Hartmut und ich - Oliver Uschmann - E-Book

Hartmut und ich E-Book

Oliver Uschmann

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Beschreibung

Der unglaubliche Roman einer unglaublichen Männer-WG. Muss man Always immer tragen, nur weil sie so heißen? Darf man Fahrradfahrer auf offener Straße bewusstlos schlagen? Kann man schwer erziehbaren Katzen durch antiautoritäre Methoden zu einem besseren Leben verhelfen? Hartmut will es wissen! Der unglaubliche Roman einer unglaublichen Männer-WG.

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Seitenzahl: 292

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Oliver Uschmann

Hartmut und ich

Roman

Roman

Fischer e-books

www.hartmut-und-ich.de www.wandelgermanen.de www.wortguru.de www.haus-der-kuenste.dede

 

 

Unsere Adresse im Internet: www.fischerverlage.de

Für Sylvia und Nils

EINZUG

»Tja«, sagt unser Vermieter und sitzt auf dem Bierkasten in der Ecke wie ein Teilnehmer an einer Referatsgruppe, der zur Gruppenarbeit aber auch gar nichts beizutragen hat. Er zuckt mit den Schultern, die Flaschen aus dem Kasten bohren ihm in den Hintern. Seine Frau sitzt am Küchentisch und hat ihr spitzes Gesicht über die Kaffeetasse gebeugt. Sie seufzt, hebt schwer ihren kleinen Kopf, guckt wie ein getretener Hund und sieht uns unter der losen Glühbirne über dem Tisch an. »Sie sind dann also die neuen Mieter.« Ich weiß nicht, ob dieser Satz bedeutet, dass es schlimmer als mit den alten nicht werden kann, oder ob sie sich vor der Zukunft fürchtet. So oder so: Eigentlich sind wir es, die sich fürchten müssten. Das Haus, in das wir einziehen, steht schief, weil vor einigen Jahren eine alte Leitung aus Kriegszeiten unter der Erde gebrochen ist, Risse ziehen sich durch die Außenwände, und der Keller ist eine Ansammlung verdreckter und zugestellter Räume, die niemandem mehr gehören und die wir mit den Vermietern vor einigen Tagen eilig und gebückt durchhasteten. Hinten am Haus klebt eine Scheune, die mit Relikten so vieler Menschen voll gestellt ist, dass es scheint, als dürfe jeder Bewohner des Stadtteils hier seinen Schutt abladen.

Seit einer Woche sind Hartmut und ich jetzt in dieser Wohnung, die sich wie ein U um den Hausflur zieht und mit ihren mächtigen 120 Quadratmeter für läppische 400 Euro das ganze Erdgeschoss einnimmt. Tagtäglich haben wir gebaut und gestrichen, geräumt und montiert. Jeden Abend sind wir zum Gasthof gegenüber, der vorne raus eine brillante Frittenbude hat, in der tätowierte jugoslawische Kriegsveteranen die Würstchen drehen. Dann haben wir uns im Wohnzimmer auf Matratzen vor den kleinen Fernseher gesetzt und billige Kabel-1-Reportagen geguckt. Der Ketchup suppte auf den Boden, das Werkzeug lag überall verstreut. Wir hatten Feierabend.

»Keine Sorge, Sie sehen ja, wir kümmern uns gut um das Schätzchen«, sagt Hartmut jetzt und ringt der Vermieterin ein gequältes Lächeln ab. Ich glaube, sie hat gar keine Angst, dass wir ihr die Wohnung versauen, sondern ist vielmehr verzweifelt darüber, dass sich überhaupt wieder neue Mieter gefunden haben und sie dieses Haus nicht endlich loswerden können. Hans-Dieter hatte uns bei der Montage der Telefonanlage so etwas erzählt, von wegen, dass sie »dieses Dreckserbe« im Grunde am liebsten abreißen würden, dann aber doch immer wieder Mieter reinlassen, weil die Mutter sonst ausrastet oder so was. Hans-Dieter ist Informatiker und unser Nachbar aus dem kleinen Anbau hinter der Scheune, einem flachen, langen Schlauch mit vergitterten Fenstern, niedrigen Decken und einer Katze. Hinten raus, noch hinter Hans-Dieter, gibt es einen Garten, 350 Quadratmeter, von denen man nur 30 sieht, weil der Rest zugewachsen ist, es ist wie ein Freigehege, es sollen schon Füchse gesichtet worden sein.

Die Vermieterin seufzt wieder, und ihr winziger Mann grinst auf dem Bierkasten dieses blödsinnige, knopfäugige Grinsen, von dem man nicht weiß, ob er sich damit für sich, seine Frau, das Haus oder die ganze westliche Welt entschuldigt.

»Und der Vertrag?«, frage ich, eine Tasse in der Hand und das Weiterbauen an meiner handgefertigten Buchablage neben der Wanne im Kopf.

