Die Ampel war grün! - Oliver Uschmann - E-Book

Die Ampel war grün! E-Book

Oliver Uschmann

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Beschreibung

«Was an der Welt wäre eigentlich schlechter, wenn im Straßenverkehr alle die Regeln befolgen würden?» Als Oliver Uschmann diese Frage in einem Kurs zum Punkteabbau hörte, war er genauso empört wie die Charaktere in diesem Buch. Sie können doch nichts dafür, dass das Leben ihnen manchmal in die Quere kommt. Da kann man doch nicht auch noch auf Verkehrsregeln achten! Und überhaupt: Die anderen sind doch die, die so fahren, als hätten sie ihren Führerschein im Lotto gewonnen! Die Autoren blicken tief in die deutsche Autofahrerseele: Das ist mal erschreckend, mal ärgerlich und mal berührend, in der Zuspitzung aber stets lustig und lehrreich.

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Seitenzahl: 310

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Oliver Uschmann • Sylvia Witt

Die Ampel war grün!

Ein Blick in die deutsche Autofahrerseele

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Was an der Welt wäre eigentlich schlechter, wenn im Straßenverkehr alle die Regeln befolgen würden?» Als Oliver Uschmann diese Frage in einem Kurs zum Punkteabbau hörte, war er genauso empört wie die Charaktere in diesem Buch. Sie können doch nichts dafür, dass das Leben ihnen manchmal in die Quere kommt. Da kann man doch nicht auch noch auf Verkehrsregeln achten! Und überhaupt: Die anderen sind doch die, die so fahren, als hätten sie ihren Führerschein im Lotto gewonnen!

Über Oliver Uschmann • Sylvia Witt

Inhaltsübersicht

MottoVorwort oder Lappen weg!Kekse und SünderErste SitzungFranks FahrfreudenJuttas Fahrgeschichte: Bei Onkel Ludwig pocht esStraßenverkehrsordnung, Paragraph 12 (Ausnahmen)Thomas’ Fahrgeschichte: Immer im GesprächDas CockpitRalphs Fahrgeschichte: Lückenlose LangeweileAlberne FragenKarins Fahrgeschichte: Tempo wegen TemposDa schnallst du ab!Rainers Fahrgeschichte: DreifelderwirtschaftDie TestfahrtZweite SitzungEngel, die Einhörner transportierenJuttas Fahrgeschichte: Die Ampel war grün!Alles richtig gemachtThomas’ Fahrgeschichte: Der FluchtwagenDas WohnzimmerRalphs Fahrgeschichte: Die LeerfahrtMeter pro SekundeKarins Fahrgeschichte: LeergelaufenSchaschlikspieß und PfefferbriefchenDritte SitzungRentner und EinparkerJuttas Fahrgeschichte: Der Zettel am TransporterStrafgesetzbuch, Paragraph 142Thomas’ Fahrgeschichte: Die FlascheKlar Schiff machenRalphs Fahrgeschichte: LadungsparodieMit VerbenRainers Fahrgeschichte: Das Feuer und das RadWas wäre, wenn …?Drei Monate später …Zen oder die Kunst, einfach nur Auto zu fahrenwww.franksfahrfreuden.de/gaestebuchSchlaue VerbindungenUnsere Quellen – eine AuswahlEin herzliches Dankeschön an …

Ich fahr, fahr nur auf der Mittelspur,

fahr, fahr auf der Mittelspur,

ja, auf der Mittelspur fahr’n,

da kommt man immer gut an.

 

– Paranoid Hendroid, «Mittelspur»

Der Song zum Buch – gleich hier hören:

Vorwort oder Lappen weg!

Im Herbst 2013 habe ich, Oliver Uschmann, meinen Lappen verloren. Der war zwar zu dem Zeitpunkt auch schon eine kleine Plastikkarte im gleichen Format wie die der Krankenkasse oder die Baumarkt-Bonuskarte. Aber als ich ihn mit 18 Jahren machte, war er noch ein Stück Papier, so groß wie eine kleine Speisekarte – der absolute Angeber unter den Taschendokumenten. Im Grunde passte er gar nicht in die Geldbörse. Man musste ihn im Mantel tragen, wie einen Agentenausweis. Aus Tradition sagt man daher bis heute, wenn es einen trifft: «Der Lappen ist weg!»

Natürlich passiert das immer nur den anderen.

Denkt man.

Bis man selbst ohne Lappen dasteht.

Der Schock saß tief. Weniger, weil ich für eine Weile auf den Zug ausweichen und mit dem Fahrradanhänger zum Supermarkt fahren musste, sondern eher, weil ich es nun endgültig schwarz auf weiß hatte: Ich gehöre zu den Verkehrssündern.

Ich?

Einer der Bösen?

Wie kann das sein?

Denn erstens bin ich ein freundlicher Mensch. Und zweitens sind die Bösen doch die anderen! Die Bösen fahren immer nur ihr eigenes Tempo, nehmen niemals Rücksicht und drängen jeden aus dem Weg, der ihnen in die Quere kommt. Die Bösen ignorieren Regeln. Nicht wie die Cops oder die Sanitäter, die das dürfen und müssen, um Leben zu retten. Nein. Die Bösen ignorieren die Regeln immer, obwohl sie dafür erdacht wurden, das Leben der Menschen zu schützen und das Miteinander in zivilisierte Bahnen zu lenken. Die Bösen glauben, dass die Regeln nur für Sonntagsfahrer gelten, nicht aber für sie, die wahrlich Besseres zu tun haben.

So sind sie, die Bösen.

Und ich, Oliver Uschmann, hätte nie, nie, niemals gedacht, dass ich eines Tages zu ihnen gehöre würde. Bis er weg war, der Lappen.

