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Im Grunde genommen weiß Enno nicht, warum er sich auf diese Reise eingelassen hat. Er sitzt im Zug nach München, um seine geschiedene Frau zu besuchen. Es ist der erste persönliche Kontakt nach zehn Jahren. Die Trennung hatte ihn aus er Bahn geworfen und dazu geführt, dass er sein Leben völlig neu ausgerichtet hat. Doch viele dieser schweren Erinnerungen tauchen plötzlich wieder auf. Entgegen seiner Gewohnheit, auf Zugreisen zu arbeiten, lässt er sich an diesem Tag von den anderen Reisenden ablenken. Und er trifft sehr unterschiedliche und interessante Menschen. Bis zuletzt sitzt Angelo in seinem Abteil, mit dem er sich auf unerklärliche Weise verbunden fühlt. Er schenkt ihm nicht nur sehr inspirierende Impulse, sondern auch eine Leichtigkeit, die Enno ausgesprochen guttut. Und Enno hat Glück. Angelo bleibt bis zum Ende seiner Reise bei ihm.
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Seitenzahl: 232
Veröffentlichungsjahr: 2023
Veröffentlichungen von Karin Hildebrandt:
Es war 1x (Gedichte)
ISBN 978-3-84821905-6
Alles Liebe, dein Krebs
ISBN 978-3-96051213-4
Bis bald in Frankreich (Bd.1)
ISBN 978-3-96051667-5
„Nimm mich!“
ISBN 978-1-98314803-3
Planet der Freiheit
ISBN 978-3-74828394-2
Ein Hauch Familie
ISBN 978-3-34726959-0
Glaubst du, dass der frühe Wurm wartet auf den Vogel?(Gedichte)
ISBN 978-3-34728970-3
Bis bald in Münster (Bd. 2)
ISBN 978-3-34763892-1
KARIN HILDEBRANDT
ENNO
Roman
© 2023 Karin Hildebrandt
1. Auflage 2023
Autor: Karin Hildebrandt
Umschlaggestaltung, Illustration: Christiane Kurschildgen
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN Softcover: 978-3-347-93054-4
ISBN Hardcover: 978-3-347-93055-1
ISBN E-Book: 978-3-347-93056-8
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
CAMELUS FERUS DAS TRAMPELTIER
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
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CAMELUS FERUS DAS TRAMPELTIER
KAPITEL 13
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CAMELUS FERUS DAS TRAMPELTIER
Ich nehm die Dinge wie sie sind,
sprach es und schaute heiter,
den Sand, die Sonne wie den Wind,
ich kaue einfach weiter.
Ich nehm die Menschen wie sie sind,
sprach es und schaute nieder,
der eine wütet wie ein Kind,
der andre kennt nur Jammerlieder.
Ich lass die Sorgen, wo sie sind,
sprach es im lockren Lauf,
nehm alle Freude, die ich find
und füll mich damit auf.
So trag ich alles wie es ist,
das Schwere und das Leichte.
Die Dinge sind, wie man sie misst,
das Ziel und das Erreichte.
Und wenn die Welt zusammenfällt,
bleib ich gelassen wie ein Gör.
Schau träge hoch zum Himmelszelt
und schreite dann durchs Nadelöhr.
KAPITEL 1
Die Menschenmenge unter ihm erinnert ihn an einen Ameisenhaufen, der sich zwar nicht so unermüdlich emsig und zielstrebig wie ein solcher bewegt, jedoch irgendwo und irgendwie immer in Unruhe ist. Er empfindet sie allerdings nicht als eine homogene Masse, in der jeder seine feste Aufgabe hat, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Oder vielleicht doch, wenn man die Reise als solche als gemeinsames Ziel betrachtet. Auf jeden Fall ist die Menge bunter als jedes Geschwader von Ameisen. Und lauter. Viel lauter, denn um das Geräusch einer Ameisenbrigade zu vernehmen – und er ist sich sicher, dass diese winzigen Insekten eine Menge Lärm machen, den sie nur selbst oder auch andere kleine Krabbeltiere wahrnehmen können – reicht das menschliche Gehör nicht aus und er bedauert im Stillen, dass die menschlichen Sinne so eingeschränkt sind. Im Augenblick jedoch wünscht er sich, die Geräuschkulisse um ihn herum einfach abschalten zu können. Einige Dezibel niedriger würden schon helfen. Er atmet tief durch und ehrlicherweise muss er einräumen, dass nicht die Menschen den Hauptlärm um ihn herum verursachen. Vielmehr müssen sie sich gegen den Geräuschpegel dieses Ortes durchsetzen. Was um Himmels Willen hat den Erdenbürger nur dazu bewogen, seine Welt so gnadenlos laut zu gestalten? Eine Frage, die er sich schon allzu oft gestellt hat, ohne eine gute Antwort zu finden.
