Pfeilgift - Friederike Schmöe - E-Book

Pfeilgift E-Book

Friederike Schmöe

4,3

Beschreibung

Privatdetektivin Katinka Palfy braucht eine Auszeit. Sie nimmt deshalb in den unterfränkischen Haßbergen an einem Kurs in Bogenschießen teil. Mit Paula Stephanus, einer anderen Teilnehmerin, freundet sie sich an. Nach einer durchzechten Nacht liegt Paulas Mann Hagen tot im Wald: In seinem Bein steckt ein Pfeil. Laut Obduktion starb er einen qualvollen Tod, verursacht durch das Pfeilgift Curare. Während die Polizei den Mörder jagt, bittet die verängstigte Paula Katinka um Schutz. Doch auch Paula ist verdächtig, immerhin wollte sie sich von Hagen trennen. Und von seinen Geschäften mit gefährlichen Substanzen weiß sie auch mehr, als gesund für sie ist ...

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Titel

Friederike Schmöe

Pfeilgift

Katinka Palfys siebter Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2008 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2008

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von sxc.hu

Gesetzt aus der 9,3/13 Punkt GV Garamond

ISBN 978-3-8392-3076-3

Bibliografische Information

der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Widmung

In Erinnerung an

Nelly Amaschukeli und Nodar Kakabadse

(† 2007, Tbilissi/Georgien)

Alles erstunken und erlogen. Ein Roman eben. Was nicht heißt, dass so etwas nicht doch irgendwann irgendwo auf der Welt passieren könnte.

Gebrannte Kinder fürchten das Feuer oder vernarren sich darein.

Marie von Ebner-Eschenbach

Beginn

Die Zeitspanne, bis die ganze Scheune brannte, war kurz.

Der Mann im Schatten stoppte die Zeit und notierte sie auf einem Zettel. Sein Puls raste. Die Finger bebten und brachten kleine, krakelige Buchstaben hervor. Schweiß perlte über seine Schläfen und durchnässte sein Haar, rann die Wangen hinunter und tropfte auf den Hemdkragen. Er bemerkte es nicht.

Alles ging so viel schneller als erwartet, jedes Mal. Nun loderten die Flammen aus dem Dach. Der schwarze Qualm war am dunklen Nachthimmel kaum zu erkennen. Das mochte er, dieses Spiel von Rauchschlieren in der Luft, er liebte den harten Brandgeruch, das Knistern der Flammen, die Donnerschläge, wenn es irgendwo eine Verpuffung gab. Seine Augen brannten. Alle Sinne flirrten und bebten wie zum Zerreißen gespannter, feiner Draht.

Von der Feuerwehr war weit und breit nichts zu sehen.

Eine Weile würde er noch stehen bleiben, hier im Schatten. Wenn die Gebäudereste in sich zusammenfielen, würde er allmählich gehen. Sein Körper würde sich entspannen, Glied für Glied, Muskel für Muskel.

Aschefetzen wirbelten vorbei. Seine Kleider würde er sehr sorgfältig waschen, mehrmals am besten. Rauchgeruch hielt sich lange.

Er hatte seine Kraft verbraucht zu Zeiten, als es nicht anders ging. Nun musste er haushalten mit der Kraft, die ihm geblieben war.

1. Auszeit

Sie standen zu siebt nebeneinander im Herbstlaub, dicht an dicht. Paula, Norbert, Hagen, Mia, Katinka, Suse und Mareike. Katinka roch Suses aufdringliches Patchouli-Parfüm. Atmen. Nicht denken. Der Bogen lag noch locker in der Hand.

»Pfeile auflegen!«

Sieben Arme schwenkten über die Köpfe zu den Bögen.

»Einatmen.«

Das war der kraftvollste Moment. Jener Augenblick, da die Bögen sich zum Himmel richteten, die Pfeilspitzen blitzend in der Sonne. Katinka sog die Konzentration von sieben Menschen an einem herbstlichen Tag im Wald auf, die Energie gespannter Erwartung.

»Ausatmen.«

Ihr Rhythmus war im Laufe der letzten drei Tage in Gleichklang übergegangen. Sieben Arme spannten die Sehnen. Katinka spürte ihren Daumen an der Wange. Eins sein mit dem Bogen und den anderen Schützen. Mit dem letzten Quäntchen Luft aus ihren Lungen zupfte sie die Sehne wie eine Harfensaite.

Sieben Pfeile zischten durch das Blau. Sie hatten in perfekter Harmonie geschossen. Die Pfeile trafen fast gleichzeitig auf der Zielscheibe auf. Nicht alle. Katinka hatte ihren haarscharf vorbeifliegen sehen, fast als habe sie absichtlich nicht auf die Strohscheibe, sondern auf die Burgmauer zwanzig Meter weiter gezielt. Es kommt nicht darauf an, dass ihr trefft, war Luisa in diesen Tagen nicht müde geworden zu versichern. Treffen bedeutet nichts. Gar nichts. Wenn ihr jetzt trefft, habt ihr noch nichts verstanden.

»Wunderbar«, sagte Luisa und hängte sich ihren Bogen über die Schulter. »Packen wir zusammen.«

Das Aufräumen funktionierte wie geschmiert. Einige sammelten die Pfeile ein. Norbert nahm die Scheibe ab, Katinka und Paula kümmerten sich um die Bögen.

»Tolle Gegend«, sagte Paula, während sie neben Katinka zu Luisas Ford Transit gingen. »Ich komme aus Schweinfurt, das ist nun wirklich nicht weit weg, aber dass es hier so viele Burgen gibt, habe ich erst jetzt richtig bemerkt.«

»Geheimnisse der Haßberge«, sagte Katinka lächelnd. Das Bogenschießen tat gut. Sie vergaß ihre schweren Gedanken, genoss die strahlende Herbstsonne und die Übungen in schweigender Konzentration. Die Sorgen verloren an Wirklichkeit. Wurden blass wie in die Jahre gekommene Polaroidfotos.

»Kanntest du die Rauheneck schon?«, wollte Paula wissen und machte eine Kopfbewegung zu den eingefallenen Mauern, vor denen sie geübt hatten.

»Nicht nur die. Ich liebe sie alle. Die Rauheneck, die Bramberg, die Altenstein…« Katinka legte die Bögen in den Wagen und breitete eine Decke darüber. Mit den Langbögen aus Eibenholz musste man behutsam umgehen. Jedes Stück hatte Luisa selbst gefertigt, mit Ledernocken und sorgsam umwickelten Griffen. Auch die Sehnen und die Pfeile waren Handarbeit. Einige Pfeile sahen schon ziemlich zerfleddert aus, die Federn ausgefranst, gespickt mit Resten von Grashalmen, andere verbogen und von Luisa mit Klebeband geschäftet.