Nachdem ich den Führerschein wiederhatte, tat ich, was jeder Mann tun sollte, dessen Frau in Flensburg eine blütenweiße Weste hat: Ich hörte auf meine bessere Hälfte. Da die Reform des Bußgeldkatalogs und somit auch die Reform der Kurse, mit denen man sein Punktekonto schmelzen lassen kann, unmittelbar bevorstand, meldete ich mich im Frühjahr 2014 für eines der letzten klassischen Aufbauseminare für punkteauffällige Kraftfahrer an, kurz ASP. Dieser Kurs war, ganz ohne Übertreibung, eine Offenbarung. Dem Leiter und Fahrlehrer gelang es tatsächlich, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dazu zu bewegen, ihre Verhaltensmuster, Gefühle und Gewohnheiten hinterm Steuer in aller Klarheit zu erkennen und infrage zu stellen. Aus trotzigen erwachsenen Kindern wurden in wenigen Wochen gelassene Fahrer aus Überzeugung. Jedenfalls aus den meisten. Keine Verbote, keine Gebote hatten dazu geführt, sondern die Einsicht, dass das Leben als achtsamer Mensch tatsächlich besser ist.

Besser für die Sicherheit.

Besser für den Geldbeutel.

Besser für die Seele.

 

Die Menschen, die ich in dem Seminar kennenlernte, waren Sünder, genau wie ich. Impulsive, fluchende, scheiternde, allzu menschliche Sünder. Die perfekte Inspiration für ein paar Charakterzüge der Figuren in diesem Buch! Ich machte tonnenweise Notizen, und dann vermischten Sylvia und ich sie mit den Erfahrungen und Gewohnheiten aus meiner persönlichen Fahrbiographie. Wir ließen das Material liegen. Genau 365 Tage. Der Deal lautete: Fahre ich mir in dieser Zeit keine neuen Punkte ein, machen wir daraus ein Buch.

Was soll ich sagen?

Ich habe in der gesamten Zeit lediglich zehn Euro Strafgebühr verursacht, weil ich vergessen hatte, die Parkscheibe ins Cockpit zu legen.

Wir, Oliver Uschmann (immer noch vier Punkte) und Sylvia Witt (seit jeher null Punkte), Vielfahrer und Philanthropen mit Verständnis für die «Sünder» dieser Welt, hoffen, dass dieses Buch Ihnen beim Lesen so viel Freude macht, wie es uns beim Schreiben bereitete. Und dass es Sie im Bestfall dazu anregt, das gelassene Fahren ebenfalls auszuprobieren. Dann haben Sie durch jedes Blitzerbußgeld, das Sie sparen, den Kaufpreis gleich mehrfach wieder raus!

Da die Handlung im letzten Seminar vor der Punktereform spielt und heute etwas andere Punkte und Strafen gelten, geben wir bei den «Sünden», die Jutta, Thomas, Ralph, Karin und Rainer begangen haben, immer beide Werte an: die, die vor der Reform gegolten haben und die viele von Ihnen noch im Kopf haben werden; und die, die Sie sich seit der Reform einhandeln können. Doch diese Zahlen können Ihnen nach der Lektüre eigentlich egal sein: Mit den Geschichten unserer fünf Sünder und den weisen Worten von Fahrlehrer Frank im Hinterkopf werden Sie alle möglichen Punkte fortan von vornherein vermeiden – und dabei ganz in Ihrer Mitte sein.

 

Wir wünschen Ihnen eine gute Fahrt!

 

Sylvia Witt & Oliver Uschmann

Kekse und Sünder

Da sitzen sie also, denkt Frank, meine neuen Sünder. Gekommen, damit ich sie von ihren Punkten in Flensburg befreie.

Wie immer, wenn er ein Seminar gibt, hat er alle Tische zu einer großen Tafel zusammengeschoben. Die Sonne scheint durch die große Fensterfront der Fahrschule auf die Tische mit den Keksen und den kleinen Mineralwasser- und Colaflaschen. Der Beamer ist eingeschaltet und wirft ein helles Rechteck auf die Wand, in dem Herzlich willkommen! steht. Staubkörner tanzen im Lichtstrahl.

Vier der sechs Teilnehmer, die in den kommenden Wochen an dem Kurs in der Fahrschule Franks Fahrfreuden teilnehmen, sind bereits da. Auf den Mappen, die vor ihnen liegen, steht ASP-Aufbauseminar. Sie alle sind hergekommen, weil sie Punkte abbauen wollen, doch es geht immer um mehr als das. Frank kennt ihre Namen und ihr Sündenregister bereits. Mit jedem von ihnen hat er bei der telefonischen Anmeldung zum Kurs rund eine halbe Stunde geplaudert. Nicht aus Höflichkeit, sondern um ein Gefühl dafür zu bekommen, mit welchem Typ Verkehrssünder er es zu tun hat. Dennoch kann es immer wieder Überraschungen geben. Wie sich jemand am Telefon und in der ersten Sitzung des Kurses gibt, zeigt meistens noch nicht sein wahres Gesicht. Als vorhin die ersten Teilnehmer eintrafen und vorne am Schreibtisch neben der Tür zur Toilette und dem Sideboard mit den Broschüren ihre Kursgebühr bezahlten, hat Frank trotzdem seine inneren Wetten abgeschlossen. Wie ein Profiler, denkt er sich. Einer, der gerne schon mit der ersten Einschätzung recht hat.

Nun sitzen sie jedenfalls da, an der Tafel aus zusammengeschobenen Tischen. Der hagere, in die Länge geschossene Mann, der gerade eine der weißen Schüsseln anhebt und fragend in die Runde der Teilnehmer schaut, ist Ralph. Ein Lkw-Fahrer Ende 50 mit mehr als zwei Jahrzehnten Berufserfahrung auf dem Bock. Nach dem, was Ralph am Telefon über seine Punkte und Strafen erzählt hat, gehört er zum Typ der Nüchtern-Vernünftigen. Kein Straßenrambo, sondern ein guter Mann, der lediglich Befehlen, Notwendigkeiten und Sachzwängen folgt. Und in der Tat: In diesem Gesicht sieht Frank keinen fahrlässigen Menschen. Einerseits. Andererseits hat er bereits zu viele Lastkraftwagenfahrer kennengelernt, um auf diese innere Wette hohe Summen zu setzen.

«Keks?», fragt Ralph und strahlt dabei wie ein kleiner Junge in einem alten Kinderfilm. Als wäre im Prinzip jeder Tag erst einmal ein guter, bis er das Gegenteil beweist. Nur sein linkes Auge teilt diese Einstellung nicht. Es zuckt, als hätte da die Wirklichkeit ein Wörtchen mitzureden.