Eine Familie mit drei Kindern stellt sich neben ihn an die Brüstung. Alle kämpfen mit einem Hotdog, um nichts von der üppigen Schicht Senf oder Tomatenketchup zu verlieren. Er selbst kennt das Problem nur zu gut und weicht einen Schritt zur Seite, als das jüngste Familienmitglied, ein etwa zehnjähriger blonder Junge mit hochgestellten Haaren, ihm gefährlich nahekommt. Ein gewisser Sicherheitsabstand scheint ihm bei diesem Menü mehr als angebracht. Als er seinen Blick wieder in die Tiefe gleiten lässt, fährt ein Zug ein. Er schleppt sich über die Gleise wie ein tonnenschweres Relikt aus einer vergangenen Zeit. Das Rattern ist ohrenbetäubend und macht, vermischt mit dem Geschepper der Lautsprecheransage, jegliche Kommunikation unmöglich. Ihm tut eine alte Frau leid, die ratsuchend über den Bahnsteig irrt und völlig überfordert wirkt. Sie versucht immer wieder, jemanden anzusprechen, doch alle drängen in den Zug oder zucken mit den Schultern. Endlich findet sie einen Angestellten der Bahn, der sich die Zeit nimmt und die Frau freundlich zu einem Waggon der ersten Klasse begleitet.
Welch eine Hektik und Rastlosigkeit. Ist das schon immer so gewesen? Seit er selbst lange Strecken nur noch mit der Bahn zurücklegt, auf jeden Fall. Jetzt trifft der nächste Zug ein. Diesmal auf Gleis 10. Es ist ein weißes Ungetüm mit breiten roten Längsstreifen, das einen wesentlich moderneren Eindruck macht und deutlich leiser fährt. Es geht also auch anders. Dennoch wurde seiner Meinung nach in den letzten Jahrzehnten bei allen technischen Antrieben viel zu wenig Rücksicht auf menschliche Sensibilitäten genommen. Im öffentlichen Raum ohnehin. Aber ihn stören auch laute Wasch- oder Spülmaschinen, Staubsauger oder Kaffeeautomaten und bei seinen Versuchen, leise Haushalts- oder Gartengeräte zu kaufen, hat er oft genug die bittere Erfahrung machen müssen, dass es auf diesem Gebiet sehr unterschiedliche Einschätzungen oder Empfindlichkeiten gibt. Apropos Kaffeemaschine. Er wirft einen schnellen Blick über die Bahnsteighalle zu der altvertrauten Bahnhofsuhr. Es bleibt ihm noch genug Zeit. Sein Zug kommt erst in einer Stunde. Von dessen 90minütiger Verspätung hat er leider erst erfahren, als er schon zum Bahnhof unterwegs war. Ein Ärgernis, gewiss, doch er ist froh, wenn die Bahn überhaupt fährt.
Die erhöhte Brücke über den Gleisen ist seiner Meinung nach eine geniale Erfindung der Architektur gewesen. Zwei hohe Türme an den Seiten des Hamburger Bahnhofs tragen diese Verbindung und bieten den Fahrgästen einen wunderbaren und auch hilfreichen Überblick über das Geschehen auf den Bahnsteigen und sorgt gleichzeitig für ein wenig Ablenkung während der heute immer länger werdenden Wartezeiten. Ohne nach weiteren interessanten Begebenheiten Ausschau zu halten, dreht er sich um. Die Hotdog-Familie ist gerade dabei, sich zu säubern. Die Mutter versucht schimpfend, den entstandenen Schaden zu begrenzen, doch der riesige rote Fleck auf dem gelben T-Shirt ihres Jüngsten wird wohl die Fahrt überdauern müssen. Genervt nimmt sie den Jungen an die Hand und läuft dem Rest der Familie hinterher.
