Fliehganzleis - Friederike Schmöe - E-Book

Fliehganzleis E-Book

Friederike Schmöe

4,3

Beschreibung

Larissa Gräfin Rothenstayn, die in der DDR aufwuchs und 1975 in den Westen fliehen konnte, bittet Ghostwriterin Kea Laverde, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Dann wird sie in ihrem Schloss in Unterfranken von einem Unbekannten schwer verletzt. Die Polizei spricht von versuchtem Mord und fahndet nach dem geheimnisvollen Täter. Kea arbeitet sich unterdessen durch das Archiv der Familie und steht vor einem Rätsel: Warum sammelte die Gräfin Berichte über ein Mädchen, das im Sommer 1968 in einem kleinen See auf der Insel Usedom ertrank? Wie es scheint, ist das Unglück fast 20 Jahre nach dem Mauerfall noch nicht geklärt, und Larissas Angreifer streckt auch nach Kea die Finger aus ...

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Friederike Schmöe

Fliehganzleis

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2009 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / Korrekturen: Katja Ernst / Susanne Tachlinski

Meinem Freund

Tengis Karbelaschwili

dem Freiheitsliebenden

mit dem großen Herzen

Cems megobars

Tengiz karbelaSvils

Tavisuflebis motrfialesa

da didsulovan adamians

Visa para un sueño

Eran las cinco de la mañana

Un seminarista un obrero

Con mil papeles de solvencia

Que no le dan pa’ ser sinceros

Eran las siete de la mañana

Y uno por uno al matadero

Pues cada cual tiene su precio

Buscando visa para un sueño.

(…) Buscando visa para un sueño (…)

Visum für einen Traum

Es war genau fünf Uhr morgens

Ein Student und ein Arbeiter

Mit Tausenden Führungszeugnissen

Die man allein fürs Bravsein nicht bekommt.

Es war genau um sieben Uhr morgens

Und nacheinander ging’s zur Schlachtbank

Denn jeder hat seinen Preis

Wenn er ein Visum will für einen Traum

(…) Ich brauch ein Visum für einen Traum (…)

Song von Juan Luis Guerra, Dominikanische Republik

u.

Juli 1968Prolog

Katja ging langsam am Ufer entlang. Das Schilf wiegte sich im Wind. Es raschelte leise und gleichmäßig. Wer sie aus der Ferne sah, würde annehmen, dass sie sich für ein paar Minuten aus dem Lagerbetrieb davonstehlen wollte. Ihre Rattenschwänze baumelten traurig über den Ohren. Sie bewegte sich schwerfällig vorwärts, als schleppte sie dicke Erdklumpen an ihren Schuhen mit sich herum. Dabei hatte es seit Tagen nicht geregnet.

Der Dicke hatte ihr befohlen, das Ruder zu finden. ›Egal wo, egal, wie lange es dauert, aber komm mir ohne das Ruder nicht zurück!‹ Katja seufzte. Ihre Eltern bestanden darauf, dass sie mit den Jungen Pionieren ins Ferienlager fuhr. Sie wusste genau, dass in ihrer Familie andere Maßstäbe galten als zum Beispiel beim Dicken. Seinen Sohn, den mochte Katja, obwohl er älter war. Sie war ja erst neun, und der Junge schon mindestens14. Er hätte ihr bestimmt beim Suchen geholfen, aber sein Vater hatte jede Hilfsbereitschaft schnell vereitelt. ›Lasst Katja mal alleine gehen. Das Ruder gehört euch allen, und wer dafür verantwortlich ist, dass es verlustig geht, der muss sich eben darum kümmern, es wiederzukriegen.‹

Katja holte lang und tief Atem, um nicht zu weinen. Sie versuchte, an ihre Mutter zu denken. Sie sollte stolz sein, wenn Katja zurückkam und von ihren Ferien erzählte. Sich fröhlich zu geben, während man am liebsten geheult hätte, war nicht einfach. Dabei war es schön hier. Viel schöner als zu Hause. Hier war die Luft jeden Morgen erfüllt vom Salz des Meeres. Mit den Rädern fuhren sie fast täglich die paar Kilometer zur Küste und badeten im Meer. Katja verstand sich gut mit den anderen. Außer mit dem Dicken.

