Ein Hauch Familie - Karin Hildebrandt - E-Book

Ein Hauch Familie E-Book

Karin Hildebrandt

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Beschreibung

Mascha ist ein fröhliches Kind. Von außen betrachtet wächst sie wohl behütet auf. In ihrem Inneren jedoch sucht sie verzweifelt nach Anerkennung und Beachtung. Ist es ihre Schuld, dass ihre Eltern sie nicht lieben können? Mit kindlichen Mitteln bemüht sie sich vergebens, eine gewisse Akzeptanz in der Familie zu erreichen. Doch Halt und Zuspruch findet sie nur bei ihrem Bruder Hannes und außerhalb des Elternhauses. Diese kleinen Juwelen in ihrem Alltag ermöglichen es ihr, sich im Stillen ihre Fröhlichkeit zu bewahren. In einer Rückschau auf ihr Leben stößt Mascha auf immer neue Fragen. Kann sie die Kriegsgeschehnisse für das Verhalten ihrer Eltern verantwortlich machen? Ihr wird noch einmal klar, wie prägend solche Kindheitserfahrungen sind, wie verletzend und nachhaltig. Und doch hat sie einen eigenen Weg gefunden, glücklich zu werden.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Karin Hildebrandt begann 2005 ihre schriftstellerische Arbeit mit lyrischen Werken. Es folgten Romane unterschiedlicher Genres. Ihr erstes Buch »Alles Liebe, dein Krebs« beschreibt ihren ungewöhnlichen Weg, den eigenen Brustkrebs zu überwinden. In »Bis bald in Frankreich!« geht es um die Freundschaft dreier Frauen. Und »Planet der Freiheit« wirft die Frage auf, warum die Menschen sich so wenig um den Schutz der Erde kümmern? In allen Büchern gelingt es der Autorin in feinsinniger und humorvoller Weise, das Augenmerk des Lesers immer wieder auf sich selbst und das Leben zu richten.

KARIN HILDEBRANDT

Ein Hauch Familie

Roman

© 2021 Karin Hildebrandt

1. Auflage 2021

Autor: Karin Hildebrandt

Umschlaggestaltung, Illustration: Christiane Kurschildgen

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN Paperback: 978-3-347-26959-0

ISBN Hardcover: 978-3-347-26960-6

ISBN e-Book: 978-3-347-26961-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Vorbemerkung der Autorin:

Dieses ist ein Roman. Alle Personen in meiner Geschichte sind fiktiv, jedoch nicht alle Orte oder Firmen. Je nach Bedarf habe ich sie erfunden, verändert oder dem Handlungsgeschehen angepasst.

Nimm dir Zeit für eine Reise

Nimm dir Zeit für eine Reise,

fliege fort, verliere dich.

Mach es ganz auf deine Weise.

Mut ist schon erforderlich.

Still und sanft gehst du auf Pfaden,

mancher Stein begegnet dir.

Karren, voll mit Obst beladen,

du spürst Hunger, du spürst Gier.

Vor dir liegt die ganze Welt,

plötzlich magst du sie nicht sehen.

Und ein grauer Schleier fällt,

lässt die Landschaft untergehen.

Du gehst weiter, jetzt viel schneller,

fühlst schon Enge in der Brust.

Sehnst dich nach dem Weichensteller,

findest Ärger, findest Frust.

Nichts willst du jetzt noch entdecken,

möchtest springen nur vom Zug,

still und sanft die Wunden lecken.

Was ist Glanz, was Selbstbetrug?

Unergründlich ist die Reise,

wie das Meer, so unbesiegt.

Jeder fährt auf seine Weise,

wenn er durch sein Leben fliegt.

Mascha

Handelt es sich bei diesem Planeten, der sich Erde nennt, tatsächlich um ihr Zuhause? Oder ist sie auf ihrer Reise durch den Weltenraum irgendwo, an irgendeinen Punkt nicht im Vollbesitz ihres Bewusstseins gewesen und hat schlicht und ergreifend eine entscheidende Abzweigung verpasst und ist nur falsch gelandet? Dann wäre ihre Geburt in dieser Welt ein Irrtum. Ein Fauxpas. Ein Ausrutscher. Ein Patzer der Natur. Oder ein Missgriff ihrerseits. Vielleicht? Vielleicht.

Vielleicht ist die Frage auch falsch gestellt und sie sollte stärker von sich selbst ausgehen und klären, warum sie sich so anders fühlt? So angepasst und sozialisiert, doch nicht eingebunden und aufgehoben in einer Heimat, in einem irdischen Nest. Warum hat sie sich schon immer anders gefühlt? Denn dass das so ist, weiß sie schon lange. Im Grunde genommen seit ihrer Kindheit, obwohl sie solche Fragen nie gestellt hat. Wem auch? Sie selbst hätte keine Antwort gefunden und ihre Eltern, nun ja, auch nicht. In der heutigen Zeit ist das vielleicht möglich, wo den Kindern eine neue Stellung in der Gesellschaft zugeschrieben wird und sich in den Familien alles um sie zu drehen scheint. Wo ihre Anliegen ernst genommen werden. Ja, heute ist das vielleicht möglich.

Damals jedoch, in ihrer Kindheit vor 60 Jahren ist das eindeutig nicht der Fall gewesen. Nicht nur, weil die Eltern in der Nachkriegszeit viel zu viel mit sich selbst zu tun gehabt haben, mit der Verdrängung ihrer Kriegstraumata und dem Aufbau eines neuen Lebens. All das muss immens viel Zeit und Kraft gekostet haben, sowohl in ihrem inneren als auch in ihrem äußeren Dasein. Natürlich. Da ist es nötig gewesen, dass sich die Kinder ins System eingefügt haben, und zwar möglichst schnell und unauffällig. Tiefschürfende psychologische Fragen wären nicht nur störend, sondern auch unangebracht gewesen. Besonders vor dem Hintergrund, was die Eltern jahrelang durchgemacht haben, und all das, ohne später zu klagen. Und haben sie nach so vielen schweren entbehrungsreichen Jahren nicht auch das Recht auf Unkompliziertheit gehabt? Auf einen möglichst unbeschwerten und unaufwändigen Alltag, zumindest innerhalb der Familie?

In ihrer Erinnerung jedenfalls hat dieser immer an erster Stelle gestanden. Der reibungslose Ablauf des Tagesgeschehens hat einem Gesetz geglichen, das in Stein gemeißelt schien. Ihm ist alles untergeordnet worden, wie von einem Taktell begleitet. Sogar die wenige Freizeit oder die Sonntage: Aufstehen, Sonntagskleider anziehen, Frühstück, Kirchgang, Kneipenbesuch des Vaters, während die Mutter das Sonntagsmenü gekocht und später ein Kind losgeschickt hat, den Vater zu holen, dann Essen, Mittagsschlaf des Vaters, Küchenarbeit der Mutter einschließlich der Vorbereitung des Sonntagskuchens, Kaffeetrinken, Nachmittagsspaziergang. Danach hat der Vater die letzten Seiten der Samstagszeitung gelesen und die Mutter gestrickt oder gestopft.

In der Rückschau vermutet sie, dass diese Routine den Eltern Sicherheit und Halt gegeben hat. Und vielleicht nicht nur das. Der Gleichklang hat ihnen wohl den Weg in ihre Zukunft eröffnet, den Weg in dieses neue leuchtende Leben, nach dem sich jede Faser ihres Seins gesehnt hat, selbstbestimmt und frei. Mit etwas Wohlstand für die ganze Familie, zumindest ohne Hunger und Not. Und wer ist sie, Mascha, schon gewesen, dass sie das nicht hätte verstehen können, geschweige denn stören wollen.