»Der Vertrag?«, flüstert die Vermieterin, als hätte ich sie unter der Glühbirne nach einem Alibi für eine Mordnacht im Herbst 1974 gefragt. »Den haben wir leider vergessen mitzubringen«, sagt ihr kleiner Mann auf den Bierflaschen, »wir hatten keine Vordrucke mehr, und wir müssen da mal gucken … wir werfen den einfach mal die Tage in den Briefkasten, dann brauchen wir nicht zu klingeln und stören Sie nicht. Sie können den ja dann irgendwann mal zurückschicken.«

Ich glaube nicht, dass wir den Vertrag in den nächsten Tagen kriegen werden. Hans-Dieter hat einen, hat er uns gesagt. Kirsten, die Polizistin über uns, die eine wackelige Terrasse über der Scheune gebaut hat, auch. Aber die beiden wohnen auch schon seit zehn Jahren hier, da findet sich schon mal ein Vertrag. Das Gothic-Pärchen unterm Dach hat keinen, seit es vor zwei Jahren eingezogen ist. In ihrer Küche merkt man, wie schief das Haus steht, sie haben extra eine Murmel da, um zu demonstrieren, welches Gefälle ihr Boden hat. Wir haben sie wie alle Nachbarn bei unserer Vorstellungsrunde durchs Haus kennen gelernt: Schüchtern waren wir die quietschenden Treppen hinaufgeklettert, eine Flasche Wein und eines dieser bebilderten Bücher mit erbaulichen Sprüchen von Hermann Hesse bis Konfuzius in der Hand. Ich hielt es ja für übertrieben, fremden Menschen zur Vorstellung als neue Nachbarn eines dieser weisen kleinen Geschenkbüchlein mitzubringen, aber Hartmut hatte für alle Nachbarn ein Exemplar gekauft, mit Rabatt.

»Ja, also, was sagt man an so einer Stelle?«, fragt jetzt unsere Vermieterin und lacht so halb ironisch, den Blick abwesend auf den Karton mit Playstation-Spielen gerichtet, die ich noch ins Wohnzimmerregal sortieren muss. »Haben Sie halt Spaß mit der Wohnung und schauen Sie, dass alles vernünftig bleibt.« Während sie das sagt, lacht sie unterschwellig, als wüsste sie, dass sie gerade Unsinn redet und selbst jedes zufällige Abrutschen mit dem Bohrer dieses Haus nur verbessern kann. »Ja!«, sagt jetzt der kleine Mann und steht schwungvoll von dem Bierkasten auf, auf dem er trotz freier Stühle die ganze Zeit gehockt hat. Sein zum Aufbruch animierendes Grinsen wird von einem kurzen Zusammenkneifen der Augen getrübt, da sich beim Aufstehen die Flaschenköpfe stärker in seinen Hintern drücken, doch als er sich wieder gefangen hat, zieht er seine kraftlose Frau sanft aus dem Stuhl und schiebt sie in den Flur. Gelbes Licht fällt aus dem Bad auf unsere Verabschiedung, ich schiele zu meinem Badewannen-Anbau-Projekt und freue mich aufs Weiterbasteln. Als die Vermieter durch den Hausflur verschwinden, sehen Hartmut und ich uns an und schütteln lachend die Köpfe.

Zwei Stunden später ist es so weit. Die Ablage ist fertig, ich habe Kerzen, zwei Romane, drei Comics, Wein und Plätzchen darauf positioniert und gleite in das heiße, gut duftende Wasser. Man muss ein wenig klettern, um in diese Wanne zu kommen, sie ist außerordentlich hoch gebaut, ich throne in ihr wie der König des Hauses. Ich denke an mein Leben, als ich bis zur Nasenspitze in der Wärme versinke, und muss lächeln. Die Außenstelle Herne hat mich angenommen, wir haben diese Riesen-WG für kleines Geld, ich liege in einer herrlichen Wanne, die Playstation im Wohnzimmer ist angeschlossen und die 350 Spiele sind ins Regal sortiert. Ich kann zufrieden sein. Kaum habe ich ein paar Mal tief und entspannend geatmet und will gerade zur Flasche greifen, als die Tür aufspringt und Hartmut vor mir steht. Das Bad ist bei uns ein Durchgangsraum, und Hartmuts Zimmer schließt direkt daran an. Zwar hat Hartmut einen eigenen Ausgang nach draußen sowie eine Tür in den Hausflur durch den Lagerraum hinter seinem Zimmer, aber durchs Bad sind es nur ein paar Schritte zum Flur und in den Ostflügel, wo Küche, Wohnzimmer und ich residieren. »Das glaubst du nicht!«, sagt er und sieht mich mit großen Augen an. Ich seufze und lasse langsam das Heft sinken. Es plätschert.

»Was?«

»Das musst du sehen!«

»Hartmut, ich bade gerade!«

»Aber nicht mehr lange, wenn wir Pech haben!«

Ich stutze. Ist Hartmut wirklich panisch oder tut er nur so?

»Schnell, schnell, komm, du musst dir das ansehen!«

Ich steige aus der Wanne, ziehe mir meinen Bademantel über und folge Hartmut in den Flur, als der plötzlich die Wohnungstür öffnet. »In den Keller, wir müssen in den Keller!«, sagt er hastig und zieht mich hinter sich her, um mich im Bademantel in den Keller zu führen. Die alten, schmalen Treppenstufen knirschen. Ich tropfe. Weberknechtleichen bleiben in meinen nassen Haaren hängen. Ich bete für Hartmut, dass er einen guten Grund hat, mich aus meinem ersten Bad in der neuen Wohnung zu reißen.

Er hat ihn.

Hartmut richtet den Spot seiner Taschenlampe auf eine Bombe.

Kaum erkennbar, zwischen alten Autoteilen, zerbeulten Blechwannen und verrostetem Schrott eingeklemmt, streckt sie uns ihre freche stählerne Rundung entgegen. Wir erkennen so was, da wir eine Menge Trash-Reportagen über Bombenentschärfer gesehen haben.

Eine Bombe.

Ich stehe im Bademantel, mit Weberknechtleichen in den Haaren im Keller meiner neuen Behausung und starre auf eine Bombe. Oben wartet warmes, nach Eukalyptus, Lavendel und blauer Lagune duftendes Badewasser auf mich, und hier unten liegt eine alte Bombe aus einem Weltkrieg.

»Was machen wir jetzt?«, frage ich, doch Hartmut hat schon einen Monolog begonnen.

