Wandelgermanen - Oliver Uschmann - E-Book

Wandelgermanen E-Book

Oliver Uschmann

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Beschreibung

Wir sind Waldmeister! »Dieser dritte Uschmann ist sein bisher bester!« WAZ »Zum Brüllen komisch.« Bild »Der Weltverbesserer und sein Kumpel: ein unschlagbares Duo.« WDR »Extrem lustig und intelligent.« KulturSPIEGEL »Das Nicht-Kennen bestimmter Bücher bezeichnet man als Bildungslücke. Wer noch nichts von den Hartmut-und-ich-Romanen Oliver Uschmanns gehört hat, hat auch eine Lücke. Eine Humor-Lücke.« meier, das stadtmagazin

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Seitenzahl: 480

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Oliver Uschmann

Wandelgermanen

Hartmut und ich stehen im Wald

Roman

Fischer e-books

Roman

»Der Mann muß mäßig weise sein, Doch nicht allzu weise. Des Weisen Herz erheitert sich selten, Wenn er zu weise wird.«

Des »Hohen Lied« (1. Teil) 54. Strophe. Aus dem Hávamál, 6. Götterlied der älteren Edda.

»Wenig Arbeit ist eine Illusion.«

Sylvia Witt

PROLOG

Es rauscht.

Hartmut und ich stehen vor einer riesigen Wand aus schmierigem Beton, die aus dem Boden des Gartens wächst. Das ist also das Ende, denke ich. Das Ende des Gartens. Ich denke an Truman, wie er seiner Show mit dem Schiff entkommt und mitten auf dem Meer gegen die weiße Wand stößt.

»Meine Mutter hat hier alles angepflanzt«, sagt Herr Fleige und deutet nach rechts zur riesigen Brachfläche, die einst ein Gemüsebeet war. Hinter der Betonwand dröhnt der Frachtund Privatverkehr der A44. Biogemüse.

»750 Quadratmeter Garten, und dann enden sie an der A44«, sagt Hartmut leise, als wir hinter Herrn Fleige zum Haus zurückgehen. Der Mann hat schulterlange Haare im Beigeweiß alter Bestrahlungsgeräte beim Kinderarzt. Eine weite Cordhose klammert sich an seine schmalen Hüften.

»Was kommt noch? Ein Hauseingang direkt auf einem Rollfeld?« Hartmut schnauft. Ein Härchen hängt ihm aus der Nase. Herr Fleige öffnet die Tür zum schwarz angekrusteten Wintergarten, durch den es ins Haus geht. Wir steigen über Apfelsinenkisten mit alten Ausgaben von Spiegel, GEO und taz; an der Wand hängt ein Bild von Bob Dylan.

Wie sollte ich Hartmut beruhigen? Es ist das 17. Haus, das wir anschauen, und eigentlich dürfte uns nichts mehr überraschen. Provozierend ist nur, wie sich die Mängel bei jeder Besichtigung mehr nach hinten verschieben. Bellten uns die ersten Häuser schon beim Betreten des Flurs ihre Untauglichkeit entgegen, läuft man jetzt mit einem heruntergekommenen 68er durch das Haus seiner Eltern, redet sich die Glasbausteine im Treppenhaus schön, freundet sich mit der Menge der Räume an und springt beim Anblick eines 750-qm-Gartens fast in die Luft, bis die A44 am Ende des parkähnlichen Anwesens alle Träume zunichte macht.

»Sie hätten es gleich sagen können«, sagt Hartmut, der geladen ist und den von Herrn Fleige offerierten Kaffee auf dem angesplitterten Sideboard der Küche beiseite schiebt. Der Mann sieht ihn mit glasigen Augen an und schweigt.

»Sie hätten uns nicht erst durchs Haus führen brauchen. Einfach sagen: ›Ach ja, da ist noch eine der meistbefahrenen Autobahnen der Nation hinter dem Garten, falls Ihnen das nichts ausmacht‹, und wir wären ganz schnell weggewesen. Ganz schnell!« Hartmut betont das »ganz schnell« wie ein westfälischer Heizungsinstallateur, der gleich ausrastet. Hartmut ist gereizt. In seiner Hosentasche steckt die Liste mit Merkmalen, die unser zukünftiges Zuhause haben muss. Eine Werkstatt für Susanne, ein Atelier für Caterina, helle Räume, großer Garten, freistehend, ruhig, grün, der Eingang nicht auf eine Straße zeigend. Kein Gas, kein Flachdach und keine dunklen Fliesen. Mindestens drei Extraräume neben Wohnzimmer und Küche. Garage, Terrasse, Land. Unsere Frauen sind nicht anspruchslos. Aber sie haben recht. »Was Sie suchen, müssen Sie sich erst noch backen«, sagte der Makler, dem Hartmut gekündigt hat. Herr Fleige sagt nichts.

»Stand bei Jefferson Airplane irgendwas von Betrug? Von Lüge? Ist Jim Morrison dafür gestorben? Dass sie uns zwei Stunden unseres Lebens stehlen, statt direkt zu sagen, dass die A44 durch das Gemüsebeet geht?«

»Hartmut«, sage ich und drücke ihn sanft an der Schulter aus der Küche zur Haustür. »Die internationale Solidarität der Völker«, schimpft er weiter, während ich ihn vorwärtsschiebe. »Joan Baez würde ihre Mieter nicht verarschen.« Herr Fleige steht in der Tür seiner alten Küche und erwidert nichts. Die Anziehungskraft der Teilchen hält ihn noch eben zusammen, während sich die Ordnung im Haus schon längst aufgelöst hat. Schwach hebt er die Hand zur Verabschiedung. Als wir die Straße betreten, rauscht die A 44.

 

Es gibt viele kleine Orte in Deutschland.

Hartmut und ich lernen sie kennen.

Dort, wo der Keller Pilzbefall hatte, wächst der einzige Bahnsteig brüchig mit dem Parkplatz einer Kneipe zusammen, in der Kurve neben dem Fahrkartenautomaten reichen sie sich die Asphaltfinger, Unkraut zwischen den Schwimmhäutchen.

Dort, wo das Haus am Hang stand und die Sicht zu allen Seiten von Berg, Baum und Nachbar beschränkt wurde, steht eine Ski-Schanze im Wald, mitten in Deutschland, ohne Werbepause.

Dort, wo es keinen Keller gab und das Schlafzimmer bereits in die Garage gebaut wurde, löste das Stadtviertel in Hartmut Depressionen aus, weil es kein Stadtviertel war, sondern bloß ein Streifen bebautes Grün hinter einer Reparaturzentrale für Feuerwehrbedarf.

Und dort, wo die freistehenden Häuser in Wirklichkeit Doppelhaushälften waren, nun, da gab es nichts. Die Makler fuhren Smart und die Familien standen vorm Schlecker.

Aber das Haus, das wir heute anschauen, das muss es sein. Wir spüren es ...

 

»Ein toller Ausblick, oder?«, sagt Herr Hades und streckt demonstrativ seine Nase in Richtung der Felder, um auch die olfaktorische Qualität des Ortes zu unterstreichen. Während er einatmet, schlottern seine Nasenflügel. Dann zieht er wieder an der Zigarette, und ein wenig blauer Dunst bleibt in seinem Schnurrbart hängen. Frau Hades steht in der Tür zur Terrasse, hat einen verschwommenen Blick und spielt mit dem Fuß an einer Häkeldecke herum, mit der sie einen Bügeleisenabdruck auf dem Teppich verdeckt hat. Der Abdruck ist von den Vormietern. Hartmut lächelt, als er über das Feld blickt.

»Dagmar und ich haben hier wirklich gerne gewohnt«, sagt Herr Hades, dreht sich zu seiner Frau und legt behutsam den Arm um sie, bis sie leise zu zittern beginnt. »Glauben Sie uns, es fällt uns schwer, das alles hinter uns zu lassen. Sehr schwer.« Herr Hades bewegt bedeutungsschwanger seinen Schnurrbart auf und ab, seine Frau schluchzt laut auf und bestätigt: »Ja, sehr schwer ...« Dann gluckert sie komisch und holt sich ein Taschentuch.

Seit zwei Stunden sind wir jetzt schon hier und wissen alles über Herrn Hades’ Exportgeschäft, die Zukunftspläne seiner Tochter und die Nachbarschaft in dem kleinen Ort, auf dessen Boden wir stehen und der vielleicht bald unser Ort sein kann. Das Haus ist fast perfekt, erfüllt sagenhafte 80% unserer Optimalliste und liegt inmitten von kleinen Feldern und Einfamilienhäusern, die voneinander Abstand halten und sich Luft zum Atmen lassen. Das Schlafzimmer im Obergeschoss wäre ein prima Atelier, die Doppelgarage kann sich Susanne zur Werkstatt ausbauen, und was das Beste ist: Wir können eine Menge übernehmen. Die Küche zum Beispiel. Können, hat Herr Hades gesagt. Können.