Neben Ralph sitzt eine kleine, leicht untersetzte Frau mit einer Gesichtshaut, die von vielen Jahren intensiven Rauchens zeugt. Sie streckt den Arm aus und nestelt gezielt ein Waffelröllchen aus der Keksmischung. Jutta, eine Lehrerin. Hier ist sich Frank sicherer. Bei ihren Kindern in der Klasse mag sie engagiert und fürsorglich sein, aber auf der Straße ist sie der Typ Die Aggressive. Natürlich würde sie selbst das niemals von sich denken, in ihrem unschuldigen roten Kleinwagen, der draußen vor dem Schaufenster der Fahrschule nicht einmal zwei Drittel der Parkplatzlänge einnimmt. Als Frank vorhin die Tische gedeckt, den Beamer angeworfen und die Keksschüsseln gefüllt hat, hat er gehört, wie Jutta der kleinen Runde auf dem Bürgersteig mitteilte, was sie davon halte, hier mitmachen zu müssen. Kokolores sei das alles, hatte sie gesagt und dabei ihre Zigarette geschwenkt, als wollte sie das Haus mit dem Qualm einrahmen. «Totaler Kokolores!» Jetzt sitzt sie am anderen Kopfende der Tafel, genau Frank gegenüber. Er weiß, was das bedeutet. Sie sitzt da nicht, weil es keinen anderen Platz mehr gab, sondern um zu sagen: Du bist Lehrer, ich bin Lehrerin – erzähl mir hier bloß keinen Scheiß!

Die junge Frau mit dem dunkelblonden Pony, die neben Ralph auf der rechten Seite sitzt, winkt dankend ab. «Ich esse Kekse lieber selbst gemacht», sagt sie. Karin. Als sie vorhin eintraf, musste Frank auf dem Anmeldebogen noch mal ihr Geburtsdatum prüfen. Er konnte nicht glauben, dass das tatsächlich die Teilnehmerin sein sollte, die ihre einzigen drei Punkte loswerden muss, um sich als Beifahrerin ihrer bald 17-jährigen Tochter im ersten Führerscheinjahr eintragen zu dürfen. Sie war kaum älter, als sie damals Mutter wurde, und sieht jetzt noch mädchenhaft aus mit ihren rosigen Wangen, den leichten Sommersprossen und der dezenten Stupsnase. Der Fahrertyp, zu dem sie gehört, ist selten. So selten, dass er in den üblichen Listen der Rollen, die Menschen hinter dem Steuer einnehmen, nicht vorkommt. Er ist eine Eigenkreation von Frank. Fahrer wie Karin – die fast immer Fahrerinnen sind – nennt er: die Aufgewühlten. Und zumindest nach dem, was sie ihm am Telefon erzählt hat, gehört sie dazu. Ganz wie beim gutmütig Kekse verteilenden Ralph könnte er sich allerdings auch bei ihr täuschen.

Ein wenig verlegen streicht Karin sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Frank fällt auf, wie der Blick des vierten Teilnehmers wie hypnotisiert an Karins Ohrmuschel kleben bleibt. Thomas. Der Mittvierziger hat sich vorhin ziemlich ungeschickt draußen angeschlichen und Ralph, Jutta und Karin, die schon vor der Tür warteten, von der anderen Straßenseite aus beobachtet. Frank konnte sein schwarzes, vom Gel glänzendes Haar zwischen den hellen Blüten der Buschrosen gut erkennen, die gegenüber einen winzigen Park mit Christus-Statue einrahmen. Solche kleinen Ecken mit Kies, Mülleimer und Sitzbank zur christlichen Einkehr finden sich in jedem Dorf der Gegend, einem tief katholischen Landstrich. Dass aber ausgerechnet gegenüber seiner Fahrschule, in der er Sündern dabei hilft, Ablass in Flensburg zu erlangen, ein Kreuz mit dem Mann steht, der die ganze Menschheit von ihrer Schuld erlöst haben soll, ist natürlich Zufall, aber ein schönes Bild. Und dass ausgerechnet Thomas sich unter dem Kreuz hinter den Büschen versteckte, um die anderen Sünder heimlich in Augenschein zu nehmen, erst recht. Schließlich ist der Vertreter für Schreibwaren, der sich alle seine Punkte nicht mit dem Dienstwagen, sondern in der Freizeit eingefahren hat, als Fahrer vom Typ Der Imponierer der Gefährlichste von allen – und würde das ebenfalls niemals selbst von sich glauben. Darauf, ihn richtig einzuschätzen, setzt Frank in seinem inneren Wettbüro die höchste Summe. Doch so verschieden die Gründe sind, weswegen das Punktekonto der vier voll ist – eine Rolle teilen alle, die in Franks Kurse kommen, ohne Ausnahme: die Rolle des Opfers. Niemand, der hier zwischen Mappen, Keksen und Kugelschreibern sitzt, glaubt, selbst zu den Sündern zu gehören.

Thomas nimmt sich ein Nusskipferl. Ralph stellt die Schüssel wieder auf den Tisch. Karin schaut zu Frank, wie eine Schülerin, die wartet, dass der Lehrer den Unterricht offiziell beginnt. Thomas kann den Blick nicht von ihrer Ohrmuschel lassen. Wie ein schlafender Hund schnauft der Beamer leise seine Staubluft aus. Frank weiß: Es gibt viel zu tun.

Franks Faktencheck
Die Fahrerrollen

Um die Ursachen gefährlichen Verhaltens im Straßenverkehr zu begreifen, vor allem aber, um diese Ursachen den Menschen begreiflich zu machen, unterteilen Seminarmappenautoren und Kursleiter das Verhalten punkteauffälliger Fahrer in verschiedene, immer wieder auftauchende Rollen. Zu den häufigsten zählen Der Imponierer, Der Aggressive sowie Der Kämpfer und Sieger.

Dem Verkehrspsychologen Jörg-Michael Sohn zufolge gibt es starke Parallelen zwischen Fahrstil und Lebensstil. Impulsive Menschen, die auch abseits der Straße gerne die Regeln brechen, nehmen es auch hinter dem Steuer mit den Vorschriften nicht so genau. Charaktere, die das Leben als Kampf um Chancen und Ressourcen betrachten, neigen dazu, sich auf keinen Fall und von niemandem «ausbremsen» zu lassen.