»Das kann doch nicht sein, dass das noch keiner gesehen hat. Haben die denn alle noch nie in diese Räume geguckt? Benutzen die denn alle nur die Scheune als Abstellraum?« Ich sehe Hartmut an, wie wir hier gekrümmt in einem Keller stehen, dessen Decken nicht mal genug Platz zum Aufrechtgehen lassen und dessen Flure wie grob in die Erde gehauene Stollen wirken. Hartmut nickt. »Ja, gut, aber selbst wenn niemand hier den Keller betritt, ich meine, also … ja Herrschaftszeiten, wir wohnen auf einer Bombe!!!«

Es klingt fast komisch, wie theatralisch er das sagt. Als müsse er mir etwas weidlich Empörendes mitteilen, dessen Tragweite nur er erkennen kann. Ich frage noch mal: »Was machen wir jetzt?«

»Na anrufen!«, sagt Hartmut.

»Anrufen«, bestätige ich nachdenklich.

Am nächsten Morgen ist die Nachbarschaft abgeriegelt, und selbst die tätowierten Kriegsveteranen aus der Frittenbude haben sich überreden lassen, ihr Geschäft kurz zu unterbrechen. Wir stehen neben ihnen hinter der Absperrung ein paar Straßen weiter; wir wollen wie sie in der Nähe sein, falls die Entschärfung misslingen sollte, und nicht irgendwo bei Kaffee und Kuchen in einer Turnhalle sitzen. Die Veteranen schimpfen leise, dass sie wegen solcher Peanuts jetzt Verkaufsausfälle haben, es ist die bestgehende Pommesbude in Bochum, und ob denn hier niemand von den Zivilisten im Krieg gewesen sei. Neben ihnen stehen Herr Häußler und Frau Klein, die Nachbarn aus den anliegenden Häusern, denen Hartmut allerdings keine Geschenkbüchlein gebracht hat. Sie hörten das erste Mal von uns als von denen, die dafür verantwortlich sind, falls neben »dem Schandfleck« auch die schönen Häuser des Viertels in Schutt und Asche liegen sollten. »Dass die den alten Schrott im Keller nicht einfach ruhen lassen können«, höre ich Frau Klein zischeln, »fünfzig Jahre lang war doch auch nix!«

Zu meinen Füßen steht der Karton mit den 350 Playstation-Spielen. Ich soll verflucht sein, wenn ich die in den Trümmern zurücklasse. Hans-Dieter hockt neben uns und krault seine Katze, Kirsten ist im Dienst, und das Gothic-Pärchen von oben war gestern Nacht noch mit uns unten und hat Fotos von der Bombe gemacht. Sie hatten keinerlei Angst, sondern zeigten sich eher fasziniert von dem Gedanken, zwei Jahre lang auf einer Fliegerbombe gelebt zu haben.

Ich wende mich gerade zu Hartmut, um ihm etwas zu sagen, als ein ohrenbetäubender Lärm das Gemurmel der Leute durchbricht. Für eine Sekunde ist Stille, dann fängt Frau Klein an zu schreien, und Herr Häußler rennt als Erster die Polizeibarriere über den Haufen, hysterisch »Mein Haus, mein Haus!« brüllend, das er schon im Geiste unter den Trümmern unserer Hütte begraben sieht. Ich denke zuerst an den toten Entschärfer der Bombe und dann daran, dass das schöne neue Leben mit Hartmut in einer WG nun doch nicht gelingen sollte. »Warum auch?«, denke ich plötzlich bitter, »warum auch sollten wir dieses Glück haben?« Dann packt Hartmut mich an der Jacke und zieht mich schweigend hinter sich her. Als wir um die Ecke biegen, sind die Kriegsveteranen und Herr Häußler schon da. »O nein, o nein, o nein«, jammern die Veteranen, als wollten sie so etwas nie wieder sehen, während der Bombenentschärfer mit einem erstaunten Gesicht zwischen Stolz und Überraschung aus unserem intakten Haus heraustritt und die in Fetzen hängenden Fenster der Frittenbude betrachtet, aus denen kleine Flammen züngeln, die von der eigentlich wegen der Entschärfung bereitgestellten Feuerwehr zügig gelöscht werden. »Ich hab das Gas nicht abgestellt«, klagt einer der Veteranen aus der Frittenbude. »O nein, o nein, o nein, ich hab das Gas nicht abgestellt!« Frittierölpfützen glitzern auf dem Bürgersteig.

Zwei Wochen später liege ich wieder in der Wanne. Es ist Samstag, und ich habe die alten Playstation-Magazine rausgekramt. Ich blättere in den Artikeln, als Hartmut ins Bad kommt.

»Irgendwelche Hiobsbotschaften?«, frage ich.

Hartmut schüttelt den Kopf und stellt grinsend eine stinkende, mit grauem Papier umwickelte Schale auf meine Wannenablage. Doppelte Pommes Spezial. Kein Geruch ist vergleichbar.

»Die Bude ist wieder ganz, sah schlimmer aus, als es war, neulich«, sagt er. »Geht aufs Haus!«

Ich lächele, entblättere meine von Mayo und Ketchup durchsetzten Zwiebelpommes, sinke mit der Schale in der Hand tiefer in die Wanne und fühle mich endlich zu Hause.

