Erdenrund - Oliver Uschmann - E-Book

Erdenrund E-Book

Oliver Uschmann

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Beschreibung

Hartmut will zu Fuß nach Sibirien. Ich will bloß zurück in den Pott. Und unsere Frauen landen in der Revolution und in Neuseeland. So war das aber nicht gedacht! Vier Freunde. Vier Himmelsrichtungen. Und ein Ziel, das noch keiner kennt. Der abenteuerliche Roman einer unglaublichen Reise hoch vier. Der sechste Band der Kult-Serie ›Hartmut und ich‹.

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Seitenzahl: 783

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Oliver Uschmann | Sylvia Witt

ERDENRUNDHartmut und ich auf Weltreise

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

MottiWas bisher geschah …Die EinsamkeitDer Kölsche KlüngelDas VersteckDas MeisterwerkThe SorrowDie SpülwassersammlungPeperoni im OhrDie FarbenkleckserDie PensionHimmel un Äad met FlönzDas BabybeckenFrieden durch FarbeWeltmusikDreckelige SchwaadschnüssNestor NickhautDie ZiegeDer PropfSendemast zu GottKois werten nichtDie besetzte FrauDie SchuldBuh-buk!WannenunterhaltungDas SkorpionnestDie DurianReal Life AssistanceDer blaue StegGroßer PiratDer Haka am MaraeWürdeloser WinselerDie FestivalsynapseDas FrauenzimmerDer KiwiNase im OhrKriegsgebietDie TreuezeitEpilogWir dankenDie Hui-Welt

»Wähle dir einen Reisebegleiter und dann erst den Weg.«

(Arabisches Sprichwort)

»Alles, was wir bräuchten … nur ein bisschen mehr Herz.«

(Enno Bunger)

»Auch wenn ich nichts sage, geht die Zeit weiter.«

(Sylvia Witt)

Was bisher geschah …

2005 gründeten mein bester Freund Hartmut und ich eine WG. Es heißt, Gegensätze ziehen sich an. Hartmut studierte Philosophie und wollte jeden Tag die Welt aus den Angeln heben. Einmal sabotierte er Strom und Wasser im ganzen Viertel, um die Menschen durch Not zu vereinen. Ich ging als Packer am Fließband von UPS malochen und genoss meine Freizeit zwischen Badewanne, Sofa und Playstation. Bier war immer vorrätig, und gegenüber unserem heruntergekommenen Haus in Wiemelhausen lag Bochums beste Pommesbude.

 

Eines Tages trat Susanne in Hartmuts Leben, eine herzliche Praktikerin, die für alles Lösungen hatte. Zu viele für Hartmut. Er warf sie raus und wurde unglücklich. Ein paar Freunde und ich holten sie zurück, denn wir wussten, dass die beiden zusammengehören. Ich selbst verliebte mich einige Zeit später in Caterina, eine rothaarige Künstlerin mit grünen Augen. Sie war Klientin in Hartmuts »Institut zur Dequalifikation«, in dem wir arbeitslose Akademiker für das praktische Leben fit machten. Nebenbei verteidigten wir das Haus gegen das Bauamt. Wir zwei Paare waren voll beschäftigt und bildeten mitsamt Kater Yannick und Schildkröte Irmtraut fortan eine Familie. Die beste, die wir alle jemals hatten.

 

Unser Heim fiel seinem Alter sowie einem fehlgeleiteten LKW zum Opfer, und Hartmut erwarb ein Fachwerkhaus in Hohenlohe blind im Internet. Was wir in der schwäbischen Provinz erlebten, fühlt sich bis heute wie ein Traum an. Wir irrten barfuß mit Wandelgermanen durch die Tannen, nahmen an Wehrsportgefechten teil und ließen die Leiche aus Fachwerk durch einen Restaurateur ohne Telefon und Adresse wiederbeleben, der nur dann erscheint, wenn die Bewohner bereit sind. Nach dieser aufreibenden Zeit lebten wir aus dem Koffer in Motels an Rasthöfen, auf denen Caterina die Wanderausstellung »Kunstpause« veranstaltete, während Hartmut auf Quittungen und Servietten das »Manifest für die Unvollkommenheit« zusammentackerte, darin den sinnfreien Daseinzustand des Murp erfand und im längsten Stau der deutschen Geschichte die Anarchie ausrief.

 

Die Steuerfahndung nahm uns alles, und wir gingen nach Berlin, weil dort angeblich die Jobs auf der Straße liegen. Nach Wochen in einer verrückt gewordenen Werbeagentur gründeten wir unsere eigene Firma MyTaxi, und Susanne wurde überraschend schwanger. Wir hatten es geschafft, gegen alle Widerstände – eine Wahlfamilie mit Unternehmen und bald sogar mit Nachwuchs! Doch Berlin entpuppte sich immer mehr als Feindesland mit Bedrohungen von unten wie von oben; von der Mafia auf der Straße und der Mafia in der Politik. Während die Gangs auf den Bürgersteigen aus ihren Absichten keinen Hehl machten, flocht die Regierung mit Hilfe des neuen, experimentellen »Moralministeriums« immer engmaschigere Gesetze zur Verbesserung der Welt. Der politische Wahn kostete Susannes und Hartmuts ungeborener Tochter Lisa bei einem Unfall anlässlich einer fehlgeleiteten Verkehrskontrolle das Leben. Dieser Verlust verwandelte unsere Familie in vier hilflose Zombies, die nur noch funktionierten und sich jeden Tag gegenseitig Vorwürfe machten. Hartmut, Susanne, Caterina und ich verließen Berlin in verschiedene Richtungen, um eine Zeitlang voneinander Pause zu machen und das traumatische Ende unserer Zukunft zu verarbeiten.

 

Die Wege, die wir dabei wählen, sind sehr verschieden … und die Möglichkeiten, uns zu begleiten, äußerst vielfältig.

Heilung hat viele Gesichter.

Heilung braucht Geduld.

Wir haben die Zeit, sie uns zu nehmen.

Die Einsamkeit

14.–15. 03. 2011

52° 30′ 5.42″ N, 13° 16′ 35.64″ E

Mein Wunsch ist es, zu verschwinden. So, wie Lisa verschwunden ist, bevor sie überhaupt geboren wurde. Seit Monaten verstecke ich mich in diesem Zimmer. Ich habe es nicht einmal ganz rausgeschafft aus Berlin. Ich habe es versucht, aber bei jedem Meter, den ich fahre, stelle ich mir vor, wie es wäre, einfach das Steuer herumzureißen. Ich dachte, das hört irgendwann auf, aber das ist ein Irrtum.

An den Weihnachtsfeiertagen wollte meine Mutter, dass ich in meine Heimatstadt komme. Ich erklärte ihr, dass ich nicht kann, mir also im wahrsten Sinne des Wortes die Fähigkeit fehlt, mich von hier fortzubewegen. Sie verstand es nicht.

»Du sagst mir nicht mal, wo du bist«, klagte sie und sagte, was alle sagen, wenn jemand stirbt: »Das hätte die Kleine nicht gewollt.«

Ach nein?

Hätte Lisa gewollt, dass ich auf den Tischen tanze? Hätte sie gewollt, dass ich rausgehe und mitfeiere, als die Fußball-WM stattfand? Dass ich die Vereinbarung breche und meine WG-Familie, meine wahre Familie, ausgerechnet an Heiligabend wiedersehe, wenn die Nerven ohnehin blank liegen? Damit wir uns wieder gegenseitig Vorwürfe machen? Hauptsache, Chris Rea singt »Driving Home For Christmas«? Das kann mir doch keiner erzählen.

Eines aber weiß ich sicher: Lisa hätte nicht gewollt, dass ich mich umbringe. Sie kennt den Tod schon jetzt. Sie hatte keine Wahl. Sich freiwillig in dieses Dunkel zu stürzen wäre das Mieseste, was man ihr antun könnte. Fahre ich allerdings weiter, reiße ich wirklich irgendwann das Steuer rum. Also bleibe ich. Woche um Woche. Den Herbst. Den Winter. Jetzt brechen draußen die ersten Krokusse aus den Grünstreifen. Verfluchte Grünstreifen.

 

»Sie wohnen seit Monaten hier und haben noch nie das Rührei probiert«, klagt die Chefin und zeigt auf meine Schüssel mit pappigem Müsli. Der Speisesaal des Motels an der Avus liegt im früheren Zielrichterturm. Frühstücksraum am Morgen, Restaurant am Abend. Kreisrund und dunkel. Ich schaue aus dem Fenster auf die Stadtautobahn, die zwischen Funkturm und Nikolassee einst eine Rennstrecke war. In Massen schiebt sie die Blechlawine aus der Stadt hinaus und in die Stadt hinein, wie ein Fließband aus Asphalt.

»Was für ein Mann geht über zweihundert Tage lang jeden Morgen am Rührei vorbei? Gucken Sie hier, es ist sogar krosser Schinken in der Wanne.« Die Chefin hebt den Deckel. Heißes Kondenswasser tropft hinab. Tische bilden Buchten mit Sitzbänken. Die Gäste, die abends freiwillig kommen, hängen ihre Jacken an dunkelgrüne Säulen mit Kleiderhaken, einigen sich darauf, wer innen sitzt, seufzen schwer, stützen ihre Hände auf die Tischplatte und schieben sich in die Bank. Die Säulen mit den Haken biegen sich auf Kopfhöhe nach außen. Hängte man einen Mann am Kragen seiner Jacke daran auf, würde er mit fünfzig Zentimeter Abstand zur Säule baumeln.

»Das ist Bio-Schinken! Ich wollte es nur mal gesagt haben!« Die Chefin schließt den Deckel.