Wie Frank und viele andere Kursleiter wissen, erschöpfen sich die Gründe für Verkehrssünden allerdings nicht in den durchaus wahren Klischees vom aggressiven Karrieristen in Luxuslimousine mit eingebauter Vorfahrt. Mindestens ebenso gefährlich sind Menschen, die sich scheinbar selbstlos um alles und jeden kümmern und dabei dermaßen hektisch und nervös werden, dass ihnen jeder andere, der sich am selben Tag ins Auto gesetzt hat, wie ein nutzloser Sonntagsfahrer vorkommt, der bei weitem nicht so dringende Gründe hat, ans Ziel zu kommen, wie sie.

Erste Sitzung

Franks Fahrfreuden

Es kratzt wie ein Spachtel auf Putz, als Thomas mit dem Kugelschreiber, an dessen Seite das Logo von Franks Fahrfreuden prangt, auf der ersten Seite seiner Teilnehmermappe das heutige Datum eintragen will. Amüsiert schaut er zu Frank, der seinerseits die dicke Kladde aufgeschlagen hat, in der er alles aufschreibt, was ihm an seinen Sündern auffällt. Gerade eben hat er zu Thomas darin notiert: Eitel, aber überfordert. Gut rasiert, bemerkt aber nicht den fehlenden Knopf am Hemd. Manchmal fragt sich Frank, ob das boshaft klingen könnte, wenn es jemals einer außer ihm selbst zu Gesicht bekäme, aber jedes Detail ist wichtig. Wer als Vertreter fehlende Knöpfe am eigenen Hemd nicht bemerkt, vergisst gerne auch mal, das Kühlwasser nachzufüllen. Womöglich ist Thomas nicht nur ein Exemplar des Typs Imponierer, sondern auch des Typs Überlasteter, einer Nebenkategorie der Aufgewühlten.

«Schon mal darüber nachgedacht, andere Werbestifte für die Fahrschule herstellen zu lassen?», fragt Thomas. «Ich könnte dir Gelroller empfehlen. Es muss nicht immer der klassische Kuli sein.»

Frank schmunzelt. Wahrscheinlich hat der Vertreter schon ein Rabattangebot in der Tasche.

«Wisst ihr, wann der Kugelschreiber erfunden wurde?», fragt Thomas in die Runde.

Ralph sagt: «Ich hab meinem Telefonjoker nicht Bescheid gesagt …»

Jutta antwortet: «1938.»

Thomas reißt die Augen auf.

Jutta sagt: «Lehrerin.»

Thomas fängt sich wieder und fuchtelt mit dem Werbestift über dem Tisch herum: «Und seit dieser Zeit ärgern wir uns darüber, dass die Scheißdinger nicht vernünftig schreiben, oder? Wir schütteln sie, wir hauchen sie an.»

Frank notiert in seine Kladde: Geborener Verkäufer. Redefluss muss sicherlich gezügelt werden.

Jutta beschwert sich darüber, dass sie alle einen Aufsteller aus Tonkarton mit ihrem Namen beschriften sollen.

«Och, nö …», meckert sie.

«Och, doch!», sagt Frank. Ralph hat augenscheinlich Spaß daran und malt ungelenk und krakelig seinen Namen auf das Schild. Die schiefe Linienführung erinnert Frank an seine Großmutter. Brachte sie 1972 die Punkte vom Rommé aufs Papier, wirkte das immer, als müsste sie mit dem Bleistift bildhauern. Solange sie lebte, hatte sie alle Zeit der Welt. Als sie starb, nahm sie die Zeit mit, und nun hat keiner mehr welche.

Als Ralph fertig ist, wirft er Thomas den Stift zu. «Edding 3000, der Klassiker», sagt der Vertreter, beschriftet seinen Aufsteller und gibt den schwarzen Filzer weiter. Jutta fügt sich und schmiert in harter Blockschrift ihren Namen auf den hellblauen Karton.

«’tschuldigung!», ertönt es in einem slawisch klingenden Singsang, und alle Teilnehmer drehen sich um. Durch die Tür der Fahrschule stürzt ein dunkelhaariger Mann in Trainingshose und Turnschuhen.

Frank sieht in seine Papiere: «Herr Mitrović?»

Der Mann nickt. Schnaufend, als wäre er den ganzen Weg gerannt, nimmt er neben Ralph Platz. Dessen rechtes Auge begrüßt ihn freundlich, sein linkes zuckt erneut. Dieser Mitrović ist der weitaus schlimmste Verkehrssünder der Runde und mit 18 Punkten am absoluten Limit. Bringt er diesen Kurs nicht zu Ende, verliert er seinen Führerschein und damit seinen Job: Er ist ebenfalls Lkw-Fahrer. Das Vortelefonat mit ihm gestaltete sich so wortkarg, dass Frank mehrfach «Hallo? Sind Sie noch da?» in den Hörer rufen musste, als stünde der Mann nicht zwei Städte weiter, sondern in einer kroatischen Bergschlucht. Für ihn setzt Frank in seinem inneren Wettbüro auf eine besonders unangenehme Fahrerkategorie, die er ebenfalls selber erfunden hat: der Gleichgültige. Frank hakt den Mann auf der Anwesenheitsliste ab. «Dann fehlt ja nur noch einer!»

Jutta klimpert derweil mit den Fingern in der Keksschüssel. «Die drei anderen Waffelröllchen reserviere ich mir jetzt auch schon mal, wenn’s niemandem was ausmacht!»

«Mir nicht», sagt Karin, «die sind das Schlimmste bei diesen Mischungen. Wie Styropor mit Bauschaum aus Zucker. Bei einem Konditor in Wien habe ich mal echte, handgemachte probiert. Das war ein Tag!»

Frank beobachtet, wie Thomas’ Blick weiterhin an Karin kleben bleibt, als wäre jedes Wort von ihr so zuckersüß wie ein Tag in der Wiener Backstube.

