Bisduvergisst - Friederike Schmöe - E-Book

Bisduvergisst E-Book

Friederike Schmöe

4,4

Beschreibung

Landshut im Sommer 2009. Während in der Stadt Hunderttausende die „Landshuter Hochzeit“ feiern, wird die 82-jährige Irma Schwand mit einer niederschmetternden Diagnose konfrontiert: Alzheimer-Demenz. Irma, die um ihre Erinnerungen fürchtet, beauftragt die Münchner Ghostwriterin Kea Laverde, ihre Autobiografie zu schreiben. Diese soll für ihre Enkelin Julika sein. Doch kurz nachdem Kea alle Informationen für das schmale Buch über Irmas Lebensgeschichte beisammen hat, wird das Mädchen ermordet aufgefunden. Die Kriminalbeamten finden bei Julika, die als Spielfrau an der „Landshuter Hochzeit“ teilnahm, eine verdächtige CD mit einer unbekannten Computersoftware. Aber auch Kea macht ein verstörende Entdeckung: Irma deckt seit Jahrzehnten einen Mord - eine Tat, die in den letzten Wochen des 2. Weltkriegs geschah. Und der Kokon des Vergessens schließt sich immer enger um die alte Dame …

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Seitenzahl: 287

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Titel

Friederike Schmöe

Bisduvergisst

Kea Laverdes dritter Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2010 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2010

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / Korrekturen: Daniela Hönig / Sven Lang, Doreen Fröhlich

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: Beverley Bridge / sxc.hu

und aboutpixel.de / Verflossene Liebe © Matthias Mestars

ISBN 978-3-8392-3440-2

Widmung

Erinnernd

Mittwoch, 24.6.09

Man kann doch im Herzen

stets lachen und scherzen

und denken dabei:

Die Gedanken sind frei.

Volkslied

1

Mitte Juni hatte ich die Schnauze voll. Der Sommer war noch nicht aus seinem Mauseloch herausgekommen. Ich hörte Irish Folk rauf und runter und wurde allmählich depressiv. Seit Tagen war Nero im LKA abgetaucht.

Mit Hauptkommissar Nero Keller hatte ich im Herbst etwas angefangen, das man Beziehung nennen konnte. Oder Bedürfnisbefriedigung. Oder Mutprobe. Leider stand sein Job als Experte für Internetkriminalität am Landeskriminalamt unseren zweisamen Bedürfnissen im Weg, denn zur Zeit hatte seine Abteilung dermaßen viel zu tun, dass kein Land in Sicht war. Offenkundig fuhrwerkten eine Menge Kriminelle im Cyberspace herum.

Er wenigstens hatte an seiner momentanen Tätigkeit Spaß. Was ich von mir nicht behaupten konnte.

Ich schrieb kaum.

Das lag nicht daran, dass ich ein Faulpelz geworden wäre. Im Gegenteil: Ich konnte ganz schön was wegschaffen. Aber die Anfragen für Buchprojekte, die mir zurzeit auf den Schreibtisch flatterten, behagten mir einfach nicht. Nichts als Ratgeber – man konnte den Eindruck gewinnen, dass kein Mensch mehr fähig war, kraft seines gesunden Menschenverstandes zu überleben. Als Ghostwriterin hatte ich die Gattung Ratgeber zu meiner Spezialität gemacht, was daran lag, dass sie flott zu schreiben waren, und ich mit der mir angeborenen Überzeugungsgabe auch schwierigen Kunden klarmachen konnte, dass ich wusste, was ich tat. Doch mittlerweile ging mir das Genre furchtbar auf die Nerven. Ob ich meinen Kunden einen Text über die Überwindung des inneren Schweinehunds, den Umgang mit Schwiegermüttern oder das Burn-out-Syndrom des Gorillas schrieb – alles erschien mir banal und unecht, überflüssig zudem, und mit dem Gedanken, etwas Überflüssiges zu schreiben, kam ich nicht zurecht. Ein wenig Sinn sollte schon sein im Leben.

Ich ging in die Küche und braute mir die fünfte Tasse Kaffee an diesem Vormittag. Ich brauchte Rituale und Traditionen. Sie verhalfen mir zu innerer Klarheit.

