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Eine Schießerei am Steintor. Fast zeitgleich ein Überfall mit Geiselnahme am Raschplatz. Kriminalkommissarin Marike Kalenberger muss mit einem jungen Beamten hin, gerät in die Schusslinie des Geiselnehmers, sie und ihr Kollege werden getroffen. – Nach längerer Dienstunfähigkeit will Kalenberger wieder ihren Dienst aufnehmen, wird erbarmungslos gemobbt, erleidet ein Burn-out-Syndrom und wird arbeitsunfähig. Da verschwindet Pia, die beste Freundin ihrer Tochter. Pia wollte sich nach Hannover absetzen und hat angeblich den Mann ihres Lebens kennen- gelernt, einen polnischen Eishockeyprofi. Toll aussehend, fantastische Wohnung, viel Geld und ein aufsehenerregendes Auto. Der Mann wird brutal ermordet. Kalenberger will keinen neuen Fall und ermittelt nur widerwillig. Doch dabei gerät sie immer tiefer in die Loverboy-Szene. Sie bringt sich und andere in tödliche Gefahr. Emotionale Abhängigkeit zwischen Prostituierten und Zuhältern hat es immer schon gegeben. Frauen werden durch Drogen, Gewalt, auch durch Zuneigung hörig gemacht, damit sie funktionieren. Dass aber junge Männer systematisch nach Schulmädchen suchen, um sie zu Huren heranzuziehen, ist ein bisher unbekanntes Phänomen, das Eltern, Lehrer und Polizei überfordert. DER SPIEGEL 27/2010
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Veröffentlichungsjahr: 2012
Im Verlag CW Niemeyer sind bereits
folgende Bücher des Autoren erschienen:
Das letzte Lied
Tödlicher Wind
Mord auf dem Schützenfest
Bittere Medizin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de
© 2012 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln
www.niemeyer-buch.de
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Carsten Riethmüller
unter Verwendung eines Motivs von shutterstock.com
Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel
Printed in Germany
ISBN 978-3-8271-9455-8
E-Book-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
E-Book ISBN 978-3-8271-9820-4
Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Stätten von Hannover, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Über den Autor:
Günter von Lonski wurde 1943 in Duisburg-Laar geboren. Er studierte an der Hochschule der Künste in Berlin. Seit 1981 schreibt er Romane, Krimis, Jugend- und Kinderbücher, Hörspiele, Kurzgeschichten, Glossen, Satiren und Schulbuchbeiträge. 2010 erhielt er den Rolf-Wilhelms-Litera turpreis der Stadt Hameln. Günter von Lonski ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in der Nähe von Hannover. Er ist außerdem Autor von bereits drei erschienenen Weserbergland-Krimis „Das letzte Lied“, „Tödlicher Wind“ und „Bittere Medizin“, in denen der akribische Journalist Hubert Wesemann ermittelt – spannend, unterhaltend, mit einem Schuss Humor und Ironie. „Eis!“ ist nach „Mord auf dem Schützenfest“ der zweite Hannover-Krimi aus der Feder von Günter von Lonski.
Mehr über Günter von Lonski und seine Aktivitäten erfahren Sie unter www.vonlonski.net
Nichts ist trauriger als eine Frau, die sich aus anderenGründen auszieht als für die Liebe.
Juliette Gréco
Es war ihr, als müsste sie lachen. Das Skalpell in der Hand des Chirurgen zitterte leicht, zwei Schweißtropfen fielen von seiner Stirn auf ihren Bauch. Wenn sie gewusst hätte, was ihr bevorstand, hätte sie sich am Morgen andere Unterwäsche angezogen.
„Sie bleibt weg!“ Eine Stimme aus dem Hintergrund. Der operierende Arzt richtete sich auf, sah auf die Bildschirme neben dem Operationstisch.
Sie blieb nicht weg, sie war doch da. Ein bisschen außerhalb ihres Körpers vielleicht. Er hätte nur seine Hand nach ihr ausstrecken müssen, um sie zu berühren. Sie, nicht ihren Körper. „Die wird nicht mehr!“ Es war ihr ganz recht, dass er nicht nach ihr griff. Alles war so leicht und schwerelos geworden. Frieden und Leichtigkeit von ungeahntem Ausmaß. Mit dieser aufgeschnittenen, blutverschmierten Hülle unter dem grünen Laken wollte sie nichts mehr zu tun haben. Alles sollte so bleiben, wie es war. „Noch ein Versuch!“ Wozu? Sie wollte sich jetzt auf den Weg machen. Wie eine weiße Sonne stand das gleißende weiße Licht mitten im Raum und zog sie magisch an. Eine Stimme rief nach ihr. Ihre Mutter. Es wurde Zeit, ihr zu folgen. „Auf drei!“ Harte kalte Hände griffen nach ihr und zwangen sie mit Gewalt zurück in ihren Körper.