Das blaugraue Wasser kräuselte sich im Wind. Drüben beim Lager ragte ein gebrechlicher Holzsteg in den See hinein. Das Wasser des Stromes sammelte sich hier im Rücken der Insel in einem riesigen Becken und bildete Buchten und Winkel. Katja ging zu ihrem Lieblingsplatz, wo sie unbeobachtet ins Wasser steigen konnte. Sie war eine gute Schwimmerin. Das Ruder würde sie schon auftreiben. Wahrscheinlich war es irgendwo in den Binsen hängen geblieben. Es war aus Holz, es konnte ja nicht untergehen!

Langsam wurde es kühl. Katja schauderte. Am Himmel trieben Quellwolken dicht an dicht. Sie schoben sich übereinander, bauschten sich auf, verschmolzen und trennten sich voneinander. Die Binsen legten sich in den Windböen flach, als wollten sie sich gegenseitig ins Wasser drücken. Von fern hörte Katja eine Frau ihren Namen rufen. Aber sie dachte gar nicht daran, zurückzugehen. Im Lager galten nur die Befehle des Dicken, und der würde nicht gelten lassen, dass Katja wegen ein bisschen Wind die Suche nach dem blöden Ruder abbrach.

Sie hatte die Stelle erreicht, wo das Schilf nur spärlich stand. Rasch ging sie ein paar Schritte in den See. Er fiel flach ab. Der Boden war sandig, das Wasser kalt. Katja fröstelte. Wenn sie auch nur ein paar Sekunden zögerte, würde sie sich nie überwinden. Der nächste Windstoß trieb ihr einen Schauder über die Haut. Sie atmete tief ein und ließ sich ins Wasser gleiten.

Minuten später entdeckte sie das Ruder weit draußen auf dem Balmer See. Mit dem Wind war es leicht, sich hinaustreiben zu lassen. Dann verschluckte die Dunkelheit des hereinbrechenden Unwetters den Schatten des Ruders auf dem Wasser. Katja schwamm dem dunklen Streifen auf den sich kräuselnden Wellen hinterher. Aber da war kein Ruder. Katjas Kopf glitt tiefer ins Wasser. Ihre Arme und Beine wurden schwer vor Anstrengung und lahm vor Kälte.

Als der Regen losbrach, übertönten Wind und Wasser Katjas Hilferufe. Drüben im Lager sah sie Lichter umhergeistern. Vielleicht suchen sie nach mir, vielleicht nicht, dachte Katja. Zuerst war sie fast rasend vor Angst, aber je mehr sie unterkühlte, desto weniger machte ihr das alles etwas aus. Sie dachte an ihre Mutter. Dann dachte sie an nichts mehr.

August 20081

Im späten August wurden die Farben klarer, die Konturen schärfer, und die Hell-Dunkel-Kontraste traten deutlicher hervor.

Ich saß am Mittwochnachmittag im Schatten des Schlosses Rothenstayn und musterte kritisch die vom Schweiß gewellten Notizzettel auf meinem Schoß. Die Gräfin goss mir Eistee ein. Das leise Sprudeln des Brunnens hinter mir entspannte mich.

»Noch ein Stück Himbeerkuchen?«

»Ja, gern.« Ich sah Larissa Gräfin Rothenstayn zu, wie sie ein paar Wespen verscheuchte: das Mienenspiel ausdrucksstark, fast kauzig, jede ihrer Bewegungen souverän. Die vielen Fältchen in ihrem Gesicht ein Fundament ihrer Schönheit, die auch das sackartige marineblaue Kleid und die ausgetretenen Gartenschuhe aus Gummi nicht verhunzten. Bestimmt hatte sie als Ärztin in ihrer aktiven Zeit Vertrauen und Ruhe ausgestrahlt. Eine Gynäkologin wie sie wünschte sich jede Frau. Wir alle kreisten um den mütterlichen Pol. Ob wir wollten oder nicht.