Karin hat ihren Namen in Schönschrift auf das Schildchen gezeichnet, wie ein Mädchen aus der zehnten Klasse. Sauber und geschwungen, als gäbe es dafür ein Sternchen. Der Nachzügler Mitrović in den Trainingsklamotten faltet sich aus dem Karton ein schiefes Schild und krakelt halbherzig seinen Vornamen darauf: Milosz. Seine großen Turnschuhe quietschen auf dem Boden unter dem Tisch.

Frank blickt auf die Uhr. Einer fehlt noch. Rainer. Die Nachnamen beachtet Frank selbst innerlich kaum. Auch wenn er seine neuen Schäfchen am Telefon noch gesiezt hat, ist nun die simulierte Nähe wichtig. Er beschließt, dass genug gewartet wurde, steht auf und sagt: «So, die Vornamen stehen auf den Schildern, und das bedeutet natürlich, dass wir uns hier duzen. Ich bin der Frank.»

«Hallo, Frank», sagt Karin.

Ralph und Thomas murmeln.

Jutta sagt: «Aber nicht Zander, oder?»

Milosz quietscht mit den Sohlen.

Frank sagt: «Bevor wir jetzt tatsächlich beginnen, möchte ich euch allen einen Satz mitgeben, der euch wahrscheinlich verwirrt. Ich werde nicht weiter erklären, warum ich ihn zitiere. Nehmt ihn einfach mal so hin und legt ihn in eurem Hinterkopf ab. Wie ein Buch, das man in die zweite Reihe stellt und eines Tages genau dann wiederfindet, wenn man es gerade nicht sucht.»

Ralph sagt: «Ich hab keine zweite Reihe im Buchregal.»

Frank seufzt: «Okay, dann legt den Spruch in eurem Hinterkopf ab. Wie eine Fernbedienung, die auf Nimmerwiedersehen in der Sofaritze verschwindet und erst wieder auftaucht, nachdem man Ersatz gekauft hat. Besser?»

Ralph lacht.

Frank sagt: «Der Satz, den ich euch in die geistige Sofaritze stecken möchte, lautet …»

Dann klickt er das zweite Bild der PowerPoint-Präsentation herbei: Es gibt zwei Zeiten, in denen man nichts ausrichten kann: Gestern und Morgen. Wer die Gegenwart nur als Steigbügel nutzt, um die Zukunft zu erreichen, wird unvermeidlich unglücklich.

Jutta runzelt die Stirn.

Thomas schaut verwirrt drein, als ginge ihm das jetzt zu schnell.

Karin schreibt eilig mit.

«Puh …», macht Ralph.

Frank weiß, dass nun eine rhetorische Pause wichtig ist, wartet noch drei Sekunden ab, bis der Satz eingesickert ist, und klickt dann das nächste Bild seiner Präsentation an. Auf der weißen Wand hinter ihm steht nun: Warum sind wir hier?

Alle gucken.

«Tja, warum?», fragt Frank.

Ralph quetscht seine Nase.

Milosz wirft einen abschätzigen Blick auf die Mappe vor sich. Das Titelbild zeigt eine Hand, die einen Schlüssel im Zündschloss dreht, und Teile des Cockpits. Eine einfache Limousine aus den neunziger Jahren. Thomas blättert die Mappe in der Mitte auf. Vielleicht will er schon jetzt wissen, was auf ihn zukommt. Frank kennt jede Seite auswendig, jede Zeile und alle Listen und Freifelder, die seine Teilnehmer später ausfüllen müssen. Eine Liste ist mit Meine Fahrgeschichten überschrieben und enthält eine Spalte für die Gefühle, die man auf der Straße empfindet.

Karin sagt: «Wenn schon Supermarktware, dann die Kekse mit den karamellisierten Erdnüssen. Oder den Klassiker von Leibniz. Butterkeks ohne Schnickschnack. Schlicht und stimmig.»

Jutta bemerkt, dass Thomas in die Mappe schielt, beißt in ein Waffelröllchen und flüstert: «Nicht verrückt machen lassen. Das ist alles Kindergarten hier. Alles Kokolores.»

Sie denkt, Frank würde es nicht hören.

Er sagt: «Jutta?»

Sie sieht auf und streckt den Rücken gerade: «Jawohl, Herr Lehrer?»

«Warum bist du hier?»

«Um bei den Trotteln in Flensburg Punkte loszuwerden. Wie jeder hier, oder?»

Nicken. Lachen. Grummeln. Nur Milosz bleibt reglos. Karin errötet, als wäre die Tatsache, überhaupt Punkte in Flensburg zu haben, eine anstößige Sache. Thomas kann den Blick nicht von ihr abwenden. Frank fragt sich, ob das nur ihm auffällt und wenn nicht, ob das Karin nicht unangenehm ist.

«Ich habe 24 Kinder», sagt Jutta. Ralph reißt sein nicht zuckendes Auge auf. Karin lehnt sich zurück, senkt ihre Unterlippe und sagt: «Alle Achtung, ich habe schon mit einer Teenager-Tochter genug zu tun.»

Frank sieht Thomas an, wie erstaunt er ist, dass diese gerade mal wie Ende 20 aussehende Frau von einer Teenager-Tochter spricht.

Jutta wackelt mit dem Kopf und wartet noch eine halbe Sekunde, bevor sie alle aufklärt: «23 Kinder sind zwischen 14 und 16 Jahren und sitzen in meiner Klasse an der Heinrich-von-Kleist-Gesamtschule. Ein Kind ist 74 Jahre und sitzt in unserem Haus auf dem Land.»

Ralph beugt sich vor: «Dein Papa?»

«Mein Onkel.»

«Sieh einer an …»

Jutta blickt wieder zu Frank. Sie erträgt es schon jetzt kaum, dass er in diesem Raum ihr Pädagoge ist, denkt er.

«Jedenfalls fahre ich viel. Jeden Tag pendele ich vom Land in die Stadt zur Schule. Manchmal besuche ich die Eltern meiner Schäfchen.»

«Du schaust zu Hause bei den Familien vorbei?», fragt Karin.