Erst gestern waren zwei Anfragen reingekommen. Wie immer in letzter Minute. Die Möchtegern-Autoren bemerkten irgendwann, dass sie trotz ihres Expertenwissens nicht imstande waren, ein Buch zu schreiben. Weil sich ein Buch nicht so lässig schrieb, wie man eine Bloody Mary mixte. Weil man als Schreiberling ein bisschen Handwerk beherrschen musste. Wenn diese Erkenntnis über die Leute hereinbrach, hechteten sie ins World Wide Web und tippten ›Ghostwriting‹ in eine Suchmaschine. Und landeten, wenn ich Glück hatte, bei mir.

›Die Buddha-Diät‹, lautete der Arbeitstitel eines Buches, dessen Autorin mitten in der Gliederung stecken geblieben war. Daraufhin hatte sie mich beauftragt, das Opus zu verfassen. Es war versehen mit einer krausen Unterüberschrift, die garantierte, dass durch Meditation beim gleichzeitigen Verzehr bestimmter Absude in einer Woche zehn Kilogramm fallen würden. Ich sah an mir herunter. Bei mir bestimmt nicht. Purzeln würden auf keinen Fall die Problemzonen. Aber von den anderen Rundungen wollte ich nichts abgeben. Mir kämen nur die Proportionen durcheinander.

Das Buch wäre leicht zu schreiben und würde einen Batzen Geld bringen. Ich lehnte mich an mein Barbrett und sah in die Landschaft hinaus. Wahrscheinlich hatte irgendeine feindliche Macht die Sonne vom Himmel geklaut. Die Alpen, die ich noch vor wenigen Tagen direkt vor mir aus dem Boden hatte wachsen sehen, waren abgetaucht. Ich ahnte weit entfernt die leeren Pferdekoppeln und den Kirchturm von Ohlkirchen, dem nächsten Kaff hier in meiner Ecke. Es regnete Bindfäden. Südbayern soff ab.

Buddha-Diät, du liebe Zeit. Demnächst mailten sie mir Vorschläge wie ›Essen wie die Muttergottes‹ oder ›Die liebsten Rezepte des Herrn Jesus‹. Ich fand es nicht blasphemisch, ich fand es albern. Abgesehen davon konnte ich nicht gut kochen. Vielleicht schleppte ich deswegen einige Kilos zu viel mit mir herum. Ich stand mit meiner Mikrowelle auf gutem Fuß, selbst Nero hatte daran nichts auszusetzen, wir waren beide keine Köche. Da achteten wir eher das Gläschen Rotwein. Dagegen konnte keiner was haben. Sollte außerdem gesund sein. Ich hatte selber ein Buch geghostet, das den Titel ›Rotwein heilt‹ trug.

Im Arbeitszimmer piepte der Rechner. Ich ging hinüber, die Tasse mit dem dampfenden tiefschwarzen Kaffee in der Hand, und rief die neu eingetroffene Mail ab.

›Sehr geehrte Frau Laverde, ich wurde über Ihre Homepage auf Sie aufmerksam und würde mich freuen, wenn ich Sie für mein Buchprojekt Das Tao des Tussock-Grases – Verbinde dich mit allem, was ist interessieren könnte …‹

Ich verbrühte mir die Lippen am Kaffee und fluchte laut. Rasch tippte ich die Antwort, verwies darauf, momentan ausgebucht zu sein, was ich bedauerte, versicherte aber, dass ich mich über eine zukünftige Zusammenarbeit freuen würde, und drückte auf ›senden‹. Ganz schön befreiend, wenn auch geschäftsschädigend. Beinahe war ich drauf und dran, Lynn Digas, meine frühere Agentin, anzurufen. Als ich noch als Reisejournalistin tätig gewesen war, hatte Lynn mir die spannendsten Aufträge zugeschanzt. Seit ich vornehmlich als Ghostwriterin arbeitete, waren wir kaum mehr ins Geschäft gekommen. Doch plötzlich erschien mir die Vorstellung geradezu verlockend, eine kleine Reportage über Campen im Kaukasus zu schreiben.

Ich ging ins Bad. Das typische Problem, wenn man zu Hause arbeitete. An Ablenkung fehlte es nie. Ich stand vor dem Spiegel, musterte mein Gesicht, das lange, dunkle Haar, das ein wenig wirr um meinen Kopf stand, die dunklen Augen, fragte kurz, welche Sehnsüchte daraus hervorlugten, und wusch mir zur Abwechslung die Hände. Verdammte Buddha-Diät. Was passierte wohl, wenn ich den Auftrag platzen ließe? Juliane würde sagen: Nichts, Herzchen, nichts wird passieren. Neue Aufträge werden kommen. So einfach ist es.