»Schade, dass die Burg gesperrt ist«, meinte Paula und steckte sich eine Zigarette an, während sie auf die anderen warteten.

»Einsturzgefahr. Du kannst trotzdem rein, es ist niemand da, der dich aufhalten würde. Viel zu sehen gibt es nicht, dazu ist zu wenig übrig. Ein paar Mauern, Fensteröffnungen, Gewölbebögen.«

»Und die Gerüste?« Paula wies mit dem Kinn zur Burg.

»Es wird immer mal wieder was dran gemacht. Wäre auch zu schade, wenn die Rauheneck in ein paar Jahrzehnten nur noch ein Steinhaufen wäre.«

»Hagen und ich schießen sonst mit Sportbögen«, wechselte Paula das Thema. »Glasfiberbögen mit allem erdenklichen Schnickschnack. Du kannst zielen wie mit einem Gewehr. Perfekt treffsicher. Das müsste doch was für dich sein.«

»Ich bin nicht beruflich hier.«

»Aber deine Knarre hast du mit, oder?«

Katinka wedelte den Rauch weg. Paula schaute wohl ganz genau hin und hatte das Holster mitsamt Beretta unter ihrer Jeansjacke bemerkt. Allerdings hatte Katinka nicht die Bohne Lust, Suggestivfragen zu beantworten, und über ihren Beruf oder ihr Leben wollte sie schon gar nicht reden. Deswegen hatte sie diese Auszeit genommen: Eine Woche Bogenschießen in den Haßbergen, vor mittelalterlicher Kulisse, in freier Natur. Obwohl sie nur knappe fünfzig Kilometer von Bamberg weg war, half ihr die räumliche Distanz, endlich abzuschalten. Sie begann sich loszulösen von dem, was ihr in den letzten Wochen Kopf und Herz schwer gemacht hatte. Bei der Kennenlernrunde am ersten Abend hatten die meisten Teilnehmer reichlich verblüfft reagiert, als Katinka sich als Privatdetektivin vorstellte. Dann kamen die üblichen Witze. Bist wohl Undercover hier. Kann eine Frau so einen Job überhaupt machen. Hast du ein Schießeisen.Verdienst du damit Geld. Die ungefragten Meinungsäußerungen zu ihrem Beruf gingen Katinka kolossal auf die Nerven. Sie verabscheute das pseudointellektuelle Gehabe von Leuten, die Chandler gelesen hatten.

»Seid ihr in einem Sportbogenverein?«, fragte sie jetzt. Da brach der jahrzehntelang eingeübte Zwang zur Konversation durch.

»Seit ein paar Jahren. Aber wir wollten mal ausprobieren, wie der meditative Weg geht. Luisa macht das klasse, finde ich.« Paula fummelte einen winzigen Aschenbecher aus der Tasche, drückte die Zigarette aus und verstaute die Kippe darin.

»Können wir?« Hagen klapperte mit seinen Autoschlüsseln und legte Paula den Arm um die Schultern. »Fährst du mit uns, Katinka?«

Katinka stieg zu Paula und Hagen in den Sharan, Norbert und Mia kamen dazu. Die anderen beiden fuhren mit Luisa. Bis zu ihrem Hotel in Lichtenstein brauchten sie nur eine knappe Viertelstunde.

»Der Oktober ist himmlisch in diesem Jahr«, seufzte Mia. »Seht ihr die Äpfel? Nachher gehe ich los und hole mir welche.«

Es entspann sich eine Unterhaltung über das Wetter. Katinka kuschelte sich in ihre Ecke und hielt den Mund. Mal nicht reden müssen…sie war Luisa wirklich dankbar, dass sie darauf bestand, die Übungen schweigend zu absolvieren. Kein Gekicher, keine ironischen Rechtfertigungsversuche, wenn einer nicht traf. Und sie trafen meistens nicht. Einige waren ziemlich gut, Hagen natürlich und Paula. Katinka verstand jetzt, weshalb. Auch Suse machte sich nicht schlecht, während sie selbst und Norbert, der älteste Teilnehmer, ihre Pfeile mit schöner Regelmäßigkeit in der dünnen Gazestoffbahn hängen sahen, die Luisa hinter der Scheibe aufspannte, damit sie nicht ständig auf der Suche nach verschossenen Pfeilen durchs Gras kriechen mussten. Eigentlich seltsam, dachte Katinka. Eine Autotür könnte so ein Pfeil mit Leichtigkeit durchbohren. Aber eine hauchfeine Gardine nimmt den Pfeilen alle Energie. Der Pfeil ist schon abgeschossen, den holst du nicht zurück, hörte sie Luisas Stimme. Konzentrier dich auf den nächsten Pfeil. Nur der Pfeil, den du jetzt auflegst, ist wichtig. Katinka schloss die Augen gegen die gleißende Helligkeit und döste, bis Hagen den Motor abstellte.

»Also dann, bis zum Abendessen«, verabschiedete sie sich und ging auf ihr Zimmer.

2. Die Welt in einer Nacht

»Du willst heiraten?« Paula fuhr sich durch die blonden Locken. »Tu’s nicht.«

Sie hockten in Katinkas Zimmer auf dem Boden und tranken und redeten seit Stunden.

»Du bist doch auch verheiratet.«

»Leider«, stöhnte Paula.

Katinka leckte ihren Zeigefinger an und stippte die letzten Chipskrümel aus der Tüte.

»So ist das also. Ich dachte, du und Hagen, ihr seid das Traumpaar.«

Paula zuckte die Achseln. Ihre Augen lagen sehr tief in ihrem Gesicht und schimmerten dunkel.

»Komm, wir machen noch eine Flasche auf.«

»Danke, für mich nicht mehr. Die Möbel bewegen sich schon.«

»Bist aber nicht gerade trinkfest!« Paula jonglierte mit dem Korkenzieher. »Detektive werfen doch richtig harte Sachen ein. Jedenfalls in den Büchern.«

»Ja, wir sind verkrachte Existenzen mit zerklüfteten Seelen, hoffnungslose Alkoholiker, hausen in modrigen Apartments und können uns zum Frühstück nicht mal eine Käsesemmel mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum leisten«, sagte Katinka krätzig. Der Job war nicht ihr Problem. Das Problem war ein anderes, rein privat und ziemlich intim.