Schmunzelnd verlässt er seinen Aussichtspunkt und schlendert über die Brücke, vorbei an diversen kleinen Shops und Imbissständen. Sein Blick bleibt bei einem türkischen Anbieter hängen. In seiner Auslage liegen Brezeln aus türkischem Brotteig, bestreut mit Kürbiskernen. Eine ausgefallene Kombination, findet er und da er Fladenbrote aus allen Ländern und in allen Variationen liebt, gelingt es ihm wie immer nicht, achtlos an den Köstlichkeiten vorüberzugehen. Außerdem wird er lange unterwegs sein und sein Plan, sich im Bistro des ICEs zu stärken, steht auf äußerst wackligen Füßen, wie er nach einigen schmerzlichen Erfahrungen einräumen muss, bei denen dieser Service komplett ausgefallen war. So lässt er sich zwei Brezeln einpacken und zieht weiter. Schon nach wenigen Metern stößt er auf eine kleine italienische Kaffeebar, die einen gemütlichen und ruhigen Eindruck macht. Er bestellt einen Espresso, setzt sich an einen freien Tisch und plötzlich scheint er in eine andere Welt eingetaucht zu sein. Leise italienische Opernklänge hüllen ihn ein und halten den größten Teil des Bahnhoflärms vor der Tür und das sogar, wo gar keine vorhanden ist. Bei diesem Gedanken muss er ein wenig lächeln und er fragt sich, ob das Bistro vielleicht rund um die Uhr geöffnet ist. Vielleicht hat er aber auch nur die Konstruktion einer Schiebetür übersehen.
Er schnuppert an seinem Espresso. Er trägt ein angenehmes und intensives Kaffeearoma und der erste Schluck umhüllt seine Zunge mit einer ausgewogenen, runden und leicht bitteren Note. Eigentlich ist er Teetrinker. Ist es geworden, nachdem er vor 10 Jahren seinen Magen mit zu viel Kaffee fast ruiniert hätte. Der Umstieg ist ihm nicht leichtgefallen, hat sich jedoch gelohnt, denn es gibt unglaublich viele interessante Teesorten und inzwischen möchte er auf diesen Genuss nicht mehr verzichten. Doch der betörende Geruch frisch aufgebrühten Kaffees oder gemahlener Kaffeebohnen betört ihn immer noch und ab und zu erliegt er gerne auch diesem kulinarischen Vergnügen.
Vielleicht hätte er sich eine Zeitung kaufen sollen. Aber er hat beim Frühstück die heutige Ausgabe bereits ausgiebig gelesen, so dass er die Idee schnell wieder verwirft. Stattdessen schaut er sich suchend im Café um in der Hoffnung, ein paar ausliegende Zeitschriften zu finden, in denen er ein wenig herumblättern könnte. Leider vergebens, doch er bedauert diese Tatsache nicht wirklich, da ihn die meisten Hefte ohnehin nur langweilen. Stattdessen lächelt ihn die Kellnerin nett an, eine heute immer seltener werdende Freundlichkeit, wie ihm oft scheint, und ein weiteres kleines Zeichen für die Unzufriedenheit vieler Menschen in der heutigen ruhelosen Zeit. Er lächelt zurück und bedeutet ihr mit einer kleinen Geste, wie gut ihm der Espresso schmeckt.
In diese zarte zwischenmenschliche Interaktion hinein, die ohne jedes Wort eine sympathische Atmosphäre schafft, erscheint ein älteres Ehepaar in der nicht vorhandenen Eingangstür und schaut sich grüßend nach einem geeigneten freien Platz um. Sie entscheiden sich für den Tisch rechts von ihm. Während die Frau ihren Blazer und ihre Handtasche neben sich auf die Sitzbank legt, positioniert der Mann den kleinen Trolley an eine Stelle, wo er niemanden stört. Auch die beiden entscheiden sich für Kaffee.