In die Tische sind Collagen aus alten Zeitungsartikeln über die Rennen eingelassen. Sie liegen unter Glasplatten, genau wie unsere Urlaubsfotos damals im runden Wohnzimmertisch der WG. Im Treppenhaus ist ein klassisches Plakat direkt auf die Wand gemalt. AVD AVUS Rennen. Großer Preis von Berlin 1958. Zwei alte Silberpfeile mit Piloten, die Schutzbrillen und Ledermützen tragen. Unter dem Bild sitzen künstliche Pflanzen in einem Betonbeet aus braunroten Fliesen. Ich denke an uralte Rennspiele, die modern aussahen, als sie erschienen sind. Spielt man sie zehn Jahre später erneut, wirken sie genau wie dieser Flur: Die Erinnerung an sie glänzt in tausend Farben, aber heute sieht man nur noch unförmige Pixelklumpen.

»Ich könnte es mir auch einfach machen!«, sagt die Chefin nach einem Abstecher an die Rezeption und Bar nebenan. Sie knetet ein Spültuch. »Ich könnte den Schinken bei der Metro kaufen. In 10-Kilo-Brocken. Analogschinken. So. Und was mache ich? Ich bestelle ihn beim Brandenburger Bio-Bauern!«

Auf der Ebene zwischen dem Eingang zum Restaurant und dem ersten Stock mit Zimmern gibt es eine Sitzecke mit ledergepolsterten Holzbänken. Man kann von hier aus auf das Betonbeet hinabsehen. Die Sitzecke stellt das dar, was in einem richtigen Hotel das Foyer wäre. Ein Raum, um sich außerhalb des eigenen Zimmers aufzuhalten und gemütlich die Zeitung zu lesen. Das soll diese Ecke sein, aber das ist sie nicht. Niemand kann hier sitzen und auch nur einen Satz lesen, ohne vom Unbehagen des Raumes erwürgt zu werden. Es surrt zwischen den Etagen. Ein durchdringendes, Migräne erzeugendes, elektrisches Foltergeräusch. Gäste, die einen Prospekt aus dem Touristikständer ziehen, oder LKW-Fahrer, die ihren kleinen Koffer die Treppe hinauftragen, sehen mich verwirrt an, wenn ich auf dem alten Leder inmitten des Surrens sitze. Ihre Blicke beweisen, was für einen Nicht-Ort diese Bank darstellt. Entweder ist man auf seinem Zimmer oder in der Bar, wenn man geistig gesund ist, aber doch nicht hier, in der Sitzecke im Treppenhaus.

»Bio!«, schimpft die Chefin, nimmt einen krossen Schinkenstreifen zwischen Zeigefinger und Daumen und beißt demonstrativ davon ab.

 

Der andere Nicht-Ort, an dem ich meine Zeit verbringe, ist die verrottete alte Tribüne schräg gegenüber, auf der sich die Zuschauer früher die Rennen angesehen haben. Sie wurde 1937 gebaut und steht seit zwölf Jahren leer. Sie war mir immer schon aufgefallen, wenn ich nach Berlin fuhr. Eine verfallene Tribüne am Rande einer Autobahn. Dieses Bild bescherte mir jedes Mal einen Schauer auf dem Rücken, ähnlich wie stillgelegte Schwimmbäder mit trockenen Becken. Bei alten Burgen oder Schlössern ist das nicht so. Die bekommen einen Tresen mit Museumskasse. Sie leben neu auf, und die Vergangenheit in ihnen wird zu einer Attraktion der Gegenwart. Bauwerke wie die Avus-Tribüne aber, die niemand zum Museum macht, die aber auch nicht abgerissen werden, weil sie denkmalgeschützt sind, halten die Vergangenheit fest wie eine vertrocknete, staubige Leiche, die dich anstarrt. Ich habe mir nie vorstellen können, diese Leiche aus Holz und Beton zu betreten. Dieser Nicht-Ort würde sofort meine Seele auflösen, dachte ich, und daher ist er heute genau richtig für mich. Noch besser als die surrende Sitzecke im Treppenhaus.

Jeden Tag, wenn es dunkel wird, verlasse ich das Hotel, schleiche über den Parkplatz und nehme den langen Weg außen rum über die Halenseestraße und den Messedamm. Die Rückseite der Tribüne liegt gegenüber dem Messegelände, Einfahrt Tor 9. Ein Stück weiter wartet kahler Baugrund auf neues Geschäftsleben. In der Tiefe dahinter leuchten die Flutlichter des Mommsenstadions. Die S-Bahn rattert zur Station Messe-Süd/Eichkamp. Autobahnspuren führen nach Wedding, Hamburg und Dresden. Über allem ragt der hohe Funkturm auf, der mich beobachtet, wo immer ich stehe. Er ruft mir zu: »Sieh hin, hier ist überall Leben! Verkehr, Messe, Sport. Du bist mitten im Leben!«

Das ist es ja gerade. Ich bin wie diese alte Tribüne. Umrauscht von Leben und gleichzeitig allein und verrottet. Der Bürgersteig führt unter der Tribünenschräge zwischen den Säulen und der Wand mit den ehemaligen Eingangstüren entlang. Die Kassenfenster wurden zugemauert. Auf orangen Streifen sind 18 Nummern aufgemalt.

»Was soll das jetzt werden?«, fragte mich der Funkturm, der mich als Einziger in der Nacht gesehen hat, als ich mit dem Bolzenschneider den Stacheldraht aufknipste, der an den Seitenflanken der Tribüne den Zutritt verhindern soll. Den Bolzenschneider, ein paar Schutzhandschuhe aus Kettengliedern und einen Müllgreifer zu besorgen war der einzige Grund, aus dem ich dieses Viertel bislang verlassen habe. Jeden Morgen um halb fünf, wenn ich die Tribüne wieder verlasse, hebe ich den Bauzaun in seine Fassung zurück, packe den Stacheldraht mit dem Müllgreifer und drapiere ihn so, dass man auf den ersten Blick nicht erkennen kann, dass er durchgeschnitten ist. Das reicht, denn hier schaut sowieso keiner zweimal hin. Arbeiter der Firma, die hier irgendwann mal zwei Baugerüste hineingezwängt hat, zeigen sich nicht. Die Polizei ignoriert die Tribüne, weil sie niemanden dort erwartet. Der Denkmalschutz räumt nicht mal den Müll weg, der sich auf dem Grün neben den Mauern sammelt.

»Du hast doch einen sitzen! Ein Fliewatüüt im Hirn!«, schimpft der Funkturm. Bin ich einmal in der Tribüne, laufe ich auf dem schmalen Gang vor den Sitzreihen bis zur Mitte, wo Stufen auf die erste Ebene führen. Langsam schreite ich in die elfte Reihe hoch, fröstelnd im stockdunklen Magen des Monsters. Das ist mein Ritual. Jede Nacht. Ein Nicht-Ort als Heimat nach einem Un-Fall. So haben sie es doch genannt, was mit Lisa passiert ist und was uns alle auseinandergerissen hat. Ein Fall, der eigentlich gar nicht sein kann. Das Leben geht weiter, sagt man. Das stimmt, aber es ist ein Un-Leben, tot wie diese Tribüne. Auf dem fauligen Holz beobachte ich die Autos in der Nacht unten auf der Bahn. Schräg gegenüber wartet um 5.30 Uhr das Frühstück auf mich. »Ich kaufe bald kein fades Müsli mehr, das sage ich Ihnen. Dann müssen Sie das Rührei und den Bio-Schinken probieren!« Nach dem Müsli gehe ich ins Zimmer und sperre den Tag aus. Ich bin der Geist der Tribüne. So soll es sein.

Das Geld für die Miete nehme ich aus meinen Anteilen an unserer Taxifirma, die ein junger Investor gekauft hat und für die Mario heute noch fährt, während Jochen in der Retro-WG sein zweites Buch über B-Filme schreibt. Es hat weh getan, sich von Yannick zu trennen, aber ich weiß, dass mein Kater in guten Händen ist. Vor knapp zwei Jahren waren wir alle gemeinsam freiwillig in Motels unterwegs, auf Tournee mit Caterinas Wanderausstellung. Ich hätte damals sofort Licht ins Zimmer gelassen und die Playstation an den Fernseher angeschlossen. Heute ziehe ich die Vorhänge zu und lasse den Scartanschluss unberührt.

 

»Das ist schon mutig, was die da machen«, sagt der Häuptling einer Gruppe von Gästen, die nur zum Feiern in den Restaurant-Turm gekommen sind. Alle Tische sind für sie reserviert. Ich sitze nebenan an der Bar und trinke Wasser, obwohl alles in mir nach Bier schreit. »Wartet ab«, sagt der Häuptling, »die stürzen auch noch ihre restlichen Diktatoren. Wie Dominosteine.«

Er redet vom arabischen Frühling, von dem ich etwas mitbekommen habe, da ich die Nachrichten schaue. Die erlaube ich mir, weil sie mir keine gute Laune machen, solange ich rechtzeitig vor den Fußballergebnissen abschalte. Ich habe einen Pfropf in der Brust, und seit kurzem versucht er, sich gegen meinen Willen zu lösen.