Die Gräfin hatte mich als ihre Ghostwriterin engagiert. Seit vier Tagen wohnte ich in dem unterfränkischen Schloss, gute 30 Kilometer von Würzburg entfernt, und führte ein Interview nach dem anderen mit Larissa. Daraus sollte ihre Lebensgeschichte in Buchform werden. Fürs gräfliche Archiv, wie sie mir lachend erklärt hatte. Üblicherweise pflegte ich nicht bei meinen Kunden zu wohnen, und ich achtete darauf, einen gewissen zeitlichen Abstand zwischen den Interviewterminen einzuhalten. So konnte ich selbst mich besinnen und Distanz zu den Lebensgeschichten gewinnen, die man vor mir ausbreitete. Auch die Kunden hatten dadurch Gelegenheit zum Nachdenken. Bei Larissa machte ich es anders. Die Gräfin hatte es eilig mit ihrem Buch, wusste der Himmel, weshalb, aber es schien, als bräche ihre Sehnsucht, die Abenteuer und Traumata ihres Lebens einfach abzuschütteln, stündlich stärker hervor.

Inzwischen besaß ich einen ganz guten Überblick über das Leben dieser molligen, durch und durch lebensfrohen und tatkräftigen Adeligen. Ich begann bereits damit, einzelne Zeitabschnitte genauer auszuleuchten. Als Ghostwriterin ging es mir nicht darum, so viele Kleinigkeiten wie möglich aufzulesen. Vielmehr suchte ich nach Motiven, um die ich den Stoff eines individuellen Lebens gruppieren konnte. Ich hatte schon Autobiografien für Leute verfasst, bei denen es mir schwerfiel, auch nur ein einziges Motiv herauszustellen. Unter den Auftraggebern einer Ghostwriterin waren überdurchschnittlich viele ehrgeizige Menschen. Solche Leute langweilten nicht nur mich, sondern auch potenzielle Leser. Was sollte ich Spannendes über jemanden schreiben, dessen höchstes Ziel darin bestand, viel Geld zu verdienen oder Vorstandsvorsitzender bei einer Bank zu werden?

Bei Larissa Gräfin Rothenstayn jedoch stolperte ich in jedem Gespräch über neue, prächtige Motive. Infolgedessen hatte ich auch noch keine Leitlinie festgelegt, die mich von Kapitel zu Kapitel führen konnte. Das Angebot an Aufregendem war einfach zu reichhaltig.

»Lieben Sie Ihren Beruf?«, fragte die Gräfin unvermittelt. »Ich habe den Eindruck, Sie lieben ihn. Sie haben ja alle Voraussetzungen dafür: Sie sind unnachgiebig. Und Sie gehen sicher nicht den Weg des geringsten Widerstandes.«

»Ich war früher Reisejournalistin. Dass ich im Ghostwriting gelandet bin, war eher eine unvorhersehbare Kehrtwendung.« Es stimmte nicht ganz, war aber auch nicht gelogen.

»Es muss unendlich spannend sein, verschiedene Leben auszuleuchten«, sagte Larissa.

»Ja.«

Meine nackten Füße kühlten sich an den Terrassenfliesen. Ich legte den Kopf in den Nacken und sog das gleißende Blau des Spätsommerhimmels auf. Hummeln und Wespen summten um uns herum und beanspruchten ihren Anteil am Himbeerkuchen. Die pralle Natur des Parks verlangte die Terrasse zurück: Sonnenblumen, Stockrosen, Astern, Dahlien blühten um uns herum. Sträucher streckten die schweren Zweige nach uns aus. Gerade vier Stühle und ein kleiner Gartentisch fanden noch Platz. Gestern Morgen hatte Larissa der Üppigkeit mit der Heckenschere Einhalt geboten.

»Das ist ein Paradies«, sagte ich, ohne es gewollt zu haben.

»Nicht wahr?«, lächelte die Gräfin. Eine kleine Lücke zwischen dem linken Vorderzahn und dem Zahn daneben machte ihr Lachen interessant. »Sie verstehen, warum ich hierher kommen musste? Ich kannte das Schloss doch nur von Bildern! Mein ganzes Leben lang. Und mit 30 hat man ein Lebensalter erreicht, in dem man noch einmal etwas ändern will. Die Knochen strotzen vor Kraft, der Wille auch…«

