Bittere Medizin - Günter von Lonski - E-Book

Bittere Medizin E-Book

Günter von Lonski

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Beschreibung

Hessisch Oldendorf. Karnevalssonntag. Schneeregen und kalte Füße. Wesemann berichtet wie in jedem Jahr vom Karnevalsumzug. Besonders ausgelassen zeigt sich der amtierende Prinz Dr. Bodo Schobinsky. Großzügig verteilt er Bonbons, Kusshändchen und Helaus. Doch plötzlich beugt er sich vor und fällt über die Brüstung des Prunkwagens. Direkt neben Wesemann schlägt er aufs Pflaster. Der Mann ist tot. Infolge übermäßigen Alkoholgenusses vom Wagen gefallen und an einem Genickbruch gestorben. Tragisch, aber nicht sonderlich interessant. Doch da wird im Söltjerbrunnen von Bad Münder der abgetrennte Kopf eines Chinesen gefunden. Wesemann recherchiert: Dr. Schobinsky hat nach aufwendigen Erkundungsarbeiten eine neue Quelle am Rand des Bad Münderer Kurparks angebohrt. Allerdings riecht das Mineralwasser so streng nach vergammeltem Fisch und brackigem Meerwasser, dass mehrere solvente Anlieger eine einstweilige Verfügung erwirken und die Quelle geschlossen werden muss. Für den umtriebigen Dr. Schobinsky kein Grund zur Aufgabe, eher eine Herausforderung. Nach längerem Suchen entdeckte er die Traditionelle Chinesische Medizin für sein Projekt. Die gelegentlich ungewöhnliche chinesische Pharmakologie ließe sich doch gewinnbringend mit dem Wasser seiner Quelle verbinden. Um das Projekt unangreifbar zu machen, engagiert er chinesische Mediziner direkt aus dem Reich der Mitte. Doch bevor der erste Spatenstich für Dr. Schobinskys visionäres Großprojekt getätigt werden kann, gerät einiges gehörig durcheinander und dabei bleiben nicht nur die zukunftsweisenden Ideen auf der Strecke. Wesemann ermittelt auch in seinem dritten Fall mit Klarheit, Übersicht und außergewöhnlichem Einfühlungsvermögen. Wenn er dabei bloß sein Privatleben nicht so fahrlässig aufs Spiel setzen würde – Karola hält so gar nichts von Traditioneller Chinesischer Medizin.

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Veröffentlichungsjahr: 2012

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Im Verlag CW Niemeyer sind bereitsfolgende Bücher des Autoren erschienen:

Das letzte Lied

Tödlicher WindMord auf dem Schützenfest

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

 

© 2012 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Carsten Riethmüller

Umschlagfoto und Bearbeitung: CW Niemeyer Buchverlage

Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Printed in Germany

ISBN 978-3-8271-9406-0

E-Book-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

E-Book ISBN 978-3-8271-9813-6

 

 

Auch Wesemanns 3. Fall spielt natürlich wieder an allseits bekannten Orten des Weserberglands, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden. Oder?

 

 

 

Über den Autor:

Günter von Lonski wurde 1943 in Duisburg-Laar geboren. Er studierte an der Hochschule der Künste in Berlin. Seit 1981 schreibt er Romane, Krimis, Jugend- und Kinderbücher, Hörspiele, Kurzgeschichten, Glossen, Satiren und Schulbuchbeiträge. 2010 erhielt er den Rolf-Wilhelms-Litera turpreis der Stadt Hameln. Günter von Lonski ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in der Nähe von Hannover. Er ist außerdem Autor von bereits zwei erschienenen Weserbergland-Krimis „Das letzte Lied“ und „Tödlicher Wind“, in denen der akribische Journalist Hubert Wesemann ermittelt – spannend, unterhaltend, mit einem Schuss Humor und Ironie.

Mehr über Günter von Lonski und seine Aktivitäten erfahren Sie unter www.vonlonski.net

 

 

 

Eine gute Medizin schmeckt dem Gaumen bitter.

Chinesisches Sprichwort

EINS

„Wesemann, Sie haben doch sicher nichts Vernünftiges zu tun“, bellt Baxmann durchs Telefon, „machen Sie einen Bericht vom Karnevalsumzug in Hessisch Oldendorf. Da haben Sie endlich auch mal was zu lachen.“

„Eigentlich wollte ich an diesem Wochenende …“

„Machen Sie was draus, Wesemann! Unsere Hörer sind anspruchsvoll. Also keinen Bericht mit kleinem Konfetti, eher mit ordentlichem Tschingderassabum und Helau!“

„Helau!“ Wesemann sieht Karola an. Sie hat sich seinen Bademantel angezogen und kocht gerade Kaffee. „Schöne Grüße von Baxmann“, sagt Wesemann, obwohl Baxmann nichts in diese Richtung gesagt hat. Doch Baxmann ist auch Karolas Chef und sie eine seiner besten Angestellten, sagt er. Wesemann ist nur ein freier Mitarbeiter des örtlichen Rundfunksenders.

„Hattest du mir nicht ein freies Wochenende versprochen?“, fragt Karola.

„Sieh das nicht so pessimistisch. Kann doch lustig werden bei so einem Karnevalsumzug. Lauter nette und fröhliche Menschen. Vielleicht kannst du sogar auf dem Prinzenwagen mitfahren … wenn ich meine Beziehungen spielen lasse!“

„Du und deine Beziehungen!“, sagt Karola.