»Sorry. Wahrscheinlich trifft das nur auf deine männlichen Kollegen zu.« Paula entkorkte die Flasche und goss Katinka nach.

»Ich will nichts mehr.«

»Nimm schon. Rotwein ist gesund. Herzinfarktprophylaxe.«

Katinka bereute zutiefst, Paula in ihr Zimmer eingeladen zu haben. Aber Paula hatte natürlich ein Doppelzimmer mit Hagen gebucht, und ihr Ehemann schlief längst den Schlaf des Gerechten, um am nächsten Morgen entspannt und achtsam Pfeile auf eine Strohscheibe zu schießen. Die Müdigkeit kroch Katinka unter die Haut. Sie musste Paula loswerden, aber wenn sie die Regeln des Anstands nicht völlig unterlaufen wollte, würde das noch eine Weile dauern. Jedenfalls so lange, wie zwei Frauen im zarten Alter von Anfang dreißig brauchten, um eine Flasche Chianti zu leeren.

»Ich sage dir, die Ehe ist keine Erfolgsgeschichte. Zu Schulzeiten hat mir mal ein Klassenkamerad ins Poesiealbum geschrieben: Liebe Paula, sei so schlau, werde niemals Ehefrau. Vor der Hochzeit kriegst du Rosen, nach der Hochzeit flickst du Hosen. Wo er recht hatte, hatte er recht.«

»Wie viele flickst du so am Tag?«

Paula brach in Lachen aus. Ihr sommersprossiges Gesicht glühte vom Wein, und sie war schon zu betrunken, um mit dem Reden aufhören zu können.

»Du arbeitest Tag für Tag gegen ein missmutiges Gesicht an. Hast nicht nur deinen eigenen Stress, sondern auch noch den deines Mannes. Musst in der perversen Bettwäsche schlafen, die deine Schwiegermutter euch zu Weihnachten schenkt.« Sie kicherte und steckte sich eine Zigarette an.

Katinka lächelte, als sie an ihre zukünftige Schwiegermutter dachte. Carla. Die leibliche Mutter ihres Freundes Tom. Sie hatten sich im vergangenen Sommer kennengelernt und von Herzen gern. Zwei verwandte Seelen, dachte Katinka, als sie sagte:

»Mein Liebster hat zwei Mütter.«

»Oh, mein Gott. Das wird dir die Heiligsprechung sichern.«

Sie lachten beide.

»Eine leibliche und eine Erziehermutter. Aber seine Erziehermutter ist schwer krank. Sie hatte einen Schlaganfall. Und sein Vater…« Katinka brach ab. Sie wollte das nicht erzählen. Nicht Paula, einer Frau, die sie erst seit ein paar Tagen kannte. Der verfluchte Wein, dachte Katinka und stand auf.

»He, nicht schwächeln!«, beschwerte sich Paula.

Katinka winkte ab und ging ins Bad. Sie stützte die Hände auf das Waschbecken und besah sich im Spiegel. Ob Tom ihr in diesem Zustand einen Heiratsantrag gemacht hätte? Verdammt, sie liebte ihn. Sie könnte keinen besseren kriegen, sie hatten gemeinsam schwere Zeiten gemeistert. Und doch steckte da der Zweifel wie ein Dorn in ihr. Sie konnten doch auch ohne Trauschein zusammenleben. Das bisschen Steuererleichterung bei gemeinsamer Veranlagung als Ehepaar brachte keine wirklichen Vorteile. Überhaupt, Ehepaar. Das klang so fest, so fixiert, so alt. So unglaublich spießig. So, wie sie nie hatte werden wollen.

Katinka füllte ihren Zahnputzbecher mit Leitungswasser und trank in langen Zügen. Wusch sich das Gesicht kalt ab. Jetzt fühlte sie sich besser. Sie musste mit dem Chianti aufhören. Der Wein tat ihr nicht gut, er machte die Gedanken dickflüssig und traurig, so wie er die Wände verrutschte, wenn sie genau hinzusehen versuchte.

»Spielverderberin«, murrte Paula, als Katinka mit ihrem Wasserglas aus dem Bad kam.

»Denkst du, ich will morgen alles doppelt sehen?«

»In ein paar Stunden verliert sich das.«

Katinka musterte Paula verstohlen. Ihre Weinseligkeit roch nach Sucht, nach Verzweiflung und über Jahre mitgeschleppten Problemen.

»Wer ist denn der Göttliche, den du ehelichen willst?«, fragte Paula. Ihre Augen funkelten.

»Er ist schon o.k.«

»Du, ›o.k.‹ ist aber kein Garant für eine Ehe. ›O.k.‹ ist die Mindestanforderung. Sex und so, passt das?«

Katinka kippte das Fenster. Sie hatte Sehnsucht nach einem Spaziergang durch das stille Dorf.

»Monogamie ist eine beschissene Erfindung«, dozierte Paula. »Warum soll man sich im Sex auf einen Partner festlegen? Wegen Aids etwa? Dass ich nicht lache!«

»Aus Liebe.«

Paula prustete los und versprühte Rotwein auf dem Hotelteppich.

»Liebe. Verrate mir, Privatdetektivin Katinka, was ist Liebe?«

Katinka antwortete nicht.

»Liebe, Miss, ist ein deformierter Gedanke in unserem Gehirn.«

Darin steckte ein Körnchen Wahrheit, das wusste Katinka. Sie dachte an all die Gewaltverbrechen, die aus einem Gefühl namens Liebe hervorbrachen. Eifersucht, Besitzansprüche, Verlassensein…Mein beknackter Beruf lässt mich nicht los, dachte sie. Und Paula belegt mich auch mit Beschlag. Ich verfrachte sie zu ihrem Gatten ins Bett. Jetzt. Sofort. Letzte Chance, um in dieser Nacht zur Ruhe zu kommen.

»Bei dir ist es ein anderer wunder Punkt, was?« Etwas Lauerndes lag in Paulas grünen Augen.

»Hör mal, Paula. Ich habe dringend Schlaf nötig.«

»Du willst nicht drüber reden. Ein untrügliches Zeichen.«

»Ich möchte schlafen gehen!« Katinka riss das Fenster sperrangelweit auf. »Und vorher muss ich noch lüften.«

»Es gibt einen anderen, hm?«

Katinka fuhr herum.