Ich trank rasch einen Schluck Eistee, um zu verbergen, dass ich mich unangenehm berührt fühlte. Ich war39. Also, fast 40. Na gut, in nicht ganz einem halben Jahr. Nach einer XXL-Portion Chaos in den vergangenen gut drei Jahren wähnte ich mich mittlerweile auf dem richtigen Weg für den Ankerplatz des Lebens. Womöglich war ich ein wenig spät dran. In meinem Alter hatte Larissa ihr größtes Abenteuer, die Flucht aus der DDR, längst hinter sich. Sie wünschte sich, ihre Autobiografie unter dem Titel ›Eine Adelige in der DDR‹ zu vermarkten. Auch in Sachen Marketing vertraute sie ganz auf mich und meine Kontakte in der Branche. Ich war mir nicht sicher, ob diese Masche viele Käufer locken würde. Effizienter schien es mir, ein dramatisches Detail ihres Lebens in den Blick zu rücken. Am besten die Umstände ihrer misslungenen Flucht 1973. Sie sollte in einem Versteck an Bord eines umgebauten LKW über die Transitautobahn in den Westen ausgeschleust werden. Doch darüber hatten wir noch gar nicht gesprochen. Meine Kundin verstand das Geheimnis, ihre Zuhörer neugierig zu machen. Sie streifte den Kern der Geschichte, ohne ihn vollständig auszureizen. Wie ein guter Liebhaber, der den Höhepunkt so lange wie möglich hinauszuzögern wusste.

Sie deutete auf mein Aufnahmegerät.»Schalten Sie den Rekorder eine Weile aus. Ich brauche eine Pause.«

Mir ging es nicht anders. Ich klickte auf ›Stop‹.

»Warum nehmen Sie nicht mein Rad und unternehmen eine kleine Tour an den Main? Wer weiß, wie lange das Wetter noch hält.« Sie strich sich das verschwitzte graue Haar zurück, das dringend einen Friseurbesuch brauchte.

Sie wollte mich loswerden. Ich verstand sie. Wer einem Ghostwriter sein Leben schilderte, kriegte schnell ein paar Dosen zu viel vom eigenen Selbst ab. Ein Beleg dafür, dass man sich selbst nur schwer erträgt, dachte ich grinsend, während ich eine halbe Stunde später auf dem gräflichen Mountainbike durch den Park hinunter ins Dorf Rothenstayn rollte.

2

Ein trauriger Augusttag. Der 28. Herbstlich, zu kühl, ohne Sonne. Laub, das sich zu färben begann. Larissa hatte recht behalten. Der Wetterumschwung bescherte uns einen Vorgeschmack auf die kommenden acht Monate.

»Gräfin?«

Meine Stimme hallte in dem großen, leeren Speiseraum. Normalerweise saß Larissa schon früh am Morgen in ihrem giftgrünen Sessel, guckte Frühstücksfernsehen und genoss ihren Tee.

»Gräfin?«

Larissa bestand nicht auf dieser Anrede, aber ich fand sie praktischer als ›Frau von Rothenstayn‹. Kurz, knapp, ironisch. Passend zu Larissas Persönlichkeit.

Das Schloss zeigte sich im düsteren Morgenlicht wenig anheimelnd. Da nur wenige Räume benutzt wurden, verstärkte sich der Eindruck eines Auslaufmodells. Eines Gebäudes, das Energie und Arbeit erforderte, ohne Leben auszustrahlen. Larissa bewohnte ausschließlich das Parterre. Die Räume in den oberen Stockwerken glichen Ausstellungsflächen, vollgestopft mit Möbeln, die unter staubigen Laken die Tage kommen und gehen ließen. Sogar die Treppen, die hinaufführten, wirkten abweisend, als ertrügen die ausgetretenen Stufen keine auf ihnen herumtrampelnden Füße mehr. Das einst schön gedrechselte Holzgeländer war von Schädlingen zerfressen.

Der lange Gang im Parterre schwamm in Düsternis. Ich machte Licht. Sah in die Küche. Keine Gräfin.

Die Arme um den Oberkörper geschlungen, eilte ich den dunklen Flur zurück zu meinem Zimmer. Es lag ganz am Ende des Erdgeschosses mit Blick auf die Rückseite des Grundstücks. War mit viel Liebe renoviert worden, der Parkettboden mit Öl eingelassen, die Wände strahlten in warmem Sonnengelb. Das dezent in Rosa gehaltene Bad versteckte sich hinter einer Tapetentür. Unschlüssig stand ich vor dem Waschbecken, nestelte an meinem Pferdeschwanz. Gestern Abend war überraschend Besuch aufgetaucht. Wir hatten das letzte Interview des Tages abgebrochen. Vielleicht war Larissas Gast noch im Haus?

