Bis zum Schluss - Oliver Uschmann - E-Book

Bis zum Schluss E-Book

Oliver Uschmann

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  • Herausgeber: Pantheon
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Vom Anruf, der immer zur Unzeit kommt und uns mitteilt, dass ein enger Angehöriger nicht mehr lange zu leben hat, über Krankheit, Sterben und Tod bis zum Sichten und Verwerten der Hinterlassenschaften und zur Wohnungsauflösung: Oliver Uschmann und Sylvia Witt haben ein klares und ehrliches Buch geschrieben, das allen Trost, Rat und Hilfe gibt, die in einer ähnlichen Situation sind oder die sich darauf vorbereiten möchten.

Oliver Uschmann hat innerhalb weniger Jahre das Sterben seiner Großmutter, seiner Mutter und seines Vaters begleitet. Er wurde dabei zum Kenner von Krankenhäusern und Hospizen, Therapiestrategien und Todesaugenblicken, Bestattungsverfahren und Nachlassverwaltung. Er war entsetzt und fasziniert davon, was ihm zugemutet wurde und er sich selbst zugemutet hat. Und auch davon, was er am Ende alles leisten konnte.
»Was fehlt«, sagt Oliver Uschmann, »sind die klaren Worte. Dass jemand mal sagt, wie es wirklich abläuft.« Diese klaren Worte finden Oliver Uschmann und seine Frau Sylvia Witt in diesem Buch. Und er sagt auch: »Als satirischer Schriftsteller sieht man immer und überall Pointen.« So ist dieses Buch trotz der ernsten, existenziellen Thematik stellenweise auch sehr komisch.
Jenseits von religiösen Trostbüchern, esoterischem Geschwurbel und ernster Befindlichkeitsliteratur haben Uschmann und Witt einen Ton getroffen und eine Pragmatik entwickelt, die jedem helfen, der geliebte Menschen und Angehörige beim Sterben begleitet oder mit ihrem Tod konfrontiert wird.

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Seitenzahl: 656

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Oliver UschmannSylvia Witt

BIS ZUM SCHLUSS

Wie man mit dem Tod umgeht, ohne verrückt zu werden

Pantheon

Der Pantheon Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH

Erste AuflageMärz 2015

Copyright © 2015 by Pantheon Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Jorge Schmidt, MünchenSatz: Ditta Ahmadi, BerlinISBN 978-3-641-13675-8www.pantheon-verlag.de

INHALT

VORWORT

DER ANRUF

DIE KRANKHEIT

DAS STERBEN

DER TOD

DIE BESTATTUNG

DAS SICHTEN DER DINGE

DAS VERWERTEN DER DINGE

DIE ÜBERGABE DES WOHNRAUMS

DIE TRAUER

DIE TOTE-MUTTER-KARTE

ANHANG

DIE WERT-SCHÄTZUNG DER DINGE

VORWORT

DIE ASCHE IM SCHRANK

Ich stehe vor einem großen Schrank aus Granit. Er enthält die Asche meiner Mutter. Und die meines Vaters. Zwei Urnen passen in das Fach, und nun ist das Fach voll. Es ist das zweite von oben in dem Granitschrank, den sie Stele nennen und auf den gerade der Schatten der riesigen Kastanie fällt, während die Tauben auf dem Friedhof gurren. Meine Eltern teilen sich die Stele mit drei weiteren Fächern. Wie ein schmales Mietshaus. Und natürlich steht so ein Vierparteien-Objekt nicht allein. Links und rechts davon reihen sich weitere Türme auf, Hochhauswand an Hochhauswand, leicht im Halbkreis angeordnet, so dass ein winziger Vorplatz entsteht, auf dem sich Kränze und Blumenschalen sammeln. Wäre das Ganze tatsächlich ein Wohnviertel, würden hier unten am Fuße der Wolkenkratzer morgens die Frisöre, Imbissbuden und Internetcafés ihre Türen aufschließen. Meine Eltern haben sich eine letzte Ruhestätte im dritten Obergeschoss ausgesucht.

Hinter mir, in meinem Rücken, erstrecken sich die normalen Gräber des großen Friedhofs, dessen Wege ich seit meiner Kindheit kenne. Sie sind die Einfamilienhäuser im Schatten der Stelensiedlung. Individuelle Grundstücke in allen Größen und Formen, mal bepflanzt mit einem verwunschenen Dickicht aus Efeu, mal bunt gestaltet wie die Bundesgartenschau. Die Gräber haben eigene Vorplätze, eigene Hecken, eigene Winkel und Nischen. Hummeln und Bienen finden auf ihnen schmackhafte Blüten und krabbeln nach dem Essen faul und wackelig auf dem breiten Grabstein herum. Versuchen sie, im dritten Stock der Stele aus der einen Blume zu trinken, die dort im Einzelblumenhalter an der Marmorplatte der Schranktür steht, stoßen sie sich beim Anflug den kleinen Schädel. Früher, in meiner Kindheit und Jugend, wurden alle Menschen, die ich kannte, in Gräbern mit Grabsteinen begraben. Gräbern mit Erde, die nach Gartenarbeit riechen und reichlich Blütenauswahl für Insekten. Gräbern mit Buchsbaumbegrenzung, der man regelmäßig mit der Heckenschere beikommen muss, und Gedenksteinen, für deren Reinigung man in lauer Frühlingsluft die Plastikflasche mit dem Grünbelag-Entferner schüttelt. Meine Großväter wurden so begraben und meine Oma mütterlicherseits, sogar mein Schulfreund Thomas, den die Leukämie bereits mit siebzehn dahinraffte und der sich die Erde unter einem dichten Bodendeckerteppich mittlerweile mit seiner Mutter teilt. Der Gedanke, dass alle diese Menschen seit vielen Jahren allmählich zerfallen und vermodern wie die Leichen in schonungslosen Krimiserien, erschreckt mich nicht. Ihre Körper werden wieder eins mit der Erde und bilden den Humus für den Buchsbaum, die Stiefmütterchen, den Efeu und die riesigen Kastanien. Meinen angeheirateten Onkel, den Schwager meiner Mutter, haben wir vor zwölf Jahren als Asche im niederländischen Teil des Ijsselmeers verstreut. Er war Segler und wurde eins mit dem Salzwasser und der See. Meine Eltern und ihre Nachbarn in der Hochhaussiedlung aus Granit werden mit gar nichts mehr eins. Ihre Körper wurden nicht verbrannt, um die Asche verstreuen und mit der Welt vereinen zu können, sondern um archiviert zu werden wie Sammelobjekte. Sie wollten es so. Auf ihren Urnen sind Spuren im Sand abgebildet, Fußspuren entlang einer sanften Brandung, da sie die Nordsee liebten und alle Angehörigen sich nun vorstellen, wie sie auf ewig gemeinsam an ihrem Lieblingsstrand auf Borkum spazieren gehen. Die Zeichnung ist ebenfalls in den Marmor der Grabplatte auf der Tür des Stelenfachs eingearbeitet. Sie ist schön und tröstlich, aber sie kommt kaum zur Geltung. Die gleiche Grafik auf einem großen Grabstein, das wäre ein Hingucker, selbst für Fremde, doch auf einer so kleinen Fläche kommt einfach gar nichts zur Geltung. Die »Spuren im Sand« an einem richtigen Grab, das wäre wie ein aufklappbares Schallplattencover wie »Sergeant Pepper« von den Beatles. Die »Spuren im Sand« auf der Tür im dritten Bestattungsstock des Stelenturms erfordern selbst von Menschen ohne Brille, ganz nahe heranzugehen und sich nicht von den Nachbarn ablenken zu lassen. Die Stele ist die CD unter den Bestattungsformaten.

»Guten Tag«, sagt eine Frau mit Filzhut und wechselt am Verwahrschrank nebenan die Einzelblume. Ich nicke wortlos und wundere mich, dass sie mich einen Moment lang so besorgt anschaut. Ihr Blick fixiert für zwei Sekunden mein linkes Auge. Es ist eine Träne hinausgelaufen. Das liegt an den Gedanken an die Spaziergänge im Sand, die meine Eltern gerade in der imaginierten Dimension der Ewigkeit genießen, wo es kein Morphium gibt und keine Schläuche im Brustzugang, keine Chemotherapien und keine Konflikte. Nur eine steife Brise, die Haare im Wind wehen lässt und die äußersten Spitzen von meines Vaters Schnauzbart.

