. Das versucht sie ja jedes Mal. Doch meistens vergebens«, grinste Antonius liebevoll.

Hinter der Hecke erstreckte sich eine weite Streuobstwiese mit altem Baumbestand. Bo war sogleich fasziniert. Er spürte, dass er die Natur liebte und Bäume insbesondere, obwohl es ihm immer noch nicht gelang, eine Verbindung zu seiner Vergangenheit zu knüpfen. Auf Anhieb erkannte er jedoch Apfel-, Birnen- und Kirschbäume. Hatte er etwa als Bauer gelebt?

»Ist dir eingefallen, wie wir das mit der Tür machen und wo wir sie am besten einbauen?«

»Ich habe eine Idee, bin mir aber noch nicht ganz sicher. Lass uns noch mal den Plan durchgehen«, antwortete Bo diplomatisch und in der Hoffnung, dass überhaupt ein Konzept existierte, damit er sich orientieren konnte.

Bo erkannte ein kleines Gehege mit einem hüfthohen Zaun, das offensichtlich erweitert werden sollte. Eine Reihe neuer heller Elemente stand bereits. Sie durchquerten das Areal und gingen durch die offene Tür ins Haus. Es war ein geräumiger, offensichtlich auch bewohnter Hühnerstall, der jetzt jedoch leer war.

»Alle schon ausgeflogen«, sagte Antonius lächelnd. »Sie stehen gerne früh morgens auf.«

Mitten in der Nacht, korrigierte Bo im Stillen.

Antonius wies mit ausgestrecktem Arm auf die linke Stallwand.

»Ich schau mir immer wieder gerne unser Werk an. Die neuen Hühner werden sich hier wohl fühlen. Bo staunte. Zwei übereinander gebaute Nistplatzreihen mit entsprechenden Aufgängen waren neu erstellt worden. Offensichtlich von ihnen beiden. Weitere unterschiedlich angelegte Plätze befanden sich an den anderen Wänden sowie auf dem Boden, der mit gehäckseltem Stroh ausgelegt war. Bo folgte Antonius durch die Innentür in den Nachbarraum des Stalls. Es war ein Lagerraum für Futter und Stroh und schien der Mittelraum des Gebäudes zu sein, denn er entdeckte eine weitere Tür und mutmaßte, dass dort alle Gerätschaften und vielleicht auch Fahrzeuge untergebracht waren, denn das Gelände war erstaunlich groß und er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Mitbrüder die gesamte Bewirtschaftung in Handarbeit vornahmen. Doch wundern würde es ihn auch nicht.

Antonius öffnete einen Stahlschrank und nahm einen Plan in die Hand, der vor Staub und Schmutz gesichert in einer Folie steckte. Es war keine professionell gezeichnete Skizze, das erkannte Bo auf den ersten Blick, doch sie erfüllte ihren Zweck. Jetzt wurde ihm klar, dass das Außengehege für die Hühner deutlich vergrößert werden sollte, wahrscheinlich, um Platz für die neuen Tiere zu schaffen.

»Hier laufen die Hühner auf die Wiese.« Antonius legte seinen Zeigefinger auf den Plan und erklärte weiter. »Den Weg kennen sie, deswegen sollten wir die Tür vielleicht auch wieder dort in der Nähe einbauen, oder was meinst du?«

»Hm«, machte Bo und verstand jetzt, warum der Stall leer war. Die Hühner führten ein wunderbares Leben auf der Streuobstwiese und kamen wahrscheinlich nur abends oder nachts in den Stall.

»Die Größe des neuen Auslaufs finde ich immer noch ausreichend. Er ist ja eh nur für bestimmte Situationen wichtig.«

»Stimmt«, pflichtete Bo seinem Mitbruder bei, während er immer noch angestrengt den Plan studierte. »Was hältst du davon, wenn wir das Gehege zweigeteilt lassen, natürlich mit Verbindungstür. So haben wir zwei Optionen und können bei Bedarf die Hühnergruppen oder auch einzelne Tiere isolieren.«

»Isolieren hört sich ganz schön krank an«, grinste Antonius und knuffte Bo vertrauensvoll in die Seite. Bo erschrak. Auf eine körperliche Berührung war er nicht eingestellt gewesen. Er hatte schon genug damit zu tun, sich das Leben eines Hühnerhaufens vorzustellen.