„Ich brauche das Geld. Ich habe Großes vor und es betrifft auch dich!“

„Nein“, sagt Karola, aber schon nicht mehr ganz so nachdrücklich. An einem halb verregneten und halb verschneiten Sonntagnachmittag alleine vor dem Fernseher herumzuhängen, macht auch keinen allzu großen Spaß. „Aber ohne Verkleidung!“

„Wir schauen mal, ob wir auf dem Weg zufällig an zwei Pappnasen vorbeikommen.“

Die beiden Pappnasen, die Wesemann am Kiosk ersteht, sind allerdings nicht aus Pappe, sondern aus Schaumstoff. Dann die B 83 von Hameln nach Oldendorf die Weser hinunter und dann hinein ins Vergnügen. Karola fröstelt, als sie ziemlich am Rande von Oldendorf aus dem Auto steigen. Es hat heftig geschneit in der Nacht und die Temperaturen schreien nach dicken Socken und Glühwein. Bei ihrem strammen Fußmarsch die Schilfstraße hinauf wird die Umgebung jeck und jecker. Rot-weiß gekleidete Würdenträger, Kinder und Erwachsene als Biene Maja, Räuber Hotzenplotz, Schneekönigin, Elfe oder Indianer verkleidet laufen mit ihnen in die gleiche Richtung. Vier Jungs kommen ihnen entgegen, stützen sich gegenseitig, haben wohl volltrunken die Orientierung verloren. Gruppen von Gardemädchen, Zigeunerinnen, Chinesen und Hexen eilen zur Aufstellung. Endlich der Zug in seiner Entstehungsphase. Wagen für Wagen wird in eine Reihe eingewiesen, um zwei soll es losgehen und Karola meint, sie hätten noch gut eine Stunde zu Hause im Warmen sitzen können.

Die Musik bricht los. Laut, närrisch überlaut. Das Rote Pferd und Der Hustende Regenwurm werden auf die Zuschauer losgedröhnt. Der Zug setzt sich in Bewegung. Am Straßenrand wird gelacht, geschunkelt und gesungen. Wesemann sammelt eifrig Originaltöne auf seinem Handrekorder. Karola friert. Sie laufen dem Zug voraus die Mühlenbachstraße hinunter. Und dann heißt es warten am Straßenrand. Und nochmals warten. Wesemann spendiert Karola einen lauwarmen Glühwein, er muss noch fahren. Endlich kommt der erste Wagen, dann eine Fußgruppe mit vielen, vielen roten Marienkäfern, eine etwas schräge Musikkapelle und endlich der Prinzenwagen. Mit ihrer Lieblichkeit und seiner Tollität. Bonbons werden geworfen, kleine Schnapsflaschen an bekannte Gesichter verteilt und wer sich zu weit vorwagt, wird mit Papierstreifen aus irgendeinem Schredder überschüttet.

Ihre Lieblichkeit entdeckt den Rundfunkreporter, sie macht ihren Prinzen auf Wesemann aufmerksam. Sie winken ihm beide zu, den Prinzenwagen zu erklimmen. Karola lehnt eine Begleitung kategorisch ab. Wesemann setzt einen Fuß auf die wackelige Leiter am Wagenende. Entscheidet sich dann zugunsten eines unbeschadeten Weiterlebens und lässt das mit dem Erklimmen des Prunkwagens.

Er fängt Originaltöne auf der Straße ein, befragt lustige und weniger lustige Mitläufer nach ihrem Alkoholstand und ihrer allgemeinen Verbindung zum Festtrubel. Vom Festwagen klingt ein eigens komponiertes Lied für den Oldendorfer Karneval aus den Lautsprechern und wird von dem Prinzenpaar ziemlich schräg mitgesungen. Singen kann man das bei seiner Tollität wohl nicht nennen, der Mann brummt in den unterschiedlichsten Tonlagen. Er scheint schon einiges getrunken zu haben. Dafür überfordert Ihre Lieblichkeit die Stimmbänder und lässt die roten Warndioden an Wesemanns Handrekorder aufblinken. Dann gibt es für Wesemann noch ein Kusshändchen vom Prinzenwagen, mehr für alle, ein farbenprächtiger Orden wäre ihm auch lieber gewesen. Damit hätte er Baxmann sicher imponieren können.

Wesemann sieht sich nach Karola um. Plötzlich knirscht und knackt es, Holz splittert, Menschen schreien auf und bevor sich Wesemann versieht, liegt er schon neben ihm, Ihre Tollität persönlich. Auf dem feuchten Asphalt. Regungslos. Die Musik dudelt unbeeindruckt weiter, ein Gaffer kotzt in den erstbesten Vorgarten.

Ein unrühmlicher Abgang für seine Hoheit und noch dazu so endgültig. Wesemann will dem Prinzen den Puls fühlen. Doch da gibt es nichts mehr zu fühlen. Sein linker Arm und das rechte Bein sind merkwürdig verdreht, der Kopf liegt auf der Seite, Blut sickert aus Nase und Ohren. Die Augen sind offen und starren auf die weißen Strumpfhosen eines Gardemädchens. Das Gardemädchen sinkt ohnmächtig gegen eine Hauswand. Mehrere Zuschauer telefonieren, einige machen Fotos mit ihren Handys. Schon ist das Rote Kreuz zur Stelle. Begleitet in jedem Jahr den Zug, kümmert sich um die Volltrunkenen und die Leichtverletzten handgreiflicher Auseinandersetzungen. Der Prinz scheint sich die Zunge halb abgebissen zu haben. Wesemann schaut weg, sonst muss er sich auch noch übergeben. Vorsichtig wird der Prinz auf eine Trage gelegt und zu einem Einsatzwagen gebracht. Ein Schuh hat sich von seinem Fuß gelöst und wird von einem Nachwuchsretter eilfertig hinterhergetragen.

Wesemann sieht sich nach Karola um. Gerade hilft sie der Prinzessin von der wackeligen Leiter des Prunkwagens. Ihre Lieblichkeit eilt hinter den Sanitätern her, so schnell es ihre dicken Beine hergeben. „Bodo! Bodo!“ Auf dem Prinzenwagen sah sie hoheitsvoller aus. Die Musik bricht ab.

„Meinst du?“, fragt Karola und deutet mit dem Kopf auf den zurückgebliebenen Blutfleck auf dem Asphalt.

Wesemann nickt.

„Tot!“

„Lass uns fahren!“ Karola hängt sich bei Wesemann ein, er spürt ihr leichtes Zittern. Es beginnt zu regnen und zu schneien. Gleichzeitig. Ein völlig unangebrachter Gedanke schießt ihm durch den Kopf: Sie hätten besser ins Kino gehen sollen.

