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»Uns wird beigebracht, die Bedürfnisse der anderen vor unsere eigenen zu stellen, und dabei verlieren wir die Möglichkeit, herauszufinden, wer wir wirklich sind, was wir brauchen, was wir mögen und bevorzugen.« – Meg Josephson hat eine neue Sichtweise auf dieses weit verbreitete Verhaltensmuster entwickelt: Beim People Pleasing handelt es sich nicht um einen Charakterzug, sondern um eine Traumareaktion. Erlernt wird dieses Verhalten in der Kindheit. Die Angst des Kindes in einem unsicheren Elternhaus wird zur grundsätzlichen Angst, abgelehnt zu werden. Doch Menschen, die allen gefallen und jedem ein gutes Gefühl geben möchten, leiden nicht selten an Erschöpfungszuständen, Schlaflosigkeit und endlosen Gedankenschleifen. Sie überanalysieren jede Äußerung und vermuten immer das Schlimmste. Die gute Nachricht ist, man kann dieses Muster durchbrechen! In diesem ermutigenden Buch erzählt Meg Josephson ihre eigene bewegende Geschichte und die ihrer vielen Klient*innen. Sie zeigt, wie man Schritt für Schritt ein Gefühl der inneren Sicherheit kultiviert und die alten Schutzmechanismen ablegt, um authentisch und mit Selbstachtung zu leben.
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Seitenzahl: 338
Veröffentlichungsjahr: 2025
»Dieses Buch bietet Heilung für chronisches People Pleasing. Meg Josephson liefert wertvolle Einsichten, die wirklich helfen, sich zu befreien.«
Adam Grant, Autor von ›Think Again‹ und ›Hidden Potential‹
In unsicheren und emotional wenig verlässlichen Familien lernen Kinder schnell, ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen und sich übermäßig anzupassen, um Nähe, Harmonie oder Sicherheit nicht zu gefährden. Doch was als Schutz beginnt, wird im Erwachsenenalter zur Belastung. Betroffene leiden an endlosen Gedankenschleifen, Schlaflosigkeit und Erschöpfungszuständen. Die gute Nachricht ist, man kann dieses Muster durchbrechen!
In diesem ermutigenden Buch erzählt Meg Josephson ihre eigene bewegende Geschichte und die ihrer Patient*innen. Sie zeigt, wie man Schritt für Schritt ein Gefühl der inneren Sicherheit kultiviert und die alten Schutzmechanismen ablegt.
© David Goddard
Meg Josephson ist Psychotherapeutin und Meditationslehrerin und hat über 500.000 Follower*innen und Millionen von Likes auf Instagram, TikTok und Substack. Ihr therapeutischer Ansatz verbindet westliche klinische Psychologie mit buddhistischen Lehren und Praktiken.
Maria Mill lebt als Literaturübersetzerin und Reisebuchautorin in München. Sie hat u. a. Anne Enright, Elizabeth Gilbert und Robert Hughes ins Deutsche übersetzt.
Meg Josephson
Bist dusauerauf mich?
Wie du aufhörst, anderen gefallen zu wollen, und endlich dein Leben lebst
Aus dem Englischenvon Maria Mill
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel ›Are You Mad at Me?
How to Stop Focusing on What Others Think and Start Living for You‹ bei Gallery Books, New York City.
© Meg Josephson, 2025
E-Book Auflage 2025
© 2025 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG,
Amsterdamer Straße 192, 50735 Köln, [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
Die Nutzung dieses Werks für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Übersetzung: Maria Mill
Lektorat: Lea Schiemann
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln nach der Originalausgabe © Rodrigo Corral
Satz: Fagott, Ffm
E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN E-Book 978-3-7558-1144-2
www.dumont-buchverlag.de
Für all jene, die den Frieden bewahrt,
doch sich selbst verloren haben.
Anmerkung der Autorin
Der Schutz meiner Klientinnen und Klienten und die Vertraulichkeit der therapeutischen Beziehung haben für mich, als Therapeutin, oberste Priorität. Auf den folgenden Seiten habe ich Fallgeschichten versammelt, die nicht tatsächliche Klientinnen und Klienten beschreiben, sondern meine Erfahrungen mit ihnen.
Die hier wiedergegebenen Geschichten handeln nicht von bestimmten Einzelpersonen, sie sind vielmehr ein Mosaik gemeinsamer Erfahrungen, das von der Vielschichtigkeit von Beziehungen, den Auswirkungen komplexer Traumata und der universellen Sehnsucht nach Verbindung und Heilung inspiriert ist. Dabei geht es mir vor allem darum, die Geschichten und Emotionen vieler zu würdigen und zugleich die Anonymität aller zu wahren.
Einleitung
»Warum denke ich nur immer, alle wären sauer auf mich?«, frage ich meine Therapeutin.
Es ist unsere erste Sitzung – an einem schwülen, heißen Tag in New York City. Ihre salbeigrüne Praxis liegt zwischen Union Square und Chelsea, und der schrille Lärm vorbeirasender Sirenen driftet herein wie eine Brise. Ich bin zwanzig Jahre alt und arbeite in diesem Sommer zwischen meinem zweiten und dritten College-Jahr als Praktikantin bei einem Lifestyle-Magazin. Ich habe genug zusammengespart, um mir über den Sommer fünf bis sieben Sitzungen bei ihr leisten zu können, daher spreche ich ein stummes, an niemanden gerichtetes Stoßgebet, dass sie mich schnell wieder auf Vordermann bringt.
Meine Eingangsfrage quittiert sie mit einem langsamen Nicken, atmet tief ein, wartet auf mehr, während ich darauf warte, dass sie etwas sagt. Sie rückt die Brille mit den rechteckigen rot gerahmten Gläsern zurecht, schlägt erneut die Beine übereinander, und mein Blick fällt auf das Bild über ihrem Sessel: Ich kneife die Augen zusammen, neige den Kopf und versuche zu entscheiden, ob es sich um das Gemälde einer Blume oder einer Vagina handelt.
Am Ende unserer gemeinsamen fünfzig Minuten und nachdem ich ihr einiges an Hintergrundinfos über mein bisheriges Leben geliefert habe, verlasse ich ihre Praxis mit nassem, verheultem Gesicht und einer Buchempfehlung über erwachsene Töchter alkoholkranker Eltern. Ein bisschen seltsam, aber okay. Ich hatte gehofft, besagte Therapeutin würde mir verraten, was mit mir »los« war, dass sie einen Drei-Stufen-Plan für mich hätte, eine Wundertüte, eine 2.0-Version meiner selbst.