»Gut so!«, sagt der Funkturm und würde sich am liebsten stahlkreischend hinunterbeugen und mir die Fernbedienung wegnehmen, damit ich den Fußball anlasse und der Propf fällt. In Algerien, Ägypten und Libyen sind Aufstände ausgebrochen. Die Tunesier haben ihr Staatsoberhaupt schon vor sechs Wochen aus dem Land gejagt. Sie bauen Auffanglager für Flüchtlinge. Ausgelöst wurde ihre Revolution durch ein Bild, das ich nicht vergesse. Ein Gemüsehändler verbrennt sich öffentlich, weil der Staat ihm zu viel in sein Leben hineinredet. Unwillkürlich habe ich das Cover der alten CD vor mir gesehen, auf der ein vietnamesischer Mönch lodert, der die Unterdrückung durch die Chinesen anklagt. Rage Against The Machine, 1992. Der Pfropf ist für eine Sekunde tatsächlich aus meiner Brust gefallen. Ich bin erschrocken und habe ihn wieder hineingestopft.

»Wasser!«, klagt die Chefin, die zwischen der Bar, in der ich der einzige Gast bin, und der geschlossenen Gesellschaft hin- und herzischt. »Warum können Sie nicht wenigstens ein Mal Bier trinken? Oder Wein?« Sie zeigt mir die Flasche. »Von meinem Schwager! Er ist Winzer an der Mosel. Er hat mich helfen lassen, im Urlaub. Es kann sein, dass die Trauben für diese Flasche durch meine Zehen gequetscht wurden.«

Ich muss schmunzeln, weil sie Werbung für ein Getränk macht, in dem sie sagt, sie habe es zwischen ihren Zehen hervorgebracht. Sie arbeitet zwölf Stunden am Tag in denselben Socken. Der Pfropf löst sich leicht.

Nein! Das darf nicht sein!

Ich lasse mein Wasser aufs Zimmer schreiben, verlasse das Motel und trete in die laue Abendluft. Auf dem Parkplatz stehen die Trucks Schnauze an Schnauze. Eine grauschwarze Krähe kraxelt am Zaun herum. Aus den Fenstern der Küche höre ich es brutzeln. Die Limousine aus dem alten Fuhrpark unserer Taxifirma ist das größte Auto auf dem Gelände. Sonst sehe ich nur Kleinwagen. Lediglich ein riesiger Landrover rollt gerade röhrend vom Platz. Er wirkt wie aus einem Wüstenfilm gefallen. Riesige Reifen, Dreck an den Flanken. So ein Modell habe ich hier noch nie gesehen. Nun denn, ab zur Tribüne!

»Geh wieder rauf und trink den Zehenwein«, krächzt der Funkturm über mir. An der Halenseestraße gehe ich nicht den ganzen Bogen um das gusseiserne Motorsportdenkmal herum, sondern nehme die Abkürzung durch das winzige Waldstück. Wenn man die paar Bäume so nennen kann. Jede Nacht schlurfe ich hier hindurch. Ein perfektes Versteck für Räuber und Mörder, aber nichts passiert. Ich gehe zu meiner Geistertribüne, hebe den Bauzaun aus dem Ständer, biege mit dem Müllgreifer den Stacheldraht um, klettere hinein und hocke mich auf die Bank. Die Brust ist wieder eng. Gut so. Der Funkturm schüttelt knarzend den Kopf.

Es ist früher als sonst. Gerade mal Mitternacht. Die Avus ist noch gut befahren. Aus einem Auto, dessen Rückscheibe geöffnet ist, streckt sich der Arm eines kleinen Mädchens. Sein Finger zeigt genau auf mich. Der Wagen gerät ins Schlingern, wahrscheinlich, weil das Mädchen aufgeregt seinen Vater auf dem Fahrersitz angestupst und der sich erschrocken hat. Mein Herz schießt mir in den Hals. Fast hätte der Mann einen Unfall gebaut. Einen Unfall mit Tochter! Wegen mir, dem Geist auf der brüchigen Bank. Ich stehe auf, stolpere aus der Tribüne und biege nicht mal den Draht zurück.

Im Restaurant feiern sie. »Happy birthday to yooooouuu!!!«

Das muss aufhören! Ich renne die Treppe hoch, an der surrenden Sitzecke vorbei, schließe mich in mein Zimmer ein, schalte den Fernseher an und stelle ihn sehr laut. Ich schalte durch, bis ich etwas sehe, das mir keine Freude machen kann. Eine Reportage fällt mir ins Auge. Ich sehe Eis. Ewiges Eis. Weiße Winde. Es fröstelt mich vom Hinsehen. Der Sprecher sagt: »Das Wasser hier ist so kalt wie eine gefrorene Hölle.«

Ich setze mich auf den Bettrand. Eine gefrorene Hölle … Ich verfolge die Sendung bis zum Schluss. Dann packe ich.

 

Ich weiß jetzt, wohin ich will. An welchem Ort ich tatsächlich verschwinden kann. Ich habe ihn gesehen, gestern Abend. Mir ist klar geworden, dass ich nicht selber fahren kann. Die Strecke ist lang und die Versuchung zu groß. Mein Kopf würde wieder phantasieren. »Schau da«, würde er sagen, »der schöne große Baum am Straßenrand. Wäre das nicht ein guter Ort für das Ende?« Als ich auschecke, bedanke ich mich bei der Chefin für alles, und sie sieht mich nachdenklich an. Der Funkturm beobachtet mich streng, während ich durch die Straßen manövriere und nach einer Viertelstunde beim erstbesten Händler halte. Dem werde ich die Limousine verkaufen. Topzustand. Nur rund 30000 Kilometer gelaufen. Umgebaut für Erdgasantrieb. Sie ist mindestens noch 11000 Euro wert, aber ich werde nicht handeln. Ich werde die erste Summe akzeptieren, die der Ankäufer nennt. Ich will nicht mehr Geld, als ich unbedingt brauche, um mein Ziel zu erreichen. Der Händler heißt Aydin Gülselam, so steht es auf dem weißen Schild über dem Eingang. Er hat silberne und blaue Flatterbänder über den Kiesparkplatz gespannt. Sein Büro ist ein alter Wohnwagen. Im Fenster hängen Wimpel des Fußballvereins Galatasaray Istanbul. Aydin klappt die Tür seines Wohnwagens auf und steigt mit weitausgebreiteten Armen das Treppchen hinab.

»Mein Freund, was kann ich für dich tun?«

Ich zeige auf die schwarze Luxus-Öko-Limousine. »Sie können mir dieses Auto abkaufen. In bar.«

Aydin muss sich sehr anstrengen, das enthusiastische Glitzern zu verbergen, das in seinen Augen aufblitzt. Er stellt es ab und guckt absichtlich müde, gespielt gelangweilt. Er lehnt sich zurück, umrundet das Auto, verschränkt die Arme und sagt, die rechte Hand mit geöffneten Fingern schwenkend: »2500 Euro.«

Es ist lächerlich. Eine Frechheit. Nahe am Betrug.

Ich sage sofort: »Einverstanden.«

Aydin bekommt Augen wie die Räder eines Jeeps. »Was?«

»Machen wir.«

»Wie, machen wir?«

»Ist okay. 2500. Sie geben mir das Geld, und ich bin weg.«

»Ist das geklaut? Klaut ihr uns Mesut Özil für eure Nationalmannschaft? Kann ich mit leben! Aber klaut ihr Autos und verkauft sie unschuldigem Aydin? Kann ich nicht mit leben.«

»Er ist nicht geklaut. Schauen Sie in die Papiere. Es ist ein ehemaliger Firmenwagen. Alles legal.«

Aydin schaut sich die Papiere an. Sein Schnäuzer weht sacht in der Frühlingsbrise. Er blickt zu mir auf und sagt, so kraftvoll wie entrüstet: »Musst du handeln!«

»Also gut«, sage ich, »dann kriegen Sie ihn für 2000.«

Aydin fächert mit der Hand die Luft wie ein Kolibri. »Nein, nein, nein! Nicht weniger verlangen. Mehr! Musst du handeln!«

»Ach, kommen Sie schon …«

»8000 Euro!«, sagt Aydin, lächelt breit, verschränkt die haarigen Arme erneut und schaut mich an, als sage er: Und jetzt du, Sportsfreund. »Jetzt nehmen Sie ihn doch einfach«, jammere ich.

Aydin löst die Arme, schüttelt den Kopf, grummelt osmanische Flüche und wählt eine Nummer auf seinem Handy. Nach zwei Sekunden geht jemand ran. Leise höre ich eine jüngere Stimme, die etwas in den Hörer bellt. »Serkan? Kommst du mal?« Serkan antwortet etwas. Aydin erklärt ihm den Fall auf Türkisch. Dann fügt er auf Deutsch hinzu: »Ja, genau. Will nicht handeln.« Aydin legt auf und sagt: »Serkan kommt.«

Acht Minuten lang stehe ich mit Aydin zwischen den Gebrauchtwagen und schiebe Kies mit den Fußspitzen hin und her. »10000«, sagt er zwischendurch. »Elf! Zwölf!« Ich reagiere nicht.

Ein 190er Mercedes aus den achtziger Jahren fährt auf den Hof. Weiß mit grauen Seitenplanken. Am Rückspiegel wackelt ein Wimpel des Fußballvereins Fenerbahçe Istanbul. Serkan bremst, der Kies knirscht, er steigt aus. Er ist zwanzig Jahre jünger als Aydin, schmal gebaut und glatt rasiert. Die Männer begrüßen sich mit Wangenküssen. Dann zeigen sie gegenseitig auf ihre Wimpel und beschimpfen auf Türkisch die jeweilige Lieblingsmannschaft des anderen. Als sie fertig sind, drehen sie sich beide zu mir.

Serkan tänzelt einen Schritt in meine Richtung und sagt: »Was soll Wagen kosten?« Seine Augen wirken ungemütlicher als die seines älteren Kollegen.

»2500«, sage ich.