Sie ist in einem kleinen Dorf im Münsterland aufgewachsen, nur zehn Jahre nach Kriegsende. Sie kann sich dennoch an keine Bauruinen erinnern. Hat es diese nicht mehr gegeben oder ist der kleine Ort unbedeutenderweise von der Zerstörung verschont geblieben? Sie weiß es nicht, weil über solche Dinge in der Familie nicht gesprochen worden ist. Auf Spaziergängen jedoch sind sie manchmal an Häusern vorbeigekommen, wo ungewöhnlich viele Menschen auf engem Raum gewohnt haben. Sie erinnert sich noch sehr deutlich an eine andere Lebendigkeit und andere Sprachklänge und es ist faszinierend anzusehen gewesen, wie sich alle Anwohner vor den Häusern getummelt haben. Ihr Leben schien sich bei guter Witterung überwiegend draußen abgespielt zu haben. Wahrscheinlich wegen der Enge der Räume, doch darüber hat sie sich damals keine Gedanken gemacht. Ihre Aufmerksamkeit hat allein der Dynamik der Menschen untereinander, dieser fremden Energie gegolten. Man hat diese Gebäude geringschätzig Baracken genannt, ohne den Kindern weitere Erklärungen zu geben, doch ist ihr schon damals klar gewesen, dass dieser Teil des Dorfes mit dem Krieg zu tun gehabt haben musste. Doch dazu hat man besser geschwiegen.

Die ländliche Umgebung hat eine heile Welt gespiegelt, perfekt geeignet für eine schöne, bunte Kindheit. Es sind kaum Autos gefahren, höchstens auf den wenigen schon asphaltierten Hauptstraßen. Die übrigen Wege und Fahrbahnen, bestehend aus einem festen Erdboden, was man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann, haben eine ausgezeichnete Grundlage für alle Hinkel- und Ballspiele geboten, denn mit einem Stock haben sich alle Felder leicht aufzeichnen lassen. So hat sich die Freizeit aller Kinder auf der Straße abgespielt, auch dann, wenn diese in Häusern mit schönen Gärten gewohnt haben. Denn nur dort haben sie für ihren überschäumenden Bewegungsdrang und die Art ihrer Spiele nicht nur den nötigen Platz, sondern auch stets ausreichend viele Spielkameraden gefunden.

Damals hat es sich nur um ein schwer zu greifendes, diffuses Gefühl gehandelt. Und es hat sie auch nur dann innerlich aufhorchen lassen, wenn sie sich mit anderen verglichen hat. Zum Beispiel mit ihrem Bruder Hannes oder ihren Eltern. Manchmal ist es ihr im direkten Geschehen aufgefallen, manchmal erst in der späteren Nachbereitung im Stillen. Meistens jedoch gar nicht. Denn sie ist ein Kind gewesen, das zu funktionieren hatte, das funktionieren wollte und das funktioniert hat, zumindest in ihrer eigenen Wahrnehmung.

Im Stillen. Ein großes Wort und ein Zustand von zentraler Bedeutung für sie, denn der wichtigste Teil ihres Lebens hat sich schon in ihrer Kindheit in ihrem Inneren ereignet. Ist das bei jedem Kind so? Bei jedem Menschen? Im Stillen, wenn sie mit sich allein gewesen ist, unabhängig vom Alltagsgeschehen und unabhängig von anderen Menschen, dann hat sie sich frei gefühlt, nicht versucht, sich anzupassen oder Dinge zu tun, die sie gar nicht oder nicht in diesem Augenblick tun wollte. Dann ist alles um sie herum herrlich ruhig gewesen und nur ihr Kopf hat vor Bildern und Worten geglüht. Meist hat sie dann ihre Puppe Dagmar in den Arm genommen und ihr eine heile Welt beschrieben. Hat diese ausgeschmückt und in allen Farben durchlebt und dennoch in einer Schlichtheit, wie es nur einem kindlichen Gemüt gelingt. Im Sommer hat sie häufig in einer Ecke im Garten oder auf der Schaukel gesessen, die sich ziemlich versteckt und vom Küchenfenster aus kaum einsichtbar hinter dem Haus befunden hat. Sie träumt mal wieder, hat ihre Mutter dann oft leicht tadelnd gesagt, denn es ist kein Laut über Maschas Lippen gekommen. Das ist auch nicht nötig gewesen, im Gegenteil, alles Gesprochene hätte ihren Gedankenfluss gestört oder gar zerrissen, was oft genug geschehen ist, wenn sie von ihrer Mutter gerufen worden ist. Daher hat sie häufig ihre Augen in der trügerischen Hoffnung geschlossen, möglichst lange diese köstliche und notwendige Stille genießen zu dürfen.

Nicht immer sind es verlockende Traumwelten gewesen, in die sie sich verkrochen hat. Normalerweise hat sie diese Auszeiten benötigt, um bestimmte Ereignisse des Tages zu verstehen, besser gesagt, irgendwann zu verdauen. Zum Beispiel die Verhaltensweisen ihres Bruders, später die ihrer Eltern, Lehrer oder Freunde. All das hat nach einer Zeit des Durchdenkens gerufen. Und wenn sie ehrlich ist, so haben auch viele Tränen zu diesem Prozess gehört, denn einem Kind ist es kaum möglich, Erlebtes ohne Hilfe von außen zu verarbeiten und abzuschließen. Bei ihr ist es so gewesen, dass sie die Dinge kreiselhaft immer wieder durchlebt hat in der Hoffnung, einen Faden der Erkenntnis zu ergattern, der ihr den Schritt hinaus aus dieser Spirale gewiesen hat. Sie hat diese Suche nach Antworten gebraucht, sonst wäre sie völlig aus dem Gleichgewicht gefallen, wie sie heute weiß.

Im Grunde genommen ist sie ein fröhliches Kind gewesen. Also tief in ihrem Herzen und in ihrer Vorstellungskraft auch in den ersten Lebensjahren im Umgang mit ihrer Familie. Jedoch hat sie an diese Zeit keine Erinnerungen mehr, was sie heute sehr bedauert. Denn vielleicht würde sie alles besser verstehen können, wenn ihr noch gegenwärtig wäre, wie alles begonnen hat. Ob etwas Bestimmtes vorgefallen ist oder ob sie selbst etwas Schlimmes getan hat, aufgrund dessen ihre Eltern sie nicht haben lieben können.

Du meine Güte! Hat sie diese Worte tatsächlich aufs Papier gebracht oder wabern sie lediglich in ihrem Kopf herum auf der Suche nach Beachtung? Nein. Dort stehen sie, schwarz auf weiß. Darf ein Kind so undankbar sein, wo ihre Eltern sie voller Entbehrungen großgezogen und dafür die schönsten Jahre ihres Lebens geopfert haben? Sie liest den Absatz ein weiteres Mal, denkt zurück an ihre Kindheit und fühlt sich wie ein hässliches Entlein, dass mit unsicheren Schritten hinter ihrer Familie her watschelt.

1959

»Jede Woche das gleiche Spiel,« jammerte Frau Avers und versuchte verzweifelt, mit einem Kamm die feinen zausigen Haare ihrer Tochter Millimeter für Millimeter zu entwirren und zu glätten. Mascha stand, eingehüllt in ein Badetuch, neben der Badewanne, auf dessen Rand ihre Mutter saß und sich abmühte. Insgeheim musste sie ihrer Mutter zustimmen. Ihre Haare waren so fein wie Spinnweben und nach dem Waschen, also jeden Freitag, so widerspenstig wie die Katze ihrer Freundin Gretchen, wenn sie sich nicht streicheln lassen wollte. Doch was konnte sie für ihre Haare? Der Herrgott hat ihr bei ihrer Geburt keine Wahlmöglichkeit gelassen. Sonst hätte sie sich bestimmt auch für den dicken braunen Schopf ihres Bruders entschieden, der so offensichtlich dem seines Vaters glich, dass seine Herkunft keinerlei Fragen aufwarf. Hannes war bereits fix und fertig in seinem Schlafanzug und auf dem Sprung ins Wohnzimmer, wo er auf den Vater warten wollte.

»Hast du nicht etwas vergessen?«

Fragend drehte er sich zu seiner Mutter herum. Mascha wusste genau, worauf ihre Mutter anspielte, sagte jedoch nichts. Sie fror, behielt aber auch diese Tatsache für sich, denn sie wollte nicht noch unangenehmer auffallen.