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Die Gräfin in ihrem Schlafzimmer zu stören, kam nicht infrage.

Ich griff nach meinem Fleecepulli und machte mich auf in den Garten.

Normalerweise führten wir das erste Interview des Tages beim Frühstück. Ich bekam meinen schwarzen Kaffee, die Gräfin ihren Earl Grey. Fröhlich fragte sie mich dann: »Wo sind wir gestern stehen geblieben?« Oder: »Was habe ich Ihnen eigentlich als Letztes weisgemacht?« Ich half ihr auf die Sprünge, und sie erzählte weiter von ihrem Leben, als hätte es nie eine Unterbrechung gegeben. Für eine Ghostwriterin war Larissa Gräfin Rothenstayn eine leicht zu handhabende Kundin.

Ich trat durch die Terrassentür, die den Speiseraum mit dem Park verband, ins Freie. Selbst die üppigen Blumenrabatten riefen keine sommerlichen Gefühle mehr hervor. Erst gestern hatten wir hier neben dem Brunnen auf den Gartenstühlen gesessen und geschwatzt. Über Nacht hatte die Jahreszeit gewechselt. Die Wolken ließen kein Loch zum Durchgucken. Alles schien grau, Himmel, Bäume, die schlichte, schmucklose Sandsteinfassade des Schlosses. Ich ging schneller, unter den Fichten hindurch, weg von der gepflasterten Auffahrt, die ins Dorf führte. Dort war ich gestern Abend entlanggegangen, mit Verdi in den Ohren. Abgeschottet von der wirklichen Welt.

Nah am Schloss war der Rasen ordentlich gemäht, die Beete wie mit dem Lineal ausgerichtet. Weiter weg durfte sich der Wildwuchs entfalten. Brombeerranken und hüfthohe Brennnesseln schirmten den Dschungel vom Schloss ab. Die Gräfin liebte es naturnah. Sie war stolz auf die vielen Holunderbüsche, deren Zweige schwer von den prallen Dolden herabhingen, die wilden Himbeeren, das Wespennest im alten Kirschbaum, die Nuss- und Birnbäume, die, vor Jahrzehnten angepflanzt, in diesem Spätsommer ebenfalls reiche Ernte versprachen.

Am liebsten verbrachte ich meine Pausen und freien Minuten am Bach, der das Grundstück gut 500Meter hinter dem Anwesen auf der Grenzlinie zwischen dem Schloss und dem Wald der Gemeinde Rothenstayn begleitete und schließlich durch eine buckelige Wiese dem Ort zuströmte. Es hatte in der Nacht geregnet, und ich hörte das Rauschen des Wassers, noch bevor ich es sah. Hier standen Rotbuchen dicht an dicht. Haselbüsche, Holunder, Schlehenbüsche und Sträucher voller Mehlbeeren. Vorgestern hatte ich einen Durchschlupf entdeckt, um zum Bach zu gelangen, ohne mir die Kleider zu zerfetzen oder mit Kletten bestückt ins Schloss zurückzukommen. Zwischen zwei Schlehenbüschen lagerte ein Haufen moosiges, nasses Feuerholz, das vielleicht ein paar Kinder, die zum Spielen auf das Grundstück gekommen waren, dort vergessen hatten. Ich hatte es beiseitegeräumt und mir so einen Weg zum Wasser gebahnt.

Heute sah der Durchschlupf anders aus als sonst. Schlehenzweige waren abgerissen, der Boden mit Blättern und halbreifen Früchten übersät. In der feuchten Erde entdeckte ich Abdrücke. Als habe jemand etwas sehr Schweres durch die Hecke gezerrt.

Rasch bog ich die Zweige zurück.

Ich sah einen Gartenschuh und Jeansstoff. Zwängte mich an den Büschen vorbei.

»Gräfin?«

Sie lag am Bachufer, und ich dachte, sie wäre tot. Sie regte sich nicht. Ihr Gesicht war voller Blut, auch die Bluse, das Haar, die Erde, auf der sie lag. Ihre Augen waren geschlossen, die Lider verklebt vom Blut. Ich kniete mich neben sie, mit den Füßen im Bach, und rief ihren Namen. Presste meine Finger an ihren Hals. Hielt eine Hand vor ihren Mund. Spürte einen hauchzarten Luftzug. Die ganze linke Seite ihres Schädels schien aufgerissen, eingedrückt, zerschmettert.