DER ROSENMANN

Ich finde das ja albern. Aber Hartmut wollte es so. »Diese Frau kannst du nur mit Romantik rumkriegen, ganz klassisch, da muss jedes Wort sitzen. Das ist wie ein Schauspiel, und ich will ein guter Darsteller sein, also brauche ich einen Souffleur.« Und so sitze ich nun an der Bar des Restaurants nahe dem Durchgang zur Toilette und spiele den Souffleur. Hartmut sitzt hinten in einer gemütlichen Ecke, den Blick in meine Richtung und seine Angebetete vor sich. Er musste erst ein einziges Mal aufs Klo, um sich einen rhetorischen Rat abzuholen. Er ist wirklich gut. Es ist nicht mal zehn, und die beiden spielen schon gegenseitig mit ihren Fingern über dem Tisch. Ab und zu senkt sie neckisch den Kopf und tut verschämt, dann hebt sie langsam wieder den Blick, verstärkt das Fingerspiel und lächelt über ihre kleine Nase hinweg. Hartmut ist heute gut drauf. Das muss man ihm lassen.

Er hatte aber auch alles perfekt vorbereitet. Die richtigen Zitate rausgesucht, die er spontan in den Raum werfen konnte, um seine Gefühle zu unterstreichen. Herausgefunden, wo sie gerne hingeht, und den Chef des Restaurants gebeten, genau zum Hauptgang im Hintergrund ihre Lieblingsplatte aufzulegen. Leise genug, dass sie es nicht sofort merkt. Laut genug, dass es ihr sachte ins Bewusstsein steigt und dieses langsam ansteigende Erstaunen einsetzt, das dann in Strahlen und den planungsgemäß ersten Kuss übergeht. Wo gibt es schon einen Mann, der sich so viel Mühe gibt?

Nach dem Essen würde er sie zum See führen, an seine geheime Lieblingsstelle. Die kleine Lichtung am Rand des Wäldchens, das plätschernde Wasser, Mondlicht, die Sterne. Wir hatten extra nachgeschaut auf allen Wetter-Seiten im Internet: Diese Nacht würde wolkenlos und sternklar. Im Restaurant riecht es sanft nach Weißweinsauce, der Hauptgang nähert sich und ich nehme meinen dritten Scotch. Es fühlt sich gut an, wenn alles perfekt läuft, selbst wenn man nur Souffleur ist.

Doch dann geschieht, was wir nicht eingeplant hatten. Der Rosenmann! Strahlend betritt er das Restaurant, mit einem pakistanischen Lächeln und einem riesigen Strauß Rosen. Ich sehe ihn zuerst, und ich weiß sofort, was zu tun ist. Niemals darf der Rosenmann den hinteren Tisch mit Hartmut und seiner Angebeteten erreichen. Denn wenn es etwas gibt, das ein Rendezvous mit Sicherheit zerstört, dann ist es der Rosenmann. Als Gentleman kannst du einfach nichts richtig machen, wenn der Rosenmann vor dir steht und fragt, ob du für eine wunderschöne Frau nicht eine wunderschöne Rose kaufen willst, denn dein Problem ist, dass du die wunderschöne Frau erst seit einer Woche kennst. Die Rosenmann-Situation aber gehört zu den anspruchsvollsten Herausforderungen für Paare; sie sind der sicherste Test, ob zwei Menschen wirklich eine Beziehung haben, in der nicht mehr jeder Satz ein Abtasten an der Laune des anderen und ein Umschiffen des roten Knopfes ist, sondern in der eine wahrhafte Symbiose entsteht, eine Verbindung, die selbst den Terror des Rosenmannes überstehen kann. Solche Paare haben für diesen Fall schon eine gemeinsame Taktik entwickelt und machen sich einen großen Spaß daraus. Mal kauft er die Rose für fünf Euro und gibt noch fünf als Trinkgeld dazu, wirft sich dann vor sie und sagt, dass diese Rose ihn nun endgültig überzeugt hätte, ihr den Antrag zu machen. Gemeinere Paare verwickeln den Rosenmann in ein floristisches Gespräch über Pflanzenzüchtung und Pestizide, und akademische Beziehungsteams beginnen plötzlich, die Kulturgeschichte der Rose abzuklappern, bis der Rosenmann entnervt und ohne Profit weiterzieht. Doch Hartmut und seine Angebetete gehören nicht zu diesen Paaren, bei denen eine lange gemeinsame Zeit mit dem Erreichen jenes Stadiums zusammenfallen muss, in dem man nicht mehr nur keinen Souffleur, sondern auch kein Theater mehr braucht. Kurzum: Der Rosenmann muss weg. Und ich bin plötzlich kein Souffleur mehr, sondern ein Ablenker. Ich muss den Rosenmann ablenken. Ich muss ihn aufhalten. Ich stehe von meinem Hocker auf und gehe auf ihn zu. »Achmed!«, rufe ich, weil ich nicht weiß, wie Pakistaner heißen, und öffne meine Arme. »Mensch, alter Kumpel, wie lang ist das jetzt her?!« Mein Geschrei und die Tatsache, dass ich die Bar verlassen habe, lassen Hartmut aufsehen. Er bemerkt den Rosenmann. Er verschluckt sich an der Weißweinsauce und sagt etwas, um die Aufmerksamkeit nicht auf mich zu lenken. »Was? Wie? Ich kenne Sie nicht!«, sagt der Rosenmann.

»Doch, klar, weißt du nicht mehr? E-Technik-Studium, viertes Semester, Fachschaft?« Ich höre mich sagen, dass wir zusammen E-Technik studiert hätten, weil ich bei dem Namen Achmed an Terroristen denke. So ticke ich also, wenn ich nervös bin und mich nicht konzentrieren kann? Zeigt sich hier mein wahres Ich? Verbirgt sich das hinter dem Schleier meiner Selbstkontrolle? Ich werde langsam sauer auf Hartmut. Der Abend war doch keine so gute Idee.

»Sehe ich etwa so aus, als ob ich studiert hätte?«, fragt der Rosenmann unverblümt. »Müsste ich dann Rosen verkaufen?«

»Ähhhh … «, sage ich, und der Rosenmann will weitergehen.