Stattdessen fragte sie mich die meiste Zeit nach meiner Kindheit aus und vermittelte mir in unseren Sitzungen behutsam die Erkenntnis, dass ich zwar nicht mehr zu Hause wohnte – es sich aber in mancher Hinsicht anfühlte, als sei ich immer noch dort. Zwar fürchtete ich die Launen meines Vaters nicht mehr, hatte aber jedes Mal, wenn mein Chef mir eine Mail schrieb, Angst, gefeuert zu werden. Ich analysierte nicht mehr den Tonfall meines Vaters, um zu hören, ob er getrunken hatte, jetzt analysierte ich, was es wohl bedeuten mochte, wenn meine Freundin mir eine Textnachricht mit einem Punkt am Ende schickte statt eines Ausrufezeichens. Ich musste nicht mehr »perfekt« und »brav« sein, um den häuslichen Frieden zu wahren, merkte jedoch, dass ich immer noch fürchtete, als etwas anderes als brav oder perfekt zu gelten.
Diese Hypervigilanz – dieses unbewusste Gefühl, ständig in höchster Alarmbereitschaft, ständig auf der Hut zu sein – war der Faden, der sich durch meine Kindheit wie auch mein Erwachsenenleben zog. In diesem Sommer begriff ich endlich, dass meine Ängste nicht nur Phobien waren, die es zu überwinden galt; tatsächlich erfüllten sie sogar einen wichtigen Zweck – sie hatten mein vergangenes Ich beschützt. Was ich als Selbstsabotage betrachtete, hatte einst dem Selbstschutz gedient.
Nach jenem Sommer musste ich mich der Einsicht stellen, dass Heilung womöglich nicht das Abhaken von Kontrollkästchen bedeutete, sondern ein unbequemer, ein chaotischer Prozess der Selbstbetrachtung war, eine Innenschau. Puh! Aber ich war motiviert. Und wenn es etwas gab, dessen ich mir absolut sicher war, dann dies: Ich wollte nicht mehr in tiefer Furcht leben. Ich fühlte mich gespalten: in einen jüngeren Teil, der in Angst lebte, und den klügeren »Eltern«-Teil, der wusste, dass eine bessere, friedlichere Existenz möglich war. Ich wusste nur nicht, wo ich anfangen sollte.
So viele Menschen, vor allem Frauen, quälen sich ständig mit der Befürchtung, man sei ihnen böse. »Bist du sauer auf mich?«, fragen wir bang unsere Partnerinnen und Partner oder besten Freundinnen und Freunde – wenn die lediglich miese Laune haben oder nicht gleich zurückschreiben –, fragen wir unsere Kolleginnen und Kollegen, die uns nicht gegrüßt haben, als wir ihnen auf dem Weg zur Toilette begegneten. Oder vielleicht fragen wir nicht mal, sondern grübeln lieber stumm unter der Dusche, bis unsere Hände schrumpelig geworden sind, liegen nachts um halb eins hellwach und beklommen im Bett – bis wir zu erschöpft sind, um uns weiter das Hirn zu zermartern.
Dass wir uns heute – angesichts des ständigen Austauschs, in dem wir miteinander stehen – so viele Gedanken darum machen, wie andere uns sehen, mag merkwürdig erscheinen. Doch es sind genau diese unendlichen Quellen gegenseitiger Bestätigung und gegenseitigen Zuspruchs (texten, Nachrichten mit Herzchen quittieren, Postings liken, über FaceTime telefonieren, Videos per DM verschicken), die bewirken, dass wir in eine Abwärtsspirale der Verunsicherung geraten.
Wenn unsere Körper derart an diese intensive Kommunikation gewöhnt sind und es dann irgendwie zu einem Rückzug kommt, kann uns das durchaus verunsichern. Es gibt so viele Arten, jemanden wissen zu lassen, dass man an ihn denkt, und folglich auch ebenso viele Möglichkeiten, sich vergessen zu fühlen.
Als ich in jenem Herbst an die Uni zurückkehrte, erlitt ich eine ziemlich üble Gehirnerschütterung, nachdem auf einer Halloween-Party ein Betrunkener mit mir zusammengeprallt war und dabei so eindrucksvoll seine Stirn gegen meine knallte, dass sie fast einen Eindruck hinterließ. Die ärztliche Anweisung lautete: freinehmen, nicht auf Bildschirme starren und möglichst viel im Dunkeln ausruhen. Durch diese jähe Unterbrechung meiner Uni-Routine gelangte ich – ob mir das damals klar war oder nicht – zu einer Meditations- und spirituellen Praxis, die mich auf den Pfad zurück zu mir selbst führte. Denn während dieser Monate der Erholung war ich gezwungen (von der steinharten Stirn des Typen oder vom Universum), mich von Selbstbetäubung, Alkohol und Ablenkungen zu verabschieden. Ich musste bei meinen Gefühlen bleiben, bei den Erinnerungen und Verletzungen, die ich so lange ignoriert, so lange in die kleinen staubigen Winkel meines Körpers und meiner Seele verbannt hatte.
Das wäre wohl die Stelle, an der ich euch in einem kurzen, kargen Absatz erklären würde, wie ich wieder »gesund« wurde. Doch meine emotionale Heilung vollzog sich langsam und unmerklich und ist – anders, als man es sich wünschen würde – nach wie vor nicht abgeschlossen. In den vergangenen Jahren war mir nicht einmal bewusst, wie sehr ich mich verändert hatte, erst im Rückblick fiel mir auf, wie anders ich mich in Situationen, die einst so gewaltige Spannungen ausgelöst hatten, innerlich fühlte. Fünf Minuten Meditation erschienen mir damals, als ich wegen meines inneren Unbehagens so aufgewühlt war, wie eine Ewigkeit. Und dann, eines Tages, merkte ich, dass ich mühelos eine ganze Stunde lang sitzen konnte. Aus einem Monat ohne Alkohol wurden sieben Jahre. Was mich früher in eine Grübelspirale gestürzt hätte, fühlte sich längst nicht mehr so erdrückend an. Ich konnte ein bedrückendes Gefühl aushalten, es identifizieren und begriff, dass ich es gar nicht ändern musste, sondern lediglich meinen Umgang mit ihm.
Nach dem College verspürte ich einen nicht zu leugnenden Drang, Menschen bei ihrem Heilungsprozess beizustehen und die zähere traumaorientierte Arbeit mit achtsamkeitsbasierten Übungen zu verbinden. Die Vorteile, die sich aus der Kombination beider Ansätze ergeben, kannte ich aus eigener Erfahrung. Ich setzte mein Studium an der Columbia University fort und machte meinen Master in Sozialarbeit mit dem Schwerpunkt auf klinischer Praxis, während ich gleichzeitig meine spirituellen Kenntnisse vertiefte und den Buddhismus studierte. Als ich nach meinem Abschluss in Vollzeit als Therapeutin zu praktizieren begann, füllte sich meine Sprechstunde rasch, vor allem mit weiblichen Klientinnen, die sich vor allem mit Ängsten, Beziehungsproblemen, Ziellosigkeit und ihrem Selbstwertgefühl herumschlugen, am allermeisten jedoch mit People Pleasing, also ihrem Drang, es allen recht machen zu wollen.