»Deine Schuhe, Hannes. Die gehören in die Kammer.«

»Ach ja, mach ich«, strahlte er und verließ im Laufschritt das Badezimmer. Mascha stand immer noch mit ihren nackten Füßen auf dem kalten Fliesenboden und krampfte reflexartig ihre Zehen zusammen.

»Stell dich richtig hin«, rügte Frau Avers, zog ihre Tochter näher zu sich heran und machte sich wieder an ihren Haaren zu schaffen.

»Keine Ahnung, von wem du diese dünnen Haare hast. Ich zerbreche mir den Kopf darüber, aber ich kenne niemanden in meiner Linie, der so aussieht wie du.«

»Wie meinst du das, Mama?«

Ihre Mutter ließ sich durch diese Frage in ihrer Arbeit nicht beirren, fühlte sich vielleicht ein wenig peinlich herausgefordert, denn ihre Bewegungen wurden ruppiger. Mascha verzog das Gesicht.

»Na ja, du hättest ja auch meine Haare erben können. Die sind pflegeleicht und gut formbar. Mit deinen dünnen Fusseln wirst du immer Probleme haben, wenn du dich später einmal hübsch zurechtmachen möchtest.«

»Tante Hella hat doch auch so dünne Haare.«

»Tante Hella ist eine alte Frau.«

Das klang so, als hätten alle alten Frauen dünne Haare. Mascha wusste jedoch genau, dass das so nicht stimmte, denn die Oma von Gretchen, Oma Sabrowski, trug einen dicken grauen Knoten im Nacken. Bevor sie ihre Mutter jedoch darauf aufmerksam machen konnte, wurde Mascha unsanft umgedreht. Jetzt waren die Haare am Hinterkopf dran. Das war gut, denn dort tat es nie so weh.

»Und diese Farbe kenne ich aus meiner Familie auch nicht.«

Was sollte Mascha dazu sagen? Außer Onkel Karl, der mit seiner Frau in Bayern lebte und den sie bisher nur ein einziges Mal gesehen hatte, kannte sie niemanden aus der Familie. Außerdem war Onkel Karl der Bruder ihres Vaters. Und seine Haarfarbe? Auf jeden Fall nicht rotblond wie ihre, das wusste sie genau.

»So, fertig. Jetzt noch die Zöpfe, dann kannst du dich anziehen.«

Inzwischen fühlten sich Maschas Füße steifgefroren an. Warum war sie nach dem Baden nicht gleich in ihre Hausschuhe geschlüpft? Egal. Jetzt dauerte es nicht mehr lange, denn ihre Mutter war Weltmeisterin im schnellen Haareflechten. Das war auch Maschas Ziel. Sie freute sich auf die Zeit, wo sie ihrer Mutter diese Arbeit abnehmen und sich selbst die Zöpfe knüpfen konnte. Wie gerne würde sie das schon jetzt an ihrer Dagmar üben, doch ihre Puppe besaß keine echten Haare, nur im Plastik ausgewölbte Locken, die braun angemalt waren. Nicht, dass sie das gestört hätte. Nein, sie liebte Dagmar so, wie sie war und wollte keine andere Puppe haben. Nur fürs Flechtenüben hätte sie gerne einen Kopf mit Haaren gehabt. So wie Gretchens Puppe. Vielleicht durfte sie das bei ihr mal ausprobieren?

Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis ihre Mutter aufstand und begann, das Badezimmer wieder in Ordnung zu bringen. Das war das Startzeichen dafür, dass Mascha sich anziehen durfte. Heute beeilte sie sich besonders. Sie war zwar erst fünf Jahre alt, doch schon sehr selbstständig und geschickt. Nachdem sie in Schlafanzug und Hausschuhe geschlüpft war, wollte sie nach ihrem Bademantel greifen.

»Das lohnt sich nicht, Mascha. Du kannst sofort in dein Bett gehen. Es ist spät genug.«

Ihrer Mutter entging wirklich nicht die kleinste Handbewegung von ihr, musste Mascha anerkennend einräumen. Wie schaffte sie das nur?

»Darf ich denn nicht noch mit Hannes auf Papa warten?«

»Heute nicht. Nimm dir noch ein Buch. Wenn Papa rechtzeitig zurück ist, kommt er bestimmt noch nach oben.«

Enttäuscht machte sich Mascha auf den Weg in ihr Zimmer. Es war der kleinste Raum im Haus, doch sie war glücklich, ein eigenes Reich zu haben, und sie war ja auch die Jüngste der Familie. Und die Jüngste, das wusste sie ebenfalls schon, hatte naturgegeben die geringsten Anrechte. Sie machte sich nichts vor. Ihr Vater würde ihr nicht mehr Gute Nacht sagen, denn das tat er selten. Eigentlich nur dann, wenn auch Hannes schon in seinem Bett lag. Aber als älterer Bruder durfte er natürlich länger aufbleiben. Das war doch das Normalste von der Welt. Und der Vater arbeitete immer so viel, dass er danach bestimmt zu müde war zum Treppensteigen. Das alles vertraute Mascha ihrer Dagmar an, nachdem sie sich in die kalten Daunenfedern gekuschelt hatte. Irgendwann registrierte sie, dass die Zimmertür geschlossen wurde.

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, stand ihre Mutter bereits an ihrem Kleiderschrank, um die richtigen Kleidungsstücke für den heutigen Tag herauszusuchen. Sie hatte auch schon die Gardinen zur Seite geschoben, so dass Mascha die Sonne ins Gesicht strahlte.

»Guten Morgen, Mascha. Es ist bereits taghell. Mach dich schnell fertig. Heute gibt es viel zu tun. Papa und Hannes sind schon beim Frühstück.«

Mascha entnahm den Worten ihrer Mutter, dass es Samstag war. Der Tag vor Sonntag, wo alle zusammen waren und in die Kirche gingen. Dem gemütlichsten Tag der Woche. Doch der Samstag war immer betriebsam und hektisch. Ihr Vater ging dann früher ins Geschäft, um den Besuch der Kunden vorzubereiten. Meistens kamen die Mütter oder ihre Töchter zum Einkaufen. Und sie deckten sich für das ganze Wochenende ein. Mascha beeilte sich.

»Darf ich heute im Laden mithelfen?«

»Dein Vater hat Kartons mit Schokolade und Negerküssen bekommen. Die kannst du nachher einräumen.«

Mascha strahlte über das ganze Gesicht. Diese Arbeit hatte sie schon einmal gemacht. Damit kannte sie sich aus. Dafür brauchte sie keine Hilfe von ihrem Bruder.

Als sie die Küche betrat, waren ihr Vater und Hannes bereits fort. Das gebrauchte Frühstücksgeschirr stand noch auf dem Küchentisch. Mascha stellte die drei Teller und Tassen neben das Spülbecken. Dann setzte sie sich auf ihren Platz und wartete auf die Mutter, die mit flinken Fingern sofort begann, aufzuräumen. Nebenbei versorgte sie ihre Tochter mit heißem Kakao und einer Scheibe Brot. Den Rest schaffte Mascha schon allein. Sie entschied sich an diesem Morgen für Marmelade.

Samstags musste alles sehr schnell gehen. Während Mascha frühstückte, brachte Frau Avers das Haus in Ordnung. Anschließend gingen beide hinüber ins Geschäft. Mascha hüpfte an der Hand ihrer Mutter, wobei ihr kariertes Kleid mit dem weißen Krägelchen bei jeder Bewegung mittanzte. Als sichtbares Zeichen dafür, dass auch sie im Geschäft mitarbeiten durfte, trug sie eine weiße Schürze. Mascha war stolz wie Oskar, wie man so sagte. Fröhlich trällerte sie das Lied Guten Abend, gute Nacht, das sie jeden Tag ihrer Dagmar vorsang.