»Aber du hast recht«, stimmte ihm Antonius zu. »Wenn ich es mir genau überlege, so ist deine Idee geradezu genial.«

»Auch wenn wir an das Einleben der neuen Hühner denken. Das muss ja nicht reibungslos ablaufen, zumindest nicht am Anfang.«

Antonius‘ Lob hatte Bo angespornt.

»Die gestrichelte Linie«, er nahm an, dass es sich dabei um den abzureißenden Zaun handelte, »bleibt also bestehen, auch mit der Tür. »Wir arbeiten also hier wie geplant weiter.«

»Dann brauchen wir noch eine Tür.«

»Richtig. Die eine bleibt bestehen«, Bo zeigte auf die Skizze, »und die zweite würde ich hier einbauen. Was meinst du?«

»Ich schlage hier vor, damit wir vom Garten aus direkt in diesen Teil gelangen können und keinen Umweg gehen.«

»Sehr gut, Antonius, sehr gut. So machen wir es.«

»Und die fehlende Tür.«

»Die besorge ich heute Abend im Baumarkt oder wir zimmern selbst eine, falls wir Holz übrighaben. Vorausgesetzt wir finden noch ein paar Scharniere.«

Antonius hob den Daumen seiner rechten Hand. »Großartig,« strahlte er und umarmte Bo stürmisch und gleichzeitig sanft, also auf eine Weise, dass diesem recht seltsam ums Gemüt wurde. Auf keinen Fall kameradschaftlich, interpretierte er, jedenfalls nicht nur.

»Lass uns loslegen!«, brachte er mühsam heraus und stürmte irritiert in den Garten, wo die angelieferten Zaunteile lagen. Er griff zwei große Elemente, während Antonius die notwendigen Werkzeuge brachte. Bo sah sofort, was zu tun war und wie sie vorgehen mussten. Kein Handgriff schien ihm ungewohnt. Vielleicht war er in seinem vergangenen richtigen Leben kein Bauer, sondern Schreiner gewesen. Oder Sariel führte wieder Regie. Aber darüber wollte er jetzt nicht nachdenken. Denn das würde ja auch bedeuten, dass er die persönliche Beziehung zwischen ihm und Antonius lenkte und das durfte nicht sein.

Gemeinsam setzten sie Stück für Stück aneinander, als hätten sie nie etwas anderes getan.

Unter dem Vorwand, ihr Werk fristgerecht am folgenden Tag beenden zu müssen, gönnte sich Bo keine Pause und gab sich große Mühe, auch Antonius unentwegt zu beschäftigen, der zwischendurch immer wieder in den Stall ging, um etwas zu trinken. Bo selbst fühlte sich draußen in der freien Landschaft wohler, wo sie jederzeit mit Besuch rechnen mussten.

Während ihrer Arbeit sprudelten die Worte nur so aus Antonius heraus. Er schien nicht nur eine sehr mitteilungsbedürftige, sondern auch multitaskingfähige Person zu sein. Natürlich hätte Bo lieber seine Ruhe gehabt, doch erstens wusste er nicht, wie sich sein Seelenbruder oder Seelenvorgänger - oder wie sollte er den wahren Bo nennen? - überhaupt verhalten hatte und wollte keine unnötigen Fragen provozieren, und zweitens erfuhr er auf diese Weise so einiges über das Klosterleben und die anderen Mönche. So stellte er ab und zu vorsichtig einige Fragen, um ein erstes grobes Gesamtbild zu erhalten, ohne Antonius misstrauisch zu machen. Doch die meiste Zeit hörte er einfach nur zu, denn er wusste, dass er sich mit jeder weiteren Information sicherer und wohler fühlen würde.

Es gelang ihm, einige Puzzleteile zusammenzusetzen, und begriff, dass er bei den Franziskanern gelandet war, einem alten von Franz von Assisi gegründeten Orden, nach dessen Regeln sie lebten. Die Franziskaner nennen sich Bruderschaften, die im Gegensatz zu vielen anderen Orden nicht die Einsamkeit, sondern den Kontakt zu den Menschen suchen, sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer Klöster. Daher gehen die meisten von ihnen beruflichen Tätigkeiten, häufig in sozialen Einrichtungen nach.