Ich spüre, wie die Frau mit dem Filzhut ein Gespräch anfangen möchte. Ihr Mann oder Bruder oder Vater wurde sicher vor ein, zwei Jahren hier eingelagert und bezüglich des einen Tropfens Salzwasser in meinem Augenwinkel spüre ich, dass ihr ein Satz auf der Zunge liegt wie: »Ist noch ganz frisch, oder?« Sollte sie ihn aussprechen, wird sie dabei den Kopf schief legen und den Tonfall ihrer Stimme auf »Fürsorge« einstellen, so wie man an Kompaktanlagen zwischen den Klangfarben »Rock«, »Pop«, »Klassik« und »Jazz« wählen kann. Ich habe jetzt keine Lust auf den Tonfall »Fürsorge« und beschließe daher, zu gehen. Da ich immer noch nicht weiß, wie man eine Stelensiedlung würdevoll verlässt, nicke ich der Klappe im Schrank zu, drehe den Kopf weg und klopfe mit dem Blick nach schräg unten zum Abschied zwei Mal mit dem Fingerknöchel darauf. Eine Aktion, so peinlich wie der Versuch eines alten Lehrers im Tweedsakko, seine Schüler am Morgen mit coolen Gangstergesten aus »modernen« Videos zu begrüßen. Als meine Sohlen endlich wieder den knirschenden, kleinformatigen Kies der breiten Friedhofswege berühren, bin ich erleichtert. Trotzdem höre ich die nicht gestellte Frage der Filzhutfrau nun in meinem Kopf und führe den Dialog, der nie stattgefunden hat, auf dem Weg zum Wagen innerlich.

»Ist noch ganz frisch, oder?«

»Vier Monate … also meine Mutter.«

»Und Ihr Vater?«

»Zweieinhalb Jahre.«

»Das tut mir leid.«

»Ja …«

»Ja …«

»Und Ihrer?«

»Mein Mann? Drei Jahre. Krebs.«

»Ja. Bei uns auch. Alle. Auch die Großeltern früher. Ein Schulfreund. Alle.«

»Diese Scheißkrankheit, was?«

»Ja …«

»Finde ich gut, dass es jetzt diese Möglichkeit gibt mit den Stelen.«

»Ja … nun … ist Einstellungssache.«

»Ich lasse mich auf jeden Fall auch verbrennen. Der Platz hier drin ist schon reserviert.«

»Ja …«

»Ist eine saubere Sache. So ein Grab, das macht doch nur Arbeit. Und wer pflegt es? Mein Sohn lebt in München. Nein, nein, das ist alles viel einfacher so.«

»Ja … nun … man kann sich auch verstreuen lassen. Im Meer. Im Wald. Ihr Sohn könnte einen Diamanten aus Ihnen pressen lassen.«

»Wie bitte?«

»Aus der Asche. Einen Zirkonia.«

»Welcher kranke Spross macht denn Schmuck aus seiner verstorbenen Mutter?«

»Dann sagen Sie ihm, er soll das mit seiner Frau machen.«

»Die stirbt aber gar nicht.«

»Ja, dann weiß ich es doch auch nicht.«

So verläuft das Gespräch in meiner Fantasie, während ich an Gräbern mit uralten Lampen vorbei Richtung Hinterausgang laufe, am Gerätehaus des Gärtners vorbei und der Toilette die immer abgeschlossen ist, raus auf die Straße mit dem Gelände der großen Baufirma auf der anderen Seite und der langen Mauer, vor der das Auto steht. »Tod dem BVB!« hat jemand mit blauer Schrift auf die Mauer gesprüht. Ich stelle mir vor, ich wäre ein Ultra von Schalke 04, ein Kollege des Schmierfinks, immer noch jung und unschuldig, nachts durch die Gegend ziehend mit der Sprühdose und am Wochenende in der Nordkurve ansässig. »Tod, Tod, Tod dem BVB!« würde ich brüllen, als sei die Welt ein schlichter Kindergarten, und dann, als neuen Slogan hinterher: »Ab in die Stele, zack, zack, zack!« Die Blauweißen um mich herum würden sich umdrehen, Fragezeichen über den Gesichtern, mein Hirn schwämme angenehm im Flachwasser aus Stadionbier und ich würde lachen, den Stelenunsinn lassen, die Stimme wieder in gespielt aggressive Tiefen runterschrauben und einfach weitermachen mit: »Tod, Tod, Tod dem BVB!« zwischen all den Schalkern. Heimlich würde ich Borussia Mönchengladbach lieben und niemand würde sterben. So einfach wäre das.

Im Auto ist ein Pflanztopf umgefallen. Schwarze Erde verteilt sich zwischen den Klappkisten, Kartons, Decken und Säcken mit Tapetenresten. Die Pflanztöpfe musste ich aus dem Garten meiner Mutter entfernen, weil die Eigentümerin den potentiellen Nachmietern lieber den Blick auf runde, weiße Löcher im Rasen zumutet als auf alte Terrakottatöpfe. Die Übergabe der leeren Wohnung ist das vorerst letzte Kapitel einer Geschichte, die vor vier Monaten mit dem Anruf meiner Tante begann und die ich eines Tages jemandem erzählen muss. Das wird mir klar, als ich den Kofferraum öffne und auf die letzte Fuhre Mischware schaue, ein wildes Durcheinander aus Dutzenden von Wochenenden der Entrümpelung und der Sichtung, der Auflösung eines ganzen Lebens, in dem vom vergilbten Roman aus dem Bücherclub bis zum letzten Tässchen Steingut (Serie Adams English Ironstone Scenic, Grün) alles mit Erinnerungen verbunden war, Erinnerungen an eine Zeit, als sich noch niemand unter der Erde, im Ijsselmeer oder in Stelenschränken befand. Vier Monate, in denen ich so viel über das Leben und das Sterben gelernt habe, dass mir auffiel, wie wenig bislang darüber geschrieben wurde, abseits von Bestattungsbroschüren, Scherzbüchern mit den witzigsten Todesanzeigen, sachlich kühlen Abhandlungen und esoterischen Schlössern aus heißer Luft. Keiner sagt einem vorher, wie das ist, der Verfall und die Sterbebegleitung, die Krankenhäuser und das Hospiz, der letzte Atemzug und die erste Stunde danach, das Planen der Beisetzung und der Trauerfeier, die Nachlassverwaltung als Erbe und Einzelkind, die Sichtung eines Haushalts mit zehntausend Dingen, die zehntausend persönliche Geschichten beinhalten, das Handeln mit Menschen auf dem Wohnungsbasar und in Antikmöbelhallen, das Reden mit Familie und Freunden in völlig neuen Konstellationen und das Abwickeln von Papierkram, der sich daraus ergibt, dass jeder von uns tausend Spuren hinterlässt, nicht nur im Sand. Keiner sagt einem vorher, dass mit dem Tod auch das eigene, gewohnte Leben zwischenzeitig endet und es Monate dauert, bis man wieder einen Weg hinein findet. Monate, in denen sich der Fokus verschiebt und der Kopf verrückt spielt. Monate, in denen Prioritäten durcheinander geraten und man lieber Stunden in die Gestaltung von Auktionen auf eBay steckt, um eine alte Glaskaraffe mit Sprung auch zum dritten Mal nicht zu verkaufen, während die eigenen Arbeitgeber verzweifelt auf den AB sprechen, man sich Nägel, Bart und Haare nicht mehr schneidet, die Müllabfuhr die Tonne vorm Haus wieder hat stehen lassen, weil sie nicht vorgezogen war, und die Katzen mit den Augen hungernder Kinder im Türrahmen stehen und verzweifelt mit der Pfote auf ihr Mäulchen zeigen.

Es wird also Zeit, denke ich, als ich in das Auto steige. Zeit, dass jemand all das mal erzählt, klar und deutlich und so, wie es ist. Ich werde nach Hause fahren, Sylvia einen Kuss geben und sagen: »Schatz. Es muss raus. Es muss alles ganz dringend raus.« Sie wird verstehen, wovon ich rede, sich an den Schreibtisch setzen, die Katze von der Tastatur heben und sagen: »Dann fang mal an!« Und dann werden wir gemeinsam ein Buch schreiben, in dem ich zwar oft »ich« sage, das aber – müsste ich diesen Seelenbrocken alleine in Form bringen – nur aus heillosen Klagen bestünde … oder aus einem einzigen, unförmigen Gebrüll.

Ich drehe den Zündschlüssel um und der CD-Player springt an. Till Lindemann von Rammstein singt im tiefsten, grollenden Bariton: »Asche zu Asche und Staub zu Staub.« Das Wort »Staub« wiederholt er am Ende des Stückes ganze sechzehn Mal zu den polternden, unnachgiebigen Riffs, wie ein Wahnsinniger, der die Auflösung seiner Mutter zu Staub nicht verkraftet hat. Ich nicke dazu mit dem Kopf, sechzehn Mal, und dresche zu jedem Taktschlag meine Hand aufs Lenkrad. Auf einem uralten Grabstein reibt sich eine Hummel den von Nektar voll gesaugten Bauch. Über dem Rand der Friedhofsmauer schleicht der Filzhut der Stelennachbarin entlang wie ein Frettchen auf der Jagd.

DER ANRUF

Warum die Nachricht vom Sterben immer unerwartet kommt, wie sie das gewohnte Leben schlagartig beendet und was Sie tun können, um sich auf die kommenden Tage und Wochen vorzubereiten.

ALLE NOCH DA?

Alles lebt.

Das ist der Normalzustand.