«Muss manchmal sein. Ist eine Gesamtschule …»

Umhüllt vom Lichtkranz des Beamer-Bildes fragt Frank: «Trifft das hier auf alle zu? Seid ihr alle Vielfahrer? Jeden Tag hinterm Steuer?» So muss sich ein TV-Moderator fühlen, denkt er. Man selbst weiß schon alles aus den Vorgesprächen und muss es jetzt erfragen, damit das Publikum und die anderen in der Runde es hören.

«Handelsvertreter in der Schreibwarenbranche. Mindestens 30000 Kilometer im Jahr», sagt Thomas.

Ralph hebt die Hand: «Lastkraftfahrer. Rund 80000 Kilometer im Jahr.» Er schaut zu Milosz: «So wie der Kollege, oder?»

Der Mann in Ballonseide nickt mürrisch.

«Wusst’ ich’s doch», sagt Ralph, «da hat man ’nen siebten Sinn.»

Karin spielt derweil an dem Armband aus Stoff herum, das sie am linken Handgelenk trägt. Es sieht abgegriffen aus, als hätte es ihre Tochter als kleines Kind für sie geflochten und Karin es seither nie abgelegt. Als Frank auch sie auf ihre Fahrgeschichte anspricht, blickt sie auf, als wäre sie vollkommen überrascht, ebenfalls gefragt zu werden.

«Ich habe nur drei Punkte», antwortet sie. «Und die müssen weg: In anderthalb Jahren will meine Tochter ihren Führerschein machen, aber dann ist sie noch 17 und braucht eine Beifahrerin. Mich will sie als Begleitperson eintragen. Und mit Punkten auf dem Konto geht das nicht.»

«Oh, wie süß! Nur drei Punkte!», sagt Ralph.

Jutta lacht: «Unser Nesthäkchen!»

Frank fragt: «Wie viele Punkte sind’s denn bei den anderen?»

Es fallen Zahlen. Hohe Zahlen. In einem halben Jahr tritt die Reform des Punktesystems in Kraft und das vorhandene Konto wird in die neue Währung umgerechnet. Konnte man in den letzten 50 Jahren bis zu 18 Punkte ansammeln, sind es ab Mai nur noch acht. Der Kurs bei Frank bietet die letzte Chance, auf einen Schlag drei Punkte nach alter Rechnung loszuwerden, bevor das System umgestellt wird. Jutta, Ralph und Thomas haben ihr Konto beachtlich gefüllt, doch statt sich zu schämen, legen sie die Karten laut mit Freude auf den Tisch: 11 Punkte sind es bei Jutta, bei Thomas acht und bei Ralph sogar 15. Das erlebt Frank immer wieder: Seine Kursteilnehmer halten sich für unschuldige Opfer, die eigentlich ganz gewissenhaft fahren, tragen ihre Flensburger Punkte allerdings wie Trophäen vor sich her. Als wären sie stolz auf ihr verwegenes Leben. Lediglich Milosz beteiligt sich nicht an dieser seltsamen Form der Angeberei. Er hält seinen Einsatz zurück.

Frank wartet ab, bis die Aufregung sich gelegt hat. Ralph hustet. In die Stille hinein fragt Frank: «Und dann, Jutta?»

Jutta stoppt die zweite Waffelrolle, nach der sie gegriffen hat, unmittelbar vor ihrem Mund. Bevor sie auf Franks Frage antworten kann, grollt draußen auf der Straße ein mächtiger Motor. Alle drehen sich um und sehen, was Frank schon Sekunden vor ihnen erspäht hat: einen Pick-up mit turmhohem Radstand und einer Ladefläche, auf der man erlegte Elche abladen könnte. Da kein Platz mehr frei ist, parkt der Fahrer das Ungetüm quer vor den bereits in den Parkbuchten stehenden Autos auf dem bisschen Fläche, das zur Straßenseite hin noch bleibt.

Jutta dreht sich wieder um und fragt: «Wie, ‹und dann›?»

Frank schaut zu ihr, abgelenkt von dem dreisten Falschparker: «Ähm, ja … Also, Jutta. Was passiert, wenn du nach dem Seminar hier drei Punkte weniger hast? Also einen Punkt, nach neuer Berechnung?»

«Dumme Frage: Dann habe ich nur noch acht. Also vier.»

«Und dabei bleibt’s dann?»

Juttas Brauen senken sich. Ein Schatten legt sich über ihre Augen.

Frank fällt eine seiner Lieblingsmetaphern ein: «Ich bin kein Fitnesstrainer, das seht ihr ja.» Dezent streichelt er sich über seinen ebenfalls dezenten Bauch. Karin schmunzelt. Juttas Blick bleibt beschattet.

Frank sagt: «Aber lasst mich trotzdem den Vergleich verwenden. Ihr seid nicht hier, um schlagartig abzunehmen. Ihr seid hier, damit ihr lernt, wie ihr euer Gewicht haltet. Sonst erlebt ihr auch auf eurem Punktekonto einen Jo-Jo-Effekt.»

Ralph schnippt jovial mit dem Finger: «Gutes Bild.»

Jutta schüttelt den Kopf, legt die Waffelrolle ab und schnauft.

«Was, Jutta?», fragt Frank.

«Ach!»

«Sag’s freiheraus. Dafür sind wir hier.»

«Ja, Kokolores ist das! Absoluter Kokolores!!»

«Was genau?»

«Der Jo-Jo-Effekt. Dieser Jo-Jo-Effekt heißt ‹echtes Leben›. So sieht’s doch aus! Wer da draußen auf der Straße die ganze Zeit eine weiße Weste bewahrt, der ist doch … der ist doch … der ist doch ein Sonntagsfahrer! Der hat doch sonst nichts zu tun!!»

Karin guckt ein wenig erschrocken. Ralph nickt. In Milosz’ kargem Antlitz deutet sich ein Lächeln an. Thomas sagt nichts. Nur Frank weiß bislang, warum: Ausgerechnet dieser Vertreter hat sich die meisten seiner Punkte tatsächlich in der Freizeit eingefahren.

Frank legt seinen Zeigefinger ans Kinn und tippt ein paarmal gegen sein Kinn: «Also sind die Verkehrsregeln eine Theorie? Irgendein Bürokratenquatsch, an den man sich im wahren Leben ohnehin nicht halten kann?» Frank weiß: Diese rhetorische Frage erzielt jedes Mal eine gute Wirkung. Auch jetzt, alle schweigen nachdenklich.