Es ist eine gedrückte Stimmung im Auto, als sie zurück nach Hameln fahren. Karola fährt, Wesemann auf dem Beifahrersitz. Er ruft in der Radioredaktion an und gibt seine Informationen zu dem Unfall durch. Baxmann ist zur Sitzung des Golfclubs. So einen Blödsinn braucht Wesemann jetzt in seinem Kopf, um sich über die quälende Stimmung hinwegzuretten.

Karola stellt das Auto ab, Wesemann will noch Kuchen besorgen und Karola geht schon mal in die Wohnung hinauf, um Kaffee zu kochen.

„Kanntest du ihn?“, fragt Karola.

Wesemann hat einen halben Mohnkranz und zwei große Stücke gedeckten Apfelkuchen mitgebracht.

„Das geht auf die Hüften“, hat Karola gesagt.

„Bei mir nicht!“, hat Wesemann geantwortet.

„Dann eben aufs Herz!“, und Karola hat sich das Stück Mohnkuchen in der Mitte durchgeschnitten. Auch nicht schlecht, hat Wesemann gedacht, hab ich noch was für morgen.

„Müsstest du eigentlich auch kennen“, sagt Wesemann und spült seinen Kuchenbissen mit einem Schluck Kaffee hinunter. „Doktor Bodo Schobinsky.“ Er trinkt noch einen Schluck, nickt anerkennend zur Qualität des Kaffees, aber Karola sieht es nicht, sie schielt auf die Fernsehzeitung.

„Schobinsky wohnte in Rinteln und hat sich in den letzten Jahren mit einigem Geld in Bad Münder breitmachen wollen. Wollte irgendwas im Kurpark bauen. Aber was genau …“

Wesemanns Handy klingelt. Er sieht Karola an. Karola verzieht die Mundwinkel, Wesemann hebt entschuldigend die Schultern und nimmt das Gespräch an. Nachdem er sich gemeldet hat, drückt er auf den Lautsprecher des Apparates.

„Wesemann, Sie waren doch sicher beim Karnevalszug in Oldendorf.“

Jetzt verzieht Karola auch noch die Augenbrauen. Wesemann legt die Hand aufs Handy und flüstert: „Hauptkommissar Bertram“, und Bertram fragt, mit wem er gesprochen hat.

„Nur ein kleiner Hustenanfall“, sagt Wesemann.

„Mal ganz privat gefragt“, meint Bertram, „waren Sie verkleidet? Vielleicht als Sherlock Holmes?“ Wenn Bertram lacht, zappelt der Telefonhörer in Wesemanns Hand.

„Möchten Sie, dass ich sofort auflege?“

„Mal nicht so griesgrämig, Wesemann, war doch nur ein Scherz.“

„Ihre Scherze sind …“

„Na, na, Sie wollen mich doch sicher auch weiterhin zu Ihren Freunden zählen?“

„Freunden?“

„Wir haben da diesen toten Karnevalsprinzen auf den Tisch bekommen. Waren Sie zufällig in der Nähe, als der Unfall geschah?“

„Er wäre beinah auf mich draufgefallen.“

„Wesemann, das hätten Sie uns nicht antun können.“ Wieder dieses Lachen.

„Ihnen wäre ich auch weiterhin im Traum erschienen, das garantiere ich Ihnen!“

„Nun ja, der Arzt hat einen natürlichen Tod festgestellt. Also beim Karnevalsprinzen. Eine Verbindung von Alkohol, Diabetes, Herzschwäche und den Folgen eines Sturzes aus drei Metern Höhe aufs unnachgiebige Straßenpflaster. Damit wäre die Sache für uns erledigt. Wenn Ihnen nicht noch etwas Außergewöhnliches in diesem Zusammenhang aufgefallen ist. Aber, ich warne Sie …“

„Nein.“ Wesemann legt auf.

Karola ist zur Arbeit gefahren. Wesemann rasiert sich, hört die Nachrichten von radioTOTAL und bekommt trotzdem nichts mit. Finanzkrise, abgebrannte Scheune, ein weiteres Tiefdruckgebiet löst das augenblickliche ab. Wesemann träumt sich in andere Regionen. Mit Karola am weißen Strand liegen, das Meer rauscht, die Sonne lacht und alles ist billig, billig. „Du kaufen Tuch für schöne Frau oder Gürtel, echt Leder!“ Sicher, der Prinz hatte einiges getrunken, aber war er so besoffen, dass er einfach so vom Wagen gefallen ist? Wesemann, du siehst überall Gespenster. Er muss eine Kita besuchen, um einen Bericht zu machen. Es tropft durchs Dach und die Farbe blättert von den Wänden.

Dann nimmt Baxmann den Bericht über die Mängel in der Kita doch nicht. Für den toten Schobinsky lässt er eine neue Praktikantin einen Nachruf verfassen:

Der tragische Unglücksfall überschattet die traditionsreichen Karnevalsfeiern in Hessisch Oldendorf. Karnevalsprinz Doktor Bodo Schobinsky stürzte beim Umzug am gestrigen Sonntag vom Prunkwagen. Der Arzt konnte nur noch seinen Tod feststellen. Die Karnevalisten Hessisch Oldendorfs trauern und mit ihnen alle, die den rührigen Geschäftsmann kannten. Nur der zweite Vorsitzende des ausrichtenden Karnevalsvereins Blaue Veilchen war zu einer Stellungnahme bereit: „Wir stehen alle unter Schock. Gestern haben wir noch zusammen gefeiert und heute bleibt sein Platz beim traditionellen Heringsessen unbesetzt. Auch Ihre Lieblichkeit Prinzessin Irene hat ihre Teilnahme aus tiefer Trauer abgesagt. Wir wissen noch nicht, wie es weitergehen soll.“

Soweit Olivia Gabulow vom tragischen Tod des Karnevalsprinzen in Hessisch Oldendorf für radioTOTAL.