Da der Abstand zwischen ihren Tischen nicht sehr groß ist, wird es ihm wohl schwerfallen, nicht ihrem Gespräch zu folgen, falls sie eines führen sollten. Doch seine Bedenken sind unbegründet. Der Mann, er schätzt ihn auf Ende sechzig, ist vollkommen damit ausgelastet, seinen Kaffee mit Milch und Zucker zu versorgen und dann laut knisternd seinen Keks auszupacken. Seine etwa gleichaltrige Frau genießt einen Schluck ihres unverfälschten Kaffees und beginnt dann, in ihrer Handtasche zu wühlen. Nach einiger Zeit scheint sie den gesuchten Gegenstand gefunden zu haben und legt ein großes Smartphone, umhüllt von einer hellen lindgrünen Lederhülle auf den Tisch.
»Geht das jetzt schon wieder los?«, beschwert sich der Mann.
Ungerührt vollzieht die Frau einige Tippbewegungen und ein buntes Bild mit mehreren winkenden Kindern erscheint auf der Oberfläche des Gerätes.
»Was meinst du bitte?«
»Ob du jetzt schon wieder anfängst zu …«
»… zu daddeln?«
»Zu daddeln! Fängst du jetzt auch noch an, dich wie eine Jugendliche auszudrücken? Reicht es nicht, wenn du dich wie eine benimmst?«
»Daddeln ist ein völlig gängiger Begriff, mein lieber Horst,« erklärt die Frau gleichmütig, »und den Umgang mit einem Smartphone pflegt heute jeder, nicht nur die Jugend, sondern auch alle anderen.«
»Ich nicht!«
»Das ist leider wahr.«
»Was heißt hier leider? Muss man etwa mit jeder Mode mitgehen?«, empört sich der Mann.
Die Frau wartet einen Augenblick, bevor sie antwortet.
»Wenn du mir damit sagen willst, dass du resistent gegenüber allen modischen Neuerungen bist, dann erklär mir doch mal, warum du dir in deinem Leben ständig neue Autos kaufen musstest?«
»Das hatte rein ökonomische Gründe.«
»Ach, interessant. Aber wenn ich mich recht erinnere, hast du dabei nie einen Gewinn gemacht oder ist mir da etwas entgangen?«
»Es gibt nicht nur monetäre Gewinne«, verteidigt sich der Mann. »da spielen auch Faktoren wie, wie … äh, das bringt doch nichts. Von Autos hast du noch nie etwas verstanden.«
Die Frau schmunzelt ungerührt.
»Das stimmt allerdings«, bestätigt sie, will aber noch nicht klein beigeben. »Dann erklär mir doch mal bitte, warum du immer die neusten Angelruten kaufen musstest und anschließend immer weniger Fische nach Hause gebracht hast, obwohl du mir vorher immer den gegenteiligen Effekt angepriesen hattest?«
Begeistert wischt sie mit einem Finger rhythmisch über den kleinen Bildschirm, auf dem etliche Fotos fließbandmäßig voranziehen.
Der Mann schnaubt leise vor sich hin. »Deine Beispiele sind weder stichhaltig noch vergleichbar.«
»Ach so«, gibt die Frau nur kurz zur Antwort. Sie scheint diese Diskussion zu kennen. Entspannt lehnt sie sich zurück und beginnt lächelnd, eine Nachricht zu beantworten. Zwischendurch nimmt sie immer wieder einen Schluck Kaffee, denn das Schreiben auf dem elektronischen Gerät dauert bei ihr recht lange. Sie hält ihr Smartphone in der linken Hand, um mit dem rechten Zeigefinger die Buchstaben zu tippen. An den leichten Bewegungen ihrer Lippen kann er erkennen, wie sie leise mitliest, und jedes gelungene Wort oder vielleicht sogar jeder gefundene Buchstabe scheint ihr ein diebisches Vergnügen zu bereiten. Offensichtlich bewegt sie sich noch im Übungsmodus.
»Was schreibst du denn da die ganze Zeit?«
»Ich beantworte nur eine WhatsApp.«
»Und von wem ist die?«
»Von Julchen.«, antwortet die Frau freundlich und schreibt weiter, während sich ihre linke Augenbraue leicht hebt, als habe sie eine hochinteressante Nachricht erhalten, die einer besonderen Aufmerksamkeit bedarf.