»Aaaaha!« Paula lehnte sich gegen den Sessel und strich mit dem Finger den Rand ihres Glases entlang.

»Gute Nacht, Paula.«

Das Glas begann zu singen. Dünn zitterte der Ton durch das Zimmer.

»Soll ich dich vor die Tür tragen?« Die Vibrationen bohrten sich in Katinkas Nervensystem.

»Also hast du noch einen anderen.« Paula blies auf ihr Glas. »Nichts Besonderes. Hat sich millionenfach bewährt. Du brauchst nicht zu denken, dass du die Einzige wärst.«

Mit zwei Schritten war Katinka bei ihr und riss ihr das Glas aus der Hand. Der Rotwein rann über ihre Finger und verstärkte den dunklen Fleck auf dem Teppich.

»Raus.«

»Wie ist der andere? Das glatte Gegenteil? Oder ein Abziehbild?«

Katinka stellte Paulas Glas auf dem Fensterbrett ab. Pumpte die kalte Nachtluft in ihre Lungen.

»Zwanzig Jahre älter. Übergewichtig. Beamter.«

»Lehrer?«

»Schlimmer. Kriminalhauptkommissar. Die Konkurrenz.«

»Prima. Gegensätze ziehen sich bekanntlich an.«

»Und dein Geliebter?«

»Wir reden nicht von mir. Lass von dir hören«, entgegnete Paula, kämpfte sich hoch und eroberte ihr Glas zurück. »Wie ist er im Bett?«

»Ich weiß es nicht.« Kraftlos hockte sich Katinka auf den Boden.

»Ich bin baff.« Paula lachte. Es klang fast so schrill wie das singende Glas. »Ihr habt noch nicht?«

»Nein.« Katinka stützte ihr Kinn in die Hände und seufzte.

»Bei allen Teufeln, ich bin beeindruckt. Enthaltsamkeit ist keine schlechte Methode. Das hält die Romantik und insbesondere die Leidenschaft lange wach.«

»Es ist keine Methode.« Ich bin treu, wollte Katinka sagen. Wenigstens im echten Leben, wenn schon nicht in der Fantasie. Vermutlich hatte sie den Satz tatsächlich ausgesprochen, denn Paula antwortete:

»In der Fantasie sind wir alle Huren. Wilde Austesterinnen. Doch, so ist es, Katinka. Es gibt nichts Besseres als die Fantasie. Du kannst alles ausprobieren. Zwei auf einmal, homo, hetero, bi. Ohne Geschlechtskrankheiten und ohne nachher einen Haufen Verrückte am Hals zu haben oder schwanger zu sein.«

»Paula, es reicht. Ich habe keinen Nerv mehr. Geh einfach ins Bett.«

»Ja, ich bin betrunken. Du übrigens auch, trotz deiner warmherzigen Versuche.« Paula deutete auf das Zahnputzglas. »Betrunkene sagen die Wahrheit.«

»Quatsch. Betrunkene reden mehr Mist als Politiker.«

»Oder Beamte.«

Sie schütteten sich aus vor Lachen.

»Das lockert doch ungemein, oder?«, fragte Paula mit funkelnden Augen, als sie sich einigermaßen beruhigt hatten. »Warum schläfst du nicht mit dem anderen? Wenn die Vorstellung dein Gewissen martert, dann mach dir klar, dass man es besser vor als nach der Eheschließung ausprobiert.«

Katinka malte sich aus, wie sie an Hauptkommissar Harduin Uttenreuthers Wohnungstür klingelte und sagte: Guten Abend, Hardo. Ich muss unbedingt mit Ihnen schlafen, möglichst jetzt gleich. Es ist ein Test. Sie wissen doch, ich werde heiraten, Sie sind ja Toms auserwählter Trauzeuge. Die Vorstellung war so komisch, dass sie lachen musste. Paula verstand das falsch.

»Daran ist nichts witzig, Katinka. Wie kannst du einen sausen lassen, nur weil er Beamter und zwanzig Jahre älter ist?«

»Mehr als zwanzig. Gute Nacht, Paula.«

Paula stand seufzend auf. Sie trank ihr Weinglas in einem Zug aus und lehnte sich schwankend gegen die Tür.

»Ich bin sofort weg. Du machst es nicht mit dem anderen. Weil er auch eine andere hat, stimmt’s?«

»Ja. Stimmt.« Katinka dachte an Elvira Hanf, jene Frau, der Hardo sich seit dem Sommer so schüchtern näherte. »Sie ist bei einem Bombenanschlag schwer verletzt worden. Hat mehrere Operationen und eine anstrengende Reha hinter sich. Das ist kein Spiel, Paula.«

Paula hustete ausgiebig.

»Wir haben eine Menge Raum um uns. Müssen ihn nur nutzen, verstehst du? So vieles könnte möglich sein. Wenn wir nur Mut hätten.«

Im Hinblick auf Hardo bin ich kein mutiger Mensch, dachte Katinka.

»Dass er eine andere hat, Katinka, bedeutet nichts. Er hat sie wahrscheinlich nur geangelt, weil er bei dir nicht landen konnte. Kommissar bandelt mit Verbrechensopfer an, wie? Das liegt doch auf der Hand: Er fühlt sich verantwortlich und will Schuld abtragen. Kein stabiler Boden für eine Beziehung.«

Katinka stöhnte leise. Sie wollte nicht daran denken, und doch lieferte ihr Gehirn die Bilder, die sie in mancher Nacht aus düsteren Träumen rissen. Eine verkohlte Garderobe, Blutspritzer an den Wänden, ein menschlicher Fuß, bis auf die Knochen zerfetzt.

»Wie oft hast du ihn schon abserviert, hm? Wie viele passende Gelegenheiten habt ihr sausen lassen? Macht einen Handel. Sex ohne Konsequenzen. Eine saubere Stilistik, jeder hält sich an die Abmachungen.« Paula grinste. »Ach, ich habe den Chianti vergessen. Du trinkst ihn sowieso nicht mehr?« Sie stolperte zum Tisch und schnappte sich die Flasche. »War ein toller Abend. Danke für die Gastfreundschaft!« Sie winkte mit ihrem Glas und verschwand durch die Tür wie ein Spuk.

3. Pfeiltod

»Sagt mal, hat jemand Paula und Hagen gesehen?« Luisa sah ihre Kursteilnehmer über den abgegrasten Frühstückstisch hinweg an. Alle saßen sie da. Alle bis auf Paula und Hagen.