An einem nebligen Dienstag in San Francisco (Life Update: Mittlerweile war ich auf die andere Seite des Landes gezogen) saß ich in einer Sitzung mit einer Patientin, die davon sprach, wie sie nach gesellschaftlichen Anlässen nach Hause fuhr und dabei immerzu besorgt noch mal all das peinliche Zeug durchging, das sie dort von sich gegeben hatte. Sie redete sich dann ein, dass alle sie hassten, und verkniff es sich gerade noch so, ihrer Freundin eine Entschuldigung zu texten für etwas, das sie nicht einmal klar benennen konnte.
»Warum denke ich bloß immer, alle wären sauer auf mich?«
Und da saß ich, mittlerweile im Therapeutensessel, sah mich plötzlich meinem zwanzigjährigen College-Ich gegenüber und bekam die gleiche Frage gestellt, die ich einst an meine erste Therapeutin gerichtet hatte.
Später an diesem Tag postete ich ein Video auf Social Media, in dem ich erklärte: »Hey, du bist nicht in Schwierigkeiten, alles ist okay. Keiner ist heimlich sauer auf dich. Das gaukelt dir deine Psyche nur vor, weil sie Angst hat. Ich weiß, du fürchtest, insgeheim ein schlechter Mensch zu sein und dass es vielleicht nur eine Frage der Zeit ist, bis alle anderen das herausfinden, aber in Wirklichkeit bist du sicher.«
Noch am selben Tag verbreitete sich das Video wie ein Lauffeuer auf Social Media, und Tausende schrieben Kommentare wie: »Okay, warum heule ich jetzt?«, »Das war … seltsam spezifisch, aber wahr«, »Liest du gerade meine Gedanken?«.
Ich postete weiter Videos zu diesem Thema, diesem Gefühl, die bei Menschen rund um den Globus jedes Mal und ausnahmslos auf die gleiche Resonanz stießen – und ich betreute weiterhin Klientinnen und Klienten, die mit der gleichen inneren Erfahrung, der gleichen Wahrnehmung und den gleichen Gedanken in meine Praxis kamen, die mir so tief vertraut waren und es teilweise immer noch sind.
Und darum habe ich dieses Buch geschrieben, denn es ist eines, das ich dringend gebraucht hätte, und eines, das – wie ich glaube – auch viele andere Menschen brauchen.
Zum Thema People Pleasing gibt es Unmengen von Büchern, doch nur selten hören wir etwas über seine wahre Ursache, über das, was überhaupt erst zu diesem Bedürfnis, es allen recht zu machen, geführt hat. People Pleasing ist das Verhalten, das wir an den Tag legen, wenn wir fürchten, jemanden zu enttäuschen, fürchten, in Schwierigkeiten zu stecken, wenn wir uns irgendwie unsicher fühlen. Es ist ein Verhalten, das unser mulmiges Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, auf trügerische Weise besänftigt. Denn wenn wir nicht einmal dem, was in uns vorgeht, Aufmerksamkeit schenken können, weil wir so darauf konzentriert sind, nach außen auf die Wahrnehmungen und Reaktionen anderer zu schauen, können wir die emotionale Verarbeitung dieses Gefühls nicht leisten. Dieses Buch rührt an die Wurzel – den Fawn Response. Die Wurzel aber ist der Ort, an dem wahre Heilung geschieht.
Vor allem wir Frauen sind auf Überforderung, übermäßiges Erklären und Entschuldigen konditioniert. Wir sind Betreuerinnen. Ernährerinnen. Friedensstifterinnen. Man lehrt uns, brav zu sein, cool zu sein, allem und jedem beizupflichten und Onkel Richard in Gottes Namen einen dicken Schmatzer zu geben – auch wenn wir uns extrem unwohl dabei fühlen. Man lehrt uns, nicht zu viel zu sein oder zu viel zu wollen, sodass wir uns nach und nach damit abfinden, unzufrieden mit unserem eigenen Leben. Wir lernen, den Bedürfnissen aller anderen Vorrang vor unseren eigenen zu geben, und verpassen dabei die Chance, herauszufinden, wer wir wirklich sind, was wir brauchen, mögen und bevorzugen.
Dies gilt insbesondere für Menschen, die in dysfunktionalen, angespannten hochkonflikthaften Familien oder emotional vernachlässigenden Elternhäusern groß geworden sind, wo Sind sie sauer auf mich? genau die innere Frage war, die sie gerettet hat. Es existiert das beliebte Narrativ, dass junge Leute, vor allem Millennials, gern ihre Eltern für jeden Aspekt ihrer Existenz verantwortlich machen. Doch hier geht es nicht um Schuldzuweisungen, sondern letztendlich darum, Wunden zu betrachten, die schon lange um Anerkennung gebettelt haben, zu begreifen, wie alte Verletzungen in unsere Gegenwart hineinwirken, auf dass wir mit mehr Akzeptanz als bisher weiterleben können.
Ich verfolge in diesem Buch den gleichen Ansatz wie in meiner klinischen Arbeit, indem ich Achtsamkeit, Spiritualität, Bindungstheorie und IFS-Therapie (Internal Family Systems Therapy) miteinander verbinde – alle durch eine traumaorientierte Linse betrachtet. Ich bediene mich dabei sowohl westlicher als auch östlicher Psychologie und Philosophie, vor allem des Buddhismus, und betrachte Körper, Geist und Seele als Einheit.
In Bist du sauer auf mich? geht es darum, uns selbst mit so viel Mitgefühl zu halten, wie wir es uns immer gewünscht hätten, aber nicht glaubten, verdient zu haben. Es geht darum, alte Schutzmechanismen abzustreifen, die uns in der Vergangenheit fest- und von der Gegenwart fernhalten. Es geht darum, uns von der Überzeugung zu lösen, dass wir uns, um das Wohlbefinden anderer zu gewähren, selbst vernachlässigen müssten. Die Konditionierung und die Blockaden aufzuheben, die uns vom wahren Kern unseres Selbst und dessen, was wir uns im Leben wünschen, isoliert haben. Es geht darum, ein Gefühl innerer Sicherheit zu kultivieren, sodass wir, wenn alles andere chaotisch und außer Kontrolle zu sein scheint, einen ruhigen und sicheren Ort haben, an den wir zurückkehren können.