Zu ihrer Gemeinschaft in Walldorf, Bo hatte von diesem Ort noch nie gehört, zählten derzeit 13 Brüder. Warum wunderte es Bo nicht, dass er sich als dreizehnter fühlte? Sechs Brüder gingen beruflichen Hauptbeschäftigungen nach, zum Beispiel Bruder Thaddäus. Seit dem Wintersemester des letzten Jahres war er Dekan der Theologischen Fakultät an der Universität Heidelberg, was ihm zusätzliche repräsentative und organisatorische Aufgaben bescherte, jedoch eine geringere Lehrtätigkeit, so dass er mehr Zeit im Kloster verbringen konnte, denn die Rolle eines Abtes musste er schließlich auch noch ausfüllen. Im Augenblick waren Semesterferien, so dass er zu seiner Mutter nach Brest reisen konnte.

Wie die meisten Orden, so litten auch sie an Nachwuchsproblemen. Das Leben in einer engen Gemeinschaft schien in der modernen Zeit nicht mehr so angesagt zu sein, wo die persönliche Freiheit über alles gestellt wurde.

Bo gewann den Eindruck, dass Antonius die Sicherheit des Klosters brauchte. Er hatte eine persönliche Krise angedeutet, die ihn dazu veranlasst hatte, die Leitung eines Jugendzentrums aufzugeben. Jetzt half er bei der Gartenarbeit, was ihm sehr gut gefiel. Er konnte viel lernen und bewegte sich überwiegend an der frischen Luft. Alles klar, Bo verstand. Er war also so eine Art Gartenarbeiter mit Schwerpunkt für grobe Arbeiten und Antonius‘ Assistent, um es mal so auszudrücken. Ob die beiden auch etwas von der Gärtnerei verstanden, erfuhr Bo noch nicht. Gib dir Mühe, hörte er Sariels Worte in sich klingen, und atmete tief durch.

Vom Grundsatz her teilten sich die Brüder alle Aufgaben, die im Kloster anfielen. Sie hatten es so geregelt, dass diejenigen, die keiner beruflichen Tätigkeit nachgingen, die Hauptaufgaben für ihr gemeinschaftliches Leben im Kloster übernahmen. Das waren naturgemäß vor allem die älteren Brüder wie Gregor und Laurentius, die Haus und Küche verwalteten, während Franz und Umberto den Garten bewirtschafteten und die Hühner versorgten. Die beiden waren sehr dankbar dafür, dass Bo vor einem halben Jahr zu ihnen gestoßen war und sie dabei unterstützte. Jetzt funktionierten der alte Traktor und alle elektrischen Gartengeräte wieder wie geschmiert. Aha. Er schien also nicht nur der Mann für Gartenarbeiten, sondern auch eine Art Mechaniker zu sein. Zur Erntezeit halfen natürlich alle Brüder in ihrer Freizeit mit. Und auch sonst stand jeder Bruder bereit, wenn er gebraucht wurde, egal für welche Aufgabe. Der Grundsatz der geteilten Arbeit gefiel Antonius und gehörte für ihn zur gelebten Spiritualität. Darin ging er mit den Ordensregeln völlig konform, was Bo nicht verwunderte, denn ein derart kommunikativer Mensch wie Antonius benötigte stets viele Zuhörer und eine Bruderschaft mit dem Schwerpunkt Gemeinschaft war dafür natürlich ideal. Glücklicherweise konnte sein Mitbruder gleichzeitig reden und arbeiten und gab Bo so die Möglichkeit, sich überwiegend schweigend hinter seiner Arbeit zu verstecken. Außerdem beruhigte es ihn, dass sich die beiden noch nicht so lange kannten, also auch noch nicht so gut. Das verschaffte ihm etwas mehr Freiheiten in seinem eigenen Verhalten.

Die Hühner führten ein wunderbares Leben. Nachdem die Brüder Franz und Umberto morgens den Stall geöffnet hatten, schwärmten sie aus und verbrachten den ganzen Tag unter den Obstbäumen. Die Brüder sammelten die Eier aus den Nestern. Während einer von ihnen sie in die Küche brachte, begann der andere schon mit der Arbeit im Stall. Danach machten sie sich im Garten ans Werk. Da Bo bisher keinen von ihnen gesehen hatte, nahm er sich vor, auf dem Rückweg auf sie zu achten und ihre Namen den entsprechenden Gesichtern zuzuordnen. Dafür brauchte er Zeit, denn er tat sich schwer mit den vielen Namen von alten Päpsten und Heiligen. Da war sein eigener Name eine angenehme Ausnahme. Sicher handelte es sich bei Bo um eine Abkürzung, vielleicht von Bonifatius oder Botho oder Bonosus. Bonosus? Existierte dieser Name überhaupt? Egal. Wichtig war nur, dass er seinen eigenen Namen nicht auch noch lernen musste.