Wenig später sitzen wir an Herrn Hades’ Esstisch zwischen einer alten Jukebox und dem Tennisschläger, mit dem er die Westfalen Open gewann, und hören ihn sagen: »Also, 8000 Euro für die Küche, die Markise und all das andere Zeug, sind wir uns da einig?« Hartmut, der in den letzten Stunden etwas müde geredet wurde, hebt den Kopf. »Das können wir ja dann machen, wenn wir den Mietvertrag unterschrieben haben.« Herr Hades stockt, sieht zu seiner Frau, atmet einmal tief ein, nimmt einen Zug von der Zigarette und sieht Hartmut – den Qualm ausblasend – an. Sein Schnurrbart wölbt sich ein wenig, er wirkt wie ein Mafiamensch der mittleren Stufe, der aber auch alles zehn Mal erklären muss.

»Ich glaube, Sie haben mich nicht ganz verstanden«, sagt er. »Die Küche müssen wir hierlassen, das war die Bedingung.«

Hartmut sieht Hades an.

Hades atmet.

Seine Frau steht in der Tür und hat schon wieder Wasser in den Augen.

»Ich denke nicht, dass es mit dem deutschen Mietrecht vereinbar ist, wenn Vermieter den geeigneten Kandidaten danach aussuchen, ob er dem Vormieter für 8000 Euro die Küche abkauft«, sagt Hartmut.

Herr Hades holt nochmal Luft: »Es ist nicht nur die Küche. Es ist die Küche, die Markise, die Faltstores, die Treppenhausbeleuchtung ...«

Faltstores sind kleine Rollos aus Papier, die innen am Fenster hängen und die man wie eine Ziehharmonika nach oben und unten auseinander ziehen kann. Sie wirken wie Origami und sammeln viel Staub. Die Treppenhausbeleuchtung besteht aus zwei Strippen mit Halogenlampenärmchen, die sich vom Dach bis zum Keller ziehen. Die Strippen sind mit transparentem Plastik umhüllt, das klebrig ist, wenn man es heimlich anfasst. Das Plastik sammelt viel Staub. Hartmut sagt nichts, und Hades sieht ihn durchdringend an.

»Nicht, dass Sie sich beim Vermieter melden, sobald Sie hier die Tür heraus sind. Mit dem Vermieter ist das alles abgesprochen, der ist auf unserer Seite.«

Hartmut sieht Hades an, als hätte er ihm die letzten Illusionen über die Menschheit geraubt. Seine Koteletten und Hades’ Schnauzer bewegen sich leise auf und ab; ich stelle mir vor, wie sie noch zwei Sekunden warten und sich dann in einem gnadenlosen Kampf ineinander verhaken, bis nur noch einer übrig ist.

»Sie sagen mir, dass die 8000 Euro die Eintrittskarte in dieses Haus sind?«

Herr Hades nickt.

»Und es gibt keine andere?«

Herr Hades schüttelt den Kopf.

Hartmut steht auf.

»Hartmut«, sage ich, doch er ist schon im Flur und nimmt sich seine Jacke. »Jetzt warte doch, das Haus ist super, 80%, lass uns doch nicht ...«

Doch Hartmut sieht mich nur streng an und zeigt mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf meine Schuhe, die neben einer antiken Truhe stehen. Ich ziehe sie an und schnaufe. Vielleicht ist es ein Bluff. Vielleicht hofft er, Herrn Hades weichzukriegen. Doch da hofft er falsch. Hades steht in der Tür zum Wohnzimmer, den Kopf am Rahmen, und zieht an der Zigarette.

»Ich dachte, wir wären uns einig«, sagt er. Dagmar schluchzt. »Es fällt uns schwer, hier wegzugehen. Da werden wir sicher nichts verschenken.«

Hartmut sieht noch einmal auf, atmet höhnisch aus wie eine Frau, die zum zehnten Mal von ihrem Mann enttäuscht wurde, und öffnet die Tür. Draußen fährt ein junger Mann in einem alten Renault vor, dem bereits viele Haare ausfallen. »Ah, der Schriftsteller!«, ruft ihm Herr Hades demonstrativ erfreut entgegen, als wären wir schon nicht mehr da. Wir geben ihm die Klinke in die Hand.

 

Als wir aufhören zu suchen, kommt das Haus.

Besser: Es kommt Geschrei aus Hartmuts Zimmer, der vor dem Computer hockt und uns zu sich ruft, die vergrößerten Portraits eines Fachwerkhauses vor Augen, um dessen kleine Fenster sich ein Gartenzaun und Birnbaumäste ranken. Ein Vogel ist auf dem Bild zu sehen, ein Waldrand in der Ferne. Keine Nachbarn. Susanne, Caterina und ich stehen hinter Hartmut, dessen Schreibtischstuhl knackt. Hartmut drückt die Maus, ein eBay-Bildschirm tritt hervor. Da ist das Haus wieder in kleiner, daneben eine Summe. Auktion gewonnen. Für 8000 Euro.

»Woanders kriegt man dafür nur eine Küche und ein paar stinkende Faltstores«, lacht er, und es steckt ein Hauch von Kinski in diesem Lachen. Wir lesen die Daten. 350 Quadratmeter, großer Garten, Scheune zur Nutzung. »Die Scheune bauen wir als Atelier aus«, sagt Hartmut. »Und als Werkstatt. Und schaut mal hier!« Hartmut klickt auf eine Übersichtskarte. Man sieht einen grauen Fleck und ein paar schmale Wege. »Ein paar Nachbarn, ja. Aber das war’s dann. Seht ihr, hier? Land! Alles Land!« Hartmut fährt mit dem Finger über den Bildschirm, über all die Fläche um die schmalen Wege herum. »Land!«

Wir wissen nicht, was wir sagen sollen.

Hartmut hätte uns fragen können. Hartmut hätte uns rufen können. Wahrscheinlich hat er die Auktion drei Minuten vor dem Ende entdeckt. Hartmut hat ein Haus gekauft. Für 8000 Euro. Spontan. Wir sagen nichts. Dann sagt Caterina leise: »Land ...«, und streichelt über den Bildschirm, als sei alles gut. »Du bist verrückt!«, sagt Susanne, aber es klingt wie: »Endlich ist die Suche vorbei!« Aus dem Augenwinkel sehe ich in ihr Zimmer, in dem noch immer der LKW in der Wand steckt. Die Statiker hatten errechnet, dass das Haus anders nicht mehr halten würde, und Kirsten, Pia und Frank zogen sofort aus. Man kann es ihnen nicht verdenken, wer oben wohnt, kann auch tief fallen. Hans-Dieter ging nach wenigen Tagen, er hatte einen Anbau bei seiner Tante Hede gefunden. Uns vieren erlaubte das Amt nach zähen Verhandlungen, noch acht Wochen zu bleiben. Hätten wir bis dahin kein neues Heim gefunden, müssten wir uns eben vorläufig mit den Notunterkünften der Stadt zufriedengeben. Acht Wochen. Zwei sind noch über. Hartmut hat ein Haus gekauft.

1

Jetzt ist es also so weit.

Ich sitze am Steuer des riesigen VW-Transporters und konzentriere mich auf die Musik im Kassettenrekorder, um nicht allzu sentimental zu werden, wenn wir gleich um die Ecke biegen und unser altes Zuhause für immer im Rückspiegel verschwindet. Caterina hat Sublime aufgelegt, leger wippende Sommermusik von kalifornischen Kiffern, die mir das Gefühl geben soll, hier und jetzt bloß in den Urlaub zu fahren und nicht etwa auszuziehen. Soeben trägt sie mit Susanne einen Korbsessel aus der Tür, das letzte Utensil, das verladen werden muss. Yannick sitzt in seinem Körbchen zwischen den Sitzen des Busses, miaut, klettert hinaus und schaut der letzten Verladung zu, die Pfoten auf dem Türrahmen. Irmtraud haben wir ein paar Blätter Salat und Stroh in einem Obstkarton zurechtgemacht; man sieht nur ihren Panzer, als wäre sie aus ihm ausgezogen. Als wir hier eingezogen sind, waren wir zwei Männer mit Job bzw. Studium. Jetzt sind wir zwei Männer mit Hausrat, Frauen, Kater und Schildkröte. Wir ziehen aufs Land. Hartmut hat seine Abschlussarbeit in Philosophie geschrieben und will uns mit seiner Online-Lebensberatung ernähren, ich habe bei UPS gekündigt. Es ist mir schwergefallen, die Handschuhe ein letztes Mal abzulegen. Jetzt werde ich Hausmann und Gärtner, wahrscheinlich. Ich weiß es noch nicht, mal sehen. Wir ziehen aufs Land. Es rumpelt, als die Frauen den Korbsessel in den Laderaum schmeißen. Bis zum Schluss stand er im leer geräumten Wohnzimmer, als wir am letzten Abend noch einmal Trash-Reportagen sahen und dabei Pommes Spezial aßen.

Wie beim Einzug, nur eben zu viert und mit einer neuen WG vor Augen, einer WG ohne Durchgangsbad und mit Frauen. Einer WG weit, sehr weit weg vom Ruhrgebiet.