Für Wesemann hat Baxmann eine andere Idee, wäre ihm am neunten Loch eingefallen. „Wesemann, die öffentlich-rechtliche Konkurrenz schläft nicht. Wir müssen unseren Hörern etwas Neues bieten. Fantasie, Kreativität. Etwas, worüber man spricht. Ich sage nur: Features, Features, Features.“

„Vielleicht etwas über Hamelns Nachtleben?“

„Was hat das mit Fantasie und Kreativität zu tun? Wesemann, Sie sollen sich etwas einfallen lassen. Etwas Neues, Unerhörtes. Natürlich nichts, was unsere Werbekunden vergrault. Wir sind zwar ein mutiger Sender, immer klar, sachlich und informativ, aber die Berichte nehme ich natürlich ab, bevor sie über den Sender gehen. Ich muss schließlich auch den Kopf hinhalten. Also ran an die Arbeit. Ich rechne auf Sie, äh, stehe natürlich auch, also, äh …“

Wesemann ist ein freier Mensch mit eigenen Entscheidungen. Er wird sich um sein Privatleben kümmern. Also erst mal kein Enthüllungsjournalismus. Am letzten Wochenende war Karola zu einem runden Geburtstag bei einer Freundin in Krefeld. In ihrer Abwesenheit hat Wesemann nach dem Lesen einer Immobilienanzeige in der Dewezet das gemeinsame Schicksal energisch in die Hand genommen und eine Wohnung angemietet. Für beide. Emmernstraße. Kernige Altstadt. Angenehme Räume und ein netter Vermieter.

Wesemann wird Karola vom Radiosender abholen und direkt mit ihr in die neue Wohnung fahren. Dort ist alles vorbereitet für seinen, nun ja, es wird Zeit, seinen Heiratsantrag. Die Räume sind besenrein und mit luftigen Schals und Resten von Gardinen aus dem Geschäft im Erdgeschoss dekoriert. In der Mitte des größten Zimmers hat Wesemann in einem Meer von Rosenblättern ein Wasserbett aufgestellt. Mit Wasser musste er es selber füllen, die Pumpe war im Preis nicht enthalten und für das wasserlose Wasserbett hatte Wesemann einen satten Rabatt ausgehandelt. Wasserbetten sind wohl nicht mehr so gefragt. Vielleicht ist so ein Wasserbett etwas direkt, aber Wesemann ist nun mal kein Schmuser und Charmeur.

In der Ritterstraße kauft er einen Strauß lachsfarbener Rosen, das wäre die neue Modefarbe, hat die Floristin gesagt. Aber vielleicht wollte sie die Rosen auch nur loswerden, einige der Blütenblätter segeln schon aufs Pflaster, als Wesemann zum Kastanienwall zurückgeht. Karola ist pünktlich. Mit einem strahlenden Lächeln fliegt sie ihm in die Arme und damit versetzt sie dem Blumenstrauß den Todesstoß. Doch Karola ist wohl gelaunt und nimmt den guten Willen für die Tat.

Sie hängt sich bei ihm ein, sie überqueren die Straße und biegen dann in die Baustraße ein. Der restliche Blumenstrauß wird in einem der Abfallkörbe beiläufig entsorgt, obwohl Wesemann bei der verkaufstüchtigen Floristin reklamieren wollte.

Von der Baustraße geht es in die Emmernstraße. Halt! Stopp! Kein Durchkommen. Das Sträßchen wird von einem quer stehenden Feuerwehrauto blockiert und die wenigen Lücken neben dem großen Wagen sind von einsatzwilligen Wehrleuten verstellt. Wesemann fragt einen der Wehrmänner nach der Ursache ihres Einsatzes, schließlich ist er auch in seiner Freizeit Journalist.

Über dem Geschäft für Inneneinrichtungen sei ein Wasserbett ausgelaufen. Das Wasser sei durch die Decke des alten Fachwerkhauses gesickert und auf Gardinen, Tischdecken und Wolldecken getropft, sogar die Kasse sei voll Wasser gelaufen.

Wesemann ist für Augenblicke wie gelähmt. Wie konnte das passieren. Das Bett war ausdrücklich als auslaufsicher angepriesen worden. Er wird hoffentlich nicht für den Wasserschaden aufkommen müssen, mal sehen, was seine Versicherung dazu sagt. Sein netter Vermieter hat ihn auch entdeckt, ist gleich auf ihn losgestürmt und nimmt mit ausfallenden Worten Abstand von dem Mietvertrag mit solch einem … Chaoten! Wie man auch so kindisch sein könnte, unter dem Bett den abgeflexten Nagelgurt einer Polizeisperre zu drapieren. Ob das vielleicht ein neuartiger Nervenkitzel sein sollte?

Sie gehen in Wesemanns Wohnung in der Deisterstraße. Wesemann ist völlig durch den Wind. Abgeflexter Nagelgurt. Schade um den originellen Heiratsantrag. Das war Sabotage! Karola schaut Wesemann immer wieder von der Seite an, in Höhe des Rattenfängerhauses bleibt sie plötzlich stehen, zieht Wesemann in ihre Arme und flüstert ihm ins Ohr: „Ja, ich will!“

Für Wesemann ein Grund, gleich im Vorübergehen in Engins Laden noch eine Flasche Schampus zu besorgen, aber dann sagt Karola: „Nur nicht sofort“, und Wesemann fällt ein, dass er noch eine Flasche Rotkäppchen-Sekt im Kühlschrank hat.

Was ist schon so ein Wasserbett gegen das eigene Sofa. Da kennt sich Wesemann aus, mit jeder Sprungfeder und jedem Knitter. Man kann darauf sitzen, liegen, schlafen, dösen, sich räkeln und jetzt ist da auch noch Karola. In seinen Armen. Wesemann schwebt auf irgendeiner Wolke und Karola mit ihm. Himmelstag. Wenn da nicht dieses nervige Telefon wäre und am anderen Ende der Leitung der Chef vom Dienst. Baxmann. „Was macht unser neues Projekt?“

„In die Hose!“

„Wesemann, Sie sind immer so schnell eingeschnappt. Lassen Sie sich nicht so hängen. Ran an den Feind. Übers Internet kann man uns sogar deutschlandweit hören. Um den Deutschen Radiopreis will ich uns auch bewerben.“

„Uns?“

„Wesemann, warum sagen Sie nichts?“

„Weil ich nichts zu sagen habe!“ Damit ist für ihn das Gespräch beendet. Karola holt eine Flasche Rotwein. Wesemann sieht sie gar nicht, er starrt auf den dunklen Bildschirm des Fernsehgerätes.