Ach, Juliane. Sie wurde in einem Monat 78 alt. Für mich war sie beste Freundin, Beraterin, Mutterersatz, Ruferin in der Wüste und Kupplerin mit Erfolgsquote. Dass Nero und ich zueinandergefunden hatten, ging auf Julianes Konto. Oft genug wies sie mich darauf hin, dass ich ihr über den Tod hinaus zu Dankbarkeit verpflichtet wäre. Momentan allerdings hielt sie sich bei ihrer Schwester Dolly auf, die zwar ein paar Jahre jünger als Juliane war, aber mit allerhand Zipperlein kämpfte. Ich war kurz davor, Juliane anzurufen, um ihr mein Leid mit der Buddha-Diät zu klagen, als das Telefon klingelte. Ich flitzte ins Arbeitszimmer zurück. Vielleicht meldete sich Nero aus dem Off der Nullen und Einsen.

»Laverde«, meldete ich mich.

»Mein Name ist Irma Schwand«, sagte eine feste Stimme mit unverkennbar niederbairischem Einschlag. »Würden Sie ein Buch für mich schreiben?«

Manchmal konnte ich mich vor Angeboten kaum retten.

»Um welche Art Buch handelt es sich denn?«

»Um meine Lebensgeschichte.« Die Frau lachte.

Ich versuchte, ihr Alter zu schätzen. Vielleicht 50, nicht älter als 60.

»Sie haben mir diese Diagnose gegeben, verstehen Sie? Alzheimer, haben sie gesagt. Wie wollen die das wissen? Aber ich muss mich doch erinnern, wenigstens … na, ich kann doch nicht alles vergessen. Dann hätte ich ja umsonst gelebt, wie?«

Mir blieb die Spucke weg. Alles, was ich nun sagen würde, käme ziemlich dumm rüber. Deswegen atmete ich erst einmal durch, und in die peinliche Pause hinein sagte Irma Schwand: »Keine Angst, noch bin ich nicht umnachtet. Wird noch ein bisschen dauern.«

Als Ghostwriterin nahm ich hin und wieder Aufträge an, die darauf hinausliefen, die Erinnerungen eines Menschen in einem Buch zu konservieren. Ich war dann keine Biografin, die Daten abklärte und einen zeitgeschichtlichen Hintergrund auferstehen ließ. Sondern mehr ein Personal Historian, eine private Chronistin. Eine Schneiderin für das individuelle Lebenskleid eines Menschen. Ich bewahrte sein Andenken in der Form, in der der Kunde es wünschte. Aber was bedeutete eine Alzheimer-Diagnose? Hieß das nicht, die Frau würde in Kürze in die Nebel des Vergessens stürzen? Wie viele lichte Momente würde ich brauchen, um ihre Geschichte zu verfassen? Zeitmangel war mir nicht unbekannt. Etliche Möchtegernautoren suchten sich erst dann einen Ghostwriter, wenn es brannte, wenn sie außer eselsohrigen Notizblättern nichts zustande gebracht hatten und ihnen eine Frist im Nacken saß. Und was war das überhaupt für eine Geschichte, die sie zu erzählen hatte?

Ich dachte an die Buddha-Diät und sagte: »Von wo rufen Sie an? Können wir uns treffen?«

»Ich wohne in Landshut.«

Gut. Das bedeutete eine gute Stunde Autofahrt. »Wann …«

»Es wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Ich will Ihnen nur eine einzige Geschichte erzählen. Dazu brauchen wir einen Abend, vielleicht zwei. Bei einem guten Glas Wein redet es sich besser. Wein löst die Zunge, nicht wahr?«

Einen Abend? Vielleicht zwei? Für eine anständige Autobiografie benötigte ich üblicherweise 40 bis 50 Interviewstunden, verteilt auf ungefähr zehn Einzeltermine.