 

»So«, sagt Caterina und schließt tatkräftig lächelnd die Tür des Busses. »Alles fertig. Es kann losgehen. Alles in Ordnung bei dir?« Es ist niedlich, wie sie das sagt. Sie legt ihre Hand auf mein Bein und macht ihren süßen Mädchenblick, der schwach und stark zugleich ist, weil sie ja weiß, was sie tut, und mir diesen Blick zum Geschenk macht, der mich seufzen und sie umarmen lässt, als hätte ich sie nicht verdient und müsste mich vergewissern, dass sie wirklich da ist. So weit ist es gekommen. Noch vor vier Monaten war mein intensivstes Verhältnis zu einer Frau das zu Jill Valentine, der weiblichen Heldin aus Resident Evil, die ich durch sämtliche Playstation-Abenteuer begleitete und der ich selbst im Kampf gegen den schrecklichen Nemesis beistand. Man wächst zusammen, wenn man so was durchsteht. Ich schluchze, umarme Caterina, seufze: »Hach, das gute alte Haus«, und denke an alles, was wir hier erlebt haben. Die Verdunkelung zum Advent. Der Stromausfall. All die Akademiker, die wir da drin dequalifizierten. Hartmut klopft an das Fenster und gibt Zeichen, dass wir starten können. Hinter uns lässt Susanne bereits den zweiten Transporter an. Ich nicke, und für einen Moment sehen Hartmut und ich uns durch die Scheibe in die Augen wie zwei, die sich in einer Sekunde an ein ganzes gemeinsames Leben erinnern. Dann lasse ich den Motor an, ruckele los, sehe die Silhouetten der Pommes-Veteranen hinter der Scheibe und winke Herrn Häußler, der im Vorgarten steht und recht erleichtert wirkt. Kaum, dass wir auf die Markstraße eingebogen sind, klopft mein Herz schneller. Wir fahren zu einem Haus, das wir nie zuvor gesehen haben, in einem Ort, der so klein ist, dass er keine Straßennamen hat. Mehr wissen wir nicht, hatten keine Zeit, groß nachzuschlagen, weil wir packen und unsere Angelegenheiten regeln mussten und vielleicht auch, weil wir es spannend finden, überrascht zu werden. Es ist wie bei einem Adventure auf der Playstation. Wie bei Azure Dreams, dem Spiel, bei dem Caterina mich das erste Mal küsste. Ich stelle mir vor, dass unser Dorf so aussehen wird wie in unserem Spiel. Ich höre Summen und Zirpen. Ich lächle. Dann merke ich, dass unser Haus längst im Rückspiegel verschwunden ist. Ich habe vergessen, noch einmal hinzusehen. Caterina dreht Sublime lauter, öffnet zischend eine Proviantwasserflasche und pfeift. Wir haben 422 Kilometer vor uns. Das Land wartet.

 

Hartmut sitzt in meinem Rückspiegel und macht Faxen. Man sieht ihm an, wie glücklich er ist, mit Susanne auf dem Beifahrersitz im Bus hinter uns, und ich kann es nachempfinden, wenn ich zu Caterina rüberschiele, die sich tatsächlich auf diese Sache eingelassen hat. Nicht mal vier Monate kennt sie mich, als Kundin kam sie in Hartmuts Institut zur Dequalifikation und sollte von der Künstlerin zur Anstreicherin umgeschult werden. Jetzt sitzt sie mit mir in diesem Transporter und fährt einer ungewissen Zukunft entgegen, in ein Haus für 8000 Euro. Ich denke an das Gartenfest, das wir zum Abschied veranstaltet hatten, und an unser eigenes Gartenfest, das ihm folgte, unter sternenklarem, warmem Himmel. Ich bin froh, dass wir den Abriss nicht erleben müssen.

 

»Denkst du an deine Wanne?«, fragt Caterina jetzt und holt mich in die Gegenwart zurück. Ich fahre einen Sechs-Meter-Transporter. Ich bin auf der Autobahn. Yannick sitzt zwischen uns im Körbchen und miaut. Irmtraut rührt sich nicht. Meine Wanne ... Ich lächle. »Du bekommst deine Wanne und ich mein Atelier«, sagt Caterina, und ein bisschen klingt es auch wie eine Selbstvergewisserung. Immerhin haben wir das Haus nie gesehen. Niemand hat es je gesehen, nicht mal Hartmut. Ich sitze mit meiner Freundin, unserem Kater, unserer Schildkröte und meinem gesamten Hab und Gut in einem Miettransporter und fahre zu einem Haus, das ich noch nie gesehen habe. Ein Haus, das per Mausklick von einem Mann gekauft wurde, der bereits intellektuell wohlbegründet einen Radfahrer mit einer Closeline vom Sattel gerammt, der Nachbarschaft Strom und Wasser gekappt, Frauenbinden getragen und eine Kugelschreiberzusammenschraubbetrugsenthüllungsaktion gestartet hat. Ich vertraue Hartmut. Wir alle vertrauen Hartmut. Caterina freut sich auf eine neue, größere Scheune als Atelier. Susanne freut sich auf das Renovieren. Ich freue mich darauf, auf dem Land zu leben. Yannick auf echte Mäuse. Irmtraut auf selbstgezogenen Biosalat. Wir vertrauen Hartmut. Caterina streichelt mir die Wange und sieht mich am Steuer des Busses an wie einen Schiffskapitän. Hartmut macht immer noch Faxen im Bus hinter uns.

 

Als wir die erste Rast machen, sind wir schon fast da. Nur noch 60 Kilometer liegen vor uns. Wenn Hartmut und ich uns eine Gewohnheit teilen, dann ist es die Verbissenheit, so viel wie möglich zu schaffen, bevor man sich eine Pause gönnt. Gut, ich würde mir niemals wie Hartmut so viele E-Mail-Beratungskunden anlachen, dass ich bis in den frühen Morgen tippen muss, aber am Fließband zeigt sich mein sportlicher Ehrgeiz. Ich lasse niemals nach, bis das letzte Paket vom Band ist. Mein Kollege Martin und ich machten einen regelrechten Wettbewerb daraus, wie Legolas und Gimli in Herr der Ringe. Ich werde Martin vermissen. Ich werde die einfache Arbeit vermissen. Dort, wo wir hingehen, gibt es kein UPS. Der Ort heißt Großbärenweiler, und sieht man ihn auf dem Luftbild, fragt man sich, wie Kleinbärenweiler aussehen soll. Hartmut glaubt, dass sein Beratungsdienst uns alle vier ernähren kann, wenn die Miete wegfällt und wir das Gemüse im Garten anpflanzen. Ich freue mich auf die Gartenarbeit. Aber ich werde vermissen, wie Martin und ich uns den Schweiß von den Muskeln wischen, das Fließband anhält und draußen das kalte Bier wartet, das er mit den Zähnen aufbeißt.

Der Rasthof, auf den wir einbiegen, liegt etwas abseits der Autobahn, man fährt ein Stück über schmale Straßen, Nadeln von riesigen Tannen rieseln auf die Transporter, und wenn man aussteigt, riecht es nach Wald. Die Raststätte ist dekoriert wie ein Landhaus, zahlreiche Autos stehen davor. Caterina steigt aus dem Bus, reckt sich und blickt in die Ferne. Ich folge ihrem Blick. Der Horizont ist von Bergen begrenzt, an deren Hängen wenige Lichtungen den dichten Wald unterbrechen. Es ist das Bild meiner Kindheit auf der Rückbank der Eltern, wenn man sich vorstellte, man dürfe diese tiefen Wälder dort oben querfeldein durchwandern, ihre Geheimnisse erkunden, ihre Rinden riechen. Sie haben etwas Gruseliges, diese Hänge. Bis heute. Hartmut und Susanne schlagen die Tür ihres Transporters zu und lächeln wie stolze Trucker, die schon eine große Strecke geschafft haben. Wir nehmen das Körbchen samt Yannick und klopfen an Irmtrauts Panzer, die die Nase rausstreckt und gleich den Kopf wieder einzieht. Wir lassen sie im Auto und gehen zum Restaurant.