Das wird keine Schnellreparatur sein, denn wir sind keine Maschinen, die repariert werden müssten, und ich bin kein allwissendes Wesen, das das Geheimnis deiner Heilung bewahrt. Ich hoffe, diese Seiten zeigen dir, was du schon immer gewusst hast, was durch deinen Schmerz und deine Konditionierung aber blockiert war. Heilung ist eine unvollkommene, lebenslange Praxis, die uns erkennen lässt, dass wir nie wirklich »beschädigt« oder »zerbrochen« waren. Sie ist ein Tanz des Erinnerns und Vergessens um die Weisheit, die in uns wohnt. Ich hoffe sehr, dass dieses Buch dir bei deiner Erinnerungsarbeit hilft. Wenn du schließlich, auf der letzten Seite angelangt, deine Muster besser verstehst und dich mit größerem Mitgefühl halten und umarmen kannst, habe ich meinen Job erledigt.
Denn wenn wir einmal aufhören, uns so sehr darauf zu konzentrieren, was andere denken mögen, beginnen wir wieder, uns zu erinnern, wer wir sind.
1
Das andere F-Wort
Was man unter Fawn Response versteht und wie er dich beschützt hat
»DU BIST SO EMPFINDLICH«
Als Kind bekam ich oft gesagt, ich sei zu empfindlich. Ich empfand alles sehr intensiv, weinte schnell, sowohl vor Schmerz als auch weil es so schön war, und ich begriff einfach nicht, warum das so falsch sein sollte.
Als ich neun Jahre alt war, meinte meine Mom, Gott segne sie, ich solle mich hinsetzen … und dann leise: »Schatz, ich glaube, du erlebst gerade den Beginn der körperlichen Veränderungen, durch die vermehrt … Hormone produziert werden. Und vielleicht bist du ja auch deswegen so empfindlich.«
Oh, cool. Endlich habe ich eine Antwort.
Die Hände in den Hüften pflanzte ich mich vor jedem, der mir an diesem Tag über den Weg lief, auf und erklärte stolz: »Ich hab Hormone!«
Als ich älter wurde, begann ich, mich meiner Empfindlichkeit zu schämen, als handelte es sich um eine hässliche, unangenehme Krankheit. »Du bist so empfindlich« ist selten als Kompliment gemeint. Heute denke ich anders darüber: Ich betrachte meine Empfindsamkeit als subtile Superkraft, die es mir ermöglicht, Dinge tief zu empfinden und ein klares Gespür dafür zu entwickeln, was andere fühlen. Was ich heute an meiner Empfindsamkeit liebe, ist das Gleiche, was sie in der Pubertät so ätzend machte: Ich konnte fühlen, was andere fühlten – oder genauer, ich spürte, was die anderen sich nicht zu fühlen trauten.
Als ich später mein Graduiertenprogramm absolvierte und Traumata und ihre Auswirkungen auf unseren Körper in allen Einzelheiten studierte, begann ich zu zweifeln: War ich »zu empfindlich«, oder hatte ich lediglich gelernt, extrem wachsam auf die Emotionen und Stimmungswechsel anderer zu reagieren, weil mein Vater jede Sekunde wie auf Knopfdruck ausrasten konnte? War ich »zu empfindlich«, oder spürte ich einfach nur all den unausgesprochenen Schmerz und die Spannungen, die es in meinem Zuhause gab? War ich »zu empfindlich«, oder wusste ich einfach mehr, als meine Eltern ahnten?
War ich »zu empfindlich«, oder war es ein Fawn Response?
DER FAWN RESPONSE
Die wichtigste Aufgabe unseres Gehirns ist der Selbstschutz. Schlicht und einfach. Der unser Überleben steuernde animalische Teil unseres Gehirns war von Anfang an da, zweihundert Millionen Jahre und einige mehr, und konzentriert sich einzig und allein auf Grundmotivationen wie Schadensvermeidung, Nahrungssicherung, Sex. Er ist auch zuständig für die Reaktionen, in die wir zurückfallen, sobald wir uns in Gefahr glauben. Sobald unser Gehirn eine Bedrohung wahrzunehmen meint, bietet uns unser Nervensystem vier Reaktionsmöglichkeiten: fight, flight, freeze und fawn, deutsch: Kampf, Flucht, Erstarrung und Unterwerfung.
Dieses Buch konzentriert sich auf das Fawning, die zwanghafte Unterwerfung oder übertriebene Anpassung, bei der es sich um die am wenigsten diskutierte, doch vermutlich häufigste Traumareaktion handelt. Die Bezeichnung Fawn Response (deutsch: Bambi-Reflex), die der Psychotherapeut Pete Walker in seinem 2013 erschienenen Werk Posttraumatische Belastungsstörung. Vom Überleben zu neuem Leben prägte, hat sich erst in den letzten zehn Jahren als fester Begriff etabliert.1 Die drei anderen Reaktionen auf Bedrohungen sind etwas bekannter: Bei der Kampf-Reaktion geht es darum, der Bedrohung aggressiv zu begegnen, um sie auszuschalten (etwa zu schreien oder den Angreifer zu verprügeln). Eine Flucht-Reaktion bedeutet, die Umgebung oder auch die Beziehung physisch zu verlassen (etwa durch Weglaufen oder Ghosting). In eine Erstarrungs-Reaktion verfallen wir hingegen, wenn wir den Ort physisch nicht verlassen können, sodass wir das Zweitbeste tun und uns der Situation mental entziehen, sie ausblenden (etwa durch Dissoziieren, Totstellen oder ständiges Tagträumen).
Aber der Fawn Response? Ooooooh, beim Fawn Response (oder Bambi-Reflex) geht es darum, sich attraktiver für die Bedrohung zu machen, von ihr gemocht zu werden, sie zufriedenzustellen, ihr behilflich oder gefällig zu sein – damit wir uns sicher fühlen können. In unserer heutigen Gesellschaft wird er gern übersehen, weil er meist belohnt wird. Wir werden befördert, weil wir People Pleaser sind. Man nennt uns selbstlos, wenn wir die eigene Person vernachlässigen. Wir erhalten Bestätigung, wenn wir die Bedürfnisse anderer antizipieren und uns selbst hinten anstellen. Von vielen Menschen, vor allem von Frauen, wird dieser Bambi-Reflex bereits im Kindesalter erlernt und von der Gesellschaft noch verstärkt. Uns wird vermittelt, dass unsere Hauptaufgabe im Leben darin besteht, andere zufriedenzustellen, zu beschwichtigen und die eigenen Bedürfnisse zugunsten des Wohlbefindens anderer zu opfern. Die schmeichlerische Unterwürfigkeit des Fawning war eine Überlebensstrategie, eine unbewusste Methode, um uns in einer Gesellschaft, die uns unserer Macht beraubt, ein Gefühl von Kontrolle zu bewahren.
Alle vier Reaktionen sind weder feste Charaktereigenschaften, noch sind sie unser Schicksal. Wir können zu verschiedenen Zeitpunkten in jede einzelne von ihnen verfallen, je nachdem, was unser Überlebensgehirn und unser Körper für das Effektivste halten.