»Das Ehepaar turtelt noch im warmen Bettchen«, lästerte Suse.

»Dazu sind sie zu lange verheiratet«, kam es von Mareike.

Gekicher. Katinka verdrehte die Augen. Norbert bemerkte ihren Blick und schob verschwörerisch die Unterlippe vor.

»Wir sollten spätestens um neun aufbrechen«, sagte Luisa. »Ob mit oder ohne die beiden. Also dann, bis gleich. Ich muss noch ein paar Pfeile verarzten.« Sie ging.

»War eine längere Sitzung, gestern, oder?«, fragte Norbert und schenkte sich Kaffee nach. Er war der Älteste in der Runde und wirkte dabei so verschmitzt wie ein Lausebengel. Sein dunkles, ein bisschen zu langes Haar stand struppig um seinen Kopf, und die Hornbrille auf seiner Nase unterstrich den Eindruck, einen besonders munteren und gewieften Vogel zum Gesprächspartner zu haben.

»Bitte sag nicht, du hast dein Zimmer neben meinem.«

»Sagen wir mal so: Ihr hattet eine längere Diskussion über Männer, aber ich habe natürlich nichts gehört. Miaut er lautstark, der Kater?«

»Ich habe rechtzeitig aufgehört.«

»Paula wohl nicht.« Norbert lachte.

Katinka nickte ihm zu und ging in ihr Zimmer, um sich die Zähne zu putzen und die ungeliebte Brille gegen Kontaktlinsen auszutauschen. Sie verschmierte Gel in ihrem kurzen Haar, als es an der Tür klopfte.

»Herein!«

»Katinka?«

»Ach, Paula. Habt ihr verschlafen?«, rief Katinka aus dem Bad.

»Ich bin vor einer Viertelstunde aufgewacht. Und Bock zum Bogenschießen habe ich gar nicht.«

Hätte ich mir denken können, verkniff sich Katinka zu sagen.

»Hat einer von euch Hagen gesehen?«, fragte Paula.

»Nein! Wir dachten, ihr kuschelt noch.«

»Komisch.« Paula lehnte sich an die Badezimmertür und rieb sich die Augen. Sie trug Jeans und ein ausgeleiertes T-Shirt und sah ziemlich ramponiert aus. »Als ich aufwachte, war er nicht im Zimmer. Ich dachte, er wäre joggen gegangen. Macht er gern am frühen Morgen. Aber normalerweise wäre er um diese Zeit längst zurück.«

»Vielleicht ist er jetzt beim Frühstück.«

Paula schüttelte den Kopf.

»Ist er nicht. Ich war gerade unten.«

»Keine Sorge!« Katinka wusch sich die Hände. »In einem Dorf wie Lichtenstein gibt es nicht viele Möglichkeiten zum Untertauchen.«

»Trotzdem«, sagte Paula. »Es ist eigenartig.«

Katinka steckte ihren Autoschlüssel ein.

»Wir wollen pünktlich los«, sagte sie. »Kommt einfach nach.«

Paula folgte Katinka auf den Gang. Katinka sperrte ihr Zimmer zu, lief die Treppe hinunter und hinaus zum Parkplatz. Es war ein kühler, sonniger Herbsttag nach einer klaren Nacht, die ersten Raureif auf Dächern und Autos hinterlassen hatte. Hagens und Paulas Wagen stand neben dem Tor zum Biergarten, genau da, wo Hagen ihn am Tag zuvor abgestellt hatte.

»Wir fahren wieder zur Rauheneck«, rief Luisa und klemmte sich hinters Steuer. »Sind alle startklar?«

»Paula und Hagen kommen erst mal nicht«, sagte Katinka, während sie mit der Hand den Beschlag von ihrer Windschutzscheibe wischte. »Steigt bei mir ein.«

Mareike und Suse quetschten sich auf die Rückbank des Käfers.

»Klaustrophobie darf man hier auch nicht haben«, meckerte Suse.

»Nur kein Neid. So ein Cabrio ist ein tolles Auto«, sagte Norbert und klopfte auf das Verdeck.

»Katinka!« Paula kam um die Ecke gerannt. »Katinka, kann ich dich einen Augenblick sprechen?«

»Entschuldigt.« Katinka ging ein paar Schritte. »Was gibt’s?«

Paula zog sie durch den verwaisten Biergarten.

»Ich will nicht, dass die anderen was mitkriegen. Hagen ist wie vom Erdboden verschluckt.«

»Das ist Unsinn, Paula. Kann doch sein, dass er den Gruppenblues hat und einfach mal allein sein will.«

»Dann sagt er Bescheid oder schreibt einen Zettel.«

Katinka schob die Hände in die Jackentaschen. Das sagten die Angehörigen immer, wenn jemand verschwand. Mein Sohn würde doch nie einfach abtauchen. Meine Frau hinterlässt immer eine Nachricht. Aber dann stellte sich heraus, dass Verwandte und Freunde sich böse täuschten. Und am allermeisten Ehepartner.

Paula hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen. Sie bibberte in ihrem T-Shirt.

»Bitte, Katinka, kannst du…?«

Zum Teufel, ich bin kein Kindermädchen, wollte Katinka sagen. Verkniff es sich. Nahm Witterung auf. Paula sah nervös aus, und sie tat Katinka leid, wie sie frierend unter den halb entblätterten Bäumen stand.

»Warte.« Katinka ging zu den anderen zurück und warf Norbert ihren Autoschlüssel zu. »Fahr du. Und bring ihn mir unversehrt zurück.«

Zwei Minuten später dirigierte sie Paula zurück ins Hotel und die Treppe hinauf.

»Zieh dir was drüber und überleg dir währenddessen, wo dein Mann stecken könnte. Welche Klamotten hat er an?«

Paula schloss ihre Tür auf. Abgestandener, alkoholschwangerer Dunst nahm Katinka den Atem. Sie riss das Fenster auf.

»Seine Turnschuhe sind nicht da«, sagte Paula.

»Schlafanzug?«

»Was?«

Katinka hätte am liebsten laut geschrien, beherrschte sich jedoch.

»Ist sein Schlafanzug hier?«

Paula wühlte im Bett.

»Ja, da liegt er.«

»Also hat er sich angezogen, seine Turnschuhe geschnürt und ist los.«

»Was meinst du damit?«

»Es bedeutet erst mal nur, dass er nicht in Panik aus dem Zimmer geflüchtet ist. Er hatte Zeit, sich anzuziehen.«

Paula hielt sich den Kopf, während sie den Samsonite-Koffer inspizierte, der neben Hagens Bett stand.