Die Welt um uns herum wirkt rund um die Uhr wie die Luftaufnahme einer Großstadt in einem Hollywoodfilm, wo tausend kleine Männchen auf den Zebrastreifen, Bürgersteigen und Vorplätzen umherwuseln, Aktenkoffer und Kaffeebecher mit weißem Deckel in der Hand, das Handy am Ohr, nach einem Taxi winkend. Jede Umgebung ist ein Wimmelbild. Laut und durcheinander. Im Haus spielen die Kinder an der Konsole und beleben den einen Fernseher mit bunten Figuren, während der zweite im Wohnzimmer läuft, um das Bügeln der Wäsche mit putzigen Tieren, kochenden Laien oder professionell gespielten Mordermittlern zu berieseln. In der dichten Hainbuchenhecke des Nachbarn erscheint derweil das röhrende Blatt der Elektroschere und oben auf dem Hügel testen die Teenager wieder ihre frisch frisierten Mopeds aus. Lebt man in der Stadt, hupt jeder wie wahnsinnig, als hätte es einen Unfall gegeben. Dabei geht es einfach nur allen gleichzeitig zu langsam.

In der Welt der Kommunikation sieht es genauso aus wie im Verkehr um uns herum. In dem Augenblick, wo wir die Waschmaschine ausräumen, den Kunden bedienen oder an der roten Ampel warten, haben sich bereits wieder acht Leute auf Facebook gemeldet, siebenundzwanzig eine Nachricht ins elektronische Postfach geschickt und die Schwiegermutter hat mehrfach angerufen. Oder der chaotische Bruder. Wo man geht und steht, macht man Small Talk und redet über das Wetter, den Fußball, Markus Lanz oder die Klimakatastrophe. Das Quatschen und Plaudern ist eine Selbstvergewisserung. Ich bin noch da. Die anderen sind noch da. Viele der Wortwechsel sind längst automatisiert. Zahlreiche Phrasen kommen so aus der Tiefe der Gewohnheit, dass man nicht einmal mehr bewusst merkt, dass man sie ausspricht. Wendungen wie:

»Und selbst?«

»Den Bon brauche ich nicht.«

»Grüß schön.«

»Man kann nur hoffen, dass es das jetzt war mit dem Winter.«

Oder auch:

»Wie sind Sie denn hergefahren?«

Äußerungen, die dem anderen zeigen, dass nun er mit Reden dran ist, oder die einfach nur die Stille füllen, da Stille niemand aushalten kann, allenfalls mal für zwei, drei Sekunden in einem Aufzug. Dauert die Fahrt dort zehn Stockwerke, öffnet sich spätestens beim fünften der erste Mund.

Wo Menschen nicht reden, twittern sie. Oder bloggen. Senden sich Kurznachrichten. Die vielen über Smartphones gebeugten Köpfe in den Zügen und Straßenbahnen bedeuten eben nicht, wie viele denken, dass »die jungen Menschen« nicht mehr miteinander kommunizieren. Im Gegenteil. Das pausenlose virtuelle Gezwitscher ist ein wahres Stimmengewirr der Mitteilungen und »ich bin da!«-Bestätigungen. Als sei die ganze Welt der digitalen Kommunikation nur entstanden, weil die Angst der Menschen immer größer geworden ist, die Freundin, der Freund oder der ganze, in einer Facebook-Gruppe zusammengefasste Sportverein könnten wie von Geisterhand vom Erdboden verschwunden sein, wenn sie zwei Stunden lang keinen neuen Text eingestellt haben. Ein Urlaubsanbieter wie weg.de, der den durch Hape Kerkelings Jakobswegwanderung berühmt gewordenen Slogan »Ich bin dann mal weg!« für seine Werbeplakate benutzt, müsste beim Verhalten der meisten modernen Menschen eigentlich schreiben: »Ich bin dann mal weg … aber ich blogge jeden Tag aus den Ferien und stelle 57 Strandfotos ein.« Wer mit den neuen Medien aufgewachsen ist, könnte kaum ertragen, wenn die beste Freundin wirklich so in den Urlaub fahren würde, wie man es in der Zeit vor dem Internet und den günstigen Mobiltelefontarifen gemacht hat: Tatsächlich weg sein. Unerreichbar. Nur ab und zu kurz anrufen und eine Postkarte senden. Zu wenige Updates. Systemabsturz.

»Wenn es so ganz still ist, das halte ich nicht aus«, sagte kürzlich ein Freund. Er twittert wenig, ist Handwerker und liebt das Geplauder mit Kunden. Oft allerdings ist er bei seinen Aufträgen allein im Wohnraum der Auftraggeber. Handelt es sich dabei um Mietwohnungen mit dünnen Wänden und Böden, bei denen das Toben der Nachbarskinder Schritt für Schritt und Wort für Wort durch die Ziegel schallt, lässt er sein Bau-Radio manchmal im Auto. Verlegt er den Boden allerdings in einem großen, freistehenden Haus, womöglich weit draußen am Waldrand oder in den Feldern, hält er es keine drei Minuten ohne Popsongs, Nachrichten und Höreranrufe aus.

»Ich brauche einfach das Gefühl, dass jemand zu mir spricht«, gesteht er. Die Stille, die viele Menschen suchen und genießen, wenn sie um drei Uhr nachts von einer Geburtstagsfeier absichtlich zu Fuß durch die menschenleere Altstadt nach Hause gehen oder sich eines Tages auf einem Campingplatz einen ruhigen Dauerstellplatz nahe des Deichs mieten, ist nur so schön, weil man weiß, dass sie vorübergeht. Weil jeder klackernde Absatz auf dem nächtlichen Kopfsteinpflaster und jeder am Morgen zwitschernde Vogel in der Birke neben der Parzelle die Gewissheit in sich trägt, dass in ein paar Stunden wieder Trubel herrscht. Und die Schwiegermutter anruft. Oder der chaotische Bruder.

Bleiben diese Anrufe aus, beginnen die Gedanken. Die Sorgen. Der Ärger. Welche Regung auch immer. Die größte Pflicht, die sich Menschen gegenseitig auferlegen ist die, »sich zu melden«, und zwar in berechenbaren Abständen. So berechenbar, wie jeden Tag die Nachrichten kommen. Oder der Höreranruf. Oder die kochenden Laien im Fernsehen.

Bleibt diese Meldung mittelfristig aus oder kommt sie dem eigenen Empfinden nach »zu spät«, treten als Reaktion die drei bedeutsamsten Phrasen des alltäglichen Miteinanders in Kraft. Derjenige, der sich lange nicht gemeldet hat, bekommt einen der folgenden Sätze zu hören, mit denen man einen Vorwurf in scherzhafte Ironie kleidet:

»Du lebst noch?«

»Schön, dass du noch lebst.«

»Man hört ja gar nichts mehr von dir. Wir dachten schon, du wärst tot.«

Diese bissigen Phrasen offenbaren endgültig: Das ständige Plappern, Quatschen, Plaudern und Sich-Melden ist nötig, damit alle voneinander wissen, dass sie noch da sind. Dass alles seinen gewohnten Gang geht. Dass kein Hauptdarsteller aus der langen Serie, die unser Dasein darstellt, aussteigen möchte. Dass alles ist und bleibt wie immer. Nicht anders als bei Tieren, die ihr Rudel zusammenhalten. Ob Small Talk, Fachgespräch oder der »Bon brauche ich nicht!« / »Schönen Tag, noch!«-Wortwechsel an der Supermarktkasse – was wir von uns geben, könnten auch einfach nur Laute sein. Hauptsache, wir können beruhigt feststellen: Alles lebt.

SAURONS AUGE

Alles lebt.

Die Primeln. Die Narzissen. Der Oleander. Die Fuchsie.

Das Gartencenter ist ein beständiges Areal meiner Lebenslandkarte. Im Frühjahr schieben meine Frau und ich den Wagen durch die grünen Düfte, um Nachsaat für den Rasen zu holen, Gartenkalk und größere Tonwaren zum Umtopfen der Kübelpflanzen. Außerdem Blumenerde, soviel die Achslast des Autos tragen kann. Im Sommer ist es uns kaum möglich, an den putzigen Figuren aus Terrakotta vorbei zu gehen, die in der Dekorationsabteilung hocken wie großäugige Tiere im Heim. Schildkröten, Igel und Katzen bevölkern in vielen Varianten die Rasenkantensteine und Teichfelsen unseres Gartens. Lediglich die kleinen Singvögel aus Steingut haben wir uns bislang verkniffen. In der Adventszeit trinken wir im Außenbereich Glühwein mit dem Weihnachtsbaumverkäufer. Wir lassen uns Zeit für die Auswahl, während federleichte Schneeflocken im Licht der Außenstrahler vor einem Abendhimmel Richtung Nordmanntannenspitzen rieseln, der schon um 17:30 Uhr so pechschwarz ist wie sonst nur um drei Uhr nachts, wenn alles schweigt und ruht.