Plötzlich schaut sie auf und dreht sich zu seinem Tisch herum. Er erschrickt. Hat er die beiden etwa zu deutlich beobachtet? Peinlich berührt senkt er den Kopf und nimmt den letzten Schluck seines Espressos. Nein, das kann nicht sein. Er hat dem Nachbargespräch hauptsächlich seine Ohren geschenkt und nur ab und zu einen Blick in die Richtung der Alten gewagt. Außerdem kann er doch wohl schauen, wohin er möchte, ermahnt er sich selbst. Schließlich sitzen sie in einem öffentlichen Café. Als er sich noch einmal der Frau kurz zuwendet, ist sie bereits wieder in ihre Nachricht vertieft und scheint ihn gar nicht bewusst wahrgenommen zu haben. So wagt er einen zweiten Blick zu ihrem Ehemann. Dieser wirkt hin- und hergerissen zwischen Neugier auf die ihm entgehenden Informationen und Unmut über seine Frau, die ihn so wenig beachtet.
»Was schreibt Julchen denn? Ihr habt doch erst gestern telefoniert? Ist etwas passiert?«
»Nein, nein, alles okay, Horst,« antwortet sie. »Ich bin gleich fertig, dann kannst du ihre Message lesen.«
»Message! Kannst du dich mit mir nicht auf Deutsch unterhalten? Außerdem habe meine Brille im Koffer.«
Die alte Frau atmet tief durch, bleibt jedoch weiter gelassen. »Ich habe dir schon zu Hause gesagt, dass das keine gute Idee ist. Unterwegs gibt es immer Situationen, wo man sie braucht.«
»Dafür habe ich ja dich«, antwortet der Mann provokativ und verzieht seine Lippen zu einem grinsenden Schmollmund.
»Interessant«, erwidert seine Frau ungerührt und ohne aufzublicken. »Verstehe ich dich richtig, dass jetzt auch schon deine Brille zu dem neumodischen Krempel gehört, mit dem zu dich zu beschäftigen weigerst? Wenn das nämlich so ist, dann wird es bald schwierig in deinem Alltag.«
Und mit einigen letzten Tippbewegungen auf dem Bildschirm beendet sie ihre Nachricht, klappt den Lederdeckel zu und verstaut das Smartphone wieder in ihrer Handtasche, dieses Mal praktischerweise in ein Außenfach. Dann schaut sie ihrem Mann direkt ins Gesicht.
»Mir scheint, du nimmst mich nicht ernst, Horst. Wie oft soll ich es dir denn noch sagen: Ich habe nicht vor, deine Alltagsbetreuerin zu werden.«
Oha! Das hat gesessen. Er hat genug gehört und muss der alten Frau im Stillen leider Recht geben. Im Gegensatz zu früheren Zeiten, in denen sich die Welt nicht so rasend schnell gedreht hat, ist es heute nötig, sich rechtzeitig zu entscheiden, ob oder besser ausgedrückt, wie intensiv man mit der Zeit gehen möchte oder muss, um nicht völlig von der Bewältigung seiner Alltagsgeschäfte abgehängt zu werden. Er schaut auf seine Uhr. Eine unauffällige silberne Armbanduhr mit blauem Ziffernblatt und einem festen braunen Lederband. Ein Geschenk seiner Frau, das ihm nach zwanzig Jahren immer noch gut gefällt. In dieser Hinsicht ist er wohl selbst schon aus der Zeit gefallen. Schmunzelnd und sich freundlich verabschiedend verlässt er das Café, genießt auf der Empore einen letzten Blick über die Bahnhofshalle und steigt schließlich hinunter zu seinem Bahnsteig. Der ICE 527 ist bereits angezeigt. Er schlendert zur Position C/D, wo die Waggons der ersten Klasse ankommen sollen. Vielleicht klappt es ja dieses Mal.