Serkan wirft die Arme in die Luft: »Spinnst du? Ist 14000 wert, mindestens!«

»Ist mir egal. Ich handele nicht.«

Serkan legt den Kopf schief und lächelt, als wolle er den Scherz, den ich gerade mache, wie an einem Bindfaden aus meiner Nase ziehen und auf den Kies werfen. »Komm schon. Hörst du auf, mit uns Spielchen zu spielen. Sagen wir: 13000.« Er späht hoffnungsvoll nach Reaktionen. Ich seufze. In seinen Augen glimmt Hoffnung auf, dass ich zur Vernunft komme.

Ich sage: »2500.«

Serkan stemmt einen unsichtbaren Medizinball über seinen Kopf. Dann nimmt er lauter kleine imaginäre Tennisbälle und wirft sie nach mir. »Zwölf! Elffünf! Elf!«

Ich sage: »Wenn Sie so weitermachen, schenke ich Ihnen den Wagen. Dann können Sie mal sehen!«

Serkan flucht und lässt die Daumen über sein Telefon wandern. »Ersan?«, begrüßt er jemanden auf der anderen Seite der Leitung und erklärt ihm das Problem, wieder auf Türkisch. Er erhält Antwort, stülpt die Unterlippe vor, nickt Aydin zu und sagt: »Ersan kommt.«

Nach einer Weile fährt ein alter, dunkelblauer 3er BMW auf den Hof. Das Fenster ist heruntergekurbelt. In beiden hinteren Scheiben hängen Wimpel des Fußballvereins Beşiktaş Istanbul. Ich versuche mich daran zu erinnern, ob die gesamte türkische Liga nur von Istanbul gestellt wird. Aus dem Radio ertönen Chansons, vorgetragen von einem Mann im Sopran. Ersan ist womöglich ein Bruder von Aydin oder ein Onkel von Serkan. Er ist jedenfalls schon älter, und seine Augenbrauen ähneln zerzausten Babykatzen. Er begrüßt Aydin und Serkan, indem er nach dem Aussteigen kräftig auf das Dach eines herumstehenden Ladenhüters klopft. Die Männer umarmen ihn, zeigen auf seine Heckscheiben und palavern über ihre Fußballvereine.

Danach kommt Ersan gemessenen Schrittes auf mich zu: »Hörst du auf mit dem Unsinn, ja?« Er stülpt die Lippen vor, als mache er einen Kussmund, schließt halb die Augen und legt seine Hand vor sich auf eine gedachte Tischplatte.

Ich verschränke die Arme und sage: »Hayır.« Das heißt nein.

Ersan klappt seinen Zeigefinger aus und sieht die anderen an nach dem Motto: Seht mal, da ist ein türkisches Wort aus ihm herausgefallen.

Ich bleibe hart: »2500.«

Ersan sagt: »Mein Freund! Ist unser Vater damals gekommen nach Deutschland, als Bergmann, ja? Gesicht schwarz, Hände schwarz, Herz weiß. Hat geschuftet, damit wir können aufbauen gutes Geschäft. Dann kommst du und machst Geschäft kaputt.«

Meine Ohren werden heiß. Ich bekomme Schnappatmung. »Ich mache euer Geschäft kaputt? Ich will euch den Wagen doch zum Schleuderpreis verkaufen!«

Ersan klopft wieder mit der flachen Hand auf ein herumstehendes Auto. BAMM! »Musst du handeln!!«

»Ich verschenke ihn! Ich warne euch. Ich renne hier im Spurt vom Hof und werfe euch die Papiere über den Zaun!«

Serkan stellt sich vorsorglich in den Eingang.

Ersan schüttelt den Kopf, tippt eine Nummer auf seinem Handy und sagt: »Abdullah?«

Zehn Minuten später rumpelt ein VW-Bus auf den Hof. In seinem Cockpit hockt ein alter Mann und fuhrwerkt am Lenkrad wie am Ruder eines alten Piratenschiffes. Die Kabine ist erleuchtet von Lichtschläuchen und kirmesartigen Blinklämpchen. Zwischen dem Geflacker baumelt ein Wimpel von Istanbul Büyükşehir Belediyespor.

Eine halbe Stunde später sind die Massen versammelt. Nachdem mich auch der Älteste nicht überzeugen konnte, ist er wieder in seinen Bus gestiegen, hat den Wimpel zurechtgerückt und wie ein Trucker sein altes Funkgerät in die Hand genommen. Wenig später sind nicht ein oder zwei, sondern Dutzende von Wagen auf den Hof gefahren. Sämtliche Händler und Verwandte haben sich eingefunden, um einen Blick auf mich zu werfen und auf mich einzureden. Einige haben Frauen, Kinder und Enkel mitgebracht. Flaggen wehen. Derwische tanzen. Aus einer Anlage erklingen die Chansons nun stadtviertellaut. Jemand hat einen Grill angeworfen und röstet einen Hammel.

»Eşek! Eşek!«, lachen ein paar Kinder und zerren an mir herum. Es heißt Esel. Weitere Männer mit flachen Mützchen auf dem Kopf schlendern auf den Hof und begrüßen die große Gemeinschaft. Ich habe mich in einen Skoda zurückgezogen und schmolle. Ich werde nie mehr hier wegkommen. Der Chansonist schraubt seine Stimme nach oben. Der Mann am Grill hebt die Hand, damit die Leute Essen fassen kommen. Unter den Sohlen der Derwische schießt der Kies hervor. Ich reiße die Skoda-Tür auf. Sie quietscht, als ob ich eine Blechdose aufschneiden und mit den Rändern über den Asphalt ziehen würde. »Also gut!«, brülle ich. Die Gesellschaft dämpft ihr Geplapper. Aydin, Serkan, Ersan und Abdullah kommen sofort zu mir.

Ich sage: »Drei.«

Serkan sagt: »Zwölf!«

»Vier.«

»Elf.«

»Sechs.«

»Zehnfünf.«

»Acht.«

»Zehn.«

»Achtfünf. Letztes Wort!«

Serkan schaut zu Ersan und Abdullah, dann zu Aydin. Der nickt. Serkan reicht mir die Hand. Jubel brandet auf. Die Frauen lachen, die Männer johlen, die Kinder jagen sich wie Welpen über den Kies. Ich gehe mit Aydin in den Wohnwagen und verlasse den Hof mit 6000 Euro mehr, als ich verlangt hatte.

 

Ich schleppe meinen Rucksack durch die Straßen und winke mir ein Taxi heran. Der Fahrer steigt nicht aus, um mir die Tür zu öffnen. Das gefällt mir. Ich setze mich auf die Rückbank, da ich weiß, dass die Fahrt lang wird.

»Wo soll’s hingehen?«

»Einsamkeit.«

»Einsamkeit?« Der Fahrer überlegt. Er sieht aus wie die Schauspieler, die in deutschen Krimis die Archivare spielen. »Wenn Sie’s einsam haben wollen, könnten wir nach Ferch. Oder Petzow. Die Gegend um Werder und die Havel ist auch recht menschenleer.«

»Ich rede von der Einsamkeit. Eine Insel.«

»Eine Insel? Dann fahre ich Sie nach Rügen. Ich kenne da ein Hotel, da wohnt fast nie jemand. Das wird aber teuer. Rügen von hier …«

»Nicht irgendeine Insel«, sage ich. »Ich meine die Insel. Einsamkeit. Auf Norwegisch heißt sie Ensomheden. Auf Russisch Ostrov Uyedineniya.« Ich zeige ihm den Ausdruck eines Artikels. Ich habe ihn im Rasthof am Rechner der Chefin herausgesucht und ausdrucken lassen. Sie ließ mich in ihr Büro und wedelte in der Türe mit Bio-Schinken. Der Mann starrt auf das Blatt. Er braucht einen Moment, um es zu glauben.

»Wollen Sie mich verarschen? Das ist in der sibirischen Karasee.«

»Genau«, sage ich. »Einsamkeit. Elfeinhalb Kilometer lang, fünf Komma zwei Kilometer breit. Vollkommen unbewohnt. Bis 1996 lebte dort ein einziger Mensch, der russische Wärter einer Wetterstation. Nachdem sie aufgegeben wurde, hat die Insel niemand mehr betreten.«

»Und da wollen Sie hin?«

»Ja. Ich will verschwinden.«

»Wissen Sie, wie weit das ist? Das sind locker 6000 Kilometer quer durch Russland. Wenn ich das mal nur grob durchkalkuliere, kommen wir da auf, Augenblick …« Er kritzelt Zahlen auf einen Notizblock. Dann hält er ihn hoch und wedelt damit. »Nehmen wir an, ich ließe mit mir verhandeln. Nehmen wir an, ich sei gnädig und huldvoll. Nehmen wir an, mir schiene die Sonne aus dem Arsch, was nicht der Fall ist, aber nehmen wir es einmal an. Dann sind das immer noch 8000 Euro.«

»Ich weiß das alles. Ich bin selber mal Taxi gefahren.«

»Dann wissen Sie auch, dass sich niemand in ein Taxi setzt, eine Fahrt an die Küste der russischen Karasee verlangt und zu diesem Zweck einfach so 8000 Euro in bar dabeihat.«

Ich seufze, hebe mein Hinterteil, ziehe das Portemonnaie aus der Jeanstasche und fächere die sechzehn Fünfhunderter vor ihm auf, die Aydin mir gegeben hat. Er wird blass. Wild fährt seine Zunge durch die Mundwinkel und putzt die Lippen.