«Also ich finde, Sie haben das genau richtig auf den Punkt gebracht!» Der Mann, der grinsend die Fahrschule betritt, trägt eine schwarze Cordhose, ein beigefarbenes Hemd und die grüne Jacke eines Jägers. Er hebt seinen Autoschlüssel, drückt den Knopf, bis draußen die Lichter des quer geparkten Kolosses vor der Tür kurz aufleuchten. Das ist also Rainer, denkt Frank, hakt ihn auf der Teilnehmerliste ab und schreibt 20 Minuten zu spät dazu.

Auch mit ihm gestaltete sich das Telefonat vor ein paar Wochen so karg wie mit Milosz. Mit einem Unterschied: Wo Frank bei dem Kraftfahrer vom Balkan noch das Gefühl hat, dass der wenigstens weiß, was er falsch macht, ist Rainer einer dieser Typen, die im Leben grundsätzlich bei allem recht haben. Ein Mann, der nicht nur die Weisheit mit Löffeln gefressen hat, sondern die Verachtung für alle Menschen ohne Löffel gleich mit, und zwar tellerweise. Rainers Kinn hat die Entscheidung, ob es nach vorne oder nach hinten ausbrechen soll, schon lange getroffen. Spitz stößt es in den Raum wie der Schienenräumer an den Zugwagen alter Dampflokomotiven. 20 Minuten zu spät, aber völlig frei von Schuldgefühlen.

Frank seufzt innerlich. Er hat keinen Bock auf solche Leute. Mit einem Blick so trocken wie die Isolierwolle auf Dachböden zeigt er durchs Fenster zur Straße auf den Monstertruck: «Der kann da so nicht stehen bleiben.»

«Wieso nicht?»

«Ist das eine ernsthafte Frage?»

Schweigend schauen sich die Männer an. Frank gegen Rainer. Fahrlehrer gegen Jäger. Jutta traut sich kaum, in ihr drittes Waffelröllchen zu beißen. Der Jäger ergreift als Erster wieder das Wort. Wie zur Aufzählung von Tagesordnungspunkten klappt er zunächst seinen linken Daumen aus und zählt mit dem rechten Zeigefinger ab.

«Erstens: Der Bürgersteig führt vor den Fahrzeugen entlang und nicht dahinter. Zweitens: Die Parkbuchten sind tief genug, dass ich trotz der Breite meines Wagens kaum Straßenfläche wegnehme. Drittens: Die Autos, die ich zuparke, gehören sicherlich alle meinen freundlichen Mitleidenden hier, oder?»

Jutta legt die Waffelrolle sorgsam für später ab. Karin macht sich aus Verlegenheit sinnlose Notizen auf dem Titelblatt ihrer Mappe.

«Oh-oh», sagt Rainer, «jetzt kriege ich einen Klassenbucheintrag …»

Frank klappt die Kladde wieder zu und sagt: «Nur, dass keine Verwirrung aufkommt. Ihr seid alle freiwillig hier. Das ist keine MPU.

Franks Faktencheck
Die MPU

Die «Medizinisch-Psychologische Untersuchung», im Volksmund «Idiotentest» genannt, muss angetreten werden, wenn die Behörde nach § 13 der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) ein entsprechendes Gutachten verlangt. Sie besteht aus einem medizinischen und einem psychologischen Teil und dauert mehrere Stunden. Prinzipiell werden in ihr die körperlichen und geistigen Voraussetzungen des Fahrers oder der Fahrerin geprüft, wie Konzentrationsfähigkeit und Reaktionsgeschwindigkeit, aber auch die innere Haltung zum Straßenverkehr und der eigenen Rolle sowie dem eigenen Verhalten darin. Wie genau die MPU abläuft, hängt von dem Grund ab, weswegen sie angeordnet wurde. Jemand, der durch Alkohol am Steuer den Führerschein verloren hat, wird anders geprüft und befragt als jemand, der ständig zu schnell fährt, oder jemand, der sein Fahrzeug gesetzeswidrig aufgemotzt hat und bei illegalen Autorennen erwischt wurde.

MPU, Idiotentest, Begutachtung der Fahreignung, Mobilitätsprüfung – viele Begriffe, ein Gedanke: Hoffentlich muss ich das nie machen! Es sei unheimlich schwer, den sogenannten Idiotentest zu bestehen und somit den Führerschein wiederzubekommen, heißt es. Von den MPU-Kosten, die sich bei einem negativen Gutachten schnell verdoppeln können, ganz zu schweigen. Nur, wer in der MPU beweist, körperlich, geistig und charakterlich geeignet zu sein, weiterhin ein Kraftfahrzeug zu führen, bekommt seinen Führerschein zurück. Mit der reinen Simulation der Besserung ohne echte Reflexion des eigenen Verhaltens kommt man bei der Prüfung – trotz zahlloser Vorbereitungskurse und Foren im Internet – nicht durch. Das Schauspiel fliegt meistens auf.

Aber wenn ich durch unser Kennenlernen zu der Überzeugung komme, dass jemand verkehrspsychologisch mehr als nur auffällig ist …»

Rainer schüttelt den Kopf und presst Luft durch die geschlossenen Zähne. Es klingt wie Durchzug unter einer zu hoch gelagerten Kellertür. Er hebt das kleine Autoschlüsselzepter erneut, öffnet von drinnen den Pick-up, geht nach draußen, startet den Motor und wuchtet den 20-Liter-Giganten in die kleine Stichstraße neben dem winzigen Park mit der Christus-Statue. Die Teilnehmer beobachten ihn mit verdrehten Köpfen.

Karin sagt: «Einen Smart hätte man problemlos da hinstellen können.»

 

Nach zwei Minuten ist Rainer wieder da, setzt sich, analysiert die Tischsituation, nimmt ein Stück Tonkarton, faltet es und schreibt seinen Namen darauf. Die zackigen Großbuchstaben erinnern an die alte Militärschrift aus dem berühmten Schriftzug der Achtziger-Jahre-Serie Das A-Team.