»Halt! Stopp! Einen Moment noch!«

Er dreht sich um und blickt so finster, als würden meine Terroristen-Vorurteile zutreffen.

»Ich wollte eigentlich … es ist … also gut«, sage ich, »ich bin einfach total nervös, weil ich eigentlich Rosen kaufen wollte und tierisch verknallt bin und nicht wusste, wie ich Sie ansprechen sollte und … «

Der Mann sieht mich skeptisch an und bewegt sich wieder zu mir.

»Wer ist denn die Angebetete?«, sagt er nun und setzt wieder sein pakistanisches Lächeln auf.

Hastig blicke ich mich im Raum um und suche nach Frauen, die ohne ihre Männer da sind. Es gibt keine. Nur Paare. Was mache ich bloß? »Die da hinten!«, sage ich und zeige auf Hartmuts Angebetete. Ich weiß nicht, warum ich das tue. Ich will nach Hause. Der Rosenmann grinst wieder.

»Na denn mal ran, was?«, sagt er. »Wie viele Rosen wollen Sie denn haben?«

»Alle!«

»Alle!!!???«

Der Rosenmann erweitert seinen Augenumfang.

»Wie viele haben Sie denn da?«, frage ich.

Der Rosenmann täuscht Zählen vor.

»Zirka fünfundzwanzig!«, sagt er.

»Alles klar, nehm ich!«, sage ich.

Der Rosenmann vergisst zu atmen.

»Glauben Sie nicht, dass das etwas übertrieben wäre?«, fragt er.

»Wollen Sie ein Geschäft machen und schnell Feierabend haben oder was?«, frage ich zurück.

»Ich mein ja nur … das sind dann aber 125 Euro«, sagt er.

Jetzt atme auch ich nicht mehr. Ich muss Hartmut retten. Ich fummle die letzten Scheine aus meiner Geldbörse und gebe sie unter Schmerzen dem Rosenmann. Der überreicht mir den ganzen Strauß. Er ist schwer.

Plötzlich steht Hartmut mit seiner Angebeteten neben uns. Sie hat ihn an den Händen zur Theke gezogen und sagt: »Oh, kaufst du mir eine Rose, Hartmut?« Hartmut macht ein entschuldigendes Gesicht und versucht gleichzeitig, so zu tun, als ob er mich nicht kennt.

»Moment mal«, sagt der Rosenmann amüsiert, »ich glaube, dieser Mann braucht Ihnen keine Rosen mehr zu kaufen, weil der da schon … « Ich winke ab und fuchtle mit den Händen.

»Was hat der da???«, sagt Hartmuts Angebetete und mustert mich wie Schimmelgemüse im Kühlschrank.

»Alle Rosen gekauft, um Sie Ihnen zu überreichen, glückliche Frau!«, sagt der Rosenmann, und ich denke an Mord.

»Hartmut!«, sagt die Angebetete jetzt, und Hartmut weiß nicht, was er machen soll. Aus der ohnehin schon schweren Situation »Rosenmann und Paar« ist die unfassbar schwere Situation »Rosenmann, Paar und armer Irrer, der für eine Fremde alle Rosen kauft« geworden. Erschwerend kommt hinzu, dass Hartmut diesen armen Irren kennt und das nicht zeigen darf. Was erwartet sie jetzt? Was soll er tun? Jetzt brauchte Hartmut dringend einen Souffleur.

»Hören Sie«, sagt Hartmut jetzt, »das können Sie leider nicht machen, denn diese wundervolle junge Dame gehört mir!«

»Wie bitte, gehören? Bin ich jetzt dein Besitz oder was? Kann man mich kaufen wie so ’ne überteuerte Rose?«

Der Rosenmann blickt finster.

Hartmut wird rot. Ich würde gerne soufflieren.

»Nein, nein, so meinte ich das doch nicht!«

»So, wie meintest du es denn?« Die Angebetete stemmt ihre kleinen Hände in die Seiten.

»Du wolltest doch, dass ich jetzt zeige, dass dieser Eumel da dich nicht einfach anmachen darf?«

»Ach ja, wollte ich das? Bist du etwa eifersüchtig? Regt es dich jetzt schon auf, wenn fremde Männer mich attraktiv finden? Na, das fängt ja gut an!«

Der Rosenmann guckt, als bekomme er langsam Spaß an der Szenerie.

»Ja, was soll ich denn machen?«, sagt Hartmut jetzt und klingt weinerlich.

»Jaaaa, da haben wir’s doch, plötzlich kommt der hilflose kleine Junge raus, das ist immer dasselbe bei euch Männern. Weißt du was, es hätte mich nicht mal gewundert, wenn du heute Abend hier einen Kumpel zur heimlichen Unterstützung hingesetzt hättest, aber auf die Idee muss dich wohl erst eine Frau bringen.«

»Also ich für meinen Teil trete Ihnen gerne ein paar Rosen ab, und dann ziehen Sie mit Ihrem Liebsten halt weiter«, sage ich.

»Ach komm, nicht nötig«, sagt Hartmut jetzt und setzt sich auf den Hocker neben meinen verwaisten Scotch.

»Vanessa, das ist mein Mitbewohner. Mitbewohner – Vanessa. Er hat das Drehbuch für diesen Abend geschrieben und war mein Souffleur. Eigentlich.« Dann stützt Hartmut seinen Kopf auf die Hände und hängt über der Bar wie in einem Film Noir. Der Rosenmann ohne Rosen hat sich derweil gesetzt und einen teuren Whisky bestellt. Ich stehe unbequem mit dem Riesenstrauß.