»Ich darf nicht.«

»Wie, Sie dürfen nicht?«

»6000 Kilometer. Da bin ich gute drei Wochen unterwegs.«

»Und das verbietet Ihr Chef?«

»Das verbietet meine Frau. Sie hat Ängste. Und dann durch die russische Pampa. Waren Sie schon mal dort? Wissen Sie, was das bedeutet? Das ist das Ende der Welt. Die Wüste in den Mad Max-Filmen ist ein Rummelplatz dagegen.« Ich wundere mich, dass er Mad Max kennt, dabei ist das nur natürlich. Diese Filme wurden gedreht, als ich noch ein Kind war. Sie gehören zu seiner Zeit. Wie die Sex Pistols oder die frühen Slayer. Trotzdem kommt es mir immer so vor, als gehöre alles, was sich roh und wild gibt, grundsätzlich zu »uns« und nicht zu »den Großen« mit dem graumelierten Haar. Der Mann lehnt sich im Fahrersitz zurück, sieht mich im Rückspiegel an und schaut nach wenigen Worten wieder in die Ferne: »Sie hat vor allem Angst, wissen Sie? Wenn ich rausgehe und den Rasenmäher anschmeiße, steht sie zitternd am Fenster und sagt: ›Hubert, bitte, greif nicht ins Blatt!‹ Als wenn ich mich hinhocke wie ein Psychopath, neben den laufenden Mäher, noch einmal kurz lächelnd aufsehe und dann gemütlich meinen Arm drunterschiebe.« Hubert öffnet das Handschuhfach und holt einen Keks heraus. Die Kekse liegen lose in dem Fach. Ein paar purzeln auf den Boden. Keine Tüte, keine Plastikbox. Ein Fach voller Kekse. Hubert schließt es wieder. Kauend erzählt er weiter: »Sie tut so, als wenn ich bekloppt wäre! Bei der Vogelgrippe, ich stand im Garten, plauderte mit meinem Nachbarn. Meine Frau schreit ›Aaaaaaachtung!‹ und wirft sich auf meinen Rücken. Arme um den Hals, Beine um die Oberschenkel. Sie reißt mich runter und stülpt sich über mich wie ein Bodyguard. Eine Taube hatte den Luftraum gekreuzt. Sie hat nicht mal geschissen! Unsere Nachbarn sind kurz darauf nach Potsdam gezogen.«

»Das tut mir alles sehr leid«, sage ich, klopfe ihm auf die Schulter und öffne wieder die Tür. Der kann mich nicht weit bringen.

»Grüßen Sie die Einsamkeit von mir«, sagt er.

»Mache ich.«

Das Taxi fährt. Ich laufe die Straße hinab und halte den Daumen raus.

Da! Ein alter Taunus mit jungen Leuten drin. Der wird halten. In der Tat. Sie fahren an den Rand. Zwei junge Männer. Der Beifahrer kurbelt das Fenster herunter. Ich will gerade etwas sagen, da drückt er mir zwei leere Becher von McDonald’s und ein paar zerknüllte, mit Mayonnaise verschmierte Hamburger-Papiere in die Hand. Ich bin zu baff, um zu reagieren. »Danke für den Service«, sagt er. Der Fahrer lacht sich kaputt. Sie geben Gas. Ich brülle ihnen Unsagbares hinterher und werfe den Müll auf den Boden. Für eine Millisekunde schießt mir Wasser in die Augen, denn ich fühle mich so hilflos wie auf dem Pausenhof in der Grundschule. Ein VW-Bus nähert sich mit offenen Fenstern. Laut ertönt Grollen und Schreien. Sirrende Gitarren, ein Schlagzeugbreak, dann melodischer Refrain-Gesang, im Studio dreilagig geschichtet wie ein Kingsize-Burger. Schmerzsimulationsmusik. Ich drehe mich schnell um und halte den Daumen raus. Ich habe feuchte Augen, trage einen großen Rucksack und glaube immer noch, dass Mad Max nicht »den Großen« gehört. Der Bus hält sofort an. Die Schiebetür geht auf. Zwei junge Männer sitzen darin. Sie sind hager, tragen dunkle Jeans, Armbänder von Festivals und aus schwarzem Gummi sowie T-Shirts von Converge und Mastodon. Auf dem Rücken des Fahrers prangt der Schriftzug von Escapado. Ich sehe die Jungs wortlos an und strecke die Hand aus. Die Anlage brüllt. Ein Schwein wird abgestochen und kreischt. Gewitter zerlegen das Land mit Blitzen. Die Arme mit den Bändchen reichen mir die Hand und ziehen mich in ihre Höhle.

Der Fahrer fragt mich: »Wo willst du hin?«

Ich sage: »Einsamkeit.«

»Wir fahren nach Görlitz«, sagt er.

»Dann eben Görlitz«, sage ich.

In Görlitz halten wir gegenüber der Altstadtbrücke, die über die Lausitzer Neiße nach Polen führt. Die Landesgrenze liegt mitten auf der Überquerung, die nur für Fußgänger gedacht ist. Keine Grenzposten, kein Zoll. Jeder kann kommen und gehen. Der Fahrer parkt vor einer hohen Mauer. Direkt über uns thront der Dom. »Danke«, sage ich und meine damit auch, dass sie mir während der Fahrt kein Gespräch aufgezwungen haben. Neben dem Parkplatz liegt ein kleiner Jugendclub direkt an der Mauer. Er heißt »Basta!«. Ein Festival ist angeschlagen. Das Plakat wurde in einem Sonderformat gedruckt, denn die Namen der Gruppen sind lang. Görlitz liegt eigentlich zu südlich für meine Route. Um zur Einsamkeit zu gelangen, hätte ich mich östlich aus Berlin rausfahren lassen und die Oder bei Küstrin überqueren müssen. Immerhin bin ich jetzt an der polnischen Grenze, wenn auch zweihundert Kilometer tiefer. Im Club macht die erste Band einen Soundcheck. Jemand brüllt. Einer haut auf die Snare. Es quietscht. »Passt schon!«, ertönt es aus dem Mikro. Vielleicht kann ich heute Nacht hier unterkommen. Der Junge im Mastodon-Shirt öffnet die Schiebetür. Bevor ich aussteige, legt er seine Hand auf meine Schulter.

»Wie heißt du eigentlich?«

Ich schlucke. Es fällt mir schwer, meinen vollen Namen auszusprechen. Die Mastodon-Augen flehen. Er will es wirklich wissen. Jetzt.

»Hartmann«, antworte ich. »Mein Name ist Hartmut Hartmann.«

> Hartmut Seite 69

Der Kölsche Klüngel

15. 03. 2011

50° 58′ 52.97″ N, 6° 56′ 53.14″ E

Der Tropfen gleitet langsam über die Wange zu meinem Ohr.

Ein Tropfen am Morgen. Mehr genehmige ich mir nicht.

Krümmen, loslassen, krümmen, loslassen. Meine Finger sind noch da. Wenn meine Finger noch da sind, sind auch meine Arme da. Wenn die Arme da sind, ist auch der Rest meines Körpers da. Ich lebe also.

Der Tropfen hat mein Gesicht verlassen. Die Spur trocknet langsam.

Ich stehe jetzt auf. Es hat ja sowieso keinen Sinn. Außerdem geht es mir gut.

Da – das Stöhnen meiner Mutter. Jetzt muss ich raus. So stöhnt sie immer kurz vor dem Aufstehen. Und wer länger schläft als meine Mutter, ist krank oder depressiv. Und mir geht es gut. Erst die Beine aus dem Bett, der Rest folgt von selbst. Wo ist meine Hose? Da. Mein Pulli. Fertig.

Ich greife an den kleinen Diamantanhänger meiner Kette und sehe mich um. Meine Mutter hat den großen Esstisch beiseitegeschoben. Ich habe früher in diesem Zimmer gewohnt. In einer Ecke befindet sich nun ihr Büro. Ein großer Schreibtisch mit Computer. Es ist ein Wunder, dass sie darauf ihre Buchhaltung macht. Sie spielt lieber Mah-Jongg. Mein Schreibtisch stand damals in einer anderen Ecke. Dort, wo nun der Esstisch steht. Ich hatte ihn selbst gebaut. Die Neigung seiner Platte war variabel, und bei Bedarf konnte ich ihn komplett an die Wand klappen. Er war nicht schön, aber raffiniert. Alle meine Möbel hatte ich aus hellen, freundlichen Hölzern selbst gebaut. Nun besteht die Einrichtung aus edlem, dunklem Mahagoni. Hinter mir steht ein mächtiges Bücherregal mit einem großen Fach für teuren Cognac und alten Whiskey in Bleikristallkaraffen. Davor ist meine Klapppritsche aufgestellt. Bequemer wäre es auf dem Sofa im Wohnzimmer gewesen, aber ich wollte eine Tür hinter mir zumachen können. Früher stand an dieser Stelle mein Hochbett, darunter eine kleine Couch, ein Tischchen, eine Musikanlage und ein im Hochbett eingebautes Regal mit Teedosen. Es war sehr gemütlich. Ich habe mich wohl gefühlt damals. Und ich war stolz, denn ich hatte das Hochbett ebenfalls selbst gebaut, ausschließlich unter Verwendung winziger, alter Handbohrer. Das sollte mir erst mal einer nachmachen – ein Hochbett unplugged.

Mein Blick fällt in das Dunkel unter dem Esstisch. In einer gläsernen Bodenvase steht eine einzelne Seidensonnenblume. Sie lässt ihren Kopf hängen.

 

»Susanne … Susanne …«

Meine Mutter trällert. Sie überhöht ihren rheinischen Singsang. Wahrscheinlich ist sie glücklich darüber, dass ich bei ihr wohne. Vielleicht will sie mich auch nur mit einer fröhlichen Stimmung anstecken. Sie sagt immer, dass man nur lächeln muss, um wieder fröhlich zu werden. Deswegen funktioniere auch der Kölsche Karneval: Ja, man kann auf Knopfdruck feiern und lustig sein.