Die Brüder versorgten sich also überwiegend selbst. Jetzt verstand Bo auch, warum der Garten so fachmännisch angelegt und gepflegt war und seine Hoffnung auf ein reichhaltiges gesundes Mittagessen stieg. Die Arbeit hatte ihn hungrig gemacht. Er schaute auf seine Uhr.

»Hast du auch Hunger?«

Antonius schien seine Gedanken lesen zu können. Es war kurz vor 12 Uhr. Bo nickte.

»Die Glocke muss gleich schlagen«, sagte Antonius und gemeinsam begutachteten sie ihr Werk.

»Wir sind gut vorangekommen. Auf jeden Fall werden wir morgen fertig«, resümierte Bo und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Es wird warm heute.«

Dann hörten sie die Glocke und stellten ihre Geräte zur Seite. Und wie immer folgte Bo seinem Mitbruder zurück durch den Garten. Plötzlich hörten sie hinter sich Stimmen und drehten sich um. Bo vermutete die Brüder Franz und Umberto und prägte sich auf die Schnelle ihre Gesichter ein. Der eine hatte einen dichten roten Bart, dafür dünnes Kopfhaar, während der andere einen kahlen braungebrannten Schädel aufwies und auch kein einziges Barthaar im Gesicht trug. Wer von ihnen wer war, würde er schon noch herausfinden. Sie winkten ihnen zu und gingen weiter. Antonius führte sie in den Waschraum, der mit Necessarium beschriftet war. Während sie sich schweigend säuberten, hoffte Bo, dass es im Anschluss direkt zum Speiseraum ging. Doch nach einigen Schritten erkannte er den Kreuzgang und fand sich in der Kapelle zum Mittagsgebet wieder.

6

Erstaunlicherweise hatte ihn die Gartenarbeit nicht müde gemacht. Bo saß an seinem Schreibtisch und schaute aus dem Fenster in das volle Blattwerk einer Platane, die er jedoch nicht bewusst wahrnahm. Er schmunzelte. Ja, es war kaum zu glauben, doch er schmunzelte über sich selbst. Er hatte den Umständen ein Schnippchen geschlagen und ein wenig Stolz machte sich in ihm breit. Stolz? Gehörte diese Vokabel nicht aus einem Kloster verbannt? Es war ihm egal. Irgendwie brauchte er etwas Normalität und Vertrautheit in dieser fremden und exotischen Welt, die er hoffentlich nicht lange seine eigene nennen musste. Er sollte sich bewähren, hatte Sariel gesagt. Doch warum und wieso? Die Gedanken schienen ihm schon wieder zu entgleiten. Er wollte sich einfach nur einen Moment lang erfreuen. Das stand ihm doch wohl zu nach dieser nützlichen Idee in der Klosterkirche. Wieder ließ sich ein Schmunzeln nicht unterdrücken.

Er hatte sich neben Antonius gesetzt, der sich sofort knieend in ein Gebet vertiefte. Bo wusste nicht, was er tun sollte. Er hatte keine Zeit gehabt, sich einen Plan zurechtzulegen, da jeder Augenblick für ihn mit Tretminen gespickt war. Wie lange würde er diese noch umgehen können, ohne zu sehr aufzufallen und sich als Kuckucksei zu outen? Wie würde er seine Situation dann erklären können? Wie ein Häuflein Elend hatte er sich auf der Kirchenbank niedergelassen und krampfhaft versucht, nicht aufzufallen. Er kannte die meisten Gebete nicht. Manche Brüder knieten andächtig, andere saßen. Und er selbst hatte keine Ahnung davon, wann was angebracht war. Und vor allem hatte er keine Lust, schon wieder zu beten. Also war er kurzerhand einer Eingebung gefolgt, hatte seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen und demütig den Kopf gesenkt. Eine unangreifbare Haltung. Auf einmal hatte er sich sicher gefühlt. Aus der Ferne hatte er das Gemurmel seiner Mitbrüder vernommen und leise darin eingestimmt, ohne selber ein verständliches Wort zu äußern. Er hatte kurzerhand die Augen geschlossen, um in seinem Gehirn Nachforschungen über die Ursache seines misslichen Schicksals durchzuführen. Doch als das Glöckchen das Ende der Mittagsandacht bekanntgab, war er aus einem kurzen Schläfchen erwacht, das ihm zwar keine neuen Erkenntnisse, jedoch ein wenig Erholung gebracht hatte.