Vanessa setzt sich an die Bar neben Hartmut, nimmt meinen halb vollen Scotch und trinkt. Dann sieht sie mich an: »Was steht als Nächstes im Drehbuch?«

»See im Mondschein«, sage ich. »Aber das hat Hartmut geschrieben.«

Vanessa trinkt langsam aus, stellt das Glas ab, wartet eine Sekunde, sieht Hartmut in seiner Leidenspose an und sagt: »See im Mondschein ist gut, komm!« Dann hüpft sie vom Hocker, huscht an uns vorbei und verlässt das Restaurant. Hartmut hebt seinen Blick, grinst, klopft mir auf die Schulter, sagt »Danke!« und flitzt hinterher.

Ich seufze, stehe mit meinem Strauß Rosen für 125 Euro vom Hocker auf und sehe den Rosenmann an, der seinen zweiten teuren Whisky bestellt. Er nickt mir aufmunternd zu. Ich setze ein Lächeln auf, gehe zum erstbesten Tisch und frage, ob der Herr nicht eine wunderschöne Rose für eine wunderschöne Frau kaufen will.

SPAM

Es begann an einem Montag. Ich betrete mit verkniffenen Augen das Bad und sehe Hartmut, wie er nackt vorm Waschbecken steht und seinen erigierten Penis in den Händen hält. In beiden Händen. So wie Buschmänner die Stöckchen halten, die sie zum Feuermachen auf einem Stein reiben. Ich will wieder ins Bett, aber ich kann den Blick nicht abwenden. »Subversion durch Affirmation«, sagt Hartmut, und aus seinem Mund ist es das Passendste, was er morgens um halb sieben in dieser Lage sagen kann. »Ich probiere jetzt alles aus, was sie mir anbieten. Alles!« Er grinst. Er hat augenscheinlich gute Laune, wie er da nackt mit seinem Riesenständer vor mir steht. Der Plastikschrank mit eingebauter Lampe über dem Becken taucht den Raum in fahles Licht. Draußen ist es fast noch dunkel. Auf der Ablage neben der Wanne liegt ein Buch von Walter Benjamin.

»Spam!«, sagt Hartmut jetzt, als er merkt, dass ich abgelenkt bin. »Diese Werbemails! Ich mache jetzt genau das, was die gerade nicht erwarten. Ich antworte. Ich kaufe. Bei allen.« Ich verstehe nicht ganz. Es ist einfach zu früh. Ich nehme mir vor, nach der Arbeit wieder ins Bett zu gehen und den ganzen Tag melancholische Musik zu hören. Bis ich wieder ins Bad gehen kann und dort kein Mann mit Ständer mehr vor dem Becken steht. »Seit letzter Woche habe ich mich schon bei sieben verschiedenen Glücksspielen angemeldet. Free Lotto, Big Casino, Win A Million Dollars … « Ich hebe die Hände vor den Kopf und wippe hin und her: »Stopp! Stopp! Stopp! Jetzt warte mal. Du meldest dich bei diesem Online-Lottoscheiß an? Mit deinen echten Daten?«

»Ja, und die Penisverlängerungspillen sind auch schon gekommen. Siehst du?«

Ich will nicht sehen und schnell an etwas anderes denken. Toast mit Eiern kommt mir als Erstes in den Sinn. Auch nicht gut. Ich trage eine Jogginghose und fühle mich zerschlagen. Ich stinke. Ich muss mich bald waschen. »Wär gut, wenn du heute Mittag da wärst, da kommt das Paket mit den 3D-Brillen.«

»Und wo bist du?«, frage ich.

»Ich muss noch in die Stadt, einen Premiere-Decoder holen.«

»Was?«

»Na ja, die haben mir ein gutes Angebot geschickt!«

Ich gebe erst mal auf. »Könnte ich vielleicht an das Waschbecken?«, frage ich.

»Klar!«, sagt Hartmut und gibt die Hygiene frei. Samt Ständer verschwindet er in seinem Zimmer. Ich drücke gut duftendes Sea Extract aus der Duschgelflasche und seife mir das Gesicht ein.

Als ich am Mittag von der Arbeit heimkomme, sitzt Hartmut am Küchentisch und hat ein paar Dutzend kleine Zettel ausgebreitet. Ich gehe zum Kühlschrank und nehme einen Schluck Milch. Für einen kurzen Moment fühle ich mich wie in einer amerikanischen Sitcom. »Was machst du?«, frage ich, halte dabei die Milchtüte halb vor den Mund und bleibe im Licht des geöffneten Kühlschranks stehen. Immer noch wie Sitcom. Meine Stimme hat plötzlich diesen runden, klaren Sound, den man auf Hörspielkassetten vernimmt oder wenn man die Kopfhörer von der Anlage in den Fernseher steckt. Dann ist es weg. »Ich verliere langsam die Übersicht darüber, wo ich alles kaufen muss … «, sagt Hartmut und konzentriert sich dabei weiter auf seine Zettel. »Rossmann, Quelle, Amazon, Otto … « Er fuchtelt mit den Händen über dem Tisch wie eine Mutter, die nicht weiß, wo ihr der Kopf steht. »Ich kaufe bei allen. Ich lasse keinen aus, der mir was schickt. Ich habe keinen Filter. Sie werden schon sehen, was sie davon haben!« Ich stelle die Milch wieder in den Kühlschrank und nehme mir eine Flasche Bier heraus. Es ist Mittag, aber ich habe gearbeitet. Hart. Ich setze mich nebenan auf die Couch, mache den Fernseher an, schalte auf den externen Anschluss und starte die Playstation. Grollend materialisiert sich der Startbildschirm von Resident Evil 3 auf der Mattscheibe. Ich öffne das Bier. »Wie lange willst du das machen?«, frage ich in die Küche rüber. »Bis sie es verstehen. Bis ich alle durchhabe. Das wird ihnen eine Lehre sein!« Ich frage mich, wo er das Geld herhat. Ich frage lieber nicht. Ich erinnere mich an den Samstag, als Hartmut und ich auf dem Trödelmarkt waren und uns vornahmen, an ausnahmslos jedem Stand was zu kaufen. An jedem richtigen Stand, versteht sich. Familien mit altem Porzellan, zerkratzten Drehscheibentelefonen, abgewetzten He-Man-Figuren mit fehlendem Arm und Platten von James Last und Jethro Tull. Die Klamottenmarokkaner, Elektrotürken und Militariadeutschen zählten nicht. Es war einer der spaßigsten Vormittage unseres Zusammenlebens. Ich erschieße einen Zombie, der gerade um die Laternenecke biegt, als Hartmut die Mikrowelle anmacht. Wenigstens isst er noch, denke ich.