Eine besondere Freude machte mir Sylvia 2010 mit dem Buch Guerilla Gardening von Richard Reynolds. Das Konzept, nicht nur den eigenen Garten zu bepflanzen, sondern die ganze Umgebung, erfüllt mich bis heute mit kindlicher Freude. Es ist die schönste Art ungefragter bis verbotener Betätigung. Im Vorbeigehen lasse ich Samenbomben auf wilde Brachflächen fallen, lasse Stiefmütterchen auf kargen Verkehrsinseln blühen oder setze Blaugras in vernachlässigte Betonkübel. Zu sehen, wie Wochen später die Bienen des Landkreises zu ihrer eigenen Überraschung dort, wo früher Steppe war, plötzlich neue Menüs aus Korn- und Ringelblume, Borretsch und Dill vorfinden, ist pure Erbauung. Das Umfeld verändern, die Kulissen modifizieren. Nicht wie früher als zorniger junger Mann mittels Sprühflaschen und Randale, sondern durch die von niemandem bestellte Verbreitung von: Leben.

Heute allerdings, da klappt es nicht. Das Gartencenter kann mich nicht beruhigen. Vor lauter Aufgaben auf der Tages- und Wochenliste bin ich derartig von innerer Unruhe getrieben, dass mich der Friede, der uns umgibt, sogar provoziert. Da stehen sie, die Gehölze und Gewächse, und flüstern mir zu: »Oliver, du hast Zeit. Alles wird gut. Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.« Sylvia sieht das anscheinend genauso. In aller Ruhe inspiziert sie die vielfarbigen Pflanztöpfe für den Innengebrauch.

»Ihr habt gut reden«, zische ich den Pflanzen zu, »ihr habt ja nichts anderes zu tun, als in Ruhe zu wachsen. Ihr müsst nicht tausend Dinge gleichzeitig regeln. Tausend Fragen gleichzeitig beantworten. Noch 148 Mails checken.« Sylvia, die unsere produktive Kreativwerkstatt gemeinsam mit mir betreibt und parallel dazu ständig einen bezahlten oder freiwilligen Auftrag mit voller Leidenschaft erledigt – sei es das Schreiben von Büchern, das Programmieren von Internetseiten und Spielen, das Umsorgen zuwendungsbedürftiger Menschen, Tiere und Pflanzen sowie demnächst ihr drittes Studium – hat genauso viel zu tun wie ich. Aber sie kann, was die Pflanzen verlangen: Ruhe bewahren. Eins nach dem anderen machen. Während sie gerade neue Übertöpfe aussucht, hetzt sie sich nicht mit dem Gedanken, »eigentlich« schon längst wieder daheim am Schreibtisch sitzen zu müssen. »Denken kann ich überall«, sagt sie immer. Ich hingegen bin an Tagen wie diesen innerlich immer schon bei der nächsten Aufgabe.

»Liebchen!«, ruft Sylvia und winkt mich zu den Töpfen. »Sollen wir nicht einfach mal alle austauschen?« Sie legt eine wunderbare Betonung in ihre Stimme, wenn sie so etwas sagt. Man bekommt augenblicklich Lust darauf, das Haus schöner zu machen. Sie glaubt, sie müsse mich Sparfuchs erst davon überzeugen. Dabei reicht es schon, wenn sie ihre grünen Augen aufschlägt.

Mein Telefon klingelt.

»Uschmann?«

»Oliver, ich habe hier eine Rechnung über eine Buttonmaschine.«

Rüdiger. Mein Steuerberater. Kommt immer schnell zur Sache. Gerade macht er nachträglich den Jahresabschluss.

»Ja. Und?«

»Das ist doch so ein Ding, um diese runden Anstecker zu machen, oder? Wo ihr die Logos eurer Romane draufdruckt?«

»Ja.«

»Und die verschenkt ihr?«

Ich zögere. Meine linke Hand spielt mit dem Blatt einer Anthurie. Was Rüdiger zu sagen hat, lässt meine Finger das Blatt mit einem Mal so heftig kneten, dass es abreißt. Still schreit die Pflanze und flucht. Das Amt verlangt von mir, sämtliche kleinen Anstecker, die ich jemals verschenkt oder für einen Preis verkauft habe, der 12 Cent über dem der Herstellung lag, nachträglich aufzulisten. Und nicht nur das. Rüdiger ist ebenso erstmals aufgefallen, dass wir als Autoren von jedem unserer Buchtitel zwanzig bis dreißig Gratisexemplare bekommen.

»Wo bleiben die?«, fragt er mich, während eine junge Mutter ihren Einkaufswagen an mir vorbeischiebt, auf dessen Ladefläche ein Kleinkind quietschend zwischen bunten Usambaraveilchen hockt.

»Die verschenken wir natürlich alle«, antworte ich wahrheitsgemäß. »An Familie, an Freunde, an lokale Journalisten.«

»Das musst du ebenfalls belegen«, sagt Rüdiger, »sonst denkt Wolfgang Schäuble, du hast sie verkauft.«

Ich werde nervös. Und ärgerlich.

»Rüdiger!«, rufe ich in den Hörer, »dreißig Exemplare frei Haus! Pro Titel. Das waren in den letzten Jahren hunderte von Büchern. Und jetzt soll ich nachträglich rückwärts bis 2005 eine Aufstellung machen, wem ich die genau geschenkt habe?«

»Ja, anderenfalls kann es passieren, dass der Wolfgang dich als Händler einstuft und du musst acht Jahre rückwärts Gewerbesteuer zahlen. Dann ist alles aus.«

Acht Jahre Gewerbesteuer. Weil ich, wie es die Ehre gebietet, geschenkte Bücher wieder verschenke und mir von den Beschenkten keine Empfangsquittung dafür ausstellen lasse. Rüdiger seufzt. Ich lasse die Anthurie los. Sylvia stapelt Töpfe. Aus den Lautsprechern tröpfeln Sonderangebote.

»Wenn die Liste glaubwürdig ist, wird sie akzeptiert«, sagt Rüdiger. »Menschen, Orte. Guck nach, wo du aufgetreten bist. Die Termine müssen passen. Die Mengen müssen passen. Es ist wie beim Fahrtenbuch. Schäuble kann dir nicht hinterher fahren, aber er kann Algorithmen laufen lassen, die ihm sagen, ob die Kilometerzahlen erfunden sind.«

Ich kann nicht fassen, was Rüdiger mir da sagt. Ich habe zu tun. Pflanzen umtopfen. Artikel abliefern. Neue Bücher schreiben. In vier Wochen müssen wir das aktuelle Manuskript abgeben. Und jetzt soll ich mein Leben protokollieren, in Form verschenkter Bücher, bis ins Jahr 2005 zurück.

Ich lege auf und fluche. Fürchterliche Worte.

Die Mutter mit dem Usambaraveilchenkind hält ihrem Spross die Ohren zu.

In knappen Worten erkläre ich Sylvia, welche Arbeit in den nächsten Wochen auf mich zukommt.

»Soll ich ein paar Töpfe wieder zurückstellen?«, fragt sie, doch ich schüttele den Kopf und schiebe den Wagen Richtung der Kassen.

»Liebes«, sagt Sylvia und legt ihre Hand auf meine, »ganz ruhig.«

Sie schiebt mich zu den Aquarien, weil sie weiß: Aquarien beruhigen mich. Ich stelle mich vor das Plexiglas und beobachte die kleinen Kiemenkerle beim Schwimmen. Sehe Farben. Lese die Schilder. Ein Fisch heißt Gabelschwanzblauauge. Das beruhigt mich. So bin ich. Ein neues Wort aus der Natur zu lernen, tröstet mich. Gabelschwanzblauauge. Meine innere Unruhe aber bleibt. Da kann auch das Gabelschwanzblauauge nichts machen. In Gedanken habe ich bereits begonnen, die Liste zu schreiben. Das erste verschenkte Buch ging natürlich an Sylvia, im Sommer 2005. Ich überlege, wie lange es dauerte, dass ich daraufhin in meiner Heimatstadt zum Kaffee war und die nächsten Belege verteilte. An meine Eltern, an Onkel und Tante, an die Omas. Ich brauche einen Zettel. Einen Stift. Sechs Kalender aus den Jahren 2005 bis 2010.

Mein Handy klingelt. Ich schaue auf das Display. Es ist die Festnetznummer meines Onkels Michael aus der Heimatstadt. Da gehe ich jetzt nicht ran. Das wäre sogar anstrengender für mich als Wolfgang Schäuble persönlich. Wir schreiben nicht mehr das Jahr 2005. Es hat sich viel verändert.

»Nun nimm schon ab«, sagt Sylvia.

»Wesel«, sage ich.

Sylvia zieht die Brauen hoch. Der Anruf ist ungewöhnlich. Meine Blutsfamilie und ich haben seit Monaten nicht geredet. Seit einer zweistelligen Anzahl von Monaten.

Ich stecke das Telefon wieder ein, bis es verstummt.

Wir gehen zur Kasse.

Fünf Minuten später räume ich auf dem Parkplatz die Töpfe ins Auto, während Sylvia den Einkaufswagen zurückbringt. Roter Topf. Gelber Topf. Schwarzer Topf. Eine Amsel zwitschert. Hinter einem Fenster des Autobahn-Hotels gegenüber zieht ein Mann im Bademantel den Vorhang auf. Mein Handy sagt, es gäbe eine Nachricht auf der Mailbox. Ich kann nicht anders. Ich muss sie abhören.