Fawning ist keine bewusste Entscheidung, es ist ein genialer Überlebensmechanismus.
Pete Walker erklärt, dass sich ein Bambi-Reflex in chaotischen häuslichen Umgebungen entwickelt, wenn ein Kind lernt, dass eine Kampf-Reaktion die Situation oder den Missbrauch nur eskalieren lässt, eine Erstarrungs-Reaktion kaum Sicherheit bietet und Flucht nicht immer eine praktikable Option ist. Als alternative Überlebensstrategie lernt das Kind also, »durch Sich-Einschmeicheln und Sich-nützlich-Machen relative Sicherheit zu erlangen«2. All diese Stressreaktionen sind sinnvoll, notwendig und dienen der Anpassung – allerdings sollten wir immer nur wenige Minuten oder Stunden darin verharren, keinesfalls über Jahre hinweg. Dennoch ist für viele ein chronischer Fawn Response so natürlich wie das Atmen.
Die meiste Zeit meines Lebens glaubte ich, diese Überanpassung entspreche einfach meiner Persönlichkeit. Ich war beinahe stolz darauf, hielt mich einfach für ein cooles Mädchen, das nicht viele Vorlieben oder Meinungen hatte. In gesellschaftlichen Kreisen, denen ich nicht mal angehören wollte, konnte ich ein wahres Chamäleon sein und mich derart verstellen, dass ich jedem gefiel, ich jedem sympathisch war, dem ich zu gefallen versuchte.
Dieser Chamäleon-Cool-Girl-Vibe war lange ein echter Schutz für mich. Ich behielt meinen Vater und seine Stimmungen genau im Auge, sagte das Richtige zur richtigen Zeit oder schwieg, wenn es gerade nicht passte. Sobald ich merkte, dass sein Verhalten zu eskalieren drohte, tat ich alles, um einen Wutausbruch zu verhindern. Ehrlich gesagt war es einfach leichter, dafür zu sorgen, dass er happy war, als mit ihm fertigzuwerden, wenn er es nicht war.
Wenn ich fröhlich und perfekt und brav bin, dann ist er vielleicht auch zufrieden. Wenn ich liebenswürdig bin, regt er sich vielleicht nicht so über mich auf. Nichts davon war ein bewusster, klarer Gedanke – Fawning ist eine unbewusste Reaktion.
Ja, meine chronische Unterwerfung und Überanpassung war ein Schutz für mich, doch als ich diese Lebensphase hinter mir gelassen hatte, fühlte ich mich weit entfernt von mir selbst, als sei ich dieser Person, die angeblich »ich« war, nie begegnet. Ich schaute mir Menschen an und überlegte: Was wollen sie wohl von mir hören? Und sagte es dann.
Ich erinnere mich an einen scheinbar unbedeutenden Augenblick, als ich diese Laisser-faire-Haltung als etwas sehr viel weniger Positives infrage zu stellen begann, nämlich als Indiz dafür, dass ich mich vielleicht selbst vernachlässigt hatte. Ich suchte mir gerade Badetücher für mein erstes New Yorker Apartment aus (Schuhkarton triffts eher), stand müßig in Gang acht von Bed Bath & Beyond herum, ohne irgendeine Idee, was ich denn nun nehmen sollte. Mir wurde klar, dass ich null Ahnung hatte, was eigentlich meine Lieblingsfarbe war. Meine Lieblingsfarbe! Ich erinnere mich, dass ich dachte: Gehen wir doch mal auf Instagram und gucken, was anderen so gefällt. Und mein nächster Gedanke traf mich wie ein Keulenhieb. Gibt es mich überhaupt? Oder bin ich nur ein Wirrwarr aus den Persönlichkeiten und Vorlieben anderer Leute? Wer bin ich, wenn ich mal einen Moment lang nicht versuche, es allen anderen recht zu machen?
FAWNING BEDEUTET NICHT, NETT ZU SEIN
Wenn du beginnst, dir deines Bambi-Reflexes bewusst zu werden, denkst du vielleicht zuweilen: Wann bin ich eigentlich unterwürfig und überangepasst, und wann bin ich einfach nur nett? Als Menschen sind wir auf Beziehung und Kontakt ausgelegt. Wir sind prosoziale Wesen, die von Natur aus nach Harmonie und Zugehörigkeit streben. Die Heilung des Bambi-Reflexes richtet sich nicht gegen diese natürliche Sehnsucht – sondern kommt ihr sogar entgegen. Denn wir können keine Verbundenheit mit anderen entwickeln, wenn wir keine Verbindung zu uns selbst haben.
Bei der unterwürfigen Haltung des Fawning aber müssen wir uns selbst aufgeben, um andere beschwichtigen zu können. Wir lernen, dass das Wohlbefinden des anderen wichtiger ist als unsere eigenen Bedürfnisse, dass wir nicht zufrieden sein können, solange der andere es nicht ist. Wir lernen, dass wir, um uns sicher fühlen zu können, den Frieden wahren müssen, koste es, was es wolle. In der Folge sind wir von den Antworten auf Fragen wie: Und ich? Was brauche eigentlich ich? Was denke ich? Was will ich?, völlig entkoppelt.
Eine Erkenntnis, die wir daraus gemeinsam ziehen können, ist, dass es einen entscheidenden Unterschied zwischen Nettsein und Mitgefühl gibt. Nett erscheinen wir in der Wahrnehmung anderer – wir tun etwas, um vor anderen gut dazustehen. Mitgefühl hingegen bedeutet Authentizität; etwas zu tun, weil es sich gut anfühlt, freundlich zu sein. Wenn wir uns in unseren Beziehungen fortwährend aufgeben, hat das nichts mit Mitgefühl zu tun. Nettsein ist oft »leichter«, eine Möglichkeit, Konflikten aus dem Weg zu gehen, was jedoch – wenn wir ständig anderen »zuliebe« die eigenen Bedürfnisse verleugnen – langfristig zu Groll führen kann.
Entscheidend ist die Motivation. Warum tue ich etwas? Sage ich Ja, weil ich es will oder nur weil ich fürchte, dass ein Nein diese Person verärgern könnte? Mache ich dieser Person ein Kompliment, weil ich es wirklich so meine oder weil ich mich bei ihr einschmeicheln will? Wenn es uns gelingt innezuhalten, ehe wir in gewohnte Verhaltensmuster verfallen, können wir uns über die Motivation, die dahintersteckt, klar werden.