Am späten Abend gehe ich in die Wanne, lese Marvel-Comics und atme den Duft des Schaumbads ein. Plötzlich höre ich Geräusche aus Hartmuts Zimmer. Hartmuts Schreibtischstuhl quietscht fast rhythmisch, und leise höre ich ihn schneller und schneller atmen. Bläuliches Licht fällt durch das Schlüsselloch. Im Bad ist kein Licht außer meiner Lesekerze neben der Wanne. Hartmut wird langsam lauter, und nach zirka drei Minuten schreit er, und der Stuhl macht einen Ruck. »Ich bade hier!«, rufe ich durch die geschlossene Tür herüber. Hartmut öffnet sie, grinst, streckt seinen nackten Oberkörper ins Bad, versteckt sein Unterteil dezent hinter dem Türrahmen und fischt sich ein Handtuch von der Stange. Ich schüttele den Kopf, blättere meinen Comic um und tauche ein wenig tiefer ins Wasser. Nach fünf Minuten geht das Gequietsche wieder los. Hartmut wackelt, Hartmut zappelt, Hartmut schreit. Leiser, aber er schreit. »Das Handtuch hat er ja schon«, denke ich. Bleibt nur die Lärmbelästigung. Als Hartmut wenig später zum dritten und vierten Mal kommt, frage ich ihn, wie viele Pornoanbieter er schon durchhat und ob er bei den Spam-Mails nach den Firmen oder sogar nach den einzelnen Frauen geht. Es mag ja zu schaffen sein, in ein paar Monaten alle Grundanbieter durchzuhaben, aber wenn er auf jede einzelne Natalie, Steffi, Bettie, Maja, Anja, Tanja und Vivien antwortet, die mit einer exklusiven Videobotschaft auf ihn wartet, wird er bald mehr als nur Penisvergrößerungspillen brauchen. »Kein Problem, ich hab schon ein Durchhaltepräparat bestellt!«, ruft er zurück. »Apropos-weißt du, ob wir noch Kamillosan im Haus haben?«

Nach knapp drei Wochen hat Hartmut das Experiment »Subversion durch Affirmation« eingestellt. Einem Fernsehsender oder dem Spiegel wollte er nicht erzählen, wie viel Geld er in dieser Zeit ausgegeben hat und dass wir einen Stapel neuer Handtücher kaufen mussten, während Hartmut mit ständig wachsendem Penis und einer 3D-Brille auf dem Kopf vor dem Fernseher saß und teuer bestellte TimeLife-Videos glotzte. Hartmut hält nichts von Öffentlichkeit. »So erhält meine Aktion ja doch nur wieder Einzug in die symbolische Ordnung und wird unter K wie Kuriosum abgebucht«, sagt er dann. Meinetwegen hätten die Journalisten aber ruhig kommen können. Wir hätten ihnen erzählt, dass Hartmut tatsächlich alle Kosten wieder dadurch reingeholt hat, dass er bei FreeLotto.de 40 000 Euro gewann. Das allerdings ist wirklich ein Kuriosum.

SAMSTAG BEI JOCHEN

Hartmut und ich sind auf dem Weg zu Jochen, Hartmuts altem Schulfreund. Es ist heiß, und an den Trinkhallen kaufen die Kinder Wassereisstangen, während die Säufer sie dabei melancholisch ansehen. Es gibt viele Trinkhallen in Dortmund.

Ich gehe das erste Mal mit zum Samstag bei Jochen, und seit wir daheim in die S-Bahn gestiegen sind, erzählt Hartmut von ihm. Wie ich das so höre, denke ich mir, dass die beiden viel besser in eine WG gepasst hätten als Hartmut und ich. Jochen hat mal studiert und lebt jetzt davon, Flaschenpfand einzusammeln. Es kommt ihm zugute, dass heutzutage jeden Abend irgendwo eines dieser alternativen Konzerte stattfindet, bei dem junge Menschen auf dem Parkplatz kleiner Clubs oder umfunktionierter alter Industriehallen stehen, saufen und sich ansehen, welche Bands die anderen auf ihr T-Shirt gedruckt haben. Jochen hält nichts von diesen Sachen, er kauft ausschließlich Original-Musikkassetten auf Flohmärkten, weil er findet, dass es ein ganz anderer Ansatz sei, wenn man sich einfach mal vorstelle, man hätte gar kein Geld für Musik und es gäbe auch kein Radio und man wäre in irgendeiner armen Stadt in Südafrika, und dann fände man eine Kassette für ein paar Cents. Dann wäre einem egal, ob das Mozart sei oder Metallica oder U2 oder gar Volksmusik. Man würde alles zu schätzen wissen, und darauf käme es doch letztlich an, etwas zu schätzen zu wissen.