So müssen Rasthöfe aussehen. Schmutzig weiße Tischdecken, Zahnstocher, tiefe Sitzecken, dunkles Holz. In der Ecke eine kleine Bar, an der sich die Eingeborenen des Dorfes tummeln, das im Schatten der Autobahn in den Wäldern liegt. Aus den Boxen perlt leise Roger Whittaker und verteilt sich ölig über die mit Bierglasrändern verklebte Theke. »Albany, hoch in den Bergen von Norton Green«, singt er, »Albany, in deinen Mauern war ich einst zuhaus.« Das Essen wartet hinter schmierigem Glas, und als Caterina und Hartmut vor der Auslage stehen, verfinstern sich ihre Blicke. Meine Freundin und mein Mitbewohner sind Vegetarier, und es macht mir ein wenig Sorge, dass das Untierischste, was hier feilgeboten wird, matschiger Kartoffelsalat ist, in dessen Mayonnaise-Sumpf sich durchaus noch fleischliche Überraschungen verbergen könnten. Susanne und ich haben uns bis heute nicht ganz von der Mörderei lösen können. Vielleicht liegt es daran, dass Susanne sich perfekt im Baumarkt auskennt und ich ein Malocher bin. Vielleicht glauben wir, nur philosophisch studierte Lebensberater und freie Künstlerinnen sollten Vegetarier sein. Vielleicht reden wir uns aber auch einfach nur ein, dass die Schnitzel ja ohnehin schon fertig daliegen und es nichts mehr ausmacht, ob wir sie nun kaufen oder ob sie weggeworfen werden. Dennoch halten wir uns zurück. Wenn unsere Lieben im ersten Rasthof unserer neuen Heimatgegend keine Hauptmahlzeit bekommen, werden wir uns auch das Jägerschnitzel verkneifen. Man will ja kein schlechtes Klima auf der Weiterfahrt. Wir bestellen eine sechsfache Pommes für alle, Orangensaft und vier Mal Schwarzwälder Kirschtorte. Yannick kriegt eine kleine Wurst. Yannick benimmt sich kulinarisch eher wie ein Hund als ein Kater. Als wir unsere riesige Pommesschüssel in die Sitzecke tragen, sehe ich, wie einer der alten Männer an der Bar seinen Kumpel antippt und zu uns rüberzeigt. Er hat einen Flaum auf der Oberlippe. Er trinkt Bier. Es ist Mittag. Roger Whittaker singt: »Du – du bist nicht allein / Ich werd bei dir sein / Viel mehr als Geld und gute Worte / zählt auf dieser Welt ein Freund.«

 

»Zeig doch nochmal den Hausplan, Hartmut!«, sagt Caterina, als ich ploppend die O-Saft-Flaschen öffne und Yannick in seinem Körbchen die Wurst zerteilt. Hartmut hat die Pläne schon den ganzen Tag in der Tasche. Wir beugen uns über unser neues, unbekanntes Zuhause und zeigen auf Wohnzimmer, Bad, Scheune, Garten und Vorhof. »Ich glaube, hier wohnen wir, oder?«, sagt Caterina und tippt auf ein Zimmer im ersten Stock, dessen Fenster nach vorne zur Dorfstraße zeigen. »Dann nehmen wir uns das Schlafzimmer hier«, sagt Susanne und tippt auf das Pendant auf der anderen Seite des Obergeschosses. Zwischen beiden Seiten führt die Treppe hinauf. Neben den Fenstern von Hartmut und Susanne sollen Birnbäume stehen. Ihr Zimmer ist kleiner als unseres, aber es gibt ein Büro daneben, in dem die Telefonleitungen enden. »Dann kann ich von nebenan meine Beratungen machen«, lächelt Hartmut, und Caterina fährt die ganze Zeit mit ihrer Fingerkuppe über die riesige Scheune, die das Atelier werden soll. Die Männer an der Bar beobachten uns aus dem Augenwinkel. Die Biermarke, die sie trinken, ist auf einem Blechschild über der Bar angeschlagen. Ich kenne sie nicht. Altdeutsche Schrift. Es riecht nach Qualm. Ich nehme mir eine Pommes.

»Was denkst du, wie lange wir brauchen, bis das Haus fit ist?«, fragt Caterina.

»Drei, vier Wochen«, sagt Hartmut und setzt dabei diesen Blick auf, den Handwerker gerne verwenden. Leicht desinteressiert, als sei der Auftrag eher eine Unterforderung. »Es geht hauptsächlich um die Wände. Die müssen wir ein bisschen flicken. Ist halt altes Fachwerk. Und gucken, was wir von den alten Möbeln brauchen können. Teppiche raus. Tapezieren. Boden verlegen. Garten machen.«

»Klingt einfach«, sage ich.

»Wenn die einen guten Baumarkt in der Nähe haben, ist alles kein Problem«, sagt Susanne.

»Dafür müssen wir schon in die nächste große Stadt fahren«, sagt Hartmut und titscht eine Pommes in den weißen Matsch.

»Ist Schrozberg keine große Stadt?«, fragt Caterina.

Hartmut lächelt über den Pommes. »Ich fürchte, für einen Baumarkt zu klein.«

»Landleben«, sage ich und denke an die Karte der Gegend, die unsere neue Heimat werden wird. Schrozberg. Blaufelden. Rot am See. Gerabronn. Die Hohenloher Ebene und ihre Täler. Die nächste halbwegs große Stadt ist Schwäbisch Hall. Auf diese Steine können Sie bauen.

»Ich hoffe ja wirklich, dass das alles so einfach wird«, sagt Caterina und sieht ein wenig ängstlich in die Runde. Ich nehme sie in den Arm, blicke visionär durch die Wand der Sitzecke und zeichne mit der Hand unser fertiges Heim vor. Caterina im Atelier, malend, die Männer im Garten das Abendessen pflückend, Susanne eine Gartenlaube bauend, Yannick im Birnbaum auf Vogeljagd, Irmtraut im eleganten Kopfsprung in den neuen Teich. Wir lachen über mein Idyll, und doch weiß ich, dass wir alle genau deswegen dort hinfahren. Wegen Birnbäumen und eigenen Kartoffeln im Garten. Wegen eines Dorfes, das so klein ist, dass es keine Straßennamen braucht. Wegen einer Gegend, in der niemand ironisch gebrochen ist. Ich muss aufs Klo. Die Tür ist neben der Bar mit der altdeutschen Bierwerbung. Die Männer prosten mir zu, als ich an ihnen vorbeigehe. Ihr Blick wirkt, als säßen andere hinter ihren Pupillen.

 

Das Klo ist einer dieser Orte, die man mit dunklerer Beleuchtung in ein Horrorspiel einbauen würde. Eine alte Flasche Putzzeug steht unter den Pissoirs in der Ecke, der verklebte Rand an ihrer deckellosen Öffnung spricht von der Vergangenheit. Die Fliesen sind schmierig. Es zieht, als ich meine Hose aufmache, und mein Blick fällt auf das alte Holzfenster, von dem die Farbe abblättert. Daneben führt eine Tür in den Hinterhof. Es ist selten, dass Türen aus Kloräumen hinaus ins Freie führen. Man könnte einfach so gehen, ohne zu zahlen. Bei einem Rasthof bietet sich das an. Man kommt eh nur einmal. Ich pinkle, ziehe meinen Reißverschluss zu, wasche mir an dem kleinen, klebrigen Waschbecken die Hände und kann nicht anders, als mir die Hintertür anzusehen. Sie ist nicht verschlossen. Ich schiebe sie knarrend auf. Links und rechts sind alte Garagen, die offen stehen oder gar keine Tore mehr haben. Alte Autos stehen darin, ein Trecker, Kartons, die früher tiefgekühlte Pommes in Massen enthielten. Jetzt liegt Werkzeug in den Kartons, ein Auspuff ragt in die Sonne, Abdeckungen von Lichtanlagen. Auf dem Boden Reste von Heu und Öl. Leise ertönt Musik aus einer der Garagen, in der ein junger Mann im Blaumann am Kofferraum eines Mercedes steht. Zwei Autos im Hof sind die Reifen abmontiert. Ein Motorrad steht ohne Kette an der Mauer. Der Mechaniker beugt sich in den Kofferraum und friemelt an der Innenabdeckung der Rücklichter herum, bis es knackt. Pfeifend legt er das Plastikstück auf ein Sideboard, nimmt eine neue Birne aus einem Karton und tauscht die alte aus. Er geht nach vorn, setzt sich ins Cockpit und schaltet das Licht ein. Bevor er aussteigt, um nachzusehen, ob alles funktioniert, streicht er ein paar Krümel vom Armaturenbrett, wackelt dabei mit dem Kopf und äfft wohl den Besitzer des Wagens nach. Er zieht eine Schnute und tut so, als halte er eine Kaffeetasse mit gespreiztem Finger. Dann sieht er auf einen unsichtbaren Pieper und macht eine entschuldigende Geste wie ein Chefarzt, der dringend gerufen wird. Ich muss kichern. Er hört mich nicht. Er geht wieder nach hinten, stellt fest, dass es funktioniert, nimmt die Plastikabdeckung von der Werkbank und beugt sich wieder in den Kofferraum. Ich höre, wie es knackt und schabt, schabt und knackt. Ich sehe den Hintern des Mechanikers blau in der Nachmittagsluft, leicht macht er die Bewegungen des Körpers mit wie bei einem Hund, der gräbt. Der Mechaniker zischt. Es knackt und schabt, knackt und schabt. Schweiß bildet sich auf seinem Rücken und formt eine dunkle Straße bis runter zum Schritt, es sieht alles nicht würdevoll aus. Der Mechaniker kommt wieder hervor, atmet schwer aus und sieht sich mit schmalen Augen die Abdeckung an. Er dreht sie auf den Kopf, kippt sie andersherum und versucht es nochmal. Es schabt und knackt, er stöhnt. Seine Beine suchen nach einem besseren Halt in dieser unnatürlichen Haltung, als stellten sie sich auf einen längeren Aufenthalt vor dem Kofferraum ein. Es ist ein zweckloses Friemeln, ein aussichtsloses Stecken und Drücken, jeder Mann kennt das. Man kriegt die Klappe ab, aber nicht mehr dran. Man hat sich nicht gemerkt, wie sie draufgesessen hat, und die wenigen kryptischen Striche und Markierungen auf dem Stück Plastik geben keine Auskunft, sondern verhöhnen uns. Der Mechaniker stößt erste Flüche aus. Sein Körper sackt ein wenig ab, und er korrigiert seine Haltung zu stark, sodass er mit dem Kopf gegen die Kofferraumklappe knallt. Er weiß, dass sein Drücken und Stecken zwecklos ist, aber der Fahrer des Wagens ist ein Chefarzt, der seinen Kaffee mit gespreiztem Finger trinkt. Die Klappe muss dran. Er atmet noch einmal tief durch, als wäre ein kompletter Neuanfang möglich, doch schon nach fünf weiteren Klacks ist klar, dass dies eine Illusion ist. Die Geräusche, die er von sich gibt, sind eine Mischung aus Sich-Beschweren und Stöhnen. Als sehe ihm jemand zu, und er müsse zugleich zeigen, dass das Auto ihm als Fachmann Last macht und er im Grunde schon ein gebrochener Mann ist, der das alles gesundheitlich nicht mehr kann. Er legt sein linkes Knie auf der Stoßstange ab. Die Stoßstange bricht aus der Fassung, das Knie rammt in den Boden, und sein Kinn knallt auf die Umrandung des Kofferraums. Die Arme bleiben dabei gestreckt, die Plastikkappe in der Hand wie ein Erbschein, der nicht das Wasser berühren darf. Dann geht es los. Der junge Mann steht auf, geht zu seinem Radio, legt eine Kassette ein, packt die Abdeckung sorgfältig in eine Schublade, zieht in aller Ruhe seine Hose auf und holt sein Gerät heraus. Auf der Kassette beginnt AC/DCs »Highway To Hell«, und als Angus Youngs Gitarrenriffs losbrechen, lässt er es laufen und pinkelt in den Kofferraum, auf die Flanken, gegen die Scheiben. Er tänzelt um den Mercedes herum und benetzt den ganzen Lack, schwingt auf und ab wie mit einem Gartenschlauch und hält dabei den Rücken gerade wie ein Husar. Vorne angekommen, dreht er sich um und hüpft im Angus-Young-Gitarrenschritt zum Kofferraum zurück, immer noch Druck auf der Blase. Kurz, bevor er in meine Richtung sehen kann, schließe ich die Tür.