»Seine Jeans sind da.«

»Schau, ob seine Sportsachen im Koffer sind.« Katinka sah in den Schrank. Gähnende Leere. Sie selbst hatte auch nichts ausgepackt. »Er hat sie doch mit, oder?«

»Die Trainingshose fehlt.«

»T-Shirt? Pulli?«

Paula stöhnte.

»Ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht, was er alles eingepackt hat.«

»Schon gut. Die wahrscheinlichste Lösung ist, dass er joggen wollte. Wie lange dreht er üblicherweise seine Runde?«

»Höchstens eine Stunde. Meistens kürzer. Fünfzig Minuten.«

»Wann bist du aufgewacht?«

»Gegen halb neun. Da war sein Bett leer. Er ist Frühaufsteher, länger als bis acht hält es ihn nie in den Federn.«

Katinka sah auf die Uhr. Kurz nach neun. Hagen war also circa sechzig Minuten unterwegs. Ungewöhnlich, wenn man Paula glauben durfte, aber noch keinesfalls ein Alarmzeichen.

»Wenn man irgendwo läuft, wo man sich nicht gut auskennt, schätzt man die Zeit oft nicht realistisch ein«, beruhigte sie Paula und überprüfte Hagens Nachtschränkchen. »Ist das sein Portemonnaie?« Sie hielt eine braune Lederbrieftasche hoch.

Paula nickte, hockte sich aufs Bett und ließ den Kopf gegen die Wand sinken. Mit ihrer Hilfe war nicht zu rechnen. Was mache ich hier, dachte Katinka. Ich habe eine Woche frei, ich wollte Abstand, mich besinnen, den Job vergessen. Stattdessen durchwühle ich die Klamotten eines fremden Menschen.

Katinka angelte eine Jeans und eine schwarze Anzughose aus Hagens Koffer und checkte die Taschen durch. Eine Herrenlederjacke hing über einem Stuhl. Kaugummi, ein Stofftaschentuch, ein Block mit Haftnotizzetteln, ganz neu, noch eingeschweißt und mit Werbelogo verziert. Mesoltech. Nie gehört, dachte Katinka. Wie hatte Hagen sich am ersten Abend im Kurs vorgestellt? Er führte ein Import-Export-Geschäft. Irgend so was.

»Kein Autoschlüssel, kein Handy. Er hat doch ein Handy?«

»Sicher.«

Katinka ging flott die Brieftasche durch. Ausweis, Führerschein und zweitausend Euro in Hundert- und Zweihundert-Euro-Scheinen, dazu ein paar Fünfer und Kleingeld. Ziemlich viel Knete, wenn man eine Woche auf dem Land Bogen schießt, dachte Katinka. Schon spürte sie, wie sich ein Gefühl für Hagen einstellte. Die übliche Routine ergriff von ihr Besitz, aus einer eigenen, nicht zu unterdrückenden Kraft heraus.

»Bist du eigentlich mal auf die Idee gekommen, ihn anzurufen?«

»Klar. Aber sein Handy ist aus. Es ist immer aus, wenn ich ihn brauche«, erwiderte Paula weinerlich.

»Von unserer Gruppe hat ihn keiner gesehen. Fragen wir an der Rezeption und bei den anderen Gästen nach. Sofern bei dem herrlichen Wetter noch jemand im Haus ist«, schlug Katinka vor.

Paula blieb sitzen.

»Hast du ein Aspirin?«

»Ich bin Privatdetektivin, keine Apotheke«, sagte Katinka.

»Mein Hirn platzt!«

»Geh unter die Dusche. Ich frage im Haus rum. Dann komme ich rauf und sage dir Bescheid.« Als Katinka das Zimmer verließ, hockte Paula immer noch mit verschwommenem Blick auf dem Bett.

Katinka hastete die Treppe hinunter. Im Frühstücksraum war niemand. Sie ging zur Rezeption und hieb auf die Klingel. Locker bleiben, befahl sie sich. Keinesfalls durfte sie ihren Grimm an Unbeteiligten auslassen. Ich bin selbst schuld, dachte sie. Ich könnte jetzt vor der Rauheneck stehen und Pfeile auf eine Strohscheibe schießen. Verfluchter Mist.

Die Chefin persönlich riss sie aus ihren Gedanken.

»Frau Palfy? Heute nicht unterwegs?«

»Ich bin auf der Suche nach Hagen…dummerweise habe ich mir seinen Nachnamen nicht gemerkt. Sie wissen schon, das einzige Ehepaar aus unserem Kurs.«

Die Chefin lächelte.

»Stephanus heißen die beiden.«

»Also, Herrn Stephanus.« Katinka zwang sich zu Ruhe und Geduld. »Haben Sie ihn heute Morgen zu Gesicht bekommen?«

»Nein. Möchten Sie Bettina fragen? Unser Frühstücksmädchen sieht eigentlich jeden, der ab sechs Uhr ihr Reich betritt.«

Katinka folgte der Chefin in die Küche. Bettina saß an einem Tisch in der Ecke, tunkte ein Hörnchen in ein Glas Milch und blickte argwöhnisch drein.

»Hat etwas gefehlt?«, fragte sie.

»Wir vermissen einen Mann aus unserem Kurs. Groß. Breitschultrig. Hagen Stephanus.«

»Herr Stephanus war heute nicht beim Frühstück.«

»Sicher nicht?«

»Bestimmt. Ich komme jeden Morgen um halb sechs. Die ersten Gäste frühstückten gegen halb sieben. Ihre Gruppe kam dann so…zwischen halb acht und acht. Sie ja auch.«

»Aber Hagen war nicht dabei.«

»Sag ich doch«, wiederholte Bettina. »Herr Stephanus war heute nicht beim Frühstück.«

»Kann es sein, dass Sie ihn schlicht nicht gesehen haben? Dass er sich nur rasch eine Tasse Kaffee nahm und wieder ging?«

Bettina vertilgte den Rest ihres matschigen Hörnchens.