Als wir die vierte Trinkhalle passieren, sagt Hartmut »Jetzt reicht’s aber!«, rennt hinüber und kommt mit einem ganzen Kranz Wassereis wieder. »Das kann man ja nicht mit ansehen!«, sagt er, und ich nehme mir Waldmeister und Kirsch. Ich frage mich, was ich nachher hier erleben werde. Das typisch samstägliche Event stünde wieder an, hat Hartmut gesagt. Ich könne ihn und Jochen als eingespieltes Team erleben, aber vorher solle ich mir unbedingt seine Filmsammlung ansehen, betont Hartmut jetzt zum siebten Mal. Das ist so ein weiterer Spleen, den Jochen hat und der ihn Hartmut so ähnlich macht. Er sammelt und interpretiert Filme. Aber nicht etwa Hitchcock oder Godard oder irgendwelche polnischen Kunstregisseure, über die man sonst so ganze Ordner mit Deutungen vollschreiben könnte. Nein, Jochen sammelt B- und C-Filme aus der Videothek, VHS-Originale mit Hülle, Actionreißer mit Jeff Wincott, Michael Dudikoff oder anderen Heroen, unsägliche Horrorfilme, Prügelstreifen, bei denen oben das Mikro ins Bild hängt. Er ist fest davon überzeugt, es bei diesen Produktionen mit einer rundum unterschätzten Kunstform zu tun zu haben. »Das ist genial«, sagt Hartmut und schlürft an seinem Wassereis. »Jochen sieht darin die ›Selbstinszenierung des Films als Film‹, verstehst du? Bei Hollywood musst du den Kindern immer sagen, dass da niemand in echt stirbt, während du selbst vor Schmerzen zuckst, weil da jemand hyperrealistisch die Bombensplitter in die Hand genagelt bekommt oder dem Soldat ein Bein wegfliegt. Das vergisst du doch nicht. Da bist du doch voll drin, wie ein Zeuge. Aber bei den Trash-Filmen, da kannst du die Rampen sehen, über die die Autos springen, und du siehst, wie einer schon zurückfliegt, kurz bevor die Faust ihn getroffen hat, und die Schauspieler spielen so schlecht, dass man das Spielen als Spielen wahrnimmt. Der Film zeigt auf sich selbst und sagt, dass er ein Film ist. Nicht durch so blöde Ironie, sondern durch ernsthaftes Schlecht-Sein. Da hat Jochen Recht, das ist doch ganz ganz groß, das … oh, wir sind schon da!«

Wir stehen vor einem alten Mietshaus in einer Straßenschlucht, die auf beiden Seiten von lückenlosen Häuserreihen gesäumt wird. Nur schräg gegenüber gibt es eine kleine Pizzeria mit einem Hinterhof und einer Mauer, die zu einem Wall führt. Am Ende der Straße, wo die Schlucht den Stadtring trifft, ist eine Barriere aufgebaut, und ein paar Polizisten versammeln sich und machen Small Talk wie Fußballspieler drei Stunden vor dem Anpfiff. Ich frage mich, ob der Samstag bei Jochen doch nicht so gemütlich wird, wie ich erhoffe. Der Türsummer geht, und wir klettern hoch.

Jochen wohnt im vierten Stock, hoch oben über der Straße. Die Balkontür steht auf, und die sommerliche Brise weht herein. Jochen trägt gerade einen Bierkasten auf den Balkon und ächzt dabei vergnügt. »Hallo, ihr beiden!«, ruft er. Die Wohnung ist relativ klein, und wir stehen bei der Ankunft direkt im Wohnzimmer. Vorne steht tatsächlich eine Schrankwand mit dem Fernseher und endlosen Reihen originaler Videohüllen mit bunter Schrift auf schwarzem Einband. Geradeaus sieht man in die Küche. In einer Ecke stehen Kisten und große Müllsäcke mit Pfandflaschen. Es müssen Hunderte sein. »Das ist mein Mitbewohner mit dem Wassereis, das ist Jochen!«, lacht Hartmut, und ich grinse und reiche Jochen die restlichen Lutschstangen, auf dass er sie ins Eisfach legen möge. »Geht’s heute zur üblichen Zeit los?«, fragt Hartmut, als Jochen gerade mit dem Kopf im Eisfach steckt. »Hmmm«, tönt es aus dem Fach, und als er den Kopf wieder rauszieht, sagt er: »Klappstühle und Bier stehen auf dem Balkon, Kassettenrecorder auch. Die Besenkammer ist aufgeräumt, der Decoder bereit.« Sie grinsen sich an und genießen meinen fragenden Blick. »Wart’s nur ab, wart’s nur ab«, sagt Hartmut.

Bis »es« losgeht, trinken wir Kaffee und essen Kuchen aus Fertigpackungen. Ich gehe die Reihen der Filme ab und kann mich kaum davon losreißen. Beyond Enemy Lines, Karate Warrior, Cybertracker, American Fighter, Last Man Standing … in einer kleinen Ecke links unter dem Fernseher finden sich sogar TV-Reportagen über Schwertransporte und Fernfahrer, augenscheinlich direkt beim Sender als bezahlte Kopie bestellt. »Was ist denn mit den Dokus hier?«, rufe ich in die Küche, wo Jochen Hartmut gerade erklärt, wie das Dosenpfand seine Einkünfte rasend gesteigert hat, seit die Kids jetzt alle mit Pfandflaschen zum Konzert gehen und tonnenweise Pfandwert auf den Wiesen liegen lassen. »Die sind für Hartmut!«, ruft Jochen zurück, und Hartmut gibbelt freudig. »Originale???«, frage ich.

»Alles bezahlt!«, sagt Jochen. »Ich weiß so was zu schätzen.« Ich nicke leise. Sie passen wirklich zusammen.