Das Rauschen des Wassers dröhnte in meinen Ohren. Aber ich hörte auch noch etwas anderes. Jenseits des Baches. Später konnte ich niemandem erklären, was, und so glaubte mir keiner oder hielt meine Hinweise für die Halluzinationen einer überspannten Frau, die sich dem entscheidenden 40.Geburtstag näherte. Mein Kopf flog herum. Ich blickte über den Bach. An dieser Stelle maß er gerade mal zwei Meter in der Breite. Das gegenüberliegende Ufer stand, genauso wie das Schlossgrundstück, voller Bäume und Sträucher.

Jemand lief weg. Durch den Gemeindewald nach Westen. Ich spürte es mehr, als dass ich es hörte. Dann lag der Wald still, und auch der Bach schien zu verstummen. In der plötzlichen Stille klang Larissas Stöhnen gespenstisch.

»Gräfin!«, schrie ich sie an. »Ich hole Hilfe. Ich habe mein Handy nicht dabei. Ich laufe. Ich…« Dann sagte mir eine sehr ruhige, sehr vernünftige Stimme, die aus meinem Kopf heraus sprach, ich sollte die wenigen Minuten, die noch blieben, um Larissa zu retten, nicht damit vertun, herumzubrüllen und Belanglosigkeiten zu verbreiten. Bei Bewusstlosigkeit: Seitenlage, fuhr die Stimme fort. Ich hievte Larissas schweren Körper herum und achtete darauf, dass ihr Kopf auf der unverletzten Seite lag.

Dann sprang ich auf und rannte.

3

»Sie haben also nichts gesehen, nichts gehört?«

Die Herrschaften von der Polizei, eine Frau in meinem Alter und ein etwas jüngerer Mann, saßen mir gegenüber im Speiseraum. Zwischen uns stand der breite Ahornholztisch mit den Kerzenständern von Ikea.

»Ich bin im Schlosspark gewesen. Mit dem MP3-Spieler in den Ohren. Habe Verdi gehört.« Das klang so dämlich, das würden sie mir nicht glauben, obwohl es der Wahrheit entsprach. Aber keiner von beiden fragte nach.

»Frau Laverde–wer war der Besuch letzte Nacht?«

»Ich habe keine Ahnung.« Müde schloss ich die Augen, um mir die Situation ins Gedächtnis zu rufen. »Wir saßen hier, im Speiseraum. Die Gräfin hatte ein Feuer angezündet. Wir sprachen über 1973. Das Jahr ihres ersten Fluchtversuchs aus der DDR.« Die Kommissare starrten mich an, keiner machte sich Notizen. Das irritierte mich. Ich kannte die Unzuverlässigkeit meines Gedächtnisses. Berichteten meine Kunden über ihr Leben, brauchte ich neben der Audioaufnahme auch meine Mitschrift, um mich an das zwischen den Zeilen Mitschwingende zu erinnern.

»Es klingelte«, fuhr ich fort. »Irgendwann zwischen acht und halb neun. Es wurde gerade dunkel. Die Gräfin wunderte sich über den späten Besuch. Sie ging öffnen. Ich hörte Stimmen von draußen, konnte aber nicht verstehen, was gesagt wurde.«

Plötzlich stand vor meinen Augen der gestrige Abend so deutlich, als säße ich im Kinosessel und blickte auf eine Leinwand.

»Die Gräfin kam zurück. Allein. Ein wenig nervös. Sie sagte, jemand sei zu Besuch gekommen, es wäre wichtig, und sie würden sich vorne im Grünen Salon unterhalten.«

»Woran erkannten Sie, dass die Gräfin nervös war?«, wollte die Kommissarin wissen, die sich mit Martha Gelbach vorgestellt hatte. Sie trug das dunkle Haar sehr kurz, in ihren Ohrläppchen steckten winzige Perlen. Ein paar feine weiße Strähnen im Pony gaben ihrer Frisur die besondere Note. Auch ich hatte schwarzes Haar, doch die Alterstönung aus dem Farbtopf von Mutter Natur war mir bisher erspart geblieben.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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