Jetzt.

»Ja, hallo Oliver. Eveline hier.«

Meine Tante.

Ihre Stimme klingt anders als sonst, auch wenn »sonst« rund achtzehn Monate her ist. Die Stimmen meiner weiblichen Verwandten klingen grundsätzlich immer leidend, leicht zitternd und im Abgang bitter vorwurfsvoll. Das ist normal und hat nichts zu bedeuten, ebenso wenig wie die dramatische Betonung, in welche die Frauen grundsätzlich die Phrase Ruf bitte mal zurück kleiden, ohne zuvor anzukündigen, worum es überhaupt geht. Es klingt stets nach einer großen Sache, dreht sich aber meistens nur um kleine logistische Dinge.

Doch der Tonfall, der mir jetzt und hier auf dieser Mailbox entgegenschlägt, ist anders. Vor allem macht meine Tante dieses Mal keine Umschweife.

»Deine Mutter ist schwer krank, Oliver. Wenn du sie noch einmal sehen willst, solltest du dich beeilen.«

Mein Magen begreift den Satz vor meinem Gehirn. Und meine Hände, aus denen jede Körperwärme entweicht.

»Sie liegt im Marien-Hospital«, sagt meine Tante, »Station K3a. Warte bitte nicht zu lang, wenn du dich entscheidest.«

Piep.

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Sylvia kommt vom Einkaufswagenstellplatz zurück und bemerkt sofort, was los ist. Ihr Ehemann ist oft rot und grün und blau vor Ärger über Wolfgang Schäuble oder Horst Seehofer oder die ständigen Abstürze seines Computers. Aber weiß und aschfahl … das kommt selten vor.

»Schatz? Was ist?«

Ein böses, fieses Lächeln zwingt sich in mein Gesicht. Ich öffne den Wagen und werfe das Telefon mit Wucht in den Innenraum.

»Hey, Schatz …«

»Diese … diese …«, stottere ich wütend und zeige auf das Gerät am Boden zwischen den Sitzen. »Meine Tante. Sie sagt, wenn ich meine Mutter noch mal sehen will, soll ich nach Wesel kommen. Als wenn sie stirbt oder so eine Scheiße. Die wollen mich doch bloß anlocken! Oder? Oder?«

Sylvia schaut mich besorgt an. Für eine Sekunde denkt sie darüber nach, ob es möglich sein könnte. Ob es ein Trick ist. Der letzte Versuch, den verlorenen Sohn wieder unter Kontrolle zu bekommen. Aber sie spürt, dass es echt sein muss. Allein schon an meinen Händen.

»Willst du zurückrufen?«

»Nein!!!«, frotzele ich und werfe mich hinters Lenkrad.

Bis nach Hause rede ich kein Wort.

DIE ASTSÄGE DER HOFFNUNG

Der Anruf kommt immer unerwartet.

Und unpassend.

Wie könnte er auch passend kommen?

Die Nachricht vom nahenden Tode eines lieben Menschen erwischt einen unter der Dusche, während einer Tagung, auf der Toilette oder beim Sex. Oftmals führt das zu Scham. Wie konnte ich bloß gerade Freude haben, als der Anruf kam? Geschäftig sein? Mein Leben leben, während der andere schon seit Tagen oder Wochen seines verfallen sah? Diese Scham vermischt sich mit der Klage: Es trifft mich zu unerwartet! Ich war doch überhaupt nicht darauf vorbereitet!

Es stellt sich allerdings die Frage: Wie soll man auf einen Anruf vorbereitet sein, der naturgemäß nicht vorbereitet werden kann? Selbst, wenn es einem gelänge, sich aus einer Ahnung heraus in die Ruhe der Natur zu begeben, um die Nachricht weitab von anderen Menschen in der würdevollen Stille eines Waldes anzunehmen. Selbst, wenn man sich jeden Tag eine halbe Stunde frei nehmen würde, um bei einem Glas Wein und den blauen Noten von Miles Davis auf einen potentiell erschütternden Anruf zu warten, um ihn gefasst und kultiviert aufzunehmen. Selbst, wenn man sich allen Sex, alle Freude und alle Lebenslust ab dem Moment verkniffe, indem Krankheit und Verfall potentiell in die Familie einziehen könnten, bliebe die Nachricht selbst immer noch »unerwartet«, denn niemand kann sie ankündigen, vorbereiten oder ihr einen sanften Teppich auslegen. Nehmen wir an, eine halbe Stunde vor der Tante meldet sich ein Freund und sagt: »Ich wollte dich nur vorwarnen: Gleich ruft dich deine Tante mit einer sehr ernsten Nachricht an.« Dann wäre der Anruf des Freundes der Anruf, der einen unvorbereitet trifft. Man weiß immer, welche Stunde geschlagen hat. So oder so.

Merke!

Bereiten Sie sich darauf vor, grundsätzlich unvorbereitet zu sein.

Die Nachricht des nahenden Todes ist anders als die Nachricht einer schweren Erkrankung. Hört man das erste Mal von einem Angehörigen oder Freund, dass der Krebs oder ein ähnlich aggressiver Bastard ihn erwischt hat, ist es schlimm. Furchtbar. Erschütternd. Aber: Der Anfang einer Geschichte. Einer Geschichte des Kampfes und der medizinischen Kriegsführung. Einer Geschichte des Miteinanders gegen die Tumore, die man gestalten und verwalten kann. Mit dem besten Kumpel kann man im Krankenhaus die Champions League schauen und ihm heimlich Bier einschleusen. Dem eigenen Partner kann man Wärme, Liebe und fantastische Trostgerichte zaubern. Man kann und wird sich mit Ärzten streiten, das Internet bis ins letzte obskure Forum hinein auf alternative Heilmethoden durchforsten und ständig, ohne Unterlass, die Hoffnung bewahren, diese irrationalste, unvernünftigste und doch mächtigste aller Lebenskräfte.

Der Anruf aber, um den es hier geht, ist anders.

Egal, wie lange jemand schon krank gewesen ist und wie viele Fußballspiele man mit ihm gesehen hat, während man das Entsetzen über seinen Verfall hinter Fachsimpelei über Arjen Robbens Dribbelkünste verbarg. Egal, wie klar dem Verstand schon seit Monaten gewesen sein mag, dass dieser Kampf wahrscheinlich verloren gehen wird. Kommt schließlich die Nachricht, die absolute, die definitive, die Astsäge der Hoffnung, auf der man sitzt, ist man grundsätzlich: unvorbereitet.

Die Nachricht vom Sterben ist ebenso wie die Nachricht von der Erkrankung der Beginn einer Geschichte. Aber: Einer ganz anderen. Nun – so ist einem im Bruchteil einer Sekunde klar, während die Hände vereisen und der Magen sich umdreht – ist der Anfang vom Ende gekommen.

No return.

Die Bauarbeiter schrauben die Straßenschilder ab, die noch Wege aufgezeigt hatten und Umleitungen. Nur ein verdammtes Schild lassen sie noch stehen: Sackgasse. Keine Wendemöglichkeit.

Ab jetzt, ab diesem Anruf, wird unwiderruflich gestorben.

Ab jetzt lautet die Frage nicht mehr ob, sondern wann.

Ab jetzt beginnt, was Geist und Seele über die gesamte Zeit hinweg und somit auch in diesem ganzen Buch beschäftigen wird. Ein Phänomen, das einen verwirrt, beschämt und mit Schuldgefühlen belastet. Eine Regung, von der man denkt, dass man sie »normalerweise« oder »eigentlich« nicht haben dürfte und von der man sich fragt, ob sie »natürlich« ist oder man selbst vollkommen verrückt. Eiskalt. Womöglich gar: Ein schlechter Mensch.

Dieses Phänomen lautet: Man sorgt sich mehr um sich selbst und seine Wirkung auf andere als um den sterbenden Menschen.

Zwei Gedanken werden sich eine Sekunde nach der Nachricht in Ihrem Hirn einnisten. Zwei Fragen, die Sie quälen, weil Sie wissen, dass Sie nun »eigentlich« erst mal zusammenbrechen sollten, wie man es aus den Filmen kennt. Auf die Knie fallen und klagen. Sich an eine Wand lehnen und – die Tränen in den Augen – ganz langsam an ihr bis auf den Boden herunterrutschen, wie es die Schauspieler in den Krankenhausserien tun. Oder wenigstens wütend werden. Dinge zerschlagen und sich bis drei Uhr nachts in einer Bar betrinken, ein Single Malt nach dem anderen, »ja, mit Eis, verflucht!«, und dem fremden Wirt vorklagen, wie ungerecht es sei, dass »so ein guter Mensch stirbt«, während die Schweine alle leben. Die Kriegsverbrecher. Die Massenmörder. Die Kinderficker. Fluchen. Saufen. Sich übergeben, daheim, um fünf Uhr morgens, und dann in die beige Brühe in der Schüssel ein paar Tränen nachtropfen lassen.

So, denken Sie, sollte ich mich eigentlich verhalten.

Stattdessen beschäftigen einen nach dem Anruf als erstes zwei Gedanken.