»Das ist ein Schlaflied, Mascha. Willst du schon wieder ins Bett gehen?«

»Mir fällt gerade kein anderes Lied ein. Weißt du eins, Mama?«

Doch Frau Avers überhörte die Bitte ihrer Tochter. Sie wusste, wie gerne ihre Tochter sang, doch in Gedanken beschäftigte sie sich bereits mit den nächsten Aufgaben, die zu erledigen waren. Ihr Krämerladen lag nur wenige Schritte von ihrem Wohnhaus entfernt, schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite. Das war sehr praktisch, denn so war der Abstand kurz und dennoch groß genug, um auch mal Feierabend zu haben. Sie verkauften allerlei Lebensmittel für den täglichen Bedarf, außerdem frische Milch und etwas Käse. Die Ladentür stand bereits offen und von weitem sah sie Frau Meier und ihre Tochter auf sie zukommen. Angelika schwenkte lachend die Milchkanne um ihren Körper. Meist saßen die Deckel nicht allzu fest auf den zerbeulten Zinkgefäßen und nur, wenn man den Arm schnell genug drehte, fielen sie nicht ab. Angelika hatte den Bogen gut heraus. Dennoch hätte Frau Avers dieses Verhalten bei ihrer Tochter nicht geduldet.

»Guten Morgen, Frau Meier. Heute schon so früh unterwegs?«

»Guten Morgen, Frau Avers. Ja, heute kommt meine Schwester zu Besuch. Sie wissen doch, Anita aus Münster mit ihren drei Jungen. Das ist vielleicht eine Rasselbande, kann ich Ihnen sagen. Die werden mir alles durcheinanderbringen«, lachte sie. »Ich bin froh, dass das Wetter heute so herrlich ist. Da kann Anita mit ihnen draußen spielen.«

Mascha spürte ein leichtes Zucken in ihrer Hand. Sie wusste, dass ihre Eltern sich einen zweiten Jungen gewünscht hatten, vielleicht um mehr Hilfe im Geschäft zu haben? Vielleicht aber auch, weil Jungen grundsätzlich etwas Besonderes waren. Menschen, auf die man eher stolz sein konnte als auf Mädchen. Schnell löste sie sich vom Handgriff ihrer Mutter und lief ins Geschäft.

»Papa! Papa! Guten Morgen.«

Herr Avers bediente gerade ihren Nachbarn, Herrn Krämer, an der Milchanlage. Mit jedem Schwung des langen Hebels zu sich heran floss ein Viertel Liter der weißen Flüssigkeit in dessen Kanne. Wenn jemand viel Kraft hatte, ging das schnell. Bei Hannes dauerte es etwas länger, bis sich eine Kanne füllte. Außerdem musste er sich noch eine Fußbank vor die Theke stellen, um den Hebel zu erwischen. Es war halt eine Arbeit für Erwachsene, die er nur ganz selten übernehmen durfte, sich nachher aber immer wieder damit brüstete. Während der Vater die Kanne füllte, nahm Herr Krämer Mascha auf den Arm.

»Meine kleine Prinzessin, du bist ganz schön schwer geworden«, scherzte er.

»Ich wünschte, das wäre sie«, antwortete Maschas Vater. »Man traut sich gar nicht, das dünne Ding richtig anzufassen.«

Mascha senkte den Kopf.

»Das wird schon noch kommen. Besser so, als wenn du ein dicker runder Pfannkuchen wärst, oder?«, lachte ihr Nachbar und öffnete das Bonbonglas auf der Theke.

»Du darfst dir zwei aussuchen, Mascha.«

Er neigte das Kind leicht zur Seite, so dass sie das Glas erreichen konnte. Mascha suchte sich zwei Karamellbonbons aus und steckte sie in die Tasche ihrer Schürze, denn sie wusste, dass ihr Vater sie sonst rügen würde, so früh am Morgen schon Süßigkeiten zu essen.

»Vielen Dank, Herr Meier. Aber ich muss jetzt arbeiten. Die Bonbons esse ich danach«, strahlte sie.

»Sie verwöhnen Mascha zu sehr«, sagte Herr Avers.

»Man kann Kinder nicht zu sehr verwöhnen. Sie sind der Sonnenschein unserer Gesellschaft und Ihre Tochter ist ein ganz besonderer Stern. Das wissen Sie doch, oder?«

»Ja, ja«, hörte Mascha ihren Vater nur noch antworten, denn sie war bereits in das Lager gelaufen, um den Schokoladenkarton zu holen. Unterwegs steckte sie sich schnell eines der Bonbons in den Mund.

»Da habe ich dich also erwischt! So früh am Morgen schon Bonbons essen.« Ihr Bruder war um die Ecke gekommen.

»Morg‘n, Hannes. Was machst du gerade?« Insgeheim hoffte Mascha, ihrem Bruder später helfen zu können.

»Sag mir lieber, von wem du die Bonbons hast? Ist Herr Krämer im Laden?«

»Ja, er ist immer so nett und kann mich gut leiden.«

»Wenn das so ist, hat er dir bestimmt nicht nur ein Bonbon gegeben«, hoffte er, doch Mascha hatte ihn schon durchschaut. Sie wusste genau, dass Hannes die Ausbeulung in ihrer Schürzentasche längst gesehen hatte und jetzt nur so scheinheilig tat. Manchmal wünschte sie sich, Hannes wäre ihr Zwillingsbruder und nicht schon drei Jahre älter und damit viel klüger und stärker als sie.

»Wenn du mir das andere gibst, trage ich dir auch den Schokoladenkarton nach vorne«, bot er großzügig an.

Mascha tat so, als würde sie über seinen Vorschlag nachdenken, und Hannes spielte mit. Insgeheim wussten beide, dass sie ihm noch nicht gewachsen war und das Bonbon schon verloren hatte.

»Na gut, ich teile«, sagte sie schließlich und zog die Schleckerei aus ihrer Tasche. Fast im selben Augenblick verschwand das Bonbon in Hannes‘ grinsendem Mund. Jetzt musste auch Mascha schmunzeln.

»Komm, wir gehen hinter die Regale, damit Papa uns nicht gleich sieht.« Hannes zog seine Schwester tiefer ins Lager und zeigte ihr die neue Lieferung.

»Schokolade und Negerküsse für dich. Zucker, Salz, Mehl, Seife und Waschpulver kontrolliere ich.«

»Und die Zigaretten?«

»Da darf ich nicht dran. Die füllt Papa selber nach.«

Mascha hatte vergessen, dass die Rauchwaren für sie beide strikt verboten waren.

»So«, schmatzte ihr Bruder lachend die letzten Bonbonreste hinunter, »dann wollen wir mal loslegen.«

Und mit einem Schwung nahm er sich zwei Schokoladenkartons und brachte sie in den Laden. Mascha folgte ihm. Vor dem Süßigkeitenfach angekommen, stellte er die Kisten ab und öffnete sie sogar. Mascha war stolz auf ihren Bruder.

»Danke.«

Dann begann sie mit der Arbeit. Die Schokolade befand sich genau auf ihrer Augenhöhe. Das war sehr gut, denn ihre Mutter hätte nicht geduldet, dass sie auf eine Fußbank stieg. Mascha arbeitete sehr sorgfältig und achtete darauf, dass die Sorten nicht durcheinandergerieten und schön gleichmäßig aufgestapelt waren. Sie selbst aß am liebsten die Schokolade mit den Nüssen. Vielleicht spendierte der Vater heute Abend eine Tafel, wenn die Arbeit erledigt war und das Wochenende beginnen konnte. Dann wurde es immer so richtig gemütlich. Mama strickte, meist einen Pullover für Hannes, den Mascha dann irgendwann auftragen sollte, wozu es allerdings bisher noch nie gekommen war, weil die Teile entweder kaputt oder verschlissen waren, und Papa öffnete, wenn er gute Laune hatte, eine Tafel Schokolade für alle und zündete sich selbst eine Zigarette an. Mal sehen, wenn sie besonders fleißig war, würde ihr Traum bestimmt in Erfüllung gehen. Doch noch war es längst nicht soweit. Sie hatte erst einen Karton geschafft. Und die Negerküsse standen auch noch im Lagerraum.