»Susanne, raus aus den Federn!«

»Ich bin schon längst wach!« Ich reiße die Tür auf und lächle, so breit es geht. Das muss reichen.

In meiner Kindheit hat sie mich nie geweckt. Sie schlief um diese Uhrzeit noch. Heute brauche sie nicht mehr so viel Schlaf, sagt sie, vor allem dann, wenn sie am Ruhetag vier Stunden früher ins Bett geht als sonst. Sie hält nicht viel von Logik. Aber der Grundsatz gilt noch immer: Wer länger schläft als meine Mutter, ist krank oder depressiv. Und mir geht es gut!

»Susanne, Kind, möchtest du Rühreier oder Spiegeleier oder gekochte Eier? Aber keine pochierten Eier, nein!?! Und auch keine armen Ritter. Also ich hätte ja gerne Rühreier. So was Herzhaftes. Mit ein paar krossen Zwiebelchen. Das willst du doch auch, oder? Susanne? Also, dann mach ich uns jetzt ein paar leckere Rühreier. Direkt in der Teflonpfanne, da brauche ich auch kein Fett. Das bringt uns auf die Beine.«

Sie lässt mir keine Zeit zu reagieren. Sie meint es gut, und ich lächle. Mir ist es gleichgültig, was ich esse. Es ist Blödsinn, dass man an gebrochenem Herzen stirbt, aber es verdirbt einem den Appetit. Das ist jetzt eben so, egal wie gut es mir geht.

»Susanne, riechst du das? Ist das nicht lecker?«

Früher durfte ich meine Mutter erst ansprechen, wenn sie mit dem Frühstück fertig war. Vorher erntete ich lediglich böse Blicke. Wenn sie noch lag, konnte sie sogar Pantoffeln gegen ihre Tür regnen lassen. Zu diesem Zweck standen 32 Paar neben dem Bett. Ich dachte immer, dass sie nur Show macht, aber als ich das dreijährige Kind einer Freundin kennenlernte, das bis nach dem Frühstück wie in Trance war, wurde mir klar, dass es so üble Morgenmuffel tatsächlich von Natur aus gibt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Mutter sich so verändert haben könnte. Vielleicht sind es die Sorgen, die sie sich um mich macht.

»Susanne, die Rühreier sind fast fertig, setz dich schon mal hin, Liebes.«

Ja, Mama, ich setze mich. Und lächle. Langsam verkrampfen sich meine Wangen.

»Susanne, Liebes, ich weiß, du möchtest noch ein wenig deine Ruhe haben, aber ich hätte da was, das ich nicht mehr selbst machen kann. Ich werde ja auch nicht jünger. Meine Knochen wollen nicht mehr so wie ich. Die Arbeit muss ja trotzdem gemacht werden. Ich kann aber auch den Pana anrufen. Das ist kein Problem. Wenn du noch ein bisschen Ruhe brauchst, dann macht der das gerne. Weißt du was, ich ruf jetzt mal direkt den Pana …«

»Mam! Nun sag schon, was du willst.«

Meine Mutter blickt mich einen Augenblick lang erschreckt an. War ich zu grob? Nein, sie lacht schon wieder.

»Wie gesagt, ich kann auch den …«

»Mutter!«

»Ich habe letztens alle Deckenpaneele abgestaubt, und im Ess-Büro sind mir an einer Ecke die Randleisten entgegengekommen. Aber wenn du ohnehin das Werkzeug aus dem Keller holst, kannst du auch auf dem Weg im Lokal noch eben das Bild vom Willi wieder aufhängen und die Kühlung überprüfen. Ich fand ja gestern das Bier etwas zu warm. Meine Gäste haben zwar nichts gesagt, aber ich kann ja auch nicht mehr so richtig gucken, und die Zahlen auf dem Thermostat sind so winzig. Schön wäre ja, wenn ich da ein Lämpchen hätte, dann könnte ich die Zahlen auch immer selbst im Blick haben, und dann …«

Meine Mutter wird jetzt eine halbe Ewigkeit so weitermachen. Und dann zückt sie einen Zettel, auf dem sie längst alles notiert hat.

»Gib mir doch einfach den Zettel, und ich mache es gleich alles.«

»Was für einen Zettel?«

Ich könnte mich auch wieder hinlegen.

»Susanne, Liebes, das ist nur meine Notiz, was ich dich fragen möchte. Du weißt doch, dass mein Gedächtnis nicht mehr so ist wie früher.«

»Ich muss aufs Klo.«

»Dann lege ich dir den Zettel hier hin, ja? Danke, Liebes. Ich fahre dann gleich in den Großmarkt, falls du mich suchst.«

 

Die Leisten sind schnell wieder befestigt, denke ich.

Meine Mutter lebt in einem Altbau. Die Decken sind drei Meter fünfzig hoch und haben leider keinen Stuck mehr. Als wir hier einzogen, beschlossen wir, die Decken dreißig Zentimeter niedriger zu hängen, aus optischen Gründen, denn sie waren nicht mehr sauber verputzt. Damals lief die Kneipe nicht so gut, und als mein Zimmer dran war, herrschte finanzielle Flaute. An der Decke hingen schon in weiten Abständen Dachlatten, sägeraue Vierkanthölzer. Ein Gerippe über meinem Kopf. Ich hatte Verständnis, mochte es aber nicht. Nach und nach kaufte ich große dunkelblaue, in sich gemusterte und mit Lurexfäden durchzogene Halstücher, die ich in Bahnen aneinandernähte und in großen Wellen an die Latten tackerte. Nachts sah es aus, als hätte ich einen Sternenhimmel über mir. Erst als ich auszog, ließ meine Mutter Paneele einziehen.

Da ich zu ungeduldig bin, um die Leiter zu holen, wuchte ich einen Stuhl auf den Tisch, klettere auf die Platte und sortiere meine nackten Füße vorsichtig unter den Stapel meiner BHs. Der Esstisch ist nicht ideal als Kleiderschrank. Unordnung ist ein Zeichen für Depression, sagt meine Mutter. Ich achte darauf, dass ich meine Kleidung besonders ordentlich falte und staple.

Die Konstruktion wird halten. Ich setze einen Fuß auf den Stuhl.

 

Mein Blick fällt auf die Uhr. Komisch; sie muss falsch gehen. Ich sitze auf der Couch und schaue die gestrige Folge von Danni Lowinski. Die einzige Serie, die meine Mutter mit ihrem Festplattenrecorder aufnimmt, da sie komplett in Köln spielt. Ansonsten kann sie sich nichts länger als zwei Minuten am Stück ansehen, ohne dass ihre Füße zucken. Wenn ich das Viertel sehe, aus dem die etwas prollige Anwältin in der Sendung stammt und in dem sie weiterhin lebt, bin ich immer noch froh, dass ich mich als Kind gewehrt habe, in Gegenden wie Meschenich oder Chorweiler zu ziehen. Später habe ich einige sehr nette Leute kennengelernt, die dort wohnen, aber es gibt auch die anderen. Doch vor allem ist in solchen Stadtteilen jedes einzelne Haus hässlich, dreckig und abstoßend.

Draußen ist es schon dunkel. Von unten höre ich Musik und Lachen. Ein Mann brummt bis ins Wohnzimmer. Diese Geräuschkulisse ließ mich mich schon als Kind immer ein wenig einsam fühlen. Auch jetzt ist es nicht anders. Wenigstens ist Karneval vorbei.

Die Werbung setzt ein, ich schalte den Ton aus, seufze und gehe ins Ess-Büro. Auf dem Esstisch steht ein Stuhl, und ich brauche einen Augenblick, um zu verstehen, dass ich mich an die letzten Stunden nicht mehr erinnere. Ich blicke zur Decke und sehe, dass ich die Leisten wieder ordentlich angebracht habe. Der Tisch mit meinen Klamotten wirkt aufgeräumt, abgesehen von dem Stuhl darauf.

Nicht mal, als es angefangen hat mit den Erinnerungslücken, war ich erschrocken. Ich habe es einfach hingenommen, war nur neugierig, was in der Zwischenzeit wohl passiert sein mochte. Die Neugier schleicht sich auch jetzt wieder von hinten an mich heran. In der Küche liegt der Notizzettel meiner Mutter. Also eigentlich meine To-do-Liste. Jede einzelne Position ist abgehakt. Darunter steht eine neue Aufstellung mit Besorgungen: Kabel,LED-Leiste, Schrumpfschlauch, Schalter, Trafo. Alles ist als bestellt abgehakt. In meiner Schrift.

Der nächste Weg führt mich ins Bad. Hier wohnt jetzt Irmtraut. Ihre Schwimminsel dümpelt in der Wanne, während die Schildkröte ein paar Züge schwimmt. Erst als ich mich über den Rand beuge, bemerkt sie mich. »Na, meine Süße, ist bei dir alles in Ordnung?« Irmtraut streckt ihren Kopf heraus. Sie reckt ihren Hals, bis er nur noch fingerdünn ist. Sie will gekrault werden. Währenddessen schaue ich nach ihrem Futter. Alles sieht normal aus. Irmtraut klettert auf ihre Insel und kniept mir freundlich zu. Ob sie die anderen vermisst? Yannick bestimmt. Er hat sich immer gern auf den Wannenrand gesetzt und seine Schwanzspitze ins Wasser gleiten lassen, als ob er es nicht bemerken würde. Irmtraut schlich sich dann gerne tauchend an und versuchte, nach dem interessant zuckenden Teil in ihrem Terrain zu schnappen. Yannick brauchte nicht mal hinzuschauen, um die Schwanzspitze rechtzeitig wegzuziehen. Manchmal haben die beiden sich auch nur mit halbgeschlossenen Augen gegenübergesessen und die Gegenwart des anderen genossen.