„Was will er denn?“, fragt Karola.

„Den Deutschen Radiopreis.“

„Mit seinen Verkehrsmeldungen?“

„Wir machen jetzt auf Enthüllungsjournalismus.“

„Ich hatte mich schon so auf unseren Abend gefreut.“

„Abend?“ Wesemann streckt die Hände nach Karola aus.

„Was soll das denn werden“, fragt Karola, „nur Frauen sind multitaskingfähig. Du bist doch mit deinen Gedanken noch ganz bei deinen Enthüllungen.“

„Stimmt“, sagt Wesemann und zieht Karola an sich.

„Lass den Quatsch“, sagt Karola, „wir brauchen eine neue Wohnung und die bezahlt sich nicht von Luft und Liebe.“

„Man muss doch nicht immer arbeiten.“

„Hol deine Aufzeichnungen, wir machen den Bericht gemeinsam.“

„Vorher oder nachher?“

„Jetzt. Nachher kommst du doch nicht mehr hoch.“

Wesemann seufzt, erhebt sich, holt sein Aufnahmegerät aus dem kleinen Aufnahmestudio und überlegt sich einen Einstieg in den Radiobericht.

„Fang an“, sagt Karola, „schneiden können wir später.“

„Du hast viel gelernt in den letzten Wochen. Hat dir Baxmann schon meinen Job angeboten?“

„Los!“

Karola schaltet den Handrekorder ein.

Kennen Sie Hamelns Partnerstädte? Quedlinburg, Torbay, Saint-Maur-des-Fossés, Kalwaria Zebrzydowska und l’Ondit. – l’Ondit? Nie gehört? Eine idyllische Kleinstadt am Nöléberg. Romantisch gelegen zwischen Coqauvine und Maläsé. l’Ondit ist bekannt und berühmt für seine einmalige Sehenswürdigkeit: den l’Onditer Teppich. Weltkulturerbe! Liegt mitten auf dem Marktplatz und wird viel bestaunt und bewundert. Für die l’Onditer oder l’Onditenser – wie sie sich selber nennen – gibt es kein größeres Vergnügen, als den ganzen Dreck der Stadt unter diesen Teppich zu kehren und alle sehen ihnen dabei zu. Ein großes Spektakel und Vergnügen.

„Toll“, sagt Karola.

„Das ist fantastisch. Viel zu schade für Baxmanns Tingeltangelbude.“

„Hab ich mir jetzt eine kleine Belohnung verdient?“

„Eine große! – Aber erst nach Fertigstellung des Berichts.“

Gerade kommt die Oberbürgermeisterin l’Ondits aus dem Rathaus und schwingt eigenhändig den Besen, um zweihundertachtzigtausend Euro unter den Teppich zu kehren. Sie ist traurig. Den Tränen nahe. Alles war wohldurchdacht und so schön eingefädelt. Neu sollte alles werden, edel, repräsentativ. Die Sanierung ihrer Chefetage wäre im Gesamthaushalt der Stadt niemals aufgefallen, wenn die Mucker nicht die Finger gehoben hätten, um sie bei den Etatberatungen anzuschwärzen. Ade nun, Wohlfühlensemble und Motivationsaccessoires. Der Sanierungsposten für die Chefetage wurde gestrichen. Kleingeister, diesmal habt ihr gesiegt! Doch jeder Politiker kennt sich aus mit EU-Zuschüssen, Subventionen und Ausgleichszahlungen. Schnell beugt die Frau Oberbürgermeisterin das Knie und zieht einige Scheinchen wieder unter dem Teppich hervor – gerade so viel, wie die neue Farbe für die Verschönerung ihres Büros kosten wird. Und noch einen lila Fünfhunderter obendrauf für die neue Schreibtischleuchte.

Doch nichts bleibt verborgen. Ernst-August zu Klüt für radioTOTAL – undercover.

Karola lacht über seinen Ernst-August zu Klüt, und über ihre Belohnung kann sich Wesemann nicht beklagen.

Am nächsten Morgen wird gemeinsam gefrühstückt. Wesemann bringt Karola zum Sender, will sich aber selbst nicht sehen lassen. Ist unsicher, wie sein Bericht angekommen ist.

Es ist so ein schöner Tag, Frühlingssonne, ein Rotkehlchen singt und zweimal „Guten Morgen, Herr Wesemann.“ Er setzt sich auf eine Bank im Bürgergarten mit Rundumblick: gegenüber die ehemalige Reichs- und Landeszentralbank, dann radioTOTAL, Kunstkreisstudio, rechts Rathaus und Weserberglandzentrum. Ihm geht dieser Karnevalsprinz nicht aus dem Kopf. Ein Gedanke im Hintergrund will nach vorn, findet aber nicht den richtigen Einstieg.

Eine junge Frau schiebt ihr Rad durch den Bürgergarten, zieht ihre Winterjacke aus. Bisher konnte sich Wesemann immer auf seine Gehirnwindungen verlassen. Er öffnet sein Laptop, gibt in die Suchmaschine den Namen Dr. Bodo Schobinsky ein. Ergebnis: Schobinsky war ein umtriebiger Geschäftsmann, das geben die aktuellen Zeitungsartikel her. Sein neuestes Großprojekt war die Erschließung einer Mineralquelle im Kurpark von Bad Münder. Aber das Projekt muss irgendwie gehakt haben. Dazu finden sich nur Andeutungen zwischen den Zeilen und plötzlich stocken das Projekt und auch die Berichterstattung. Aus und vorbei.

Wer könnte Genaueres wissen? In Bad Münder? Dazu fällt ihm nur Gerd Ort ein. Ein pensionierter Lehrer. Wesemann ruft ihn an, Gerd Ort kann auf die Schnelle keinen Grund finden, warum er nicht mit Wesemann sprechen sollte, obwohl er mehrmals zu einer Ablehnung ansetzt.