Das Geschäft füllte sich. Mascha hörte den Kunden zu, wenn sie ihre Bestellungen aufgaben oder ihren Eltern den neusten Klatsch erzählten. Das meiste interessierte sie nicht. Das war gut so, denn so wurde sie auch nicht von ihrer Arbeit abgelenkt. Sie machte sich sehr klein und versuchte, nicht im Weg zu stehen, wenn die Kunden sich an ihr vorbeidrängelten oder einen Artikel suchten. Manchmal konnte sie ihnen sogar helfen, denn sie kannte sich schon recht gut mit dem Sortiment aus. Doch meistens war Hannes schneller als sie. Und wenn ihre Mutter um die Ecke schaute, tat Mascha so, als würde sie nicht bemerken, dass ihr auf die Finger geschaut wurde. Das passierte jedoch nicht mehr so oft wie früher. Inzwischen war sie schließlich schon fünf und keine Anfängerin mehr.

Das Einsortieren der Negerküsse ging schneller voran als das Aufstapeln der Schokoladen, weil sie in großen Kartons verpackt waren. So kam es ihr vor, dass sich das leere Regalfach in Windeseile füllte. Die einzige Herausforderung waren die Bilder auf den Schachteln. Darauf sahen die Schaumbomben so verlockend lecker aus, dass sie ihren Blick nur schwer von ihnen lösen konnte und Gefahr lief zu träumen. Bisher war sie nur ein einziges Mal in den Genuss gekommen, eine zu probieren, und obwohl das schon lange her war, glaubte sie fest daran, sich an diesen cremigen süßen Geschmack noch erinnern zu können. Schnell stellte sie den letzten Kasten ins Regal und brachte das Altpapier in den Hof.

»Mascha!«

»Ja, Mama?«

»Schau mal, wer hier ist!«

Mascha rannte zurück in den Laden. Frau Sabrowski stand mit Gretchen vor der Milchtheke.

»Ich brauche heute nur einen Liter«, bestellte die Mutter ihrer Freundin gerade und begrüßte Mascha freundlich. Sie streichelte ihr übers Haar. Mascha freute sich und nahm Gretchens Hand.

»Kann ich euch helfen? Was braucht ihr denn noch?«

»Das ist sehr lieb von dir, Mascha«, sagte Gretchens Mutter. »Immer, wenn ich dich hier treffe, bist du so hilfsbereit. Frau Avers, Sie haben wirklich eine sehr fleißige Tochter.«

»In dem Alter sind das doch alle Kinder. Mal sehen, wie lange das noch anhält.«

Mascha verstand nicht so recht, was ihre Mutter damit ausdrücken wollte. Gab sie sich nicht alle Mühe, ihr immer so gut zu helfen, wie sie konnte? Sie wusste, dass Gretchen zu Hause keine festen Aufgaben hatte. Es war also nicht überall üblich, dass die Kinder ihren Eltern halfen. Strengte sie sich zu wenig an? Etwas betreten schaute sie in das zurückhaltende Lächeln ihrer Freundin.

»Aber Frau Avers«, versuchte Gretchens Mutter zu beschwichtigen, »so wie ich Mascha kenne, wird sie Ihnen immer zur Hand gehen. Hat sie für heute denn ihr Tagewerk schon vollbracht?«

Mascha verstand nicht, was sie meinte.

»Wenn sie mit ihrer Arbeit fertig ist, könnte sie doch mit uns kommen. Grete würde sich sicher über eine Kameradin zum Spielen freuen, oder?«

»Ja!« »Ja!« Die Mädchen jubilierten und Frau Sabrowski wandte sich an Mascha.

»Du warst schon länger nicht mehr bei uns. Kennst du die Kätzchen von Minka eigentlich schon? Sie sind bereits fast drei Wochen alt und können jetzt auf den Arm genommen werden.«

»Was?« Maschas Augen leuchteten. »Mama, bitte, darf ich mitgehen?«

»Ich weiß nicht. Es ist ja schon bald Mittag.«

»Das macht doch nichts, Frau Avers. Ihr Geschäft ist doch bis 14 Uhr geöffnet. Da haben Sie bestimmt keine Zeit zum Mittagessen. Und ob bei uns einer mehr oder weniger am Tisch sitzt, spielt überhaupt keine Rolle. Ich würde mich wirklich sehr darüber freuen, Frau Avers. Sie wissen doch, wie still und zurückhaltend Grete ist. Mascha tut ihr so gut.«

»Na schön.«

Mascha hüpfte um Gretchen herum, während die Frauen sich um den Einkauf kümmerten. Als alles verstaut war, band Frau Avers ihrer Tochter die Schürze ab und redete ihr noch kurz ins Gewissen.

»Benimm dich anständig, Mascha!«

»Ja, Mama«, antwortete ihre Tochter, nahm die Milchkanne und lief zu Gretchen, die schon mit einer Flasche rotem Saft für ihre Oma an der Ladentür auf sie wartete. Frau Sabrowski, die mit zwei gefüllten Einkaufstaschen hinter den Kindern herlief, schmunzelte in sich hinein. Bestimmt gefiel es Frau Avers nicht, dass ihre Tochter die Kanne trug. Bestimmt sorgte sie sich jetzt, dass dabei etwas schief gehen könnte.

Die Mädchen verstanden sich gut, doch rein äußerlich unterschieden sie sich sehr. Die zarte feingliedrige Mascha mit ihren hellblonden dünnen Zöpflein, stets gut gelaunt und neugierig, und daneben Grete mit ihrem dunklen robusten Teint und den dicken schwarzen Zöpfen, die ihr weit über die Schultern ragten. Wenn die Mädchen zusammen waren, taute Grete auf und lachte viel. Sie war ihre einzige Tochter und inzwischen hatte sie die Hoffnung begraben, noch einmal schwanger zu werden. Nun gut. Wenn die Natur es so wollte, sollte es so sein. Sie und ihr Mann vergötterten ihre Tochter und boten ihr viele Freiheiten. Beide kamen von einem Bauernhof in Ostpreußen und liebten das Landleben. Nach dem Krieg waren sie hier in Westbeek gelandet und sehr froh darüber, einen kleinen Hof am Rande des Ortes kaufen zu können. Er war in keiner Weise mit den Gütern zu vergleichen, die sie verloren hatten, doch sie waren einfach nur glücklich darüber, den Fluch des Krieges überlebt zu haben.

Die Mädchen vor ihr schwatzten übermütig. Oh, selige Kinderzeit! Ihr Heimweg war nicht weit. Sie konnte ihr Haus am Straßenende bereits sehen und verspürte ein wohliges Gefühl, Sie wusste, dass Mascha sich bei ihnen sehr wohl fühlte. Natürlich brachten ihre Felder, es handelte sich um eine kleine Wiese für die beiden Kühe, ein Kornfeld und einige Kartoffel- und Gemüseflächen, auch viel Arbeit mit sich. Dazu die Obstbäume. Dennoch herrschte bei ihnen nicht diese Angespanntheit, die sie bei den Avers oft empfand. Diese Strenge hinter der Freundlichkeit. Hoffentlich würde sich Mascha ihre Unbeschwertheit erhalten können. Sicher, sie war auch ein ernsthaftes und höfliches Kind, doch bei ihnen auf dem Hof verhielt sie sich frei und ungezwungen und ausgesprochen phantasievoll. So bereicherte sie Grete immer wieder mit interessanten Ideen. Wenn die Mädchen mit der Kinderküche spielten, schickte Mascha ihre Freundin beispielsweise zum Gräsersammeln. Es mussten dann möglichst lange Stängel sein, denn sie wollte Spaghetti kochen, oder die kleinen roten Blätter der Hecken-Berberitze für Rotkohl. Frau Sabrowski lächelte warmherzig. Sie alle mochten Mascha und freuten sich über ihre Gesellschaft. Plötzlich sah sie, wie die Kinder losliefen. Natürlich sehr verhalten und vorsichtig mit den wertvollen Getränken in ihren Händen. Sie hatten ihre Schwiegermutter am Gartenzaun entdeckt.