Frank wartet ab, bis Rainer die Kappe wieder auf den Filzer gesteckt hat, und räuspert sich. «Hier empfindet das wirklich jeder so, oder? Dass alle Regeln nur Schikane sind?»

«Meine Empfindung sagt mir vor allem, dass wir bei der nächsten Sitzung eine Kaffeemaschine brauchen», sagt Jutta.

«Ich kann eine mitbringen», sagt Thomas. «Mit Pads. Das schlanke Modell für den schnellen Kick im Büro. Oder in der Fahrschule.»

Frank sagt: «Thomas, du bist nicht im Dienst.»

«Und ich bringe gute Kekse mit», sagt Karin. «Nichts gegen deine Bemühungen, Frank, aber selbst gebacken ist das schon was anderes. Mit Mandelmehl, Rohrohrzucker und kleinen Drops aus eingeschmolzener Schokolade. Der Trick ist, keine Kuvertüre zu nehmen, sondern alles Mögliche einzuschmelzen, was einem gerade einfällt. Toblerone zum Beispiel. Oder Nusstafeln. Und immer Zimt und Kardamom einrühren in die schmelzenden Stücke!»

«Kaffeemaschine und Kekse würden mich freuen», sagt Frank. «Aber ich bleibe trotzdem bei meiner Frage.»

Ralph beugt sich wieder vor und zeigt auf.

«Ja?»

«Im echten Leben lassen sich die Regeln nicht immer einhalten. Selbst beim besten Willen nicht.»

«Das stimmt!», nickt Jutta. «Das ist wie in der Schule.»

«Oder beim Fußball …», sagt Rainer.

«Wieso schaffen es dann manche?», fragt Frank. «Warum haben dann nicht alle so viele Punkte? Warum gibt’s dann nicht mehr Fahrschulen mit solchen Seminaren als Supermärkte oder Gartencenter?»

Franks Faktencheck
Wie viele Verkehrssünder gibt es?

Laut Angabe des Statistischen Bundesamtes waren zu Beginn des Jahres 2013 rund neun Millionen von 54 Millionen Führerscheininhabern im Flensburger Verkehrszentralregister (VZR) mit Punkten eingetragen. Mit anderen Worten: Lediglich 16,6 Prozent aller Fahrberechtigten wurden in höherem Maße auffällig. Die allerdings oft gleich mehrmals.

Die häufigsten Gründe für den Eintrag von Punkten waren die Geschwindigkeitsüberschreitung (56,7 Prozent), Alkohol am Steuer (15,4 Prozent) sowie Vorfahrtsmissachtungen (9,5 Prozent). Unter den Verkehrssündern dominieren mit gut zwei Drittel die Männer: Sie machen 77,4 Prozent aller Personen aus, die in Flensburg Punkte sammeln. Der Anteil der Frauen beträgt somit nur 22,6 Prozent.

«Wieso essen manche Trottel Fleischersatz aus Sojafasern?», sagt Rainer.

«Wieso kommen manche 20 Minuten zu spät zum Kurs, obwohl sie 200 PS unter der Haube haben?», kontert Frank.

«Weil dieser beschissene Nanny-Staat zwar kein offizielles Tempolimit hat, uns dafür aber auf der Autobahn mit Baustellen zum Schleichen zwingt», sagt Rainer.

«Aha, der ‹beschissene Nanny-Staat› …», wiederholt Frank und schreibt es in seine Kladde.

Jutta beißt von ihrem dritten Waffelröllchen ab und schüttelt ihre gesamtschulfeste Frisur.

Frank sagt: «Jutta?»

Sie sieht auf.

«Fang du doch einfach an.»

«Womit?»

«Mit deiner Geschichte. Aus Behauptungen und Flüchen lernen wir nicht. Wir lernen nur aus Geschichten. Und ich merke: Dir liegt eine auf der Zunge.»

Jutta legt die halbe Waffelrolle wieder auf den Tisch und kratzt sich an der Nase.

«Na komm», sagt Frank. «Oder will jemand anders anfangen?»

«Nein, nein», sagt Jutta, «ich mach schon …»

Juttas Fahrgeschichte: Bei Onkel Ludwig pocht es

Grob verkehrswidrig innerorts rechts überholt (mit Sachbeschädigung). Keine Punkte, da bereits Straftat nach STGB.

«Es gab zwar keine Punkte dafür, aber ich muss einfach mit der Geschichte anfangen, die mich am meisten aufgeregt hat. Vorher aber noch mal ganz offiziell: Ich bin Lehrerin von Beruf. Mehr muss ich, glaube ich, nicht sagen, oder?»

Die Runde schaut abwartend zu Jutta, die schon nach dem ersten Satz eine Pause gemacht hat. Das gefällt ihr, denn das funktioniert manchmal sogar in der Schule. Ist die Klasse unaufmerksam, hilft es nicht, zu brüllen, sondern im Gegenteil, immer leiser zu werden.

«Ich bin Lehrerin! Hallo? Ihr wisst, was das bedeutet, oder?»

Die beliebtesten Ausreden der Verkehrssünder
«Ich bin … [hier bitte beliebigen Beruf eintragen]!»

Alle Menschen, die im Straßenverkehr auffällig werden, teilen ein Schicksal: Sie haben den mit Abstand anstrengendsten Beruf im Land. Alle anderen nicht. Die lassen es sich den lieben langen Tag gut gehen, drehen im Büro Däumchen oder verbringen ihre Zeit auf dem Sofa in einer Strandvilla, weil sie reich geerbt haben. Der Verkehrssünder hingegen ist den höchsten Belastungen ausgesetzt, und zwar völlig unabhängig davon, welchen Beruf er ausübt. Die Hirnchirurgin sammelt Punkte in Flensburg, weil sie über eine anstehende OP nachdenkt. Der Student sammelt Punkte in Flensburg, weil er dringend Punkte auf seinem Seminarkonto braucht. Leicht haben es immer nur die anderen.

Wann die Ausrede legitim ist …

Viele Berufe und Mehrfachbelastungen im Leben führen tatsächlich dazu, dass manch einer hinterm Steuer so erschöpft, müde und überanstrengt ist, dass ihm zwangsläufig Fehler unterlaufen. Der ADAC