ZWEI

Wesemann macht sich auf den Weg. Unterwegs hält er an einem Kiosk an, um eine Packung After Eight zu kaufen. Man bringt etwas mit, wenn man einen Besuch macht, hat ihm Karola beigebracht. Wesemann kauft zwei Packungen und legt eine ins Handschuhfach.

Gerd Ort trägt die Strickjacke seiner verstorbenen Großmutter auf, so sieht es jedenfalls aus, und der Hund, der sich mit ihm an die Tür geschleppt hat, ringt sich nicht mal ein Bellen ab, verzieht sich lieber gleich wieder in die Wohnung. Als Wesemann das Wohnzimmer betritt, wird ihm sofort der Grund klar. Diese grauweiße Promenadenmischung hat den einzigen einigermaßen bequemen Sessel belegt. Gerd Ort setzt sich in seinen Schaukelstuhl, für Wesemann bleibt nur der bandscheibenfeindliche Brettstuhl mit dem Herzchen in der Lehne. Aber After Eight annehmen und nicht einmal Danke sagen.

„Tja, dieser Dr. Schobinsky“, sagt Gerd Ort, „ein echter Ossi. Mit Bärschermeysdor für Bürgermeister und Schlübber für Unterhose. Ich weiß, wovon ich spreche, hab‘ selbst die ganze bucklige Bagage drüben. Vor der Wende haben sie angestanden für ein Pfund Kaffee oder eine Tafel Schokolade, aber nach der Wende …“

Wesemann macht den Mund auf, um die political correctness wenigstens verbal wiederherzustellen, lässt es dann aber doch. Man soll seinen Informanten nie widersprechen.

„… kamen sie in einem nagelneuen BMW. Ich musste mir bei meinem Schwager einen Mercedes ausleihen, um nicht wie ein Verlierer dazustehen.“

„Und Doktor Schobinsky?“

„Der hatte erst einen Opel, dann einen Alfa und aktuell fuhr er, glaube ich, einen Jaguar. Seine Frau hat einen …“

„Was ist mit der Quelle im Kurpark?“ Wesemann wird allmählich ungeduldig, zumal Gerd Ort nicht mal einen Kaffee anbietet.

„Ach, so“, Gerd Ort lacht, „das Kuckucksei. Darüber weiß ich eigentlich nichts. Offiziell. Aber in offiziell …“

Wesemann steht auf.

„… mein Apotheker hängt mit drin. Setzen Sie sich mal wieder, Wesemann, es wird was Längeres.“ Wesemann hockt sich wieder auf den Stuhl, Gerd Ort greift hinter sich und wirft ihm ein Sitzkissen zu. „In Bad Münder treten auf engstem Raum sieben verschiedene Quellen aus unterschiedlichen Gesteinstiefen zutage.“ Wesemann macht den Mund auf … und wieder zu. „Vier dieser Quellen werden als Heilquellen genutzt: Sole, Eisen, Bitterwasser und Schwefel, glaube ich. Aber seit Jahren munkelt man von einer achten Quelle. Schobinsky ist auf undurchsichtige Weise an ein geologisches Gutachten genau zu diesem Thema gekommen. Die Quelle wurde von ihm unter dem Rhododendronstrauch meines Apothekers lokalisiert und schon war sein Geschäftssinn erwacht. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion, sprich nach dem sechsten oder siebten Klaren, hat Schobinsky dem benebelten Wilhelm-Karsten den Garten abgeschwatzt. Gleich am nächsten Tag waren sie beim Notar und Wilhelm-Karsten ist jetzt den Garten los und seine Frau. Der Garten mit seinen Rhododendrenbüschen war ihr ganzer Stolz. Wo sie jetzt sind, wer weiß … Jedenfalls wollte Schobinsky ordentlich in seine Idee investieren. Eine riesige Bohrmaschine ist angerückt und hat sich in die Erde gefressen.“ Gerd Ort verzieht den Mund zu einem hämischen Grinsen. „Sie sind auch fündig geworden. Eine bisher unbekannte Quelle wurde angestochen und Schobinsky zählte in Gedanken schon die Taler. Doch als das Wasser an die Oberfläche kam, hatte es keine heilende, eher eine abschreckende Wirkung. Die Bauarbeiter wollten kündigen, kein Kunde hat mehr die Apotheke betreten und von den umliegenden Grundstücksbesitzern wurde Schobinsky verklagt. Die Flüssigkeit, die da an die Oberfläche sprudelte, roch so streng nach vergammeltem Fisch und brackigem Meerwasser, dass sie infolge einer einstweiligen Verfügung umgehend geschlossen werden musste.“ Gerd Ort beugt sich vor. „Kann ich dir etwas anbieten? Vielleicht ein Glas Mineralwasser?“

Eigenartiger Humor. Wesemann steht auf. Die Promenadenmischung schnarcht. Gerd Ort bringt Wesemann zur Tür.

Jetzt einen Kaffee. Aber zuerst will er sich die Quelle ansehen, Pflicht vor Kür!

Es kann nur die Apotheke am Kurpark sein. Von einem kleinen Stichweg aus kann er in den Garten der Apotheke sehen. Unspektakulär. Rasen, Wiese, kein Rhododendronbusch, dafür ein Edelstahlrohr, in das mit einiger Anstrengung ein dünner Mann passen könnte, darüber eine Glaskuppel. Wesemann denkt an den Mann in der Kanonenkugel. Mit imponierenden Sechskantmuttern aus Edelstahl am Einfassungsring.

Wesemann schnüffelt. Es riecht ganz leicht nach Rotbarsch und vergammeltem Tang.

Unterhalb der Terrasse ist das Gelände mit Baustelleneisen abgesteckt und mit einem rotweißen Band gesichert.