»Guten Tag, Oma Sabrowski«, grüßte Mascha und reichte der alten Frau die Hand.

»Guten Morgen, Mascha. Das ist ja eine schöne Überraschung, dass du uns mal wieder besuchst. Dann kommt mal herein.«

Oma Sabrowski nahm den Kindern die Milch und den Saft aus den Händen und stellte alles auf den Küchentisch. Dann setzte sie sich in ihren Sessel. Das war das Startzeichen für die Mädchen, sich zu ihr auf den Schoß zu setzen. Mascha überkamen dabei äußerst gemischte Gefühle. Einerseits genoss sie es, so nah bei Oma Sabrowski zu sitzen, ihr Parfüm zu riechen und sich an sie zu lehnen. Andererseits war diese Nähe sehr ungewohnt für sie. Und damit meinte sie nicht die Nähe zur Oma, sondern die Nähe zu Erwachsenen überhaupt. Oma Sabrowski hatte die Eigenschaft, die Kinder an sich zu drücken, ihnen über den Kopf zu streicheln und einen Kuss auf die Wange zu drücken, was Mascha von ihren Eltern nicht kannte. Daher saß sie etwas steif auf ihrem Schoß.

»Nun erzählt mir mal, was ihr heute vorhabt, ihr zwei Süßen«, begann Oma Sabrowski wie immer zu fragen.

»Ich möchte die Kätzchen sehen«, sprudelte es sofort aus Mascha heraus. Gretchen nickte.

»Ich zeig sie dir gleich. Sie sind auf dem Dachboden. Vielleicht schlafen sie noch.«

»Dann sind wir ganz leise und vorsichtig«, schlug Mascha vor. »Wie viele sind es denn?«

»Drei. Minka hat drei kleine Kätzchen geboren. Und alle sehen genauso aus wie sie.«

»Alle drei?«

Gretchen nickte wieder. »Ja, alle drei haben dieselben Streifen im Fell.«

»Vielleicht ändert sich das noch? Mama sagt immer, dass sich meine Haarfarbe auch noch ändern kann.«

Oma Sabrowski fing an zu lachen und drückte Mascha liebevoll an sich.

»Da hat deine Mutter recht. Bei Menschen ist das häufig so, dass sich die Haarfarbe im Laufe des Lebens ändert. Aber die Katzen behalten ihre Farbe und Maserung so, wie sie jetzt ist. Na, dann schaut sie euch jetzt mal. Und wenn ihr nachher Durst habt, kommt runter. Dann könnt ihr euch ein Glas Brause machen. Ich habe noch Orangen- und Zitronengeschmack.«

»Au ja«, freuten sich die Mädchen und stürmten los. Mascha kannte schon den verschlungenen Weg zum Dachboden. Zuletzt mussten sie durch eine Luke steigen und im selben Augenblick roch es nach Heu und Stroh, das hier für den Winter gelagert wurde. Jetzt, im Sommer, war der Speicher noch leer. Nur in einer dunklen Ecke hatte Herr Sabrowski ein Bündel Heu ausgebreitet, damit Minka sich daraus ein schönes Nest bauen konnte. Mascha und Gretchen öffneten den Riegel der Holztür, die nach draußen führte, und zogen die breiten Seitenteile nach innen. Sofort erhellte die Sonne mit ihren Strahlen den Raum. Mascha warf schnell noch einen Blick in den Hof. Direkt unter ihnen türmte sich ein riesiger Heuhaufen. Wahrscheinlich würde er nach oben geschafft, sobald die Kätzchen keine Ruhe mehr brauchten und unten im Stall untergebracht werden konnten.

Ganz langsam näherten sich die beiden dem Katzenbett und Gretchen sprach mit leiser Stimme: »Guten Morgen, Minka. Hast du schon auf uns gewartet? Schau mal, ich habe Mascha mitgebracht. Sie ist so neugierig auf deine Jungen. Dürfen wir sie uns anschauen?«

Minka kam ihnen behäbig entgegen. Die Mädchen streichelten sie und warteten ab, bis die große Mutterkatze sie stolz zu ihren Kätzchen führte und begann, diese zu lecken und zu liebkosen. Dann legte sie sich wieder hin und schaute genau zu, wie Mascha und ihre Freundin sich mit den Kleinen beschäftigten. Sie wurden zärtlich gestreichelt und auf den Arm genommen. Die Mädchen achteten auch sehr genau darauf, dass sie ihre Fürsorge gleichmäßig auf die Jungen und auf Minka verteilten.

»Wie lange werden sie hier oben bleiben?«, fragte Mascha.

»Nur noch ein paar Tage. Papa hat im Kuhstall einen Holzkasten gebaut, wo sie dann schlafen können. Tagsüber brauchen sie dann nicht mehr so viel Ruhe.«

„Die drei sind jetzt schon ganz schön munter.“

»Das stimmt, aber Papa sagt, dass es besser für sie ist, wenn sie in den ersten Wochen noch nicht so viel Unruhe haben. Sie werden dann später ausgeglichener.«

»Darfst du alle behalten?«

Gretchen schüttelte den Kopf. »Nur ein Kätzchen bleibt bei uns. Ich darf mir eines aussuchen.«

»Weißt du schon, welches du behalten willst?«

»Ich dachte an das mit dem weißen Fleck auf der Stirn. Was meinst du?«

»Das würde ich auch nehmen. Das ist so süß. Ist es ein Mädchen oder ein Junge?«

»Es ist ein Kater. Kannst du mir beim Namen helfen?«

„Au ja.“

»Gretchen! Mascha! Kommt essen.«

Es gab Erbsensuppe mit dicken Würstchen und zum Nachtisch ein kleines Eis. Für Mascha war dies ein Festtag. Sie fühlte sich wichtig und verwöhnt. Sie saßen mit Oma Sabrowski allein am Küchentisch, weil Gretchens Eltern noch auf dem Feld waren.

»Du bist jetzt so schweigsam, Mascha. Ist irgendwas?«

»Nein, Oma Sabrowski. Es ist nichts. Ich muss nur nachdenken. Wir sind gerade dabei, uns für das Kätzchen einen Namen auszusuchen. Das geht nicht so einfach.«

»Oh. Ja, das verstehe ich gut. Habt ihr denn schon Ideen?«

Beide Mädchen schüttelten mit dem Kopf.

»Ich bin mir sicher, euch wird noch ein schöner Name einfallen«, sagte Oma Sabrowski und stand auf. Sie holte aus dem Küchenschrank zwei Gläser, füllte sie mit Wasser und stellte sie dann vor die Kinder.

»Ihr habt vorhin eure Brause vergessen. Ich habe noch genau zwei Tütchen. Wer möchte welche? Zitrone oder Apfelsine?«

Mascha hielt sich als Gast zurück. Doch als Gretchen auch nichts sagte, machte sie den Anfang. Allen war klar, dass beide am liebsten die Zitronenbrause tranken.

»Ich nehme heute die Orangenbrause, wenn ich darf«, sagte sie und beobachtete, wie Gretchens Augen zu leuchten begannen. Dann hatte sie also die richtige Entscheidung getroffen. Plötzlich strahlte auch sie über das ganze Gesicht.

»Mauz«, sagte sie. »Gretchen, was hältst du von Mauz? Ist das nicht ein schöner Name für das Kätzchen?«

»Mauz«, wiederholte ihre Freundin. »Ja, das passt.«

»Mauz klingt wie ein stolzer Kater«, bestätigte Oma Sabrowski und begann, den Tisch abzuräumen. »Wenn ich mit der Küche fertig bin, lege ich mich etwas hin. Also seid bitte nicht so laut beim Spielen.«

»Wir gehen wieder nach oben und werden ganz leise sein, Oma.«

Und das taten sie auch. Auf dem Dachboden angekommen, öffneten sie wieder die Luke nach draußen und schauten hinunter auf den großen Heuhaufen unter ihnen.