»Ich vermisse Yannick auch«, sage ich zu Irmtraut. Sie zieht ihren Hals ein und bleibt ganz ruhig sitzen.

Ich vermisse nicht nur Yannick. Wieso konnten wir nicht einfach zusammenbleiben? Es hätte doch Möglichkeiten geben müssen, gemeinsam damit fertig zu werden. Hartmut ist einfach unerträglich, wenn er trauert. Er ist theatralisch. Pathetisch. Einmal hat er sich auf den Boden geworfen, sich Haare ausgerissen, sich Erde ins Gesicht gerieben und laut gekreischt. Er hat es ernst gemeint. Sein Schmerz ist so groß wie meiner. Vielleicht sogar größer. Aber die Art seines Umgangs mit dem Leid machte mich völlig fertig. Zwischendurch dann immer wieder diese Diskussionen. Wer schuld war, was man hätte anders machen können, warum ausgerechnet uns so etwas zustoßen musste, wie sich die Welt weiterdrehen kann. Ich muss mir eingestehen: Ich habe vieles gesagt, was ich schon bereute, als ich die Luft dafür holte, aber die Worte kamen einfach herausgeschossen. Ich konnte sie nicht aufhalten, und manchmal wollte ich es auch gar nicht. Ich wollte ihn trösten, aber ich konnte nicht. Ich wollte Trost, doch er konnte nicht. Manchmal wollte ich sogar, dass Hartmut und unsere Freunde leiden, aber meistens war mir alles nur zu viel. Es spielt keine Rolle, dass mich niemand trösten kann. Hartmut hätte es können müssen.

Ich habe unsere kleine Familie verlassen. Nun muss ich eben ertragen, dass ich sie vermisse.

Hier ist alles anders. Meine Mutter hat auch geweint, aber vor meinen Augen nur, als ich angekommen bin. Wenn sie traurig ist, stürzt sie sich in die Arbeit. Und mich direkt mit. Seit Monaten bekomme ich täglich einen Zettel mit Aufgaben. Natürlich nicht ohne jeden Morgen ein großes Theater darum zu veranstalten, dass ich all die Erledigungen und Handreichungen nicht machen müsse, dass sie es auch selbst erledigen könne oder es andere gebe, die das übernehmen würden. Vor allem den Pana. Ein ewiges Spielchen, das jedoch in Ordnung geht, denn so weckt sie für ein paar Minuten am Tag meinen Kampfgeist. Ich bin mir nie sicher, ob sie instinktiv ständig etwas sagt, was mich auf die Palme bringt, oder ob sie es ganz bewusst macht, um meinen Aktivitätsmodus einzuschalten. Sie ist beständig hibbelig, nervös, überdreht und betriebsam. Wie ein junges Rennpferd kurz vor dem ersten Start. Beim Rennen selbst ist sie dann ruhig, souverän und siegesbewusst. So war sie immer schon, meine Oma hat es mir bestätigt. Gut, morgens kommt meine Mutter schwer in die Gänge, aber sobald sie ihren Kaffee getrunken hat, läuft sie herum wie ein mageres, gesprächiges Duracell-Häschen.

Ihre Aufträge lassen mich die Tage überstehen, ohne viel nachzudenken. Oft sogar, ohne überhaupt geistig anwesend zu sein.

Als ich die ersten Male merkte, dass ich nicht wusste, wo die letzten Stunden geblieben waren, machte ich mir zwar Sorgen, hatte aber das Gefühl, dass ich das im Moment genauso brauchte. Ich habe mich daran gewöhnt. Trotzdem schaue ich immer nach, ob wirklich alles erledigt ist und ich zu meiner Zufriedenheit gearbeitet habe. Ich muss lächeln. Anstellen, Auftrag eingeben, laufen lassen. Ich bin ein Roboter. Kraftwerk lassen grüßen. Im Gegensatz zu einem Roboter spüre ich aber durchaus etwas und fühle mich nach so einem unbemerkt arbeitsamen Tag besser als am Morgen. Es ist ein bisschen, als würde mein Körper mit jeder Erledigung ein Stück Schmerz verarbeiten. Aber es geht nur sehr langsam, und ich merke, wie sich das Gefühl von Verlust aus einer anderen Ecke heranschleicht. Ich würde Hartmut gern einmal anrufen. Nur mal seine Stimme hören. Ich muss ja nichts sagen.

Meine Güte, das bin doch nicht ich! Ich bin Susanne, die Frau, die alles anpackt und alles hinbekommt. Geradeaus, schnell, gründlich. Kein Chichi, kein Gekreische. Ich rufe ihn jetzt an und sage hallo. Unsere Beziehung ist ja nicht beendet. Sie ist nur auf Eis gelegt. Also. Ich rufe ihn jetzt an.

Entschlossen gehe ich ins Ess-Büro und nehme das Telefon in die Hand. Mein Herz schlägt spürbar in jeder Zelle meines Körpers. Ich muss nur noch die Tasten drücken. Mein Finger strebt der Null zu, doch immer träger, als wäre ich in den Ereignishorizont eines schwarzen Lochs geraten. Angeblich vergeht die Zeit dort zwar einerseits, wird aber andererseits in die Unendlichkeit gedehnt. So genau kann das niemand wissen.

Dann ist der Moment vorbei. Ich lege den Hörer wieder sorgfältig hin, stelle den Stuhl vom Esstisch auf den Boden, nehme meine Bettdecke und gehe zurück ins Wohnzimmer. Die Werbung läuft noch. Ich schalte den Ton ein.

Als ich mir den Rest von Danni Lowinski ansehe und mich über den furchtbaren Vater ärgere, der seiner Tochter aus Verbitterung nur Ärger einbringt, während sie stets nachsichtig mit ihm ist, selbst wenn sie sich über seine Eskapaden aufregt, verändert sich der Geräuschpegel aus Mamas Kneipe. Die Musik wird schrittweise immer leiser, die Stimmen lauter. Das Brummen des Mannes ist immer öfter und immer stärker herauszuhören. Das ist deutlich anders als sonst. Ich frage mich, ob meine Mutter in Schwierigkeiten sein könnte, und lausche angestrengt, doch lange muss ich nicht lauschen. Den lauten Krach kann man nicht überhören. Es rumst und scheppert. Der Boden vibriert. Schreie quetschen sich durch das Gebälk. Hängt mein Schlüssel am Brett? Egal. Ich geh auch ohne. Aber er hängt am Brett. Nehmen, die Tür öffnen und schließen ist eins.

 

Ich reiße die Hintertür zur Küche auf und renne in den »Kölsche Klüngel«. Die Musik ist noch an. Leise, aber zur Untermalung reicht es. Menschen flattern wie gierige Tauben im Sommer auf der Domplatte um einen kleinen Berg Stoff. Stühle liegen auf dem Boden, das lange Bein eines Barhockers zeigt genau auf mich. Auf der Theke liegt ein blutdurchtränktes Küchentuch. Die Menschen rufen und murmeln. Zwischendrin stöhnen sie auch. Ich kann nicht erkennen, was da vor sich geht, und mache mich auf alles gefasst. Ich sehe schon die Express-Schlagzeile vor mir: Mob meuchelt Mutter. Mir wird übel.

»Susanne! Warum bist du denn hier unten?«

Ich drehe mich um und sehe direkt in die verwunderten Augen meiner Mutter. Aus den Regalen an den Wänden der Kneipe schauen mich die Gipsköpfe kölscher Prominenter an. Jean Pütz’ Kaiser-Wilhelm-Schnäuzer und das Doppelkinn von Willy Millowitsch wackeln nach, als sie sich langsam auf ihre übliche Position zurückbegeben. Willi Ostermanns ernst schmunzelnde Augen schauen bereits wieder in die Ferne.

»Dir ist nichts passiert!« Ich fasse meine Mutter an, um sicherzugehen. »Gott sei Dank! Was ist denn hier los, braucht da jemand Hilfe?«

»Ach nein, Liebes, mach dir mal keine Sorgen. Das war alles nur ein kleines Missgeschick. Halb so wild, aber wenn du schon mal hier unten bist, kannst du auf dem Rückweg nach oben auf der halben Etage die Poliertücher in die Waschküche bringen. Die Maschine ist schon halbvoll, du brauchst sie da nur einfach reinzustopfen. Und Waschpulver einfüllen. Die können auf 95°. Ach ja, in der Bütt davor liegen noch die Handtücher von heute Mittag, fällt mir gerade ein. Die wollte ich noch aufhängen. Nimm die doch einfach mit hoch und häng sie auf den Balkon. Der Wäscheständer steht zusammengeklappt an der Wand. Den müsstest du vorher nur noch kurz abwischen, damit kein Dreck an die frischen Tücher kommt. Susanne, hörst du mir zu?«

Ich blicke auf die menschlichen Tauben. Sie beruhigen sich langsam. Der Stoffhaufen entpuppt sich als ein Mann mit weißen Haaren.

»Jeck loss Jeck elans!«, sagt er mit einem breiten Grinsen in die Runde.

»Do bes ävver och ene Jeck, Rick!« Ein großer Mann mit Bauch hilft ihm auf.