„Auf der Terrasse möchte ich an lauen Sommertagen trotzdem nicht sitzen“, murmelt Wesemann, „der Herr Apotheker wird froh sein, dass Schobinsky seine Pläne nicht weiter verfolgen kann.“

Wesemann geht weiter zur Straße und dann die drei Steinstufen zur Apotheke hinauf. Eine altmodische Türklingel schlägt an, ist aber nicht zu entdecken. Alles elektronisch heutzutage. Niemand im Verkaufsraum. Von hinten kommt ein großer, schlanker Mann mittleren Alters. Auf der Nase eine randlose Halbbrille und den dunklen Anzug mit einem aspirinweißen Kittel geschützt.

„Sind Sie der Apotheker?“, fragt Wesemann.

„Wilhelm-Karsten Abel.“ Der Mann verbeugt sich leicht.

„Mein Name ist Hubert Wesemann“, Wesemann verbeugt sich nicht. „Ich möchte Sie fragen, in welcher Beziehung Sie zu dem verstorbenen Doktor Bodo Schobinsky gestanden haben.“

„Erstaunlich, dass sich die Polizei noch nicht hat blicken lassen. Ich rechne mit allem: Verdächtigungen, Unterstellungen, Anschuldigungen. Aber Sie habe ich wirklich nicht erwartet, Herr Wesemann. Obwohl Sie doch für Ihre Schnüffeleien bekannt sind.“

Wesemann greift sich ein Salbeibonbon aus dem Probierschälchen. „Dann können wir es sicher kurz machen.“

„Können wir eben nicht. Ich bin von den Medien heruntergeputzt und lächerlich gemacht worden. Ich habe mir geschworen, nie mehr ein Wort über Doktor Schobinsky zu sagen.“

„Ich kann auch einfach senden, was mir so einfällt.“ Das ist doch immer Wesemanns größter Trumpf, um hartnäckige Verweigerer zum Sprechen zu bringen.

Eine ältere Frau kommt zur Tür herein, grüßt. „Einen Augenblick bitte“, sagt Herr Abel und wendet sich in Richtung der rückwärtigen Räumlichkeiten. „Frau Stubbe … könnten Sie bitte kommen!“

Frau Stubbe kommt und Herr Abel führt seinen Besucher in einen kleinen Nebenraum. Raucherzimmer hätte man den Raum inklusive Einrichtung vor fünfzig Jahren genannt.

„Sie können sich sicher denken, dass ich auf Schobinsky nicht allzu gut zu sprechen war.“ Der Herr Apotheker bietet Platz auf einem abgeschabten Sofa an. Bestens geeignet für ein kleines Mittagsschläfchen zwischen eins und drei. „Er hat uns reingelegt, uns um unseren schönen Garten betrogen. Meine Frau hat es nicht ertragen, sie hat den unglücklichen Ort verlassen und mich leider auch. Der Mann war mit allen Wassern gewaschen und nur auf seinen Vorteil bedacht. – Nun ist er tot und ich habe immer noch diese grässliche Quelle im Garten.“

„Wenn er so geschäftstüchtig gewesen ist, wird er die Quelle doch nicht einfach aufgegeben und das ganze investierte Geld in den Wind geschrieben haben!“

„Er hatte noch Großes mit dieser ekelhaften Quelle vor. Großes! Doch darüber weiß ich nichts, wir haben uns nur noch über unsere Anwälte unterhalten.“

Wesemann gähnt leicht. Vielleicht hätte er den Kaffee doch vor dem Besuch trinken sollen.

„Wer könnte denn etwas über seine Pläne wissen?“

„Na, wer weiß denn was über geschäftliche Großprojekte?“, höhnt Apotheker Abel, „die Banken natürlich. Wenn wir kleinen Geschäftsleute kommen und um einen Kredit bitten, schlagen sie uns die Tür vor der Nase zu. Aber für einen Doktor Schobinsky wurde der rote Teppich ausgerollt.“

„Wissen Sie zufällig, wo der Teppich hinführte?“

„Sie sind wirklich ein origineller Mensch, Herr Wesemann. Ich habe heute Morgen schon Ihren Bericht im Radiosender gehört. l’Ondit – ts, ts, ts.“

„Die Bank!“

„Ich würde an Ihrer Stelle bei der TWH-Bank in Hannover nachforschen.“

Wesemann nimmt sich noch zwei Hustenbonbons aus einer ramponierten Faltschachtel und verabschiedet sich.

Der weiß noch eine Menge über Schobinsky, überlegt Wesemann, als er zurück zum Auto unterwegs ist. Wenn er auspacken würde, müsste Wesemann sicher ein paar neue Karteikästen für die Buchstaben SCH anschaffen. Oder eine neue Datei im Computer anlegen.

Bei der erstbesten Bäckerei mit einem Stehcafé hält Wesemann. Der Kaffee ist nicht schlecht und Wesemann ruft bei der Bank in Hannover an. Die Telefonzentrale verweigert die Weiterleitung. Er soll seine Telefonnummer hinterlassen, die Pressestelle würde zurückrufen. So wird das nichts, Wesemann!

Er sitzt allein zu Hause. Wie ist das denn nun wieder gekommen? Er hatte doch was Gemeinsames geplant, aber dann hat Karola irgendetwas von früh zu Bett gehen und morgen anstrengender Tag gesagt, ist gegangen und hat Wesemann auf seiner Couch mit einer Flasche Bier zurückgelassen. Er trinkt einen Schluck aus der Flasche, steht auf und geht ins Bad. Beim Händewaschen schaut er in den Spiegel. Gefällt er sich? Haare waren noch nie seine Freunde. Ob er sich ein Toupet zulegen solle? Lächerlich. Baxmann hat ein Toupet. Das ist ihm mal beim Golfspielen vom Kopf geflogen. Seine Golffreunde haben ein Schild gemalt und an einen Baum genagelt: Achtung, tief fliegender Fiffi. Hört auf den Namen Baxi. Nicht besonders origineller Witz! Aber Baxmann ist damit in die Vereinsgeschichte eingegangen.

Die Haut um die Augen wirft Falten, zu wenig Vitamine und zu viel Kaffee. Hat Karola gesagt. Er könnte sich Wasser in die Wanne laufen lassen und ein Entspannungsbad gönnen. Die Flasche mit dem Badezusatz ist leer. Außerdem hat er jetzt keine Lust aufs Baden. Er könnte in eine der vielen Gastwirtschaften in der Innenstadt gehen und etwas essen. Zu viel Aufwand und zu weit.