»Ich bin ab und zu in der Küche, wenn ich Geschirr raustrage oder Brötchen aufbacke. Ein paar Minuten vielleicht. Weniger sogar. Er müsste superkurz im Frühstücksraum gewesen sein. Sonst hätte ich ihn gesehen.«

»Danke.«

Katinka nickte den beiden Frauen zu und ging hinaus in den Biergarten. Das Laub raschelte unter ihren Füßen, als sie zu der Koppel hinüberging, wo der Esel ihr erwartungsvoll entgegensah. Sie streichelte ihm die samtenen Ohren. Wahrscheinlich kam Hagen gleich um die Ecke getrabt. Katinka hatte am ersten Morgen selbst bemerkt, wie leicht man sich in dem Spinnennetz aus Wanderwegen verirren konnte. Was wusste sie über einen Mann mit einem Import-Export-Geschäft, der eine Woche Urlaub nahm, um mit seiner Frau Bogen zu schießen? Dessen Frau ihre Ehe als Ärgernis bezeichnete? Der zweitausend Euro in großen, neuen Scheinen im Portemonnaie hatte und Belanglosigkeiten in der Jacke? Ansonsten ein bürgerliches Auto fuhr und auf den ersten Blick sympathisch und natürlich wirkte?

Es war halb zehn, als sie an Paulas Zimmertür klopfte.

»Es ist offen!«

Katinka trat ein. Paula frottierte ihr Haar trocken. Sie sah elend aus.

»Wie es scheint, war Hagen heute nicht beim Frühstück.«

»Er frühstückt nie, bevor er joggen geht.«

Klang alles plausibel. Aber die Uhr tickte. Hagen wäre jetzt beinahe anderthalb Stunden unterwegs, gesetzt den Fall, er war erst kurz, bevor Paula aufgewacht war, losgelaufen. Katinka trainierte kaum über sechzig Minuten, weil ihr dann die Puste ausging.

»Zieh dich an, Paula. Lass uns die Waldwege abgehen. Kann doch sein, dass er sich den Fuß verstaucht hat oder so.« Beim Anblick von Paulas erschrockenen Augen biss sie sich auf die Zunge. »Ist mir auch schon passiert. Kein Grund zur Beunruhigung.«

Später sollte Katinka ihre Naivität verfluchen. Ich hätte es ahnen können, sollte sie sich viele Male sagen, und es war eine riesige Idiotie, Paula mit auf die Suche nach ihrem Mann zu nehmen. Aber in der Kühle des Waldes und den ersten zaghaften Sonnenstrahlen des Tages kamen ihr keine dunklen Gedanken. Sie schritten flott aus, Seite an Seite. Die frische Luft tat gut, sogar Paulas Wangen nahmen Farbe an.

»Schau mal, hier blühen Königskerzen«, rief sie.

Katinka nickte abwesend. Unerwartet tat es gut, nicht in der Gruppe unterwegs zu sein. Ihre Schritte verlangsamten sich.

»Wir sollten uns trennen«, sagte sie. »Sonst können wir dieses Netz von Wanderwegen nie absuchen.«

»O.k.«

Katinka war höchstens zwei Minuten gegangen. Sie pflückte eine Handvoll vergessener Brombeeren von einem Strauch und ließ sich gerade die süßen Früchte auf der Zunge zergehen, als sie Paula schreien hörte. Langgezogene, vor Entsetzen bebende Schreie. Katinka rannte los.

Sie fand Paula ein Stück abseits des Weges. Dort stand sie, die Hände auf die Lippen gepresst, und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf Hagen. Er lag auf der Seite, die Hände in seinem Pulli verkrallt, die Augen waren weit aus ihren Höhlen getreten. Sein Blick verriet unsagbare Qualen.

»Ist er tot?«, flüsterte Paula, die Stimme hoch und schrill. »Ist er tot?«

Der Pfeil steckte in Hagens linkem Oberschenkel. Einer von Luisas selbstgebauten Pfeilen. Katinka suchte vergeblich nach Hagens Puls. Laut zwitscherten die Vögel zwischen den Zweigen. Fliegen saßen in Hagens Mundwinkeln. Es roch stark nach Pilzen.

»Keine tödliche Verletzung«, murmelte Katinka. Sie zückte ihr Handy und rief die Polizei.

4. Der Tapir

Die kleine, runde Frau Ende fünfzig mit der Baskenmütze wies Katinka einen Platz im Frühstücksraum zu und setzte sich ihr gegenüber. Unter der Mütze drängten krause Haare ans Tageslicht.

»Sie sind Katinka Palfy?«

»Ja.«

»Private Ermittlerin?«

»Genau.«

»Teilnehmerin an einem Kurs in«, sie fuhr mit einem rotlackierten Fingernagel über ihren Zettel, »abendländischem Bogenschießen?«

»Ja.«

»Ruth Stein, Hauptkommissarin, Haßfurt. Warum schießen Sie hier mit Pfeilen?«

»Eine Art Meditation«, erklärte Katinka und sah in zwei zusammengekniffene türkisblaue Augen. Die Kommissarin hatte ihre Brille vergessen oder setzte sie aus Eitelkeit nicht auf.

Die Polizei hatte alle verhört, angefangen mit Paula, die sie mittlerweile ins Krankenhaus gebracht hatten. Katinka war die Letzte. Die Praline in der Sammlung, dachte sie seufzend.

»Erzählen Sie, wie Sie den toten Hagen Stephanus fanden«, forderte die Hauptkommissarin sie auf.

Katinka berichtete knapp.

»Ich habe mich gewundert«, endete sie, »dass er starb, weil ein Pfeil seinen Oberschenkel traf. An so einer Verletzung stirbt man nicht so qualvoll.«

»Qualvoll?«

»Sein verzerrter Blick«, sagte Katinka. »Hagen bemerkte, was mit ihm passierte.«

»Woher wissen Sie das?«

Katinka rieb sich die Augenbrauen. Da kam der feine, pulsierende Schmerz zum Vorschein. Ein gehässiger Begleiter aus nervenaufreibenden Ermittlungen. Ruth Stein ließ sie nicht aus ihrem Blick entkommen; sie suchte nach den untrüglichen Zeichen für Anspannung und Stress. Katinka ließ die Hand sinken und sagte:

»Er starb vermutlich an einem Gift.«

»Ist Ihnen so was in Ihrer Tätigkeit schon einmal untergekommen?«

»Nein.«

Die Kommissarin kniff die Augen zu noch schmaleren Schlitzen zusammen.

»Sie haben das einfach so kombiniert.«

»Ja.«

Nicht losreden, nicht zur großen Verteidigungsrede ausholen. Alles macht verdächtig. Ruhig, befahl Katinka sich. Ruhig.