»Ein dünnes Bändchen, Frau Laverde! Vielleicht 50 Seiten.«

Sie hatte mich am Wickel. »Morgen? Am späten Nachmittag?«

»Wunderbar.« Sie gab ihre Adresse durch und sagte: »Fahren Sie vorsichtig. Bis dann.«

2

»Nein, die Landshuter Hochzeit hat noch nicht angefangen«, rief ich ins Telefon, während ich staunend die Schaufensterdekorationen der Läden betrachtete. Braut und Bräutigam als Knetfiguren, Handpuppen, Marionetten. Birken neben allen Eingängen. Die Mutigeren hatten Bambus aufgestellt. Unerträgliche Schwüle unter grauem Himmel. »Aber ich habe die Schnauze voll von Ratgebern, deswegen bin ich hier.«

Das Fest der Landshuter Hochzeit inszenierte die Eheschließung zwischen dem bayerischen Herzog Georg dem Reichen und der polnischen Fürstentochter Hedwig, die 1475 als politische Ehe arrangiert wurde. Zwei christliche Fürstenhäuser vereint gegen die Bedrohung durch die Türken. Einem ganzen Heer von Chronisten hatte es die Nachwelt zu verdanken, dass die Umstände dieses mehrtägigen Spektakels in allen Einzelheiten überliefert waren. Besonders gut gefiel mir der Gedanke, als Landshuter Bürger eine Woche lang zechfrei aus der herzoglichen Küche versorgt zu werden. Ich dagegen hatte mir eine Portion Kasnudeln im ›Hofreiter‹ einverleibt, die mir bei der Schwüle im Magen lagen wie rostige Nägel.

Nero antwortete irgendwas, das ich nicht verstand, weil ein Pulk Schülerinnen kreischend an mir vorbeistöckelte. In letzter Sekunde wich ich einem Schild aus, das auf die Tribünenzugänge in der Altstadt hinwies. Obwohl in drei Tagen Landshuts größtes Fest steigen würde, wirkte alles noch sehr dezent. Das mochte auch an dem seit Tagen andauernden Regenwetter liegen. Ich bog in die Altstadt ein und sagte: »Ich rufe dich später zurück!«

Beinahe erleichtert legte ich auf. Nero Keller, mein Gefährte seit letztem Herbst, um nicht zu sagen mein Freund, das klang so pubertär, Nero hatte eine Menge gute Seiten, aber eine fehlte ihm: Er verstand mich nicht. Konnte sich in meinen Beruf nicht hineinversetzen. Ihm fehlte der Bezug zum Schreiben, obwohl er Literatur und Kunst mochte. Nein, Nero war kein Proll oder verknitterter Bürokrat, aber er schrieb nicht und so kannte er auch nicht das beruhigende, erdende Gefühl, wenn die Hand in Bewegung geriet und schrieb. Schreibend vergewisserte ich mich, dass die Welt einen Sinn hatte. Anders gelang mir das nicht.

Irma Schwand wohnte in der Spiegelgasse, gleich hinter der Sankt-Martin-Kirche. Ich klingelte.

Die Frau, die mir öffnete, war etwa in Julianes Alter. Allerdings weniger unkonventionell. Wo Juliane mit ihrer knabenhaften Figur Jeans trug, mit frechen Sprüchen bedruckte T-Shirts und das Haar als fransenkurzen Raspelschnitt, stand nun eine Dame vor mir: geblümtes Kleid, hochgeschlossen, mit weißem Kragen und Gemme. Perlenkette, passende Ohrstecker. Sie stand ein wenig gebeugt da, kleiner als ich, von den Jahren niedergedrückt, und lächelte mich an.

»Frau Laverde, schätze ich? Kommen Sie herein.« Sie führte mich in eine enge, ungelüftete Wohnung mit altmodischen Möbel aus Chintz. »Es freut mich, dass Sie kommen konnten. Setzen Sie sich.« Sie machte eine energische Handbewegung, erinnerte mich dabei an eine Lehrerin, die Generationen von Kindern das Fürchten gelehrt hatte. »Befassen wir uns gleich mit dem Geschäftlichen. Ich nehme an, meine Geschichte wird Sie zwei Abende hier festhalten. Insgesamt wird sie vielleicht 50 Buchseiten in Anspruch nehmen. Die Bedingungen habe ich Ihnen ja genannt. Wie viel verlangen Sie?«

»700 Euro pauschal«, sagte ich. »50 Prozent sind sofort zahlbar. Der Rest nach Fertigstellung.«

»Gut.« Irma Schwand strich sich über das gewellte, sorgfältig gekämmte weiße Haar und ging zu einer Kommode, deren oberster Schublade sie einen Umschlag entnahm. »Bitte. Hier sind 1.000 Euro. Rechnen Sie den Rest als Spesen.«

Ich nahm die nagelneuen Hunderteuroscheine heraus und sagte: »Fahrtkosten, Materialkosten und so weiter sind in die 700 eingerechnet, Frau Schwand.« Ich legte 300 auf den Tisch, den Rest steckte ich in meine Schultertasche und packte meine Geisterausrüstung aus. Ein Sony-Aufnahmegerät, digital natürlich, meinen Clairefontaine-Notizblock, einen Satz grüne Bleistifte, Stärke HB, einen Lamy-Kugelschreiber, und sah Irma Schwand an. »Erzählen Sie einfach drauflos!«, forderte ich sie auf.