HYPERVIGILANZ
Ein wichtiger Bestandteil des Fawning ist die sogenannte Hypervigilanz, also ein Zustand erhöhter Wachsamkeit, bei dem sich das Bewusstsein angesichts potenzieller Gefahren oder Bedrohungen in höchster Alarmbereitschaft befindet, ob diese Gefahr nun tatsächlich besteht oder nicht. In diesem Alarmzustand scannt unser Gehirn permanent die Umgebung, um die Gefahr aufzuspüren. Kurze Augenblicke der Hypervigilanz sind normal, etwa wenn du beim Einschlafen plötzlich ein merkwürdiges Geräusch im Erdgeschoss hörst, dein Herz zu rasen beginnt, du dir schon eine Fluchtroute zurechtlegst, um dein kostbares Leben zu retten – und dann merkst, dass es bloß dein Trockner war. Hypervigilanz pur.
Für Menschen, die unter chronischem Fawning leiden, gehört dieses Gefühl äußerster Wachsamkeit zum Alltag, und es erschöpft uns allmählich. Alles und jedes fühlt sich wie eine körperliche Bedrohung an. Diese Hypervigilanz kann sich zu emotionaler Überwachung steigern, bei der wir fortwährend die Gefühlszustände anderer Leute beobachten, um abzuschätzen und zu erraten, was sie womöglich empfinden, damit wir uns darauf einstellen können. Noch einmal: Dies ist eine natürliche Funktion unseres Gehirns, und sie ist äußerst nützlich. Wenn wir jedoch im Bambi-Reflex gefangen sind, läuft sie auch dann auf Hochtouren, wenn wir nichts zu befürchten haben, und veranlasst uns zu ständigem Analysieren, Grübeln und der bangen Frage: Bist du sauer auf mich?
KÖRPER UND GEHIRN IN ERHÖHTER ALARMBEREITSCHAFT
Auftritt »neues« Gehirn. Das ist derjenige Teil unseres Gehirns, der uns erst in so einzigartiger Weise zum Menschen macht und sich im Laufe der Zeit herausbildete, um neue Fähigkeiten wie Planen, Analysieren, Reflektieren und Imaginieren zu entwickeln – oder, im Falle des Fawning, tagelanges Grübeln darüber, warum »sie« offensichtlich deine Instagram-Story gesehen, aber bis jetzt nicht auf deine Nachricht geantwortet haben. Um zu zeigen, wie ungeheuer vertrackt das menschliche Gehirn sein kann, will ich eine meiner liebsten Visualisierungen des Psychologen Paul Gilbert, Begründer der Compassion Focused Therapy (CFT), verwenden. Als Erstes das Tiergehirn:
Ein Zebra liegt grasend in der Sonne und genießt sein köstliches Mittagsmahl. Dann sieht es einen Löwen aus den Augenwinkeln. Sich auf den nächsten, überlebenssichernden Schritt vorbereitend, fängt sein Blut an zu pumpen, das Herz schlägt ihm bis zum Hals. Okay, los gehts. In Sekundenbruchteilen muss das Zebra entscheiden, was es zu tun hat, um zu überleben. Es wird sich in die Gegenrichtung stürzen, gleich, in einer …
Und dann … trottet der Löwe davon, abgelenkt von seinem nächsten Opfer. Puh. Das Zebra beginnt umgehend, sich zu beruhigen. Die Gefahr ist gebannt. Sein Nervensystem ist zurück in seinem geregelten Normalzustand. Das Leben ist schön. Jetzt wird wieder Gras geknabbert. Ach, wäre man doch ein Zebra.
Für uns Menschen ist das Leben nicht ganz so leicht. Wir haben zwar dieselben Überlebensinstinkte wie das Zebra, doch dank unseres jüngeren, »neuen« Gehirns sind wir auch in der Lage, etwas in Gedanken immer wieder durchzuspielen, zu überanalysieren und uns darauf zu fixieren. Während das Zebra also sogleich zu einem Gefühl der Sicherheit zurückkehrt, weil die Bedrohung nicht mehr vorhanden ist, besitzt der Mensch die Fähigkeit, das Geschehene zigmal in Gedanken Revue passieren zu lassen und zu überlegen: Was, wenn der Löwe zurückkommt? Was, wenn er einen Masterplan hat, um mich im Schlaf zu überfallen? Ist der Löwe sauer auf mich? Lag es an etwas, das ich gesagt habe?
All das bedeutet, dass unser Körper in ebenjenem Zustand der Hypervigilanz, in den er durch die unmittelbare Konfrontation mit dem Löwen geriet, verharren kann. Das liegt daran, dass wir als Menschen in einen Überlebensmodus gleiten können, sei die Gefahr real oder nur eingebildet.3 Wir können reagieren, als würden wir bedroht werden, obwohl wir eigentlich in Sicherheit sind – und darin Jahre, Jahrzehnte, ja ein ganzes Leben gefangen bleiben.
In diesem Sinn wirkt Angst wie ein Alarmsystem. Dein Körper hat wohlweislich gelernt, nach bestimmten, diesen Alarm auslösenden Anzeichen Ausschau zu halten (Stimmungswechsel etwa, Körpersprache), und der Alarm schrillt nun los, ganz gleich, ob eine Bedrohung vorhanden ist oder nicht. Selbst wenn du vollkommen sicher bist, interpretiert deine Psyche die Situation unbewusst als Gefahr, und dein Körper reagiert, als stünde ein Angriff des Löwen bevor.
GILT DAS DENN ALS TRAUMA?
Isabelle, 43, sitzt mir in meiner Praxis gegenüber und streckt den Arm nach einem weiteren Papiertaschentuch aus, um es dem wachsenden Berg zu ihrer Linken hinzuzufügen. Es ist unsere fünfte Sitzung, und sie erzählt mir, wie sie, von außen betrachtet, in einer fördernden und unterstützenden Familienumgebung aufwuchs, in der es ihr an nichts fehlte: zwei Elternteile, die miteinander verheiratet waren, ein älterer Bruder, eine jüngere Schwester und ein flauschiger Hund, der für seine Größe viel zu laut bellte. Hinter verschlossenen Türen aber stritten sich ihre Eltern; und ständig herrschte dicke Luft. In den meisten ihrer Kindheitserinnerungen ist Isabelle allein; vergraben in die Seiten eines Fantasybuchs aus der Leihbibliothek, muss sie sich selbst trösten und hofft, dass sich die Eltern, bis sie es ausgelesen hat, wieder versöhnt haben.
Nach eigener Beschreibung ist sie ihr ganzes Leben lang ein People Pleaser, eine Jasagerin gewesen, begleitet von einem tiefen und unguten Gefühl, dass da irgendetwas nicht mit ihr stimmte.