Es ist ein herrlicher Sommermorgen. Noch ist ihm seine alte Lederjacke nicht zu warm. Trotzdem laufen die meisten Wartenden bereits kurzärmelig herum, viele sogar in kurzen Hosen. Obwohl er sich ungern in großen Menschenmengen aufhält, so ist er doch gleichzeitig fasziniert von der Unterschiedlichkeit der einzelnen Akteure. Während er von oben eher eine bunte Menge wahrgenommen hat, so ist diese nun in einzelne Individuen aufgegliedert. Zum Beispiel steht vor ihm eine junge Blondine in knöchellangen oder sollte er besser sagen in knöchelkurzen Jeans und knallroten Stöckelschuhen, die man heute High Heels nennt. Das Englische hat sich in den letzten Jahren wie ein Octopus in unserer Sprache breitgemacht, denkt er und unwillkürlich kommt ihm der alte Mann aus dem Café in den Sinn. Als sich die junge Frau eine Zigarette anzündet und der Qualm ihm direkt ins Gesicht bläst, geht er ein paar Schritte weiter auf einen mittelalten, leicht untersetzten und etwas spießig wirkenden Mann zu. Er trägt seine Sonnenbrille frontal vor seiner hohen Stirn, als sei sie dort angeklebt. Diese Stellung hat er bereits mehrfach in seiner Umgebung beobachtet und er findet sie wegen des kurzen Weges von der Stirn zur Nase durchaus praktisch. Daher hat er schon häufiger versucht, sie zu imitieren. Doch bei ihm findet die Brille auf der Stirn keinen Halt und rutscht immer wieder hinunter, bestenfalls auf seine Nase. Und jedes Mal fragt er sich ernsthaft, ob das an den Brillengestellen oder an seinem dafür ungeeigneten Kopf liegen mag. Gibt es da einen Trick? Vielleicht sollte er den Mann vor ihm einmal darauf ansprechen. Ein verrückter Gedanke, den er natürlich sofort wieder verwirft. Stattdessen taucht neben ihm eine Frau auf, die laut und völlig ungeniert telefoniert und als die Lautsprecher dröhnend seinen Zug ankündigen, noch einige Phon hinzulegt. Nein, letztendlich ist ihm der Blick von der Empore doch lieber als ein enges Bad in einer fremden unruhigen Menge.
Der Zug rollt ein und tatsächlich muss er nur wenige Schritte laufen, um seinen Waggon zu erreichen. In der ersten Klasse ist selten dichtes Gedränge. So kann er auch heute sehr entspannt das richtige Abteil suchen, in dem er für sich einen Fensterplatz gebucht hat, um auf der langen Fahrt ein paar Außeneindrücke gewinnen zu können. Zum einen sollen sie ihn etwas ablenken und zum anderen hoffentlich zusätzlich seine Kreativität anregen. Letzteres benötigt er dringend für ein neues Projekt, das irgendwo in seinem Kopf umherwabert, sich jedoch noch nicht greifen lässt.
Er schiebt die Glastür des Sechser-Abteils frohgemut zur Seite, blickt zum Fenster und zuckt leicht zurück. Das Abteil ist bereits mit drei Plätzen belegt, auch sein Fensterplatz. Er macht einen Schritt zurück in den Gang, um noch einmal die angeschlagene Abteilnummer zu kontrollieren. Sie stimmt. Er geht zurück ins Abteil und schließt die Tür. Jetzt erst schaut er sich die Fahrgäste genauer an. Es sind eine Mutter mit drei Kindern. Die älteren beiden sitzen am Fenster und das Jüngste auf dem Schoß seiner Mutter.
»Sie haben sicherlich den Fensterplatz dort gebucht«, sagt die Frau freundlich und zeigt auf das Mädchen mit dem dicken Pferdeschwanz, das sich jetzt umdreht und ihn keck und ein wenig angriffslustig ansieht. Offensichtlich hat sie nicht vor, ihren Platz kampflos aufzugeben. Kommentarlos dreht sie sich wieder um, das Geschehen auf dem Bahngleis vor ihr weiter verfolgend. Gleichzeitig streckt sie den Arm zu ihrem Bruder auf der gegenüberliegenden Tischseite aus, der diesen sogleich erfasst. Eine starke Fensterliga, die sich da vor ihm aufgebaut hat. Unwillkürlich schiebt sich ein breites Grinsen über sein Gesicht, denn das Mädchen erinnert ihn an seine Schwester, die von klein auf ebenso mutig ihre Position verteidigt hat, aber besonders dann, wenn es um den Schutz ihres jüngeren Bruders gegangen ist.