»Möchten Sie was trinken? Es ist ja mächtig warm.« Sie stand auf und ging davon. In der Küche hörte ich sie rumoren, dann kam sie mit einer Flasche Prosecco und zwei Gläsern zurück.

Sehnsüchtig sah ich zum Fenster. »Macht es Ihnen was aus, wenn wir ein bisschen frische Luft reinlassen?« Mir klebte das T-Shirt am Leib.

»Aber absolut nicht.« Irma Schwand lächelte. »Ja, mit dieser Diagnose muss ich nun leben. Ich bin dabei, meine Sachen zu ordnen. Muss mir überlegen, was noch getan sein will und was nicht. Aber diese Geschichte will ich noch loswerden. Es ist eine alte Geschichte. Ich bin Jahrgang 1927, das war eine ganz dumme Zeit, um geboren zu werden. Infiltriert von dem ganzen Nazimist schleppten wir uns durch unsere Jugend. Als es vorüber war, war ich 18, und alles war kaputt.« Sie seufzte. »Zum Wohl, trinken wir!«

Ich hob mein Glas. Die Stimmung musste passen, die Kundin sich entspannen, Zunge und Gedächtnis mussten gleichermaßen gelöst ihre Arbeit verrichten. Um Irma Schwand nicht am Warmwerden zu hindern, schwieg ich und sah ihr zu. Ihre von dicken Adern durchzogenen kleinen Hände konnten nicht stillhalten. Unaufhörlich tasteten sie über das Kleid, die Tischplatte, zupften an dem Etikett auf der Proseccoflasche. Alzheimer. Wie zurechnungsfähig war sie?

»Dass etwas mit meinem Gedächtnis nicht stimmt, merkte ich, weil ich immer wieder Dinge vergesse, die ich mir gerade noch vorgenommen habe«, sagte Irma. »Inzwischen habe ich mich in einem Seniorenheim angemeldet, für den Fall, dass ich zu schnell abbaue und nicht mehr zurechtkomme. Meine Tochter lebt in den USA mit einer meiner Enkelinnen. Die zweite, Julika, wohnt in Landshut. Für sie ist diese Geschichte, die ich Ihnen nun erzählen will.«

Ich nickte.

»Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben.«

»Habe ich Angst vor Ihnen?«

»Es ist nicht so, dass ich unzurechnungsfähig bin. Es ist nur … ich verliere leicht den Faden. Werde nervös, so wie jetzt, aber das liegt an Ihnen und Ihrem Gerät da.« Sie lachte. »Immerzu suche ich meinen Schlüssel. Deswegen habe ich ihn nun ständig in der Tasche.« Sie tastete über ihr Kleid. »Aber er ist nicht da!«

Das Erschrecken in ihrem Gesicht entsetzte mich. »Sollen wir Ihren Schlüssel suchen?«

»Ach, ich weiß.« Sie streifte den Ärmel hoch. Auf ihrem bläulich schimmernden Unterarm standen Wörter, Zahlen, einzelne Buchstaben. Der ganze Arm war beschrieben. »Julikas Telefonnummer«, sie deutete auf eine Kolonne Ziffern, »die meiner Hausärztin. Was war noch mal …« Ihr rechter Zeigefinger fuhr zögernd über eine andere Notiz.

»Frau Schwand«, sagte ich halblaut, »wir wollten doch über diese Geschichte sprechen, für die Sie mich bezahlt haben.«

Irmas Blick kehrte zu mir zurück und verwandelte sich von Ratlosigkeit in ein überschwängliches Lächeln. Ich bekam das Gefühl, sie spielte mir etwas vor. Sie nahm die Flasche, wollte mir eingießen, stutzte, als sie sah, dass mein Glas noch fast voll war.

»Sie trinken ja nichts.«

Mir klebte die Zunge am Gaumen, und die Kasnudeln bildeten einen Klumpen in meinem Magen. Aber darauf kam es nicht an. Ich nahm einen Bleistift in die Hand, setzte ihn aufs Papier, schrieb ›Irma Schwands Geschichte‹, lehnte mich zurück und wartete.