Ruth Stein stand auf und wanderte durch den Frühstücksraum. Ihre schwerfälligen und doch überraschend schnellen Bewegungen erinnerten Katinka an ein Tier, auf dessen Namen sie nicht kam. Am Büffet bediente sich die Kommissarin aus den Müsliboxen und warf eine Handvoll Krispies ein.

»Ich habe Ihren Namen schon gehört«, sagte sie. »Palfy. Das Bamberger Ermittlungstalent. Hardo hat mich im vergangenen Sommer einige Male kontaktiert. Es ging um den Mord in Königsberg*. Die Akten sind über meinen Schreibtisch gegangen.«

Hauptkommissar Harduin Uttenreuther hatte damals auf Katinkas Bitte hin mit Ruth Stein Kontakt aufgenommen. Er hatte ihren Namen zwar nicht genannt, aber bemerkt, dass in Haßfurt eine Kollegin sitze. Kollegin.

»Curare«, sagte Ruth Stein. »Schon gehört?«

»Ein indianisches Pfeilgift.«

»Die Sammelbezeichnung für Pfeilgifte des tropischen Südamerikas.« Ruth Stein schnappte sich die Müslibox und schüttete einen Grabhügel aus Krispies auf ihre Handfläche. »Ich warte auf die endgültige Bestätigung durch den Rechtsmediziner. Soweit können wir aber sicher sein, dass Hagen Stephanus nicht an der Verletzung durch den Pfeil starb, sondern an etwas anderem.«

»Curare lähmt die Muskeln«, sagte Katinka. »Zuletzt die Atemmuskeln.«

»Indem es die Reizübertragung zwischen Nerv und Muskel unterbindet«, bestätigte Ruth Stein. »Das Hässliche an Curare ist, dass es das Opfer in absoluter geistiger Klarheit über das Geschehen belässt. Der Herzmuskel ist nicht betroffen. Das Herz pumpt bis zuletzt. Das Opfer weiß, was mit ihm passiert, aber es kann sich nicht bewegen, nicht einmal schreien.«

»Wie lange dauert der Todeskampf?«

Krachend zerbiss die Kommissarin ihre Krispies.

»Kommt auf die Dosis an. Wir werden das genau feststellen. Kleinere Säugetiere kämpfen zehn Minuten um ihr Leben. Ein großes, sagen wir ein Tapir, vielleicht zwanzig. Wie lange es bei einem Menschen dauert…Wie gesagt, wir werden das feststellen.«

Ein Tapir! Katinka grinste. So hießen die plumpen Dickhäuter, an die Ruth Stein sie mit ihrem kurzbeinigen Auf und Ab erinnerte. Und dennoch konnte man ihr eine gewisse Eleganz nicht absprechen, wie sie nun nach der Box mit den Schokosnacks griff.

»Luisa Weinmann sagte, sie würde ein paar Pfeile aus ihrer Sammlung vermissen. Wir haben nachgesehen: Ihr Auto wurde aufgebrochen. Subtil und sanftmütig, aber ein paar Kratzer sind geblieben. Ich nehme an, Sie wissen, wie man ein Auto aufbricht?«

Katinka lachte auf.

»Klar. Zumindest die alten Modelle sind kein Problem. Haben Sie schon den genauen Todeszeitpunkt?«

»Noch nichts Brauchbares. Hagen Stephanus starb zwischen zwei und sieben Uhr morgens.«

»Mit wem hat er zuletzt telefoniert?«

Ruth Stein plumpste auf ihren Stuhl.

»Der letzte Anruf kam von einem gewissen Karl Süßholz. Wir haben auch den Bogen gefunden, mit dem der tödliche Pfeil abgeschossen wurde.«

Einer von Luisas Bögen, dachte Katinka.

Die Tür ging auf. Ein Polizist brachte ein Brillenetui.

»Ach, danke!«, seufzte Ruth Stein erleichtert. »Ich bin ohne fast blind.«

»Ich auch«, sagte Katinka.

Die Kommissarin musterte sie.

»Kontaktlinsen?«

»Genau.«

»Lohnt sich das?«

»Absolut«, bestätigte Katinka. »Ich kann Ihnen einen sehr guten Optiker empfehlen. Wie schaut es mit Fingerabdrücken aus?«

»Fehlanzeige. Also, Karl Süßholz«, machte Ruth Stein weiter, während sie mit ihren Wurstfingern eine kleine, gelb gerahmte Brille aus dem Etui klaubte und auf ihrer Nasenspitze zurechtsetzte. Tapir. Ganz eindeutig ein Tapir. Fehlte der Rüssel. »Sagt Ihnen der Name was?«

»Nie gehört.«

Die Stein nickte sinnend.

»Kannten Sie Hagen Stephanus näher?«

»Nein. Ich habe alle Teilnehmer erst hier kennengelernt. Am ersten Abend stellte Hagen sich als Geschäftsführer eines Import-Export-Unternehmens vor. Das ist alles, was ich von ihm weiß.«

Katinka wusste eine Menge mehr über Hagen. Dass es irgendwo in seiner Ehe klemmte, dass er vorzugsweise morgens laufen ging und nicht länger als sechzig Minuten. Sie sagte keinen Ton. Der Tapir machte sich wieder auf den Weg zu den Krispies.

»Erzählen Sie mir von Paula. Die junge Dame gab an, die Nacht mit Ihnen verbracht zu haben.«

»Naja, Nacht verbracht…Wir haben Wein getrunken und uns die Welt zurechtgezimmert. Über Männer geredet, über den Kurs.« Katinka machte eine Kunstpause. Längst hatte sie sich zurechtgelegt, was sie sagen wollte. »Paula hat einen Geliebten, vermute ich. Sie deutete so etwas an. Man solle nicht monogam leben, so ähnlich drückte sie es aus.«

»Keine Einwände«, sagte die Stein. »Wer ist der Kerl?«

»Ich weiß es nicht. Fragen Sie Paula.«

»Werde ich, sobald sie ansprechbar ist. Sie wurde ins Krankenhaus gebracht. Schockzustand. Frau Palfy, Ihr Zimmernachbar, Norbert Kahl, behauptet, er habe bis kurz nach eins Stimmen und Gekicher aus Ihrem Zimmer gehört.«

»Das kommt hin. Ich wollte schlafen und habe Paula schließlich hinauskomplimentiert. Sie war ziemlich betrunken.«

»Frau Stephanus gab an, dass ihr Mann friedlich schlummerte, als sie in das gemeinsame Zimmer kam. Und als sie heute Morgen um halb neun aufwachte, war er weg.«