Er schlurft zurück zur Couch. Sollte er sich vielleicht gleich ins Bett legen? Zu früh! Er könnte anrufen. Irgendjemanden. Seinen Sohn. Das wird nichts. Zwei Männer, zwei Welten und kein gemeinsames Thema. Oder Karola?

Der Wetterbericht im Fernsehen. Kalt, aber nicht richtig kalt, Schnee, aber kein richtiger Schnee und keine Besserung in Sicht. Er fühlt die Leere in seinem Kopf. Karola. Einfach jemanden zum Reden. Das ist doch nicht zu viel verlangt. Wenn Karola nicht will … er könnte mal wieder bei Lina in Bad Pyrmont anrufen. Ein Lächeln macht sich breit, wenn er an Lina denkt. Aber das Mobilteil des Telefons liegt irgendwo in seiner Wohnung. Und mit Lina wäre auch nichts gewonnen. Er müsste bloß früher aufstehen und jeden Tag mit ihr zum Großmarkt fahren.

Als er sich endlich aufraffen kann, ins Bett zu gehen, liegt er da mit offenen Augen und ist hellwach. Dieser Karnevalsprinz. Ihre Tollität. Wohnt in Rinteln, so viel hat ihm sein Archiv nun doch verraten. Rinteln, Oldendorf – Oldendorf, Rinteln. Das konnte doch nicht gut gehen. Und dann noch einer von drüben.

Am nächsten Morgen nochmals rein ins Internet. Eingeschleppt wurde der Karneval-Virus in Hessisch Oldendorf 1966 durch die stationierten niederländischen Soldaten. Der Vereinsvorsitzende ist Torben Kirschbaum. Getränkegroßhändler. Wesemann schaut aufs Datum. Stand Februar 2004. Aber so etwas ändert sich nicht so schnell. Kirschbaum wohnt in Welsede, rechts von der B 83. Wesemann recherchiert die Adresse und fährt hin.

Der Getränkemarkt liegt da, wo Getränkemärkte gern liegen. Am Rande der Ortschaft. An der Kasse sitzt eine magere Endfünfzigerin. Die Angestellte hat seine Frau für ihn ausgesucht, geht es Wesemann durch den Kopf, oder es ist seine Frau. Er fragt nach Herrn Kirschbaum. Bevor die Magere antworten kann, tritt ein stattlicher Mann zwischen den gestapelten Getränkekästen hervor. Die Magere steckt sich eine Zigarette an und widmet sich einem Romanheftchen.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragt Kirschbaum. Dabei stapelt er herumstehende leere Kästen zu einem neuen Turm auf.

„Sie sind doch der Vorsitzende der Blauen Veilchen Oldendorf?“

„Der bin ich. Und Sie?“

„Hubert Wesemann, radioTOTAL!“

„Ach, der! – Traurig, traurig …“, sagt Kirschbaum.

Wesemann hebt eine Augenbraue.

„… dass man sein Geld mit Schleichwerbung verdienen muss. Oder ist Ihr Bericht über den Teppich in Dingens etwa nicht von Kibek bezahlt worden?“

„Hat Sie der tragische Tod des Karnevalsprinzen nicht erschüttert?“

„Natürlich, aber damit gehe ich nicht hausieren.“

„Mich würde interessieren, wie Schobinsky in dieses ehrenvolle Amt des Karnevalsprinzen berufen wurde.“

„Ganz einfach, er wurde gewählt.“

„Er kam doch aus Rinteln, hatte er denn so viel Reputation in Oldendorf?“

„Sie können aber schwere Wörter.“ Kirschbaum lacht, und die Magere hustet.

„Oder hat er ein bisschen nachgeholfen, wie das in den Hochburgen des Karnevals doch auch nicht unüblich ist.“

„Davon weiß ich nichts, ich bin nur für das leibliche Wohl der Karnevalisten zuständig. Um Kasse und Brauchtum kümmert sich Doktor Vonderheiden.“

„Doktor Vonderheiden?“

„Der praktische Arzt …“

Die Magere hustet.

„… mit Praxis in Oldendorf.“

„Danke!“ Wesemann verabschiedet sich mit Handschlag. Den Handschlag wird er sich merken und beim nächsten Treffen seine Hand nicht so schnell zum Zerquetschen freigeben.

„Wollen Sie nicht wenigstens eine paar Flaschen Bier mitnehmen, damit sich meine vergeudete Arbeitszeit noch ein wenig gelohnt hat?“

„Ich hab noch eine Flasche im Keller. Null Komma drei drei!“

Kirschbaum schüttelt den Kopf, Wesemann grinst beim Hinausgehen, aber seine Hand tut saumäßig weh.

Wesemann fährt nach Hessisch Oldendorf. Die Parkplätze vor Dr. Vonderheidens Praxis sind natürlich alle belegt und drinnen sieht es auch nicht besser aus.

Zwei Patienten melden sich vor ihm am Empfang an, dann steht er vor der Sprechstundenhilfe. Sie schaut nur kurz auf. „Karte, zehn Euro, waren Sie schon einmal bei uns?“

„Ich bin nicht krank.“

Jetzt schaut ihn die Sprechstundenhilfe direkt an.

„Ich möchte Doktor Vonderheiden sprechen.“

„Haben Sie es mal im Comedy-Club versucht?“

Neue Patienten warten bereits hinter Wesemann, lachen aus Solidarität über den Witz der Sprechstundenhilfe. Damit kommen sie auch nicht schneller voran. Alles geht der Reihe nach.

„Ich bin Journalist und mache einen Bericht über die traditionellen Wurzeln des Oldendorfer Karnevals.“

„Warum haben Sie das nicht gleich gesagt!“ Die Sprechstundenhilfe steht auf, überlegt kurz. „Wenn Sie bitte einen Augenblick im Lesezimmer Platz nehmen möchten.“

„Lesezimmer?“