»Ich weiß, es klingt furchtbar, aber manchmal wünsche ich mir, mir wäre was ›Großes‹ passiert, was richtig Schlimmes, damit ich wenigstens das Gefühl hätte, einen ›richtigen‹ Grund zu haben, mich so zu fühlen. Dann würden mir die Leute vielleicht glauben und ich mir selbst auch.«
Viele meiner Klientinnen und Klienten empfinden genauso, wenn ich ihnen erkläre, dass Fawning oder Unterwerfung eine der vier Traumareaktionen darstellt. Das Wort »Trauma« scheint die meisten zu irritieren: »Aber sollte Trauma nicht dieses eine große einschneidende Ereignis sein?«
Trauma kann auch eine Akkumulation vieler »kleiner« Alltagsmomente bedeuten, die sich für den Körper allerdings gar nicht so unbedeutend anfühlen.
Bei einem Trauma geht es darum, wie unser Nervensystem das Ereignis oder die Zeitdauer wahrnimmt, wie der Körper es verarbeitet (weswegen zwei Geschwister das Gleiche erleben können, doch eines fühlt sich davon traumatisiert, während das andere gänzlich unbeeindruckt bleibt).
Trauma ist, was infolge des dir Widerfahrenen in deinem Innern geschieht. Es ist die Wunde, unter der du aufgrund vergangener Erlebnisse innerlich leidest und die sich bemerkbar macht, etwa durch das Gefühl des Verlassenseins, die Überzeugung, nicht liebenswürdig zu sein, die Furcht, andere Menschen an dich heranzulassen – und diese Wunden können von unterschiedlichsten Erfahrungen herrühren, nicht nur den »großen« schlimmen Ereignissen, an die wir so oft dabei denken und die wir in den Mainstream-Medien präsentiert bekommen. Die verstärkende Wirkung wiederholter »kleiner« Traumata kann ebenso erschütternd und eindrücklich sein wie ein »großes« Trauma.
Hat man uns wiederholt dem Gefühl ausgesetzt, gefährdet zu sein, nicht gehört und nicht gesehen zu werden, und dies in Gegenwart jener, die uns eigentlich Sicherheit schenken sollten – wie immer die auch aussehen mag –, so nennt man die Wirkung ein komplexes Trauma. Häufig entstehen komplexe Traumata innerhalb der Familie oder des Betreuungssystems, weil es sich dabei um Umgebungen handelt, die eigentlich Orte von Sicherheit und Stabilität sein sollten.
Fawning oder übertriebene Anpassung entwickelt sich in der Regel in Umfeldern, in denen bereits anhaltende komplexe Beziehungstraumata vorliegen – in denen gerade die Beziehungen, die fürsorglich und unterstützend sein sollten, es nicht sind. Diese Art von Trauma kann sich auf vielerlei Arten äußern, ob emotional, körperlich, sexuell oder als Vernachlässigung. Da das komplexe Trauma häufig daher rührt, dass man diesen Erfahrungen über lange Zeiträume hinweg ausgesetzt war, kann die Verarbeitung verwirrend sein, denn lange war dieser Zustand schließlich einfach »Normalität«. Man kannte es nicht anders.
Zum komplexen Trauma gehört außerdem auch das, was nicht passiert ist, sprich die Unterstützung und Fürsorge, die du in der traumatischen Situation oder danach nicht bekamst. Hast du die Hilfe erhalten, die du brauchtest, oder hat man dich alleingelassen und dir geraten, dich nicht so zu haben? Was nach dem belastenden Ereignis oder Vorfall geschieht, hat tief greifende Auswirkungen auf die Art und Weise, wie es im Körper verarbeitet wird.
Weil es bei einem Trauma mehr um die Wunde geht, die ein Ereignis hinterlässt, und weniger um das Ereignis selbst, ist Heilung stets möglich. Unsere Geschichte oder unsere früheren Lebensumstände können wir nicht rückgängig machen, unser inneres Erleben aber können wir immer verändern.
MANCHMAL MUSST DU DICH ANPASSEN
Manchmal müssen wir uns anpassen, einschmeicheln, auf den Fawn Response zurückgreifen, sei es, um uns Sicherheit zu verschaffen oder unser Gehalt zu bekommen. Wir können nicht über Fawning als Überlebensreaktion sprechen, ohne damit auch die Außenwelt anzuerkennen und die Systeme, in denen wir leben. Denn was ist ein Bambi-Reflex anderes als ein unbewusster Versuch, uns in ein Schema einzufügen, das unsere patriarchalische, weiß dominierte Gesellschaft für »gut« befunden hat?
Unterwerfung und Überanpassung waren in einer männlich dominierten Kultur für Frauen eine Überlebensnotwendigkeit. Im Haus, am Arbeitsplatz und in der Außenwelt, öffentlich wie privat mussten Frauen Männern gefallen und sich ihnen unterordnen. In den USA gestattete man ihnen erst 1974, unter eigenem Namen eine Kreditkarte zu beantragen und zu besitzen – wie also hätten Frauen in der Gesellschaft überleben können, ohne sich der männlichen Zustimmung, ihrer Billigung zu versichern? Aber auch über das reine Überleben hinaus hat man Frauen dazu erzogen, es allen recht zu machen und sich unterzuordnen. Wütend zu sein heißt bis heute, du bist verrückt. Widerspruch bedeutet, du bist schwierig. Und Entschlossenheit heißt, du bist eine Zicke.
Überanpassung und Unterwerfung waren auch für Schwarze, Indigene und People of Colour (BIPOC) geboten, um in einer Gesellschaft zu überleben, in der Weiße stets die Gatekeeper waren, die bestimmten, ob und wo BIPOC Eigentum erwerben, Schulen besuchen, Jobs bekommen, bezahlt oder gefördert werden konnten oder einfach nur existieren durften. »Die häufigste Manifestation des Fawn Response unter [BIPOC] ist wahrscheinlich die Internalisierung des Narrativs der Musterminderheit, das in sämtlichen [BIPOC]-Communitys weltweit verbreitet zu sein scheint. Dieses Narrativ verlangt eine so weitgehende Anpassung und Zustimmung zu den von der herrschenden weißen Kultur aufgestellten Regeln, dass weiße Gatekeeper die nicht weiße Person nicht mehr als Bedrohung wahrnehmen, sondern sie sogar als ›Honorary White‹ betrachten, solange sie nämlich den weißen Gatekeepern deren Vorstellung von einem ›guten Schwarzen‹, einer ›guten Asiatin‹, einer ›guten Mexikanerin‹, einem ›guten Indigenen‹ etc. zurückspiegeln.«4
Für meinen Patienten Peter, der als nicht geouteter schwuler Mann in einem katholischen Elternhaus aufwuchs, bedeutete das, extrem darauf zu achten, was andere taten, sagten oder welche Kleidung sie trugen, um sich der heteronormativen Mehrheit anzupassen. Bis zum Ende der Highschool spielte er Football, obwohl er lieber Filmkurse besucht hätte. Aufmerksam registrierte er, wie andere über Frauen sprachen, und traf sich selbst mit Mädchen, damit alle glaubten, er sei hetero. Alles, was wir – als Kinder oder Erwachsene – wollen, ist doch dies: Gefühle der Zustimmung maximieren, Zurückweisungen minimieren. Im Rückblick auf diese verwirrende Zeit seiner Jugend sagte Peter einmal zu mir: »Ich bin so dankbar, dass Fawning existiert und mein Körper wusste, was er zu tun hatte. Ich weiß nicht, ob ich es sonst überlebt hätte.«
Ich hatte Klientinnen und Klienten, die mit Behinderungen zu kämpfen hatten, sichtbaren wie unsichtbaren, und schließlich anerkennen mussten, wie notwendig diese (Über-)Anpassung an die Mehrheit für sie gewesen war – ihr Stottern zu unterdrücken, ihre Neurodivergenz in sozialen Situationen zu überspielen, dicke Pullover zu tragen, um ihre Skoliose zu kaschieren, sich völlig zu verausgaben, nur um ihnen nicht von der chronischen Krankheit erzählen zu müssen.