»Das geht schon in Ordnung«, antwortet er, schwingt seinen alten Seesack auf das Gepäcknetz und setzt sich auf den mittleren Platz, der Mutter gegenüber, wo er noch ein wenig des Tisches nutzen und gleichzeitig einen kleinen Ausschnitt von der Außenwelt erhaschen kann.
»Moin, Moin«, sagt er dann fröhlich in die Runde und beginnt, jeden einzelnen etwas genauer zu mustern, denn wer weiß, wie lange ihn diese Gesellschaft begleiten wird.
»Guten Morgen«, antwortet die Mutter lächelnd, die erstaunlicherweise rotblonde Haare hat und neben den dunkelbraunen Schöpfen ihrer Kinder ein wenig fremd wirkt. Dann stößt sie ein kurzes, doch strenges »Na!« aus.
Als erster beginnt der Kleine auf ihrem Schoß zu zappeln. Er zieht den Schnuller aus seinem Mund, imitiert lachend ein »Moin! Moin!« in seine Richtung und schiebt den Nuckel anschließend wieder an seine angestammte Stelle, wobei sich ein langer Speichelfaden löst, um sich den Weg das Kinn hinunter Richtung T-Shirt zu bahnen. Schnell ergreift die Mutter ein Taschentuch, um diesen Lauf zu unterbinden. Dabei merkt er ihr an, wie wenig sie vom Lutschgerät ihres Sohnes hält. Nachdem der Kleine das Begrüßungsritual eingeleitet hat, stößt sie dessen Bruder an. Er scheint der Schüchternste der Geschwister zu sein, der ein leises »Guten Morgen« haucht, um dann schnell wieder den Kopf zu senken. Seine Schwester hingegen braucht noch ein Weilchen, bevor sie sich vom Fenster abwendet und ihn ebenfalls begrüßt. Offensichtlich sitzt ihr die Angst vor dem Verlust ihres Platzes noch immer im Nacken.
»Nochmals vielen Dank für Ihr Entgegenkommen«, sagt die Mutter und erklärt weiter: »Als ich unsere Plätze gebucht habe, war der zweite Fensterplatz bereits vergeben und es ist um diese Zeit ohnehin nicht so einfach, vier zusammenhängende freie Plätze zu finden, wenn man sich relativ kurzfristig zu einer Reise entschließt.«
Sie hat ein sympathisches Lächeln und große strahlend blaue Augen, die von einem Kranz erstaunlich dunkler Wimpern umrandet sind.
»Das glaube ich Ihnen gerne. Für mich als Einzelreisenden besteht höchstens die Frage, ob ich einen Fensterplatz erwische oder nicht«, entgegnet er lachend.
»Und genau diesen haben Sie jetzt doch nicht bekommen.«
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Ich habe als Kind auch immer gerne am Fenster gesessen. Sonst ist es ja auch viel zu langweilig im Zug, besonders wenn die Fahrt länger dauert.«
»Wir fahren ganz lange«, freut sich der Hosenmatz auf dem Schoß seiner Mutter, den nassen Schnuller in seiner Hand wedelnd.
»Ja, das stimmt«, bestätigt seine Mutter und nimmt dem Jungen den Schnuller aus der Hand. »Jetzt ist Schluss damit. Wir haben ausgemacht, dass du ihn nur zum Schlafen nimmst. Und jetzt bist du wach.«
Sie packt das Teil in eine kleine grüne Dose, die sie anschließend in ihrem großen Rucksack verstaut. Einen kurzen Augenblick lang zieht der Kleine einen ärgerlichen Flunsch. Aber er scheint kein Kind von Traurigkeit zu sein, denn schon im selben Augenblick sieht er ihn wieder strahlend an mit den gleichen blauen Augen wie seine Mama.
»Wir fahren nach Lüneberg.«
»Lüneberg?«, fragt er leicht irritiert.
»Er meint Lüneburg«, erklärt seine Mutter nachsichtig und schenkt ihrem Sohn einen Blick, der die Liebe des gesamten Universums beinhaltet. So scheint es ihm jedenfalls. Mutterglück in der reinsten Form.