Erstens:

Wie sollte ich jetzt fühlen?

Zweitens:

Wie sollte ich mich jetzt den anderen gegenüber verhalten?

Beide Fragen erfordern eine nähere Betrachtung.

Beginnen wir mit der zweiten.

ICH UND DIE ANDEREN

Ob wir es wollen oder nicht. Ob wir uns für selbstsicher halten oder schon begriffen haben, dass keinem Menschen auf der Welt egal ist, was die anderen von ihm denken: Wir machen uns den ganzen Tag einen Kopf darüber, wie wir »rüberkommen«. Die meiste Zeit geschieht das unbewusst. Der Soziologe Erving Goffman hat in seinem Klassiker Wir alle spielen Theater anschaulich dargelegt, dass unser tägliches Leben eine Bühne ist, auf der wir je nach Situation ständig andere Rollen einnehmen. Nichts geschieht aus Zufall. Der Mann, der im Zug einen geschäftlichen Anruf auf dem Handy annimmt und sämtliche Anwesenden lautstark an seiner Besprechung teilhaben lässt, drückt genauso stark etwas über sich aus wie der Mann, der sofort nach dem Klingeln aufspringt und sich zum Sprechen vor das Abteil begibt. Alles, was wir tun, ist ein Signal, ein Zeichenstrich unseres Profils.

Die Menschen im Zug trifft man nur einmal.

Die Menschen in der Familie trifft man sein ganzes Leben. Die Rolle, die einem dort zugewiesen wird, ist ein Ergebnis aus tausenden von Interaktionen im Laufe der Zeit. Und sie festigt sich. In dem Augenblick, wo im Durchschnitt das Sterben der eigenen Eltern beginnt, ist man längst erwachsen und die Rolle innerhalb der Familie gefestigt wie eine Marmorskulptur. Familien kennen den »Kümmerer« oder den »Clown vom Dienst«, der alle unterhält. Den »Strengen«, der stets zur Sache mahnt oder den »Harmonisierer«, dem man seit Jahrzehnten ungefragt die Rolle des Diplomaten zuschiebt. Unter Eltern, schreibt Daniela Liebich im Magazin Mobile, entstehen »informelle Rollen« wie die des »verwöhnenden« und des »strengen« Elternteils, des »behütenden« und des »fordernden«, des »großzügigen« und des »sparsamen«, des »kritischen« und des »lobenden«.

Guter Cop. Böser Cop. »Auch unter Geschwistern«, schreibt Liebig, »lassen sich informelle Rollen beobachten: der Kluge, die Streberin, der Hübsche, die Charmante, der Praktiker, die Ängstliche, der Sportliche, die Organisatorin.«1

Der Punkt ist: Hat man einmal eine Rolle im sozialen Verbund eingenommen, ist es nahezu unmöglich, sie wieder loszuwerden und sich davon zu emanzipieren. Zumindest in Familien und unter Menschen, die einen schon kannten, »als du noch in die Windel geschissen hast«.

Diese Erkenntnis wird besonders wichtig, wenn der Tod seinen boshaften Einzug in die Dynamik einer Familie hält und man nach dem Anruf beginnt, sich Gedanken darüber zu machen, wie die eigene Reaktion auf die Verwandtschaft wirken mag.

Was mögen Sie denken, wenn ich einfach nur nicke und »hm« sage?

Was, wenn es heißt: »Ich kann aber erst morgen vorbeikommen?«

Sollte man nicht doch lieber sofort fahren, mit quietschenden Reifen, panisch in die Wohnung der Verwandten stürzen und den dramatischen Wandrutscher aus der Krankenhausserie aufführen?

Oder denken sie dann: Der spielt doch nur! Spricht monatelang nicht mit seiner Mutter und macht jetzt einen auf sterbenden Schwan!

Also doch besser erst mal schweigen?

Oder wie?

Die schlechte Nachricht lautet: Sie können in dieser Situation nichts richtig machen.

Die gute Nachricht lautet: Sie können in dieser Situation nichts richtig machen.

Merke!

Alle Gedanken darüber, wie Sie nach dem Anruf »rüberkommen«, sind unnötig. Sie haben ihr Image ohnehin längst weg.

Es ist vollkommen egal, wie Sie sich geben.

Sind Sie in der Familie »der Clown«, wird man von Ihnen erwarten, anzureisen, um den Sterbenden mit Small Talk und Heiterkeit abzulenken. Sind Sie der »Organisator«, warten die Verwandten schon jetzt auf Sie, damit endlich jemand etwas tut und die Maßnahmen der kommenden Wochen eingeleitet werden können. Sind Sie der »undankbare Sohn« oder die »eiskalte Karrieretochter«, wird nichts, was Sie tun, diese Rolle in den Augen der anderen verändern. Alle Handlungen, die Sie vollbringen, werden im Gegenteil in Hinblick auf Ihre Rolle gedeutet und interpretiert werden.

Wenn Sie als Frau, die ohnehin häufig bei Mutter war, »da sie nichts Besseres zu tun hat«, die kommenden Wochen bis zum letzten Atemzug an ihrer Seite verbringen, wird das Umfeld sagen: »Die kann sich das auch leisten. Sie hat ja ohnehin kein eigenes Leben.«

Wenn Sie als Frau, die fast nie bei Mutter war, »da sie ja in London an der Börse noch mehr Geld scheffeln muss«, die kommenden Wochen bis zum letzten Atemzug an ihrer Seite verbringen, wird das Umfeld sagen: »Ja. Siehst du? Die macht sogar aus dem Tod ihrer eigenen Mutter ein bis auf das letzte Stellschräubchen durchgeplantes Projekt.«

Psychologen nennen dieses Schlussfolgern von einer hervorstechenden Charaktereigenschaft auf weitere, bloß eingebildete Merkmale, den »Halo-Effekt«.2 Gilt ein Mensch als übermäßig ehrgeizig, wird man sein fleißiges Kümmern um die sterbende Mutter eher mit weiteren, dem Ehrgeiz ähnlichen Eigenschaften wie »Disziplin«, »Kontrollsucht« oder »Dominanz« verbinden und weniger davon ausgehen, dass anders als im Job an der Börse einfach nur Fürsorge und Liebe vorherrschen. Gilt ein Mensch als beruflich antriebsloser, aber gutherziger Helfer, wird man sein fleißiges Kümmern um die sterbende Mutter eher mit weiteren, der »Gutherzigkeit« ähnlichen Eigenschaften wie »Wärme«, »Selbstlosigkeit« oder »Altruismus« verbinden. Wohlgemerkt: Dies alles bei exakt gleichen Handlungsweisen der beiden Beispielfrauen.

Diese Erkenntnis ist ebenso bitter wie entlastend.

Sie bedeutet schließlich, dass man keinen Gedanken darauf verschwenden muss, wie das eigene Verhalten in den kommenden, schweren Zeiten bei anderen ankommt. Man kann, darf und sollte nach eigenem Gusto handeln.

Wobei: Handeln ist nicht Fühlen.

Was uns zum zweiten Punkt bringt.

ICH UND MEINE GEFÜHLE

Viel schlimmer noch und verwirrender als die Frage nach der eigenen Wirkung auf die Anderen ist das Gefühlschaos, das losbricht, sobald einen die Nachricht vom nahenden Tode erreicht.

Gefühle haben nichts mit dem Image zu tun, das man bei anderen hat.

Gefühle sind die kleinen Biester, die für das Image sorgen, das man bei sich selbst hat.

Und in den meisten Fällen steht man mit den ersten Gefühlen, die rund um den Anruf aufkommen, vor sich selbst nicht gut da.

Um es klar zu sagen: Zusammenbrechen und an der Wand runterrutschen, das Hemd halb offen, die Augen nass und dazu die tragische Musik von John Williams oder Hans Zimmer als Soundtrack – das wird nicht passieren.

Die Nachricht vom nicht mehr abzuwendenden Tod wird alles Mögliche in Ihnen auslösen, das Sie wahrscheinlich »unpassend« finden.

Zorn.

Wut.

Hass.

Auf die Ärzte. Das Schicksal. Gott. Teufel. Darwin.

Manchmal auch: Erleichterung. Wenn die Krankheit schon monatelang an dem Menschen gezerrt und gefräst hat und nun »endlich«, endlich Gewissheit herrscht. Ein Stein kann Ihnen vom Herzen fallen, obwohl Sie ja gerade erfahren haben, dass Ihr lieber Mensch sterben wird.

Dass es gewiss ist.

Aber gerade deswegen, wegen der Gewissheit, fällt ja der Stein vom Herzen.

Der Felsen.

Der ganze Berg.

Während die Sogkraft des Todes an Ihrer Mutter, Ihrem Vater, Ihrem Bruder oder gar Ihrem Ehepartner zerrt, fühlen Sie sich plötzlich leicht.

Und schämen sich selbst, weil Sie leben, zu Tode.

Alles kann passieren, wenn der Anruf kommt.

W-i-r-k-l-i-c-h a-l-l-e-s.