Und jetzt saß er hier in seinem Zimmer und fühlte sich so, als hätte er alle ausgetrickst. Nun ja, vielleicht eine etwas anmaßende Einbildung, aber dennoch umfing ihn ein leichtes Gefühl von Genugtuung.

Beim Mittagessen waren alle in ihre Gespräche vertieft gewesen. In seinem Inneren hatte sich Bo schon auf eine vegetarische Mahlzeit eingestellt, eine dünne Suppe, ein paar salzlose Nudeln oder Salat. Doch er war überrascht worden. Es hatte einen kräftigen Eintopf mit üppiger Fleischeinlage gegeben. Bo hatte Hühnerfleisch gemutmaßt und jeglichen Gedanken an den Hühnerstall verdrängt. Insgeheim war er froh gewesen, dass er am Vormittag kein einziges Huhn gesehen hatte. Auf jeden Fall hatten sich Gregor und Laurentius nicht lumpen lassen.

Schon während ihrer gemeinsamen Arbeit hatte Antonius mehrere Telefonate geführt, ohne näher auf sie einzugehen. Bo nahm die Gegebenheit, dass Handys im Kloster erlaubt waren, mit großer Freude auf. Warum, das wusste er selbst nicht. Er besaß er kein mobiles Telefon und kannte auch niemanden, den er anrufen konnte. Dennoch erfüllte ihn dieser Umstand mit dem wohltuenden Gefühl, nicht eingeschlossen zu sein. Und nachdem sich Antonius direkt nach dem Mittagessen in sein Zimmer verabschiedet hatte, konnte Bo ein wenig durchatmen.

Endlich hatte er etwas Zeit für sich. Das feine Blätterrauschen der Platane wirkte beruhigend auf ihn. Trotz der Wärme, die immer erdrückender zu werden schien, öffnete er das Fenster weit. Vogelgezwitscher empfing ihn. Und diese Idylle gab ihm die Kraft, seine Zelle, oder wie immer seine neue Unterkunft bezeichnet wurde, näher zu inspizieren. Sein Schreibtisch hatte auf beiden Seiten fest angeschraubte, unterschiedlich große Schubladen. Bo öffnete die obere rechts. Er fand Bleistifte, Kugel- und Filzschreiber, Locher, Tacker und alles Mögliche an Büroutensilien. Das nächste Fach enthielt mehrere Schreibblöcke, allesamt völlig unbeschrieben, als warteten sie auf kreative Ergüsse seinerseits. Ein bitteres Lachen entfuhr ihm. Er hatte in seinem Leben noch nie so viel Erfindungsreichtum aufbringen müssen, so dass er sich nicht vorstellen konnte, etwas Sinnvolles zu Papier bringen zu können. Also weiter. Das nächste Fach war bis auf ein Päckchen Papiertaschentücher leer und auf wundersame Weise erfüllte ihn dieser Umstand mit Befriedigung. Hier konnte er etwas Eigenes hineinlegen, sobald er etwas besitzen würde. Es gab also in seinem Zimmer Platz für Persönliches. Das war beruhigend, obwohl Bo noch nicht die geringste Vorstellung davon hatte, was dieses Persönliche überhaupt zu sein vermochte, denn er fühlte sich meilenweit von sich selbst entfernt und von seiner Umgebung sowieso. Und vielleicht war auch nichts dergleichen für ihn vorgesehen. Wieder diese Bitterkeit. Er schluckte sie hinunter.

Das große unterste Fach überraschte ihn am meisten. Es war gefüllt mit Malutensilien. Ein Block mit gutem Zeichenpapier, Pinsel unterschiedlicher Größe und viele Tuben Farbe.