»Wir müssen noch warten, bis meine Oma eingeschlafen ist«, flüsterte Gretchen. So wandten sie sich zuerst wieder den Katzen zu, bevor sie 15 Minuten später aus der Luke hinunter in den Heuhaufen sprangen. Eine nach der anderen, ohne einen Mucks von sich zu geben, obwohl beiden nach lautem Kreischen zumute war. Nach dem Sprung schlichen sie leise durchs Haus zurück auf den Dachboden und wieder ging es hinunter. Für Mascha war es eher Fliegen als Springen. Es war ein wundervolles Gefühl, durch die Luft zu segeln und dann auf ihrem Hosenboden im weichen Heu zu landen, das so frisch und gut roch. Jedes Mal wehte ihnen die warme Luft um die Ohren und ihre Zöpfe flogen nach oben, als wären sie einen Augenblick später abgesprungen. Die Halme vom Heu kitzelten an ihren Beinen und Armen, manche piekten auch. Sie wussten nicht, wie oft sie gesprungen waren, als sie sich müde neben die Katzen legten und diese über sich hinwegkrabbeln ließen. Mauz war der lebhafteste und mutigste von allen.

»Allein hätte ich mich das nie getraut«, murmelte Gretchen.

»Da war doch nichts dabei.«

»Mit dir zusammen nicht.«

»Hast du Angst gehabt?«

»Nein. Keine Sekunde.«

»Ich auch nicht. Es war einfach nur toll.«

»Aber das muss unser Geheimnis bleiben.«

»Auf jeden Fall. Wenn Mama das erfährt, darf ich nie wieder herkommen.«

Und bei diesem Stichwort drangen plötzlich murmelnde Stimmen nach oben. Leise krochen sie an die Fensterluke und sahen, dass Herr und Frau Sabrowski sich im Hof mit Maschas Mutter unterhielten. Die Zeit des Aufbruchs war gekommen. Mascha atmete schwer durch.

»Du hast überall noch Heu«, sagte Gretchen umsichtig und begann, die Halme aus Maschas Kleidern und Haaren zu zupfen. Danach wurde Gretchen gesäubert. Schließlich schlossen sie leise die Holzluke, damit die Kätzchen nicht hinunterfallen konnten, und liefen nach unten.

»Da seid ihr ja«, freute sich Herr Sabrowski. »Was sagst du zu den Kätzchen, Mascha? Möchtest du auch eines haben?«

»Das geht in unserem Laden leider nicht«, hörte Mascha ihre Mutter sofort antworten, doch sie wusste genau, dass im Haus Avers grundsätzlich keine Haustiere geduldet wurden, weil sie zu viel Arbeit und Schmutz mit sich brachten.

»Das macht nichts«, entgegnete Gretchens Vater und ging vor dem Mädchen in Hocke. »Dann kommst du einfach so oft du möchtest zu uns und besuchst die Katzen.« Liebevoll streichelte er ihr über den Kopf. »Wir freuen uns immer, wenn du uns besuchst.«

Und zu Frau Avers sagte er dann: »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen. Wenn die Schule im nächsten Jahr beginnt, werden die Kinder nicht mehr so viel Zeit füreinander haben. Außerdem tut Gretchen die Gesellschaft von Mascha sehr gut. Sie hat leider kein Geschwisterchen zum Spielen. Und hier ist so viel Platz. Was meinen Sie, Frau Avers? Wir können Mascha auch gerne abholen und wieder nach Hause bringen. Das lässt sich gut mit unserem Einkauf bei Ihnen verbinden.«

Diesem freundlichen Angebot konnte Maschas Mutter kaum etwas entgegensetzen. Einerseits hatte sie Mascha gerne unter ihrer Kontrolle, andererseits fehlte ihr oft die Zeit für das Kind. Und hier auf dem Hof war sie gewiss gut aufgehoben. Sie selbst war in der Stadt großgeworden und hätte sich das Leben in einem solchen Umfeld nicht vorstellen können, aber Mascha war ja ohnehin aus der Art geschlagen und wenn es ihr hier gefiel, warum also nicht.

»Wenn es Ihnen wirklich keine Umstände macht?«

»Nein, ganz und gar nicht, im Gegenteil«, mischte sich jetzt Frau Sabrowski ein. »Wir alle mögen ihre Tochter sehr. Sie hat so eine freundliche und liebevolle Art.«

»Dann gerne.«

Mascha jubelte im Stillen. »Pass gut auf Mauz auf!«, flüsterte sie Gretchen ins Ohr. »Und denk an unser Geheimnis.«

Auf dem Heimweg sagte Frau Avers kein Wort, doch Mascha störte das nicht. Ihre Mutter hatte immer sehr viel nachzudenken und zu planen. Schon allein wegen des Geschäfts, wo ständig große Betriebsamkeit herrschte. Und alle Kunden wollten schnell und richtig versorgt werden. Leider war sie noch nicht so groß, dass sie richtig viel helfen konnte. Aber wenn sie erst einmal in die Schule kam und Schreiben und Lesen lernen würde, könnte sie sicher auch verantwortungsvollere Aufgaben übernehmen. Jetzt, auf dem Nachhauseweg durchlebte sie noch einmal den herrlichen Nachmittag und hoffte inständig, dass sie ihn bald wiederholen durfte. Sie wusste, dass ihre Mutter gerne unabhängig von anderen Menschen war. Das hatte sie schon häufiger zu Papa gesagt, doch so richtig hatte Mascha den Sinn dieser Worte nicht verstanden. Egal. Sie würde einfach auf den richtigen Augenblick warten, um sie darum zu bitten. Oder Papa fragen. Er war oft etwas nachsichtiger mit ihr.

»Warst du auch im Kuhstall«, fragte ihre Mutter zu Hause.

Mascha schüttelte den Kopf. »Nur auf dem Dachboden bei den Kätzchen.«

»Dann geh deine Hände gründlich waschen und komm auf die Terrasse. Du kannst mir beim Erbsenpulen helfen.«

Das war eine Arbeit, die Mascha gerne übernahm. Sie ekelte sich wohl vor den Maden, die sie ab und zu in den Schoten fand. Glücklicherweise bewegten die sich so langsam, dass es ihr mit ihren dünnen Fingern gut gelang, die nicht angefressenen Erbsen trotzdem heraus zu angeln, ohne die fetten Würmer zu berühren. Das hatte sie schon gut gelernt. Denn jede einzelne Erbse war wichtig, hatte ihr Mama eingebläut. Und Mascha hatte auch gelernt, ihren Ekel nicht zu zeigen, denn weder ihre Mutter noch Hannes hatten in dieser Hinsicht Verständnis für sie und würden nur lachend den Kopf schütteln. Also versuchte sie, alle Gefühle zu unterdrücken und keine Aufmerksamkeit zu erregen. Und wenn sich eine Made besonders fettgefressen in der Schote breitgemacht hatte, legte sie möglichst unauffällig und vorsichtig die ganze Hülse in den Abfallkorb, ohne die unbeschadeten Erbsen herauszupulen. Einmal hatte Hannes sie dabei erwischt, aber da war sie noch sehr klein und ungeschickt gewesen. Heute würde ihr das nicht mehr passieren.

Als Mascha am Abend im Bett lag, erzählte sie ihrer Dagmar von ihrem aufregenden Tag und mit diesen wunderbaren Erlebnissen im Herzen schlief sie schnell ein. Am nächsten Morgen ließen sich alle mehr Zeit mit dem Aufstehen, schließlich war Sonntag. Alle zogen sich fein an und bevor sie sich auf den Weg zur Kirche machten, gab der Vater den Kindern jeweils 5 Pfennig für den Klingelbeutel.

»Warum heißt der Klingelbeutel denn Klingelbeutel?«, fragte Mascha unterwegs. »Es ist doch gar kein Beutel, sondern ein Körbchen.«

»Du stellst immer Fragen«, sagte ihre Mutter kopfschüttelnd.