Es gibt Menschen, die davon berichten, auf die Nachricht mit einem unkontrollierten Anfall von Heißhunger reagiert zu haben, und die auf der Stelle loszogen, um einen riesigen Haufen Cheeseburger zu essen. Andere fingen an, wortlos »spazieren« zu gehen, wobei »spazieren« bedeutete, dass sie zu Fuß dreißig, vierzig Kilometer alleine geradeaus gingen, von Bochum nach Velbert oder von Lemgo nach Hameln. Wieder andere sprangen mit ihrem Partner nur eine Stunde nach der Nachricht in die Kiste und »vögelten« wie schon lange nicht mehr. So drückten sie es aus in Gesprächen für dieses Buch. Grob und frustriert über sich selbst, erstaunt und entsetzt, was damals mit ihnen los war.

Kommen derlei »unangemessene« Gefühle in einem auf, sobald mit dem Anruf der Ausnahmezustand im eigenen Leben anbricht, überschwemmen die meisten Menschen Schuldgefühle und Scham.

Wie kann ich nur so fühlen?

Was bin ich bloß für ein Mensch?

Die Antwort lautet: Ein normaler.

Sie haben Gefühle.

Gefühle sind nicht Handlungen.

Gefühle sind nicht mal Absichten.

Im psychologischen Dreieck Verhalten – Gedanken – Gefühle sind Letztere der Punkt, den wir nicht kontrollieren können und für den wir dementsprechend nicht verantwortlich gemacht werden können. Niemand wurde jemals dafür verurteilt, »unangemessen« oder gar »böse« zu fühlen, solange aus diesen Gefühlen keine unangemessenen oder bösen Handlungen folgten.

Unnormaler, unpassender und unangemessener, als Gefühle einfach zu registrieren und sie erst einmal ohne Wertung anzunehmen, ist der mittlerweile verbreitete Irrglaube, man könne nicht nur seine Karriere, seinen Geldfluss, seinen Körper, seine Ernährung und seine Kommunikation »optimieren«, sondern auch noch Gedanken und Gefühle restlos in den Griff bekommen. Endlose Regalmeter in den Buchhandlungen behandeln die Macht des »positiven Denkens« und die Kontrolle über das eigene »Glück«. Ohne bestreiten zu wollen, dass eine grundsätzlich optimistische und tatkräftige Einstellung zum Leben besser ist als die Haltung einer stets unbegründet grummelnden Miesmuschel, ist der Anspruch, rund um die Uhr immer die »richtigen« Gefühle und Gedanken zu haben, der sichere Weg ins Unglück. Sogar: Ein Gesundheitsrisiko. »Das zwanghaft aufgesetzte ›positive Denken‹ ist eine Verdrängungs- und Schmalspur-Psychologie«, sagte Psychotherapeut Günter Scheich3 im ARD-Gespräch mit Ingo Fischer am 1. 10. 20134. Es »spaltet den Menschen in eine gute und eine schlechte Seele, so dass der Mensch in gewisser Weise Angst vor den eigenen Gedanken, der eigenen Seele bekommt und regelrecht schizophren werden kann. Ruhen in sich selbst, Vertrauen in sich selbst, sieht anders aus.«

Zum Beispiel so, dass man Gefühle als das nimmt, was sie sind: Unkontrollierbare, bei offenem und von Schuldgefühlen freien Umgang mit sich selbst sogar enorm erkenntnisreiche Blasen, die aus der Tiefe des Unbewussten aufsteigen wie Motive in Träumen, für die man sich morgens ja auch selten geißelt.

Merke!

Alle Gedanken darüber, ob die Gefühle, die einen nach dem Anruf überfluten, »schlecht« seien, sind unnötig. Sie können nichts für das, was Sie fühlen.

DUMM IST DER, DER DUMMES TUT

Der womöglich klügste Satz, den eine Filmfigur aus Hollywood jemals geäußert hat, stammt von Tom Hanks, der in der Rolle des Forrest Gump sagte:

»Dumm ist der, der Dummes tut.« Oder, im Original:»Stupid is as stupid does.«

Dieser Spruch sollte jedem in der Zeit der Sterbebegleitung und noch darüber hinaus ein Leitmotiv sein.

Es spielt keine Rolle, wie Sie anderen gegenüber dastehen.

Es spielt keine Rolle, was Sie unwillkürlich fühlen.

Das einzige, was in den kommenden Tagen und Wochen eine Rolle spielen wird, ist, was Sie tun.

Wie Sie handeln.

Aber vor allem: Dass Sie handeln.

Denn egal, was vorher war und wie die gemeinsame Biografie mit dem Sterbenden verlaufen ist: Nun ist der Zeitpunkt gekommen, an dem sich erweist, was für ein Mensch Sie tatsächlich sind.

Nicht Ihre Rolle sagt etwas darüber aus und nicht das innere Durcheinander, das auf Sie zukommt und das in diesem Buch hoffentlich hilfreich aufgedröselt wird, sondern die Dinge, die Sie tun werden.

Und die eine, allerwichtigste Erkenntnis, die kurz nach dem Anruf so glasklar vor Ihnen schimmern sollte wie die Kiemen des Gabelschwanzblauauges hinter dem polierten Plexiglas des Gartencenter-Aquariums.

Merke!

Ab jetzt geht es nicht mehr um Sie oder um die Anderen. Ab jetzt geht es nur noch um das, was für den Sterbenden am besten ist.

Wenn Sie sich daran halten, werden Sie alles gut überstehen.

Sie werden daran wachsen.

Und Sie werden, unwahrscheinlich, aber denkbar, bei Menschen, die Sie wirklich gern haben, vielleicht doch Ihr Image aufpolieren.

Vor allem aber können Sie zwischendrin Cheeseburger essen, Single Malt trinken und »falsche« Gefühle haben, so viel Sie wollen: Sind Sie wirklich für den Sterbenden da, wird Ihr Verhalten »hinter den Kulissen« Ihnen keine einzige Sekunde lang mehr ein schlechtes Gewissen machen.

1 Liebich, Daniela: »Alles nur Theater? Rollenverteilungen in der Familie.« In: Mobile-Elternmagazin.de.

2Erstmals erforscht: Thorndike, Edward L.: »A constant error in psychological ratings.« In: Journal of Applied Psychology. Vol 4 (1). March 1920. S. 25–29. Populär beschrieben: Rosenzweig, Phil: Der Halo-Effekt. Wie Manager sich täuschen lassen. Deutsch von Nikolaus Bertheau. Offenbach 2008.

3Scheich, Günter: Positives Denken macht krank. Vom Schwindel mit gefährlichen Erfolgsversprechen. Berlin 2001.

4http://www.ard.de/home/themenwoche/Guenter_Scheich_Positives_Denken_macht_ungluecklich_/409126/index.html.

DIE KRANKHEIT

Warum die Nachricht vom Sterben immer unerwartet kommt, wie sie das gewohnte Leben schlagartig beendet und was Sie tun können, um für den Angehörigen fortan der Anwalt außerhalb des Bettes zu werden.

AGENDA 2020

Die Häuser, Hotels, Trinkhallen und Vorgärten liegen so still und leer, als hätten wir bereits drei Uhr nachts. Dabei ist es kaum neun. Die Dunkelheit bettet sich Anfang März immer noch früh über das Land, und die B54 schlängelt sich durch Dörfer, die gegen Abend so verlassen und melancholisch aussehen wie ein amerikanisches Provinzgemälde von Edward Hopper.

Sylvia coacht mich.

Man darf das ruhig so sagen, denn sie hilft mir dabei, gleich einen Einstieg zu finden. In siebenunddreißig Kilometern und zweiundfünfzig Minuten, wenn ich das Marien-Hospital in Wesel betrete, wo ich geboren wurde. Wo ich Zivildienstleistender war und wo nun meine Mutter liegt. Nicht krank, nicht vorübergehend außer Gefecht, sondern: terminiert.

»Wenn du sie noch einmal sehen willst, musst du dich beeilen«, sagte meine Tante Eveline, und es klang nach Tagen.

»Sie wollte eigentlich gar nicht, dass du es erfährst«, erklärte mir meine andere Tante Marlies und berichtete von den zehn vergangenen Wochen seit der Diagnose. Einer Diagnose, die zugleich das Todesurteil war. Krebs entdeckt, Krebs unheilbar. Von jetzt auf gleich. Eigentlich hatte Mutter geplant, nun, in der Rente, richtig durchzustarten. Seit Jahren war sie Mentorin für leseschwache Kinder. Mit ihren Freundinnen traf sie sich seit Vaters Tod vor zwei Jahren nun häufiger als je zuvor. Städtereisen. Kulturerlebnisse. Die unmöglichen Bedingungen, unter denen mein Vater eine Woche vor seinem Tod als Sterbender in einem Dreibettzimmer des evangelischen Krankenhauses einquartiert wurde, da der Hospizplatz noch nicht frei war, hatten sie veranlasst, sich federführend für ein Sterbehaus innerhalb der City einzusetzen. Es könne doch nicht sein, dass eine Kreisstadt mit sechzigtausend Einwohnern im Kern und noch mal so vielen im Umkreis keine solche Einrichtung habe. Die Journalisten der örtlichen Presse waren auf ihrer Seite. Die ehemaligen Kollegen aus der Ausbildungsschule für Altenpflege auch. Sie hatte die Eröffnung des Hospizes sicher schon vor sich gesehen, mit Bürgermeister und Zeitungsredakteuren, Radiosender und womöglich doch wieder dem eigenen Sohn, zu dem der Kontakt nach heftigen Konflikten abgebrochen war. Womöglich hätte der Sohn zur Eröffnung der neuen Einrichtung aus seinen Romanen gelesen. Für sie, die Mutter und Schirmherrin. Das waren alles Pläne. Monatspläne. Jahrespläne.