»Du warst aber lang weg, wir haben schon das halbe Haus geplant«, sagt Caterina, als ich wieder an den Tisch komme.

»Ich habe mir nur ein bisschen die Gegend angesehen«, sage ich.

2

Am späten Nachmittag erreichen wir Schrozberg, die nächstgelegene Stadt, Verwaltungszentrum unseres Dorfes, Zivilisation mit Straßennamen. Wir werden langsamer, als wir in den kleinen Ort einfahren, aber es wirkt, als stünden wir auf der Stelle und würden auf einem Rollband langsam an den Einwohnern vorbeigetragen. Mütter heben ihre Köpfe wie Wasservögel, ein Mann kommt aus einem Getränkemarkt und sieht zu uns herüber. Ich werfe einen Blick in den Rückspiegel und sehe Hartmut an seinem Lenkrad, konzentriert, als dürfe man jetzt keine Fehler machen und unter den Augen der Bevölkerung vom Rollband abrutschen. Ein alter Mann auf einer Holzbank hebt den Kopf, doch seine Augen bleiben auf der Stelle wie ein Kugellager. Am Bahnhof, einem brüchigen alten Gebäude mit neuem Fortsatz aus Holz, streckt sich auf der anderen Seite der Gleise ein grauer Turm in den Himmel. Eine riesige Wand mit verblasster Schrift, eine schmutzige Fabrik, die aussieht, als hätte man amerikanischen Industriefotografen die Ästhetik weggenommen. Ich kenne amerikanische Industriefotografen ja erst, seit Caterina mich für Kunst begeistert. Mit ihr hinter einem großen Folianten über Industriefotografie zu verschwinden, während die Decke leise raschelt und ihr die kleine rote Locke in die Stirn fällt, ist erotischer als alles, was meine damaligen Kollegen vom Band jemals mit ihren »Schnecken« auf dem Parkplatz der Disco angestellt haben. Martin würde das nie verstehen. Sosehr ich ihn mag, aber das würde er nie verstehen. Der Turm in Schrozberg ist ein aschfahler Wächter über zwei Gleise, der Bahnsteig dazwischen nur ein brüchiger, dünner Faden Beton. Caterinas Blick bleibt daran kleben, doch schon zwei Kurven später ist die Stadt bereits zu Ende.

 

Von Schrozberg nach Großbärenweiler sind es 7,5 Kilometer, und mit jedem Meter sehe ich, wie Hartmut im Rückspiegel wieder aufblüht. Yannick steht auf Caterinas Schoß und sieht gespannt aus dem Fenster, all die neuen Eindrücke setzen sich in seinen Ohren in Bewegung um. Irmtraut hat das linke Vorderbein aus dem Panzer geschoben. Alles andere ist noch drin. Sie tippt mit den Krallen wie ein Wartender bei der Postbank. Die Nachmittagssonne lässt Felder, Weiden und Waldränder aus ihrem Inneren heraus kräftig leuchten; links und rechts der Straße ist nichts als Natur. Wir haben in den letzten Wochen oft auf die Karte und die wenigen Bilder im Netz geschaut und uns vorgestellt, wie unser Leben in dieser fernen Region sein würde. Kein Tamtam wie in der Stadt, wo sich jeder wichtig nimmt: Hier wären wir bloß noch kleine Punkte auf dem Kalenderbild eines Landschaftsmalers. Und jetzt, wo wir die letzten Meter zu unserem Dorf zurücklegen, sind wir nicht enttäuscht. Wir sind im Kalenderblatt. Der Duft frischen Heus weht durch die Lüftung, der graue Betonriese am Bahnhof ist vergessen.

 

Da ich unser neues Haus mangels Straßennamen ohnehin nicht auf Anhieb finde, biege ich an der einzigen Kreuzung des Ortes ab und stoppe den großen Transporter auf einem kleinen Platz zwischen der Rückseite eines großen Hauses, den Wirtschaftsgebäuden eines Bauernhofes und einem krumm stehenden Fachwerkhaus, dessen Garten völlig verwildert ist. Wir öffnen die Türen, hören das beruhigende Knirschen unserer Schuhe auf Kies, strecken uns und knutschen erst mal, bis Hartmut und Susanne den zweiten Bus hinter unserem parken, aussteigen und ihre Finger zu Yannick hineinstrecken, der im Cockpit unseres Transporters im Körbchen sitzt und maunzt.

»Geschafft!«, sage ich, wie Männer das nach einer langen Fahrt sagen, und die Frauen stemmen die Hände in die Flanken und atmen tief Landluft ein.

»Schon verrückt«, lächelt Susanne und sieht sich in der neuen Heimat um, auf die wir uns blind eingelassen haben. Ein Hahn kräht zum Empfang. Leichter Wind weht Feldgeruch aus der Ferne herbei.

Wir vertreten uns ein bisschen die Beine. Die Türen der Busse lassen wir geöffnet, weil wir genießen wollen, nun in einer Gegend zu leben, in der niemand etwas klaut. Wir nehmen uns diese Pause, bevor wir unser Haus suchen, dieses kleine, spannende Akklimatisieren in der neuen Umgebung. Die Frauen schlendern nach links in Richtung des Fachwerkhauses, Hartmut geht ein Stück nach rechts zu der Kreuzung und sieht nachdenklich in die Ferne.

»Jetzt sind wir da«, sage ich, als ich neben ihm stehe.

Er lächelt.

»Ich bin stolz auf uns«, sage ich, weil er sich nie traut, so etwas zu sagen, streichle ihn ein wenig am Rücken und knuffe ihn. Er ist auch stolz. Er weiß, ich meine alles damit. Unsere Freundschaft. Unsere Frauen. Unsere Entscheidung. Das Haus. Wir sind schon zwei Prachtstücke.

»Das ist wohl der Dorfplatz«, sagt Hartmut und zeigt auf die Bushaltestelle an der Kreuzung, die aus einem offenen Holzhäuschen besteht, unter dem eine Bank steht und dessen Wände sorgfältig mit Plakaten und Mitteilungen beklebt sind. Nicht so feucht und zerfranst wie daheim im Ruhrgebiet, sondern sorgfältig und liebevoll, wie das schwarze Brett in evangelischen Gemeindehäusern.

»Wo ist denn nun das Haus?«, frage ich, doch ehe Hartmut antworten kann, rufen unsere Frauen synchron: »Kommt mal!«, und wir müssen lachen, als wir beide blitzschnell reagieren, uns umdrehen und uns die Köpfe stoßen. Dann laufen wir. Die Frauen stehen an dem zerfetzten Drahtzaun des Gartens, der zu dem Fachwerkhaus gehört, vor dem unsere Busse stehen. Seine Pfähle sind schief und krumm, verbogen in schwarzer Erde. Dornenbüsche zanken sich zwischen den Maschen. Ein Fenster hängt auf Halbmast. »Guckt euch mal diese Bruchbude an, Jungs!«, lacht Susanne und steigt ohne zu zögern über den niedergetretenen Zaun auf das Grundstück.