»Sulang mer noch laache künne!«

Freundliche kölsche Sprüche. Als wenn es immer so einfach wäre. Immer Toleranz und Respekt, die Narren untereinander. Dann noch lachen, schunkeln und einen mittrinken, und die Welt ist wieder in Ordnung. In Köln gibt es nie Probleme. In meiner Stirn graben sich Gebirgsfalten ein. Ich taste nach dem Diamanten.

Das blutdurchtränkte Geschirrtuch auf dem Tresen irritiert mich. Ich gehe darauf zu und rieche in zwei Schritt Entfernung schon den Alkohol, den die blauen Karos auf weißem Grund ausdünsten. Hinter der Theke neben der Spüle liegt ein Flaschenhals mit Schraubverschluss, vor der Theke sehe ich nun auch den zerborstenen Boden und weitere Glasscherben.

»Der Rick wollte nur für Ruhe sorgen, als er auf den Stuhl gestiegen ist. Ich hatte gerade für die Trude den Crème de Cassis vom Regal genommen, als Rick die Probleme mit dem Übergewicht bekommen hat.«

»Du meinst Gleichgewicht.«

»Der hat sein Gewicht über den Punkt gebracht, an dem er es noch selbst halten konnte. Er hat also Probleme mit dem Übergewicht bekommen!« Meine Mutter bleibt in völliger Übereinstimmung mit kölscher Logik. »Irgendwie hat er meine Flasche gepackt, die ich gerade abstellen wollte. Den Rest kannst du dir denken. Ach, da liegt ja noch ein Tuch. Das kannst du auch gleich mitnehmen.« Sie greift das Geschirrtuch und schmeißt es in die Kiste neben dem Küchendurchgang, in der bereits ein größerer Haufen likördurchtränkter Handtücher liegt. Ich frage mich, wie meine Mutter es schafft, einen Liter klebrigen Crème de Cassis wegzuwischen, während alle anderen Menschen sich aufgeregt um den Verursacher des Schadens scharen, der am Boden liegt.

»Hättest du nicht erst mal ihm helfen sollen?« Ich zeige auf Rick, der inzwischen breitbeinig auf dem Stuhl sitzt, von dem er gestürzt war.

»Ach was. Ich hab doch gesehen, dass ihm nichts passiert ist. Das gibt nicht mal einen blauen Fleck. Sein Pegel ist schon hoch genug.« Sie steht vollkommen gelassen vor mir, Handfeger und Schaufel in den Händen. Auf der Schaufel liegen bereits sämtliche Glassplitter – auch der Hals mit dem Schraubverschluss. Als sich die letzten Gäste langsam an den großen Stammtisch setzen und ich noch immer am Rand der Theke stehe, hat meine Mutter bereits einmal durchgewischt, die Theke beidseitig gereinigt, eine neue Crème-de-Cassis-Flasche nach oben geholt, für Trude den in der Flasche fast schwarz wirkenden Likör mit Sekt so blutrot aufgegossen, wie er auf den Küchentüchern aussieht, das Glas samt fünf frisch gezapften Kölsch an den Tisch gebracht, ein traditionelles Sieben-Minuten-Pils für den großen Mann angezapft und steht nun Gläser polierend hinter dem Tresen. Sie hat alles im Blick und alles im Griff.

Einen Augenblick lang hört man nur ein paar Takte aus den Boxen. Meine Mutter nutzt die Chance.

»Alsu, ehr Leevche, ehr hatt üch jetz widder beruhig«, stellt sie kategorisch fest. Wer sich jetzt noch nicht beruhigt haben sollte, weiß zumindest, dass das nun seine Pflicht ist. Eine weitere folgt sofort: »Ehr wesst jo, wenn ene Nichraucher hee eren kütt, müsst ehr üür Sargnähl usmaache oder drusse wigger flöppe. Usserdäm müsse de Finstere op.«

Die Gäste befolgen die Anweisungen prompt. Die Fenster werden aufgerissen, zwei Menschen gehen nach draußen, und der Rest macht die Zigaretten augenblicklich aus. Meine Mutter raucht schon seit Jahren nicht mehr. Sie bekommt schmale Augen und schimpft mit den Leuten, die mit dem letzten Zigarettenzug in einen Aufzug oder in die Straßenbahn steigen, um dort ihren Qualm auszuatmen. Kann ich verstehen. Finde ich auch ekelhaft. Wenn sich jemand ein Nervengift zuführen will, soll er das gern tun – aber wenn er es auch mir aufzwingt, dann werde ich sauer. Meine Mutter hat ihre Kneipe deswegen auch nicht als Raucherclub angemeldet, aber gemäß der übertoleranten kölschen Art lässt sie es zu, dass ihre Gäste in ihrem Laden rauchen, solange es niemanden stört.

Mir fällt auf, dass ich schon viele Jahre nicht mehr während der Öffnungszeiten in der Wirtschaft war. Ich weiß nun auch wieder, warum.

Fast alle scheinen zu rauchen. Luft gibt es in dem Laden nur selten.

Dabei ist der »Kölsche Klüngel« eine hübsche kleine Kneipe. Auf eine alte Art typisch kölsch, mit holzgetäfelter Theke, an der unten der Stahl des klassischen Fußlaufs glänzt. Hinter der Theke stehen Holzschränke mit Glastürchen und dezenten Spiegelflächen, in denen blankpolierte Gläser und die Spirituosen auf ihren Einsatz warten.

Auf der großen, holzgerahmten Naturschieferplatte neben der Theke werden Speisen angeboten. Die Buchstaben eilen geordnet über die Tafel. So kann nur meine Mutter schreiben. Ich brauche lediglich an diese Tafel zu denken, und ganze Seen bilden sich in meinem Mundraum. Schuld daran ist der Eintrag für montags: frische »Rievkoche« mit Apfelmus. Aus grobgeraspelten Kartoffeln gemacht und in viel frischem, heißem Fett ausgebacken. Die Komposition der Zutaten muss ebenso perfekt sein wie die Temperatur des Fettes. Viele bekommen das nicht hin und bieten beim Verkauf der Reibekuchen neben der Serviette auch gleich Talcid oder Rennie an. Ein Zusatzgeschäft, auf das meine Mutter gern verzichtet. Sie hat lieber fast zwei Jahre lang nach einer Köchin gesucht, die die Reibekuchen exakt so macht, wie meine Mutter es will.

»Hee häste ding Pils, Jupp«, sagt meine Mutter zu dem großen Mann. Er nickt und entgegnet: »Do bis en ech Leevche, Hildche!«

An der Wand hinter ihm hängen kunstvolle, kleinmütige Karnevalsorden. So langsam trauen sie sich nach der Aufregung wieder aus ihrem Versteck hinter einer altmodischen Sparkästchenbox heraus. Trotz Finanzkrise und Online-Banking sind stets alle Kästchen der Box vergeben, und es gibt eine lange Warteliste von Leuten, die gern zum inneren Kreis des »Kölsche Klüngel« gehören würden.

»Ich weiß jetz nit, ov ehr ming Doochter kennt«, sagt meine Mutter in die Runde. Oh, ich bin also der Grund. Meinetwegen müssen alle für frische Luft sorgen. Die likörgeschwängerte Luft stinkt trotz der offenen Fenster immer noch mehr nach Tabakqualm als nach Alkohol. »Dat es et Susanne«, stellt mich meine Mutter der Runde vor.

Alle schauen mich an. Auf den Gesichtern breitet sich Strahlen aus. Rick steht auf, spreizt seine Arme ab, streckt seinen Brustkorb vor und schreitet mit so breiten Schritten auf mich zu, wie man sie sonst bestenfalls in einer Karikatur eines dickbäuchigen Mannes vermuten würde. Seine Augäpfel gleiten langsam unabhängig voneinander in unterschiedliche Winkel. Ein Tropfen Sabber klebt an seinem Mundwinkel. Er hat wirklich schon genug.

»Dat Susannchen! Leck mich en de Täsch, wat för e lecker Mädche!«

Ehe ich mich verdrücken kann, hat er mich fest umschlungen und drückt mir links und rechts nasse Küsse auf die Wange. »Esu, un jetz bütz do mich ens«, hält er mir seine angespitzten Lippen hin.

Ich freue mich ja über das Kompliment, obwohl praktisch kaum eine Frau so schlecht aussehen kann, als dass ein Kölner sie nicht als »lecker« bezeichnen würde, aber diese Knutscherei ist mir dann doch zu viel. Ich biege meinen Rücken zurück und will mich aus der Umklammerung winden, als meine Mutter neben Rick auftaucht, ihm den Arm um die Schultern legt und ihn wegführt. Sie zwinkert mir zu, und ich atme aus.

Rick fängt an, ein Lied zu schmettern. Es klingt wie ein kölscher Karnevalsschlager auf Englisch. Die Melodie kommt mir bekannt vor, und unter den lauten und schrägen Tönen entdecke ich »Suzanne« von Leonard Cohen.

»Das ist der Rick. Du weißt schon, Rick Muller«, erklärt meine Mutter.

Ich weiß tatsächlich. Rick war mal ein Schlagerstar in Deutschland. Noch heute verkaufen sich seine Platten und seine Produktionen, aber die größten Erfolge sind Jahrzehnte her.

»Un ich ben et Trude, ävver mer kenne uns jo ald«, donnert eine kleine pummelige Frau mit kurzen dunklen Haaren vom Tisch her und hebt dabei kurz ihr Glas mit der rotglänzenden Crème-de-Cassis-Sekt-Mischung hoch. Sie lacht mich mit ihrem ganzen Körper an. Auch die anderen Gäste prosten mir zu.

Ich gehe zum Tisch, klopfe auf die Platte, sage: »Ich mache dann mal so«, und setze mich auf den nächsten freien Stuhl.