Auch ich dachte, ich hätte noch viel Zeit. Dachte: Irgendwann laden wir unser Verhältnis neu. Wie einen Computer, dem man ein frisches Betriebssystem aufspielt. Irgendwann sagt sie: »Es ist mir wichtiger, dich auf deine Weise in meinem Leben zu haben als dich gar nicht in meinem Leben zu haben.« Unliebsame Entscheidungen erwachsener Söhne, die Jahrzehnte lang gehegte Strukturen unterwandern, brauchen eben ihre Zeit, um akzeptiert zu werden. Dachte ich.

Es würde schon klappen.

Mit langem Atem.

Aber dann, später, würde es umso besser.

Agenda 2020.

Und jetzt?

Acht Wochen. Zwölf Wochen. Vier Monate. Keiner weiß genau, wann, aber jeder weiß genau, dass …

»Du sagst gleich was?«, fragt mich Sylvia.

Der Motor rauscht. Asphalt flüstert. An den Fenstern ziehen Tannen vorbei. Sekundenschnelle Erinnerungen an Weihnachten in der Kindheit, als alles noch funktionierte, weil es als Kind in Ordnung ist, ein Kind zu bleiben. Zimtsterne. Das Surren eines ferngesteuerten Autos. Die warme Stimme von Peter Alexander, wie er auf der unverwüstlichen Vinylplatte amerikanische Klassiker wie »I’m dreaming of a white christmas« mit Schmelz eindeutscht. »Träum mit mir, von der Zeit, Weihnacht …«

»Schatz?«

»Ja?«

Ich schaue auf. Sylvia lenkt. Ich poliere mit dem Daumen meiner rechten Hand den rechten Ringfinger. Mein nervöser Tick, der von außen wie eine krampfartige Neurose aussehen muss.

»Wenn du gleich das Zimmer deiner Mutter betrittst, sagst du was?«

»Ich sage: ›Ist das okay für dich, dass ich hier bin?‹«

»Genau.«

Gleich … dieses Wort lässt meinen Puls pochen und meine Handflächen erkalten. Gleich.

Kann es nicht noch eine Weile dauern?

Aber den Satz, denn kenne ich mittlerweile auswendig. Er ist perfekt der Situation angepasst, nach achtzehn Monaten ohne Kontakt und dem ausdrücklichen Wunsch meiner Mutter an die Verwandtschaft, mich über ihre Krankheit überhaupt nicht zu informieren, damit ich nicht nur komme, weil sie krank ist. Eine, Verzeihung, vollkommen idiotische Haltung. Ganz so, als würde man im Rhein ertrinken und ein alter Freund, mit dem es zuletzt nicht gut lief, kommt vorbei, sieht es, streift sich bereits sein T-Shirt über den Kopf und dann würde man rufen: »Nein, bleib weg, dich will ich hier nicht sehen! Du springst doch nur ins Wasser, weil ich gerade sterbe!« Danach würde man sich, voller neugewonnener Kraft ob der eigenen Prinzipientreue, rückwärts in die Schraube des tutenden Frachtschiffes werfen.

Was, wenn nicht schwere Krankheit, soll denn sonst Brücken über geschlagene Gräben bilden? Was, wenn nicht das nahende Ende?

Aber so ist sie nicht, meine Mutter.

So war sie nie.

Notfallbrücken, wenn es darauf ankommt, waren ihr niemals so wichtig wie die Anwesenheit bei den regelmäßigen Teegesellschaften am Rande des Ufers, die grundsätzlich zu den Bedingungen der Gastgeberin zu geschehen hatten. Ihre eigene Mutter nahm sie über Jahrzehnte als längst erwachsene Frau in den eigenen Urlaub mit. Still verärgert, sich als Tochter aufopfernd, mit zusammengepressten Lippen. Eine Verpflichtung, die nicht bestanden hätte. Schon gar nicht, wenn man bedenkt, dass meine Großmutter durch ihre Verwurzelung im doppelten K (Kirche und Kegeln) ausreichend gleichaltrige Sozialkontakte hatte. Als sie dann allerdings zum Pflegefall wurde, nach über fünfzig Jahren ihre Wohnung verlassen musste und ich nachfragte, wieso meine Mutter und ihr Bruder – zu dem Zeitpunkt beide bereits in Rente, noch gesund und mit jeweils einem Gästezimmer ausgestattet – keine Pflege in ihren Privatwohnungen in Betracht zögen, war die Empörung groß.

»Da sein, wenn’s drauf ankommt«, hielt meine Familie stets für »da sein, wenn’s zu spät ist.«

Der Krankenhausflur liegt noch stiller da als die Dörfer am Rande der B54 auf dem Hinweg. Ich kenne den alten Beton, die in Jahrzehnten rundgetretenen Kanten der Stufen. Vor dreizehn Jahren haben meine Hartgummischuhe als Zivi diese Treppen poliert. Jedes Mal, wenn ich hier bin, fühlt es sich so an, als hätte ich das letzte Dutzend Jahre nur geträumt und müsste wieder rauf in die Urologie, wo Doktor Westphal auf mich wartet und fragt, wann ich denn gedenke, den ersten Patienten rüberzuschieben. Doktor Westphal ist längst in Rente, und ich übe meinen Einstiegssatz, während Sylvia unten wartet.

»Ist das okay für dich, dass ich hier bin?«

»Ist das okay für dich, dass ich hier bin?«

»Ist das okay für dich, dass ich hier bin?«

Stufe für Stufe.

Ich stelle mir vor, was meine Mutter gesagt hätte, hätte sie damals, als ich vom Zivildienst nach Hause kam, von einem Mann aus der Zukunft am Küchentisch, wo sie gerade kleine Zahlen in ihr Haushaltsbuch schreibt, erfahren, dass ich eines Tages einen solchen Satz zu ihr sage, während sie erst 66 ist. Und stirbt.

Ich mache mich auf alles gefasst.

Fliegende Teller.

Eisiges Schweigen.

Bereits eingetretene Unansprechbarkeit.

Die Tür. Schnell klopfen.

Ein leises »Ja?«

Sie unter der fahlen Leselampe. Dösend statt lesend. Schmaler denn je. Grauer denn je. Härter denn je.

Ein erstauntes, gehauchtes »Oliver!« aus der dünnen Kehle. Geweitete Augen.

Mein Herz im Hals.

»Ist das okay für dich, dass ich hier bin?«

»Aber natürlich … aber natürlich …«

DER ERSTE SATZ

Es spielt keine Rolle, ob Sie den Angehörigen, den Sie besuchen, achtzehn Monate oder achtzehn Tage nicht gesehen haben. Ob Streit herrschte oder Friede. Nähe oder Gewohnheit. Denn eines bleibt immer gleich, bei allen Menschen, in egal welchem Kontext:

Sie sehen den Betroffenen heute das erste Mal als Sterbenden.

Nicht als Kranken.

Nicht als Betrunkenen.

Nicht als Verschuldeten.

Sie sehen ihn als Sterbenden.

Als denjenigen, über dem die Sensenklinge kreist.

Diese Tatsache steht zwischen Ihnen und dem sterbenskranken Menschen im Raum und macht es generell so schwer, mit der Situation umzugehen. Selbst, wenn zwischen Ihnen beiden alles okay sein sollte, spüren Sie schon wieder diesen unangenehmen Cocktail aus Betroffenheit und Schuld. Der Schuld, dass Sie gesund dort stehen und sich gestern noch tierisch über die Steuerbuchhaltung und Wolfgang Schäuble aufgeregt haben, während Ihr Angehöriger das einzig echte Problem des Lebens hat: Dass er es bald verliert.

Sie wissen nicht, was Sie sagen sollen, und wundern sich, wie leicht es den anderen Verwandten und Bekannten fällt, Small Talk zu machen, als wäre nichts gewesen. Sich in routinierten Handgriffen und Floskeln zu betätigen, bis der Sterbende sogar umgekehrt allen Besuchern die Erlaubnis gibt, endlich Feierabend zu machen, und statt »bleibt hier, lasst mich nicht allein!« doch tatsächlich Dinge sagt wie: »Komm, macht jetzt, dass ihr nach Hause kommt! Ihr hattet einen langen Tag.« Oder gar, als sei er derjenige, der sich um seine Mitmenschen sorgen müsste: »Habt ihr denn schon was gegessen? Geht doch erst mal in Ruhe in die Cafeteria.«

ENDE DER LESEPROBE