»Seht mal, hier, die Küche! Guckt mal rein!«

»Susanne, meinst du nicht, dass das etwas indiskret ist?«, fragt Hartmut.

»Ach, hier drin wohnt doch keiner mehr«, lacht Susanne und zeigt Caterina und mir die Küche, die man durch das kaputte Fenster besichtigen kann. Es sieht aus wie bei Stephen King. Ein monströs großer Gasherd steht im Halbdunkel, und zwischen ein paar verfärbten Gläsern auf einem Regal haben sich Spinnennetze gebildet. Der Schrank an der anderen Wand wirkt so bullig, als wolle er die Luft aus dem Raum pressen, und das Holz der Tür, die neben dem kaputten Fenster nach draußen führt, wird nur noch von der abblätternden Farbe zusammengehalten.

»Unfassbar«, flüstert Susanne.

»Aber fast schon wieder interessant«, sagt Caterina, und ich könnte mir diese Ruinen-Küche gut als Kunstfoto vorstellen.

»Wie bei Egglestone«, sage ich fachmännisch, und Caterina schenkt mir ein kurzes Lächeln, das mich stolz macht wie einen begabten Schüler, der schnell lernt.

»Äh, ich glaube, ihr solltet wirklich nicht ...«, sagt Hartmut, der immer noch auf der Straße steht und sich nervös umsieht. Dieser Mann hat schon ganze Viertel lahmgelegt und traut sich jetzt nicht mal auf ein verlassenes Grundstück. So ist er.

»Ieeehhhh«, tönt Susanne plötzlich, als sie auf den Boden zu unseren Füßen hinabsieht. Zwischen Küchentür und Garten ist ein kleiner Kanal, über den eine Holzplatte führt. Das Gras klebt verschwitzt an seinem Rand wie die Haare eines Fieberkranken.

»Eine Grube«, sagt sie leise.

»Wie, eine Grube?«, fragt Caterina.

»Na ja, eine Grube. Das heißt, dass die in dem Haus nur ein Plumpsklo haben. Oder hatten.«

Wir weichen zurück, und mein Blick fällt auf die Hütte, die in der Gartenwildnis steht. Das Dach ist halb eingebrochen und liegt auf dem Rest dessen, was wohl mal eine Werkbank war. Hartmut gestikuliert zu mir herüber und formt Worte mit dem Mund. Er zeigt zum Bus und signalisiert mir, dass ich ihm folgen soll. Ich stelle fest, dass die Frauen gerade mit archäologischem Interesse das Gemäuer abklopfen, und schleiche zu Hartmut.

»Was ist?«, zische ich.

»Die sollen da nicht so gucken«, sagt Hartmut.

»Wieso nicht? Lass sie doch ein bisschen lästern!«

Hartmut macht komische Bewegungen mit dem Kopf und leidende Geräusche. Mir wird etwas flau im Magen.

»Was ist?«, frage ich.

Er sieht nach links und rechts, als müsse er sich versichern, dass uns niemand beobachtet.

»Komm mal mit«, sagt er.

Wir gehen zu den Transportern, öffnen die Türen von Hartmuts Bus und setzen uns ins Cockpit. Hartmut öffnet das Handschuhfach, entfaltet die Liegenschaftskarte des Ortes und fährt mit dem Finger darauf herum. Ich versuche, die Karte zu verstehen, und sehe nur Flächen, Nahtstellen und Zahlen wie auf einem abstrakten Kunstwerk. Hartmut fuhrwerkt weiter mit den Fingern.

»Siehst du das?«, fragt er mich. »Das ist doch wohl die Kreuzung da vorne, oder?«

Ich nicke, um zu verbergen, dass ich solche Karten nicht verstehe.

»Und dann wäre das hier der Hof dort drüben.«

Wieder nicke ich.

Er dreht die Karte auf den Kopf, fährt Linien entlang, überlegt.

Derweil nähern sich die Frauen und lärmen: »Die haben Risse im Gebälk groß wie Seemanns-Schenkel! Und im Garten lag eine tote Ratte.« Das toppt noch unseren alten Keller. Unser alter Keller war ein Massengrab alten Sperrmülls, garniert mit einem das Grundwasser verseuchenden Ölkessel und einer Fliegerbombe. Die Fliegerbombe wurde legal entsorgt. Für den Ölkessel organisierte unser Kumpel Jörgen einen nicht lizenzierten Schwertransport zur Kölner Deponie. Klüngel. Hartmut winkt ab und will nichts hören, rechnet, dreht, blickt von der Karte auf, scannt mit dem Blick die Umgebung, blickt wieder in die Karte. »Flurstück 23«, murmelt er und schaut wieder auf. Seine Stirn legt sich in Falten.

»Welche Hausnummer hat das Fachwerkhaus?«, fragt er.

»Die Bruchbude?«, frage ich.

Er schweigt nur, was »ja« heißt.

Ich kneife die Augen zusammen und entziffere über die Köpfe der Frauen hinweg die verrostete Zahl.

»9«, sage ich.

»Können wir jetzt mal mit der Pause aufhören und unser Haus suchen?«, ruft Susanne und wirft ihre leere Joghurt-Drink-Flasche in den Fußraum des Transporters.

»Ja!«, setzt Caterina nach. »Ich will mein Atelier sehen!«

Hartmut starrt derweil auf die Liegenschaftskarte. »Hast du eben 9 gesagt?«

Ich nicke.

Er macht ein finsteres Gesicht.

In diesem Moment geht die Tür der Bruchbude auf, wir schrecken zusammen, und eine kleine, hastige Frau mit schmutzigen Brillengläsern ruft strahlend: »Sie müssen die Käufer sein, nicht wahr? Haben Sie sich eben den Garten angesehen? Mir war, als hätte ich dort jemanden gehört ... mein Name ist Kettler!«

 

*

 

Es ist schwer zu beschreiben, wie die Frauen gucken, als die Eigentümerin ihnen fröhlich die Hände schüttelt und dabei durch ihre verschmierten Brillengläser strahlt wie Pippi Langstrumpf vor ihrer Villa Kunterbunt. Es ist schwer zu beschreiben, mit welcher Bewegung sich Hartmut aus dem Bus dreht und selbst nicht glauben kann, was er soeben als Realität akzeptieren musste, und es ist kaum zu fassen, wie brav wir nun alle hinter der Frau ins Haus gehen, um die erste Führung mitzumachen. Es fühlt sich an, als wären wir im Urlaub und besichtigten eine interessante Ruine und nicht etwa das Haus, das Hartmut uns gekauft und für das wir alle Zelte abgebrochen haben, um fortan unter Birnbäumen zu leben, ganz ohne Zeit, so harmonisch und frei. Ich sehe die Sprengung unseres Bochumer Hauses vor mir, das in dem Moment fällt, als Frau Kettler mit uns durch den muffig riechenden Hausflur rechts in das »Wohnzimmer« abbiegt und in freundlichem Singsang zu reden beginnt.

»Hier sehen Sie also das Wohnzimmer mit einem der alten, massiven Holzkamine. Wie gesagt, der Boden ist ziemlich schief wegen der Sprengungen im nahe gelegenen Steinbruch, die haben erst vor einem Jahr aufgehört, daher eben die Risse in der Wand, aber das hatte ich ihnen ja alles gemailt.«

Susanne funkelt Hartmut an, als wolle sie sagen: »Welcher Steinbruch? Welche Sprengungen? Hatten wir nicht schon mal ein schiefes Haus mit Rissen und Bombenschaden?«