Dein ethnischer Hintergrund und deine Klasse, dein soziales und dein biologisches Geschlecht, deine Sexualität, dein kultureller Hintergrund, deine religiöse Erziehung und/oder deine Behinderung können alle beitragen zu einer grundlegenden Notwendigkeit zur Anpassung, um in unterdrückerischen Systemen leben und überleben zu können. Überleg dir, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen der Intersektionalität deiner verschiedenen Rollen und deinem Bedürfnis, als gut und brav wahrgenommen zu werden, zu deiner Angst, in Schwierigkeiten zu geraten, zu deiner Hypervigilanz.
Vergiss nicht: Der Fawn Response oder Bambi-Reflex ist ein notwendiger Anpassungsmechanismus, der unserem Überleben dient. Manchmal müssen wir tatsächlich zu unterwürfigen Bambis werden.
In diesem Buch geht es um die Heilung des Fawn Response, und zwar auf eine Weise, die für dich realistisch und möglich ist – sodass du ihn ablegen kannst, wenn du ihn nicht mehr benötigst, wenn du tatsächlich in Sicherheit bist.
ZUM NACHDENKEN
1.In welchen Zusammenhängen beobachtest du Hypervigilanz in deinem Alltag?
2.Inwiefern stellt sie einen echten Schutz für dich dar? Tritt sie auch in Lebensbereichen auf, in denen sie vielleicht gar nicht nötig wäre?
Es ist sicher, jetzt zu mir selbst zurückzukehren.
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Damals und Heute
Fallstudien: Wie Fawning sich äußert und fortbesteht
SEI BRAV
Wir haben uns in unseren 2001er Mitsubishi Mirage gezwängt, in dem vier Leute bequem oder fünf plus zwei Hunde nicht ganz so bequem Platz finden. Meine Eltern sitzen vorn. Ich sitze hinten in der Mitte, meine Brüder rechts und links von mir, Schultern und Ellbogen aneinandergepresst, die beiden Hunde wie eine Decke über unsere Beine gebreitet. Ich bin neun Jahre alt, und wir sind auf unserem allerersten Springbreak-Trip von Minnesota nach Florida – einer einundzwanzigstündigen Autofahrt, die Pausen nicht mitgerechnet. Es ist eine Riesensache, unser erster gemeinsamer Urlaub. Mein mittlerer Bruder hat einen kleinen Bildschirm an der Nackenstütze meiner Mutter befestigt, seine Xbox eingesteckt, und die Geräusche seines Videospiels knistern aus den Kopfhörern. Mein ältester Bruder hört irgendetwas auf seinem iPod, und ich habe mich in ein American-Girl-Buch über die Pubertät vergraben. Ich beuge mich tief über die Seiten, damit meine Brüder die aquarellierten Illustrationen nicht sehen, die zeigen, wie meine Brüste vielleicht mal aussehen werden.
Meine Mom und mein Dad wechseln sich alle paar Stunden am Steuer ab; gerade ist mein Vater an der Reihe. Eigentlich hätten wir die Ausfahrt 114 nehmen sollen, aber meine Mom hat wohl das Schild übersehen, denn mein Dad beginnt, sie anzuschreien. Er tritt aufs Gas und beschleunigt, schließlich muss seine Wut irgendwohin. Ich löse meinem Blick von der Seite, auf der das Einführen eines Tampons erklärt wird, und zucke zusammen, als mein Vater ihr die MapQuest-Wegbeschreibung aus der Hand zerrt und in Stücke reißt. Wir alle sehen ihm schweigend zu, denn so etwas tut er eben manchmal, und dann ist es besser, einfach den Mund zu halten.
»Beruhige dich«, flüstert Mom, »ist ja gut.«
Schließlich tut er das auch, und wir halten auf dem Seitenstreifen, damit er die Karte wieder zusammenkleben kann, denn irgendwie müssen wir ja nach Florida kommen (GPS war damals noch kein Ding). Auf engstem Raum zusammengedrängt und in angespanntem Schweigen, das sich anfühlt, als würden alle den Atem anhalten, setzen wir die Fahrt fort, und ein einziges Kommando beherrscht meine Gedanken: Sei brav!
Als ich aufwuchs, dachte ich, jedes Kind lerne, die Stimmung seiner Eltern am Klang ihrer Schritte im Treppenhaus zu erkennen. Ich dachte, jedes Haus beherberge hinter verschlossenen Türen Sucht und Abhängigkeit wie einen Aberglauben, ein totgeschwiegenes Geheimnis, über das man nicht zu laut sprechen durfte, weil Worte wie Flüche waren und das Murmeln eines Namens bewirken konnte, dass das Unheil wiederkehrte. Ich dachte, alle Väter hätten Wutanfälle, die die Gläser auf dem Küchentisch zum Klirren brachten, um anschließend die nächste Stunde lang darüber zu plaudern, was man zum Abendessen machen sollte. »Jede Familie hat ihre Probleme«, sagen alle, also hatten andere vielleicht die gleichen, und sie kehrten sie nur, genau wie wir, unter den Teppich.
Wenn Konflikte ständig unter den Teppich gekehrt werden, wird die Person, die den Teppich hochzuheben und den Konflikt einzuräumen beschließt (sich also auf dem Weg der Heilung befindet), natürlich ihren eigenen Erfahrungen misstrauen, denn es gibt ja niemanden, der ihr bestätigt: »Ja, das ist wirklich passiert, und was du fühlst, ergibt Sinn.« Kindern, die »dramatisch« genannt werden, wird das Gefühl vermittelt, sie selbst seien das Problem. In Wirklichkeit sind sie aber einfach diejenigen, die ein Problem kommunizieren, das andere nicht sehen wollen.