»Das ist doch gut«, antwortete Herr Avers, »davon wird man nur klüger. Das hast du gut erkannt, Mascha. In der großen katholischen Kirche haben sie einen richtigen Beutel. Der ist meistens aus schönem Samtstoff gearbeitet und unten hing ursprünglich mal ein kleines Glöckchen dran. Ob das allerdings heute noch der Fall ist, weiß ich nicht.«

»Und wenn jemand eingeschlafen ist, wird kräftig geklingelt, damit derjenige aufwacht und bezahlen kann«, führte Hannes grinsend aus.

»Hannes!« Frau Avers‘ Ton klang ernst.

»Das ist so, Mama«, verteidigte sich Hannes sofort. »Das hat Axel mir so erzählt. Und der ist doch katholisch und muss das wissen.«

Mascha sah, wie der Vater schmunzelte. »Auf jeden Fall haben wir in unserer evangelischen Kirche kleine Körbchen für die Kollekte. Und ich hoffe, mein Junge, dass du dich ordentlich benimmst und während des Gottesdienstes nicht einschlafen wirst.«

In der Nacht musste es geregnet haben. Mascha entdeckte kleine Pfützen auf der Straße. Am liebsten wäre sie hineingesprungen. Ohne ihre Sandalen natürlich, um zu fühlen, wie kalt das Wasser war, doch das würde ihre Mutter nie erlauben. Vielleicht nach der Kirche?

Auf dem Kirchplatz waren schon einige Gemeindemitglieder versammelt, und der alte Pastor Stobbe stand neben der schweren offenen Holztür und begrüßte jeden Einzelnen. Im Kirchenraum hörte Mascha nur ein leises Murmeln. Während sie in der fünften Reihe Platz nahmen, nickten Herr und Frau Avers den meisten Besuchern kurz zu. Die Kinder saßen zwischen den Eltern, Hannes an der Seite des Vaters. Für Mascha war es gut und schlecht zugleich, neben ihrem Bruder zu sitzen. Gut, weil er nicht so viel Strenge ausstrahlte, und schlecht, weil er oft Faxen machte, die nur Mascha sehen und dann ein Kichern kaum unterdrücken konnte. Und Mama neben ihr entging fast nichts. So hoffte sie, dass heute nichts dergleichen geschehen würde. Auf der anderen Seite würde es dadurch natürlich weniger langweilig werden. Ach, sie wusste einfach nicht, was sie wollte.

Die Zeremonie begann und Maschas Gedanken schweiften schnell zu den drei Kätzchen ab. Das war wesentlich interessanter, als den Worten des Pastors zu folgen. Außerdem interessierte sie die Frage, wer denn alles so in den Gottesdienst gekommen war und wie viele sie aus dem Laden kannte? Mit neugierigen Blicken glitt sie die Reihen vor ihr entlang, dann schaute sie nach oben zur Empore. Nirgends war ein bekanntes Gesicht zu sehen. Nun, vielleicht hinter ihr? Gerade, als Mascha sich suchend umschauen wollte, spürte sie den Händedruck ihrer Mutter auf ihrem Arm. Na gut. Schade. Mascha verfiel wieder in eine gerade starre Sitzhaltung und träumte sich in eine andere Welt.

»… das ist das höchste Gut auf der Erde. Darum sind wir hier in dieses Erdenleben getaucht. Das ist unser Auftrag, jede Woche, jeden Tag, jede Minute. Lasst uns beten!«

Mascha wurde von ihrer Mutter vom Stuhl gezogen. Sie hatte die Worte des Pastors nicht richtig verstanden. Nur so viel, dass sie eine Aufgabe von Gott erhalten hatte. Jedoch welche, das wusste sie jetzt nicht. Aber es musste eine äußerst wichtige Sache sein, wenn sie sich damit jeden Tag, sogar jede Minute beschäftigen sollte. Und nicht nur sie! Alle Menschen hatten diese Aufgabe zu erledigen. Da war es doch wohl nötig, sie zu kennen. Warum hatte sie nur nicht aufgepasst! Auf jeden Fall wollte sie sich diese Frage merken und später ihrem Bruder oder ihren Eltern stellen.

Nach dem Gottesdienst versammelten sich die Gemeindemitglieder noch zu einem kleinen Plausch vor der Kirche. Während Hannes zu einem seiner Freunde schlenderte, klebte sie selbst an der Hand ihrer Mutter, die sich angeregt mit Frau Mayer von der Gartenstraße unterhielt. Das war langweilig. Mascha schabte mit ihrem Fuß über ein paar winzige Kieselsteine, bis ihre Mutter sie strafend anschaute. Sehnsüchtig schaute sie zu ihrem Bruder und wünschte sich, schon ein paar Jahre älter zu sein. Alle lachten und schwatzten, nur sie musste hier dumm herumstehen. Dann löste sich die Gruppe auch schon auf und alle marschierten wieder nach Hause oder sonst wohin.

Beim Mittagessen fiel Mascha ihre Frage wieder ein. Während sie versuchte, eine Erbse auf ihre Gabel zu spießen, überlegte sie, wie sie diese am besten formulieren konnte.

»Mama, was ist das höchste Gut auf der Erde?«

»Was meinst du genau?«

»Das, was Pastor Stobbe heute gesagt hat. Wir sollen an das denken, warum wir auf der Erde sind. Jede Minute. Jede Sekunde.«

Mit fragenden Augen schaute sie in die Runde, erhielt jedoch keine Antwort. Konnte es sein, dass alle anderen wie sie selbst geschlafen oder geträumt hatten? Nein, das war undenkbar. Mama und Papa würden niemals schlafen, wenn der Pastor redete. Oder?

»Er meinte, dass wir die Aufgabe haben, immer richtig zu handeln«, erklärte Herr Avers nach einer gefühlten Ewigkeit, »also nicht lügen, mit seinem Bruder streiten oder Widerworte geben.«

Irgendwie spürte Mascha, dass das nur die halbe Wahrheit war, sonst hätte der Vater nicht so lange mit seiner Antwort gezögert.

»Und wir sollen in der Kirche besser aufpassen«, ergänzte Hannes mit vollem Mund. Jetzt lachten alle und Mascha bemühte sich, fürs Erste damit zufrieden zu sein. Sie wusste, dass weitere Fragen zu diesem Thema sie nicht weiterbringen würden. Vielleicht könnte sie Pastor Stobbe beim nächsten Kirchenbesuch selbst fragen. Und mit dieser hoffnungsvollen Aussicht konzentrierte sie sich wieder auf ihr Mittagessen und vergaß das Thema für den Rest des Tages. Erst am Abend, als Hannes sie in ihrem Zimmer besuchte, kam ihr die Frage erneut in den Sinn und sie schmiedete einen Plan.

»Hast du deine Zähne schon geputzt«, fragte sie ihren Bruder gespielt beiläufig.

»Nö. Warum?«

»Ich habe noch zwei Brausebonbons«, lächelte sie.

»Dann her damit!«

Mascha setzte sich betont langsam auf ihr Bett.

»Du hast sie versteckt. Möchtest du, dass ich sie suche?«

»Lieber nicht. Du bringst mir nur alles durcheinander und ich muss dann wieder so lange aufräumen.«

»Und kriegst Ärger mit Mama.«

»Das auch.«

Hannes wusste sehr zu schätzen, dass seine Schwester ihn nie verpetzte, obwohl sie drei Jahre jünger war als er. Und er wusste auch genau, dass sie nicht selten ihren Kopf für ihn hinhielt. So gesehen, stand er ein wenig in ihrer Schuld, worüber er sich jedoch selten Gedanken machte. Warum er ausgerechnet jetzt daran denken musste, konnte er sich auch nicht erklären.

»Du bekommst sogar beide Bonbons«, stellte Mascha in Aussicht, »unter einer Bedingung.«

»Seit wann stellen kleine Mädchen ihren großen Brüdern Bedingungen?«, lachte Hannes und setzte sich zu ihr.

»Nur wenn sie Bonbons zu vergeben haben und der große Bruder ein Schleckermaul ist.«

»Mama hat recht, du bist zu klug für dein Alter. Altklug.«

»Was ist denn altklug überhaupt?«

»Das tut jetzt nichts zur Sache«, wehrte Hannes ab. »Wie heißt deine Bedingung?«