Caterina tippt eine Stelle in der Wohnzimmerwand an und schreit, als eine ein Meter breite und mehrere Daumen dicke Scholle direkt aus der Wand bricht und krachend auf den dreckigen Teppich fällt. Das Wandloch entlässt den Gestank einer fauligen Wunde. Durchfeuchtete Wände. Irgendwo spielt ein altes Radio leise Boney M. Frau Kettler führt uns weiter, lächelt verschämt und sagt: »Hier im Esszimmer sehen Sie halt besonders, was die Sprengungen angerichtet haben, da können Sie an einer Stelle durch die Wand sehen.« Das Esszimmer ist ein kleiner Verbindungsraum zwischen dem faulenden Wohnzimmer und der Küche, die wir schon von außen bewundert haben. Eine alte Sitzecke steht darin, und Zeitungen und Prospekte liegen noch auf dem Tisch. An der linken Wand steht ein Schrank aus dünnem Kunstofffurnier in Buchenoptik, wie man ihn in katholischen Reha-Kliniken für Senioren in den vergessenen Gemeinschaftsraum in den Keller stellt. Ich rufe mir in Erinnerung, dass zum Kaufpreis des Hauses »jede Menge Möbel« gehörten, und muss schlucken. Frau Kettler steckt derweil ihre Hand durch einen gut zehn Zentimeter breiten Riss in der Mauer und ruft: »Huhu!« Unsere Frauen sehen sich nur an. Die Naht des Hauses ist an dieser Stelle total gerissen, als drifte es auseinander wie tektonische Platten. ›Das kann man nicht mehr mit Moltofill zuspachteln‹, denke ich im Stillen und hefte meinen Blick auf die Schlagzeilen der Zeitungen auf dem Esstisch. Das unsichtbare Radio lispelt die Les Humphries Singers durchs Haus. Um in die Küche zu kommen, muss man über den Abgang zum Gewölbekeller steigen, den man allerdings mit einer mächtigen, nun aufstehenden Tür verschließen kann wie ein antikes Grab. Die Vorbesitzerin steigt hinab, als sei nichts dabei, und winkt uns, ihr zu folgen. Die Stufen sind grob in den Stein gehauen, vulgär in Mutter Erde hineingestemmt. Dies sei der älteste Teil des Hauses, sagt Frau Kettler und meint es nicht ironisch. Als wir alle in dem kleinen Gewölbe stehen, versuche ich mir vorzustellen, diesen Keller wirklich als Teil unseres Hauses zu nutzen. Es macht mir Angst. Allein der Gedanke, dass dieser Raum überhaupt zum eigenen Zuhause gehört, ist so unheimlich wie eine Leiche unterm Bett. Ich denke daran, dass diese Frau hier wirklich gewohnt hat. Mir ist komisch. Derweil zeigt Frau Kettler auf die ausgedünnten, schwarzen Stümpfe der Balken, die in diesem Keller das Gewölbe halten sollen, und die Stelle am Holz, die den Pegel des Wassers markiert, das bei Regen unvermeidlich diesen Raum flute. »Da steigt das Grundwasser hoch! Müssen Sie mal schauen, ob Sie die auswechseln.« Ich denke daran, dass wir die provisorischen Stempel aus unserem alten Haus hätten mitnehmen können, das gegen dieses Gewächs hier noch ein sicherer Atombunker war. In einer Nische stehen Einmachgläser mit undefinierbaren, organischen Inhalten. Hartmut zeigt schweigend auf sie, soweit seine Kraft noch reicht, um den Finger zu heben. »Ach das«, flötet Frau Kettler, »die sind noch von meinem Vorbesitzer, die standen da schon immer.« Sie lächelt wie eine Frau, die nur ahnen kann, was sie da sagt: »Hab sie stehen lassen.«

»Das sehen wir«, flüstert Susanne.

Die Küche hält keine weiteren Überraschungen bereit als die, die wir von außen inspizieren konnten, und den Rest des Erdgeschosses nimmt in der Tat ein Plumpsklo ohne Spülung ein, das ebenso wie das Bad verschlagartig in einen riesigen Raum gebaut ist, der momentan als Holzlager dient und unserer damaligen Gerümpelscheune zum Verwechseln ähnelt. Als ich in den dunklen Verschlag sehe, der das Bad sein soll, und das schwarz umrandete Etwas aus Emaille entdecke, das mal eine Wanne war, beginne auch ich langsam, nihilistische Gefühle zu entwickeln. Außerdem provoziert mich das Radio. Jetzt spielt es »Hold The Line« von Toto, und ich sehe den Sänger mit seinem Schnauzer vor mir, wie er von irgendwelchen Autohäusern präsentiert heute noch Konzerte gibt und glaubt, die coolste Rockband der Welt hinter sich zu haben. Ich frage mich, warum die anderen es nicht hören. Nicht mal Hartmut verzieht die Ohren. Über der Wannenleiche prangt ein viel zu großer Boiler. »Der ist defekt, da müssen Sie aufpassen. Nicht ungefährlich.« Ich nicke, als sei dies eine legitime, gar hilfreiche Anmerkung. Die Selbstverständlichkeit, mit der diese Frau die Führung gestaltet, scheint eine Trance auszulösen, eine Hypnose. Sie führt uns durch eine Ruine, als würden wir hier bald wohnen. Wir werden hier bald wohnen. Ist die Führung vorbei, bricht die Betäubung zusammen. Frau, führ uns weiter ...

 

Wir klettern die Treppe hinauf ins Obergeschoss, dessen Räume wir heute Vormittag auf der Raststätte noch freudig untereinander aufgeteilt haben. Das zukünftige Zimmer von Caterina und mir ist ein heller, trostloser Raum, an dessen Wänden die Tapete Beulen schlägt und in dem die Vorbesitzerin eine alte Papierlampe und einige Indianerpfeile vergessen hat, die als Deko an der Wand hängen. Das Zimmer von Hartmut und Susanne sowie Hartmuts geplantes Büro sind ebenfalls eingewickelt in eine faltige, geschmacklose Tapete, die so geklebt ist, als hätte man das Haus von innen wie Gemüse auf dem Wochenmarkt flüchtig in Zeitungen einwickeln wollen. Das Büro ist dunkelblau. Gegenüber liegt das »Bügelzimmer«, wie die Vorbesitzerin es nennt, und in der Tat steht dort noch ein Bügeleisen auf einem alten, angebrannten Brett neben einem Klavier, »das der Vorbesitzer mal abholen wollte«, was er natürlich nie tat. Das Zimmer erinnert mich an Bretons Surrealismus-Theorien, aber das sage ich jetzt nicht, trotz eines potenziellen Lobes von Caterina. Wenn ich jetzt die Trance durchbreche, ist alles aus. Das wird ohnehin noch früh genug von selbst geschehen.

 

Im Zwischenraum all dieser Zimmer stakst eine Treppe frei zum Dachboden hinauf. Der Platz dahinter sowie eine Wand sind mit alten, oriental verzierten Teppichen abgehängt, auf denen der Schimmel bereits neue Muster gebildet hat. Frau Kettler scheint das nicht zu sehen, was nicht nur an den dreckigen Brillengläsern liegen kann. Sie hat hier gewohnt, sie findet das normal. Sie schwärmt von der Blüte des Birnbaums, der vor den Fenstern von Hartmut und Susannes zukünftigem Zimmer steht, und sagt, als sei es eine Lappalie: »Den Dachstuhl habe ich nicht ausgeräumt, ich hoffe, das ist nicht schlimm, vielleicht können Sie ja was davon gebrauchen.« Die Frauen haben mittlerweile einen rein künstlerisch interessierten Blick aufgelegt, als führte man sie tatsächlich durch ein Museum oder eine Grotte mit Höhlenmalereien. Vielleicht glauben sie auch, dass es nur ein Scherz ist. Bei Hartmut weiß man nie. Wir nesteln uns auf den Dachboden, wo Kisten aus reinem Bauschrott ragen wie Baumstümpfe aus dem Unterholz. Hier oben ist das Radio leiser, wie künstlich in den Hintergrund gemischt. Ich frage Hartmut, ob ihn die Musik nicht nervt. »Welche Musik?«, fragt er. Aus einem Karton quellen vergilbte Bücher, in einer Schachtel sitzen böse blickend zwei alte Puppen, deren Augen ich nicht auf dem Dachboden wissen will. Das einzige Licht fällt durch die fast neuwertigen Fenster. Die Ziegel sind knallrot und sehen sauber aus. »Sie wissen ja, das Dach wurde vor zwei Jahren neu gemacht«, sagt Frau Kettler, und ich muss fast lachen, als ich mir das vorstelle. Wer setzt ein neues Dach auf dieses Gehölz von Haus? Wer stülpt einem fauligen Stumpf eine Goldkrone über? Wer deckelt das Verderben? Wer macht so was? Auch die Puppen scheinen sich das zu fragen, eine von ihnen blickt zugleich auf die Treppe nach unten und das kleine Fenster im Dach, die Augen schräg auseinander und doch fixiert. Als wir uns umdrehen, um wieder hinunterzugehen, habe ich Angst, ihr den Rücken zuzuwenden. Auf dem Weg zurück nach unten fängt mein Blick noch einige Details auf, die ich gar nicht richtig verarbeiten kann. Die alte Truhe im oberen Flur vorne am Fenster. Ein zerrissener Geldschein in einer Teppichspalte. Bilder von Menschen an der Wand im Büroraum, einfach so in die dunkelblauen Papierfalten gepinnt.

»Und wo ist die Scheune, die mein Atelier werden soll?«, fragt Caterina jetzt Frau Kettler, immer noch in Trance, als würde sie gleich ihre Sachen in diese Ruine räumen und danach sofort malen gehen. »Hier direkt nebenan«, sagt sie, führt uns ums Haus und geht auf den benachbarten Bauernhof zu. Vorm Eingang der Scheune, die zwar bis an unser Haus heranragt, die man aber nur von hier betreten kann, steht ein kleiner, knorpeliger Bauer mit Wülsten unter den Augen. Frau Kettler zeigt auf die Scheunentür neben ihm, und er schüttelt den Kopf. Dann nimmt sie seine Hände, wie man die Hände von Kindern nimmt, die zur Bestrahlung müssen, und redet auf ihn ein, während er auf den Fußballen herumhüpft und knatschige Geräusche macht. Ein Schauspiel, denke ich. Es ist doch alles ein Schauspiel. Nach einer Weile hat sie ihn wohl überzeugt und öffnet knarrend die alte Tür. Wir gehen hinein, den Blick auf den Bauern gerichtet wie auf einen bissigen Hund.