3

Irma sieht der Frau nach, die ihren Pferdeschwanz energisch in den Nacken wirft. Sie schleppt eine schwere Tasche mit sich herum. Langsam tastet Irma über ihren Unterarm. Sie schiebt den Ärmel des Kleides hoch und besieht sich ihre Notizen. Hört ihren Lateinlehrer. ›Irma, repetiere Lektion 3!‹ Sie lächelt. Warum fällt ihr das jetzt ein? ›Irma, repetiere!‹ Automatisch sondert ihr Gedächtnis den Beginn von Cäsars ›De bello Gallico‹ ab. Gallia omnis divisa est in partes tres. Also funktioniert es doch noch. Sogar das ungeliebte Latein ist in ihrem Gehirn hängen geblieben! Sie glaubt der Diagnose ihres Arztes nicht. Julika hat ihr Bücher über Demenz besorgt, aber Irma rührt sie nicht an. Als könne sich die Krankheit aus den Büchern heraus auf sie übertragen.

Es gibt viel zu vergessen. Aber sie schafft es nicht, das eigentlich Schlimme aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Sie geht vom Fenster weg und räumt die Gläser und die Flasche in die Küche. Gießt den warm gewordenen Prosecco in die Spüle.

Wo Julika nur bleibt.

Ohne Julika fühlt sie sich leer und einsam. Obwohl sie all die Jahre allein gelebt hat – seit Julika in Landshut aufgetaucht ist, schmerzt jede Stunde der Einsamkeit, die sie in ihrer Wohnung verbringt.

Irma nimmt ihr Handy. Sie hat es zur Vorsicht, nur um nicht verloren zu gehen. Die einzige gespeicherte Nummer ist Julikas. Sie könnte bei ihren Freundinnen vorbeischauen. Wie weit wohl die Vorbereitungen gediehen sind? Seit sie vor langer Zeit aus den USA zurückgekehrt ist, hat sie bei den Förderern der Landshuter Hochzeit mitgewirkt. Die Aufgabe, das Fest mitzutragen, Verantwortung zu übernehmen, war ihr mehr Heimat als die Stadt selbst.

Was ist Erinnerung?, denkt Irma. Ich bin so alt geworden. So alt. Und andere sind so jung gestorben. Lisa zum Beispiel. Mit gerade mal 19 Jahren.

Dabei ist Lisa in Irmas Herzen unsterblich. Sie ist stets gegenwärtig. Ewig jung und zart, schön wie ein Sommerabend. Lisa hätte so wie Julika gut zu den Spielleuten gepasst.

Irma konzentriert sich. Sie sucht ihren Schlüssel, findet ihn schließlich innen im Schloss der Haustür stecken. Vielleicht entdeckt sie Julika, wenn sie bei den Spielleuten vorbeischaut. Irma weiß, wo sie sich vor der Hochzeit tummeln, alle ein bisschen aufgeregt, aber fröhlich, heiter, wie Spielleute sein sollen. Sie mag die Vorführungen der Gaukler und Feuerschlucker, die Kampfszenen, die die sangesfreudigen Reisigen und die Reiter vorführen. ›Himmel Landshut – tausend Landshut‹, denkt Irma, als sie die Tür hinter sich zuschließt. Nein, sie vergisst nicht. Sie trägt schwer an ihrer Schuld. Aber die vergisst sie nicht.

4

Aber ja, mein Täubchen. Natürlich weinst du, wie alle hier weinen, wenn sie denken, dass niemand hinhört. Ein paar Minuten weinen, das können wir uns leisten, nicht wahr? Ein paar Minuten Trauer um all die Toten, die Sterbenden, die Verlorenen. Wir sind alle verloren, glaub mir, Lisa. In unserer Baracke haben wir es gut. In der ländlichen Einöde fallen keine Bomben, und zu essen gibt es auch noch das ein oder andere. Dünn sind wir alle, aber zäh wie Katzen, nicht wahr?

Oder weinst du, weil dein Glück zerbricht? Weil du besonders inbrünstig gesungen hast am Feuer? Weil du nicht glaubst, dass der Frühling da draußen das Ende des Tausendjährigen Reiches einläutet? Ha! Das hätte ich dir schon vor Jahren sagen können, dass es zu Ende geht, aber du wolltest nichts davon hören, und bevor du mich verpfeifst, wirst du verstehen, Täubchen, dass ich die Klappe gehalten habe. Die Welt da draußen folgt ihren Gesetzen, da kannst du nichts dran drehen, da hilft alles reden nicht.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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