»Oh, Lüneburg,« bestätigt er jetzt freundlich, »das ist wirklich eine weite Reise. Warst du denn schon einmal dort?«
Der Junge schüttelt den Kopf. »Und du?«
»Ich? Ja, ich war schon ein paar Mal in Lüneburg. Ich finde es dort sehr schön. Es wird dir gut gefallen.«
Die Unbefangenheit des Kleinen ist herzerfrischend. Er schätzt ihn auf ungefähr zwei Jahre und fragt sich insgeheim, wann beziehungsweise wodurch sich im Leben eines Kindes diese Ungezwungenheit verliert. Wie ehrlich könnte die Welt sein, wenn das nicht der Fall wäre.
Langsam setzt sich der Zug in Bewegung und die beiden Fenstergucker stehen auf, um diesen Vorgang besser verfolgen zu können. Aufmerksam beobachten sie, wie sie den Zug auf der anderen Bahnsteigseite zurücklassen, ebenso die vielen noch wartenden Passagiere sowie das große weiße Schild mit der schwarzen Aufschrift Hamburg.
»Kalle war schon mal in Lüneberg.«
Der große Bruder nimmt dieses Stichwort zum Anlass, um sich wieder auf seinen Platz zu setzen und so dicht an seine Mutter zu schieben, wie es die Sitzlehne zwischen ihnen erlaubt. Dann nickt er mit dem Kopf. Offensichtlich ein Zeichen dafür, dass auch er sich an ihrem Gespräch beteiligen möchte. Dennoch bringt er keinen Ton heraus.
»Ich erinnere mich an eine alte Stadt mit vielen schönen Fachwerkhäusern und einem kleinen Fluss, der zwischen ihnen langfließt.«
Diese minimale Beschreibung genügt, dass Kalle seine Zurückhaltung aufgibt. Er nickt.
»Stimmt. Man kann Kanufahren und Schwimmen. Aber nicht in der Stadt, sondern da, wo unsere Tante wohnt. Die hat nämlich einen großen Bauernhof.« Die braunen Augen des Jungen beginnen zu leuchten. »Mit vielen Tieren.«
»Wohnt ihr dort auf dem Bauernhof?«
Plötzlich verliert auch die Schwester das Interesse an der Welt draußen und beginnt, die unvollständigen Informationen ihrer Geschwister zu ergänzen, während sie sich umdreht und hinsetzt.
»Unsere Tante wohnt dort«, beginnt sie.
»Ja, Tante Lina«, freut sich der Kleinste und wippt auf dem Schoß seiner Mutter herum.
»Genau. Tante Lina ist die Schwester unserer Mutter und Onkel Fiete ihr Mann. Sie haben einen großen Bauernhof, der sehr viel Arbeit macht. Und in den Ferien oder manchmal auch an einem langen Wochenende fahren wir hin und helfen ihnen.«
»Bestimmt können sie eure Hilfe gut gebrauchen«, antwortet er und bemüht sich, den ernsthaften Gesichtsausdruck der Kinder widerzuspiegeln.
»Benny kann natürlich noch nicht so viel arbeiten«, berichtet die große Schwester und nickt dem Kleinsten zu, »aber ich werde ihm zeigen, wie man die Hühner füttert. Und um die Kätzchen kann er sich bestimmt auch schon kümmern, denn sie sind jetzt nicht mehr ganz so klein.«
Der Kleine strahlt.
»Minka, die Mutter, hat nämlich sechs Junge bekommen. Das ist ganz schön anstrengend«, betont Kalle, während ihm seine Mutter über den Kopf streichelt.
»Es ist ein Biobauernhof mit Ackerbau und Viehzucht, wie es früher normal war, als es noch nicht die riesigen Betriebe mit Monokulturen und Massentierhaltungen gab. Das ist ideal für uns und es gibt für alle etwas zu tun. Und vor allem zu staunen. Für die Kinder sind natürlich die Tiere besonders interessant.«
Und dann zählen die Kinder die einzelnen Tiere auf: ein paar Kühe und Schweine, viele Hühner und Enten, dann Minka mit ihren Jungen und Bronko, der alte Schäferhund, und zwei Ponys.
»Tante Lina und Onkel Fiete haben keine Kinder«, weiß die große Schwester noch zu berichten, »deswegen können sie unsere Hilfe immer gut gebrauchen.«
»Das kann ich mir gut vorstellen«, antwortet er, »und Platz scheinen sie ja genug zu haben.«