 

Die Scheune stinkt und enthält noch Heu im oberen Stockwerk, zu dem eine unförmig gezimmerte Leiter hinaufführt.

Frau Kettler deutet zum Tor und spitzt die Lippen: »Gustav glaubt, es wäre seine Scheune. Seien Sie ein bisschen nachsichtig mit ihm.« Dann wischt sie mit der Hand vor ihrer Stirn herum. Sie wirft den Kopf in den Nacken und lacht blechern, ihr Mund wird größer dabei und ihre Haare hängen an ihr herab wie an einem veralteten Androiden. Caterina starrt in den Heuschober, den sie sich mit einem debilen Bauern teilen soll, obwohl er uns gehört. Ihr Gesicht wird existenzialistisch. Langsam bröckelt die Trance von uns ab, doch solange Frau Kettler noch da ist, wird sie uns nicht ganz verlassen. Die würde noch Guantanamo freundlich schwätzend als Selbsterfahrungscamp für Manager anbieten. Aber vielleicht ist das alles normal, wenn man ein Haus für 8000 Euro auf eBay ersteigert.

Vielleicht hat sie ja nichts falsch gemacht. Vielleicht hat Hartmut sich ja einfach nur verklickt. Doch jetzt stehen wir hier, ohne ein Zurück, und ich höre in der Ferne, wie in Bochum der letzte Balken bricht und die Abrissunternehmer zu den Jugoslawen gehen, um Currywurst zu essen. Wir verlassen die Scheune, vorbei an dem kleinen Bauern, der mit Mistgabel und Latzhose neben dem Tor steht und uns mit schwarzen Knopfaugen über den Wülsten ansieht wie Kolonialisten.

Vor dem Haus stehen unsere Busse, saubere Relikte aus einer anderen Welt. Im Cockpit hüpft Yannick herum und faucht ungeduldig, während Irmtraut den Kopf aus Panzer und Karton streckt und mit den Augen rollt.

 

»Ja, dann ...«, sagt Frau Kettler und drückt Hartmut die Schlüssel in die Hand, der still auf die Ruine starrt. Wir drei stehen wie Eschen neben ihm. »Tschüss!«, sagt Frau Kettler, und als sie geht, fällt die Trance langsam von uns ab, hängt noch einen Moment faltig auf Taillenhöhe wie die Tapeten in den oberen Räumen und verschwindet völlig, als Frau Kettler in einen alten Renault-Kastenwagen steigt, die Tür zuschlägt und abfährt. Mit ihr verschwindet auch das Radio aus meinen Ohren. Kaum, dass ihr Auto über den Dorfplatz verschwunden ist, sind wir wieder bei uns und realisieren, was soeben passiert ist. Yannick klagt im Transporter. Die Frauen nehmen die Kiste mit Irmtraut darin, schweigen noch einen Moment und gehen los.

 

*

 

Sie marschieren ohne ein Wort die Straße hinunter, die aus dem Dorf heraus noch tiefer ins Land führt, zu den Wäldern. Sie gehen schnell und zielstrebig, jeder ihrer Schritte ist eine Anklage, nicht gegen mich freilich, aber irgendwie schon, denn ich bleibe ja bei Hartmut stehen in einer instinktiven und blödsinnigen Männersolidarität, obwohl ich ihn würgen will ob seines Leichtsinns, seiner Idiotie, seiner bodenlosen Naivität, diesen fatalen Klick bei der Online-Versteigerung gemacht zu haben, bei der es nur ein paar idyllische Außenaufnahmen zu sehen gab. Wir stehen nebeneinander hinter den Bussen und sehen zu, wie unsere Frauen am Horizont auf der Landstraße verschwinden, als würden sie einen Film beenden und uns für immer in diesem Albtraum zurücklassen. Aus dem Fenster im Haus gegenüber streckt eine Nachbarin den Kopf heraus und schaut zwischen den beiden ratlosen Männern und den schnell entschwindenden Frauen hin und her, als wisse sie somit schon genug über Städter. Sie raucht und tippt die Zigarette auf ihrer Fensterbank ab. Leise rieselt die Asche zu Boden. Dann laufen Hartmut und ich los und unseren Frauen hinterher. Als wir sie erreicht haben, überlasse ich Hartmut das Reden. Ihm fällt erst einmal nichts ein. Die Frauen laufen schnell, sehr schnell. Sie atmen hart. Dann setzt Hartmut zum Sprechen an: »Wo wollt ihr denn hin?«

»Spricht da jemand?«, fragt Susanne Caterina, die mit dem Kopf schüttelt.

»Jetzt kommt schon ...«, jammert Hartmut.

Susanne beugt sich wieder zu Caterina: »Ich kannte mal einen Mann, der bewegte seine Freundin, seinen besten Freund, dessen Freundin, seinen Kater und seine Schildkröte dazu, alle Zelte abzubrechen, um in ein idyllisches Landhaus zu ziehen, an dem noch einiges zu renovieren sei. Leider verheimlichte er ihnen, dass ›einiges‹ eine Totalsanierung bedeutete, gegen die selbst der Neuaufbau der Dresdner Frauenkirche eine Fingerübung war. Ich glaube, er wurde von seiner Freundin verlassen.«

»Hey!«, schluchzt Hartmut und hält kaum Schritt.

Die Frauen gehen einfach weiter.

»Da geht es nicht ins nächste Dorf«, sagt Hartmut jetzt. »Da kommt nur noch Wald!«

»Dann übernachten wir eben im Wald!«, sagt Susanne.

»Dann leben wir eben im Wald. Soll auch schön sein. Jedenfalls schimmelt es da nicht«, sagt Caterina.

»Aber ...«, sagt Hartmut.

Ich blicke derweil auf den dunkelblauen Himmel hinter dem Waldrand und stelle mir vor, wie es wäre, hier abends spazieren zu gehen. Für einen Moment denke ich das Undenkbare, denke, dass wir es schaffen könnten, dass dies unser Haus wird, unser Land, doch das Geräusch eines Autos unterbricht meine vage, irrsinnige Hoffnung. Ein dunkler Volvo kommt uns auf der schmalen Straße entgegen und wird langsamer, als die Frauen auseinander gehen und von beiden Seiten der Straße aus den Daumen herausstrecken.

»Was macht ihr denn da?«, quiekt Hartmut, und ich frage mich, wieso sich in Krisensituationen die Geschlechter wieder aufteilen und ich nicht den Daumen mit herausstrecke, um Hartmut allein stehenzulassen.

Der Wagen hält, und ein gutaussehender Mann kurbelt das Fenster herunter. Er ist perfekt rasiert. Aus dem Wagen strömen dezenter, angenehmer Duft und eine Sinfonie. Ein Jackett hängt im Rückfenster auf einem Bügel.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt der Mann und spricht es rhythmisch aus. Die Worte fallen flüssig über den Takt der Musik.

»Ja, bringen Sie uns bitte in die Stadt«, sagt Susanne.

»Sie alle?«, fragt der Mann. Das »alle« steigt dabei melodisch an.

»Nein, nur uns Frauen«, sagt Susanne.

Der Mann blickt zu uns, dann wieder zu den Frauen. Er steigt aus. Er ist von beeindruckender Statur, man erkennt seinen perfekten Körper trotz Anzughose und Hemd. Er bewegt sich wie ein Mann, der niemals ein Haus auf eBay kaufen würde. Kleine Löckchen verteilen sich an seinem Kopf wie bei römischen Legionären. Er öffnet zwei Türen und verbeugt sich sacht. »Die Damen ...«

Hartmut reißt die Hände hoch. Gegen die Haltung dieses Mannes wirkt er wie ein verwachsener Rhododendronbusch. »Was soll das heißen, ›die Damen‹? Das ist ein fremder Mann, da könnt ihr doch nicht einfach so einsteigen!« Doch Susanne steigt ein, vorne, wo die Sinfonie ertönt.

»Hey, hallo?«

Ich stehe schweigend daneben, die Arme wie Tomatenstauden an mir herabhängend. Caterina steigt ein. Ich sage: »Miu Miu«. Der Mann sagt: »Ich bringe Sie in ein Hotel.« Er singt es fast, synchron zu einer kleinen Geigenfigur in seiner Musikanlage. Zugleich klingt es sicher, wie eine Schulter, Sean Connery würde so reden.

»Das könnt ihr doch nicht ...«, sagt Hartmut, doch der Mann hat die Türen schon geschlossen, so würdevoll und feierlich, als trügen die Frauen Abendgarderobe. Er geht um sein Auto herum, bleibt noch einen Moment an der Fahrertür stehen, schaut in den Nachthimmel, summt ein paar Takte mit, sodass seine Löckchen unter dem Mond tanzen, und versinkt dann hinter dem Steuer. Der Volvo fährt an und verschwindet. Hartmut und ich stehen alleine auf der Landstraße im Dunkelblau der Nacht. Ein Käuzchen gurrt im Wald. Wir atmen noch einmal und gehen zu unserem Haus.

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