Vier Wochen Klinikaufenthalt. Dann wochenlange Rehabilitation im Teutoburger Wald. Zeit genug für Marike Kalenberger, über alles nachzudenken. Immer wieder. Ein Donnerstag im April. Sie hatte sich in den Fall der jugendlichen Handy-Abgreifer in Hannovers U-Bahn-Stationen vertieft. Im Rotlichtviertel am Steintor kam es zu einer Schießerei. Alle, die kein amtsärztliches Attest wegen körperlicher Gebrechen vorlegen konnten, mussten raus. Kalenberger hatte beginnende Arthrose im rechten Kniegelenk und zwei Halswirbelvorfälle zu Protokoll gegeben. Gar nicht mal so schlecht für eine Frau Mitte fünfzig, hatte der Arzt gesagt. Seit Jahren war sie von Einsätzen freigestellt, die absolute körperliche Fitness verlangten. Aber dann die Alarmmeldung von der Einsatzzentrale. Überfall auf einen Juwelier am Raschplatz. Mit Geiselnahme. Die letzten Einsatzkräfte wurden mobilisiert. Ein sehr junger Kollege wurde ihr zugeteilt. Er musste sie sogar daran erinnern, ihre Waffe mitzunehmen.
Der Geiselnehmer hatte sich in der Tiefgarage eines Kinos verschanzt. Eine bedrückende Situation, die tiefen Decken, wenig Licht, jedes Geräusch vervielfachte sich.
Er forderte einen Fluchtwagen. Ein Einsatzteam war bereits vor Ort und führte die Verhandlungen. Der Fluchtwagen sei bereits unterwegs.
Kalenberger würde sich raushalten. Nur Präsenz zeigen. Sie spürte, wie die Situation den jungen Kollegen in Erregung versetzte. Wie hieß er noch gleich? Sie duckte sich in seiner Nähe, um ihn notfalls zurückhalten zu können. Jetzt fiel ihr sein Name wieder ein. Weidlich. Dirk Weidlich. Man musste abwarten, wie sich die Lage entwickelte.
Plötzlich riss sich die Geisel los und versuchte, den Polizeiwagen zu erreichen. Der Geiselnehmer kam hinter der schützenden Autotür hervor, um auf den Flüchtenden zu schießen. In diesem Augenblick sprang Weidlich mit gezogener Waffe auf. Der Geiselnehmer zielte sofort auf ihn. Kalenberger schrie „Nein!“, richtete sich ebenfalls auf, und im gleichen Augenblick fielen zwei Schüsse und dann noch einer. Aber den hörte Kalenberger nur noch aus weiter Ferne.
Nach einem knappen halben Jahr war sie wieder zum Dienst erschienen. Hatte sich sogar auf die Kollegen und ihre Arbeit gefreut. Ein Strauß Tulpen stand auf ihrem Schreibtisch. Aber sonst? Immer noch den Fall der jugendlichen Handy-Abgreifer auf dem Tisch. Brannte wohl nicht unter den Nägeln. Keine besondere Begrüßung. Kein: Schön, dass du wieder da bist. Niemand schien sie vermisst zu haben. Auf dem Flur ging man ihr aus dem Weg. In der Teeküche wurde sie ignoriert. Es waren auch viele neue Gesichter. In der Kantine setzte sie sich bewusst an einen Tisch mit mehreren Kollegen. Einige kannte sie. Innerhalb weniger Minuten beendeten die Kollegen ihre Mahlzeit und räumten den Tisch.
Was sollte das? Sie hatte keine besondere Belobigung erwartete, hätte sie auch gar nicht gewollt. Sie hatte doch nur getan, was getan werden musste, um den jungen Kollegen zu schützen. Sie hatte sich immer wieder nach ihm erkundigt. Eine Kugel im Oberarm. War komplikationslos entfernt worden. Hatte nach ein paar Wochen die Arbeit wieder aufnehmen können. Er hatte sie nicht besucht, sich nicht einmal bei ihr gemeldet. Vielleicht waren die Tulpen von ihm? Kalenberger wollte ihm in die Augen sehen und die Hand schütteln. Ein solcher Einsatz schweißt zusammen. Sie rief die Personalabteilung an, Weidlich hatte ein paar Tage freigenommen.
Und Urs Obanczek, ihr Teamkollege? Hatte längere Zeit vor ihrem Einsatz einen schweren Autounfall, war aber auf dem Weg der Besserung. Während ihrer Abwesenheit hatte er seine Arbeit wieder aufgenommen, war dann aber erneut erkrankt. Bei seinem Klinikaufenthalt hatte er sich mit MRSA, den multiresistenten Bakterien, infiziert. Er würde für längere Zeit ausfallen.
Kalenberger fühlte sich, als säße sie allein auf einem Stein mitten im Meer. Außerdem hatte sie Schmerzen. Die Schusswunde war gut verheilt, aber gelegentlich durchfuhr sie ein stechender Schmerz, den sie nicht genau lokalisieren konnte. Sie wollte ein paar Worte mit Daria wechseln, sich einfach mal bei ihr sehen lassen. In Darias Büro saß eine unbekannte Kollegin, die kaum von ihrem Bildschirm aufsah. Frau Schmitz-Erdal wäre in Elternzeit. Nein, ihre private Telefonnummer hätte sie nicht, Kalenberger sollte sich an die Personalabteilung wenden.
Ein paar Tage versuchte Kalenberger, in der Polizeidirektion Waterloostraße wieder Fuß zu fassen. Sie wollte ihren Beobachtungen und Empfindungen nicht einfach trauen. Vielleicht waren die Kollegen zu sehr eingespannt, um ihr mit Aufmerksamkeit zu begegnen. Sie war auch ziemlich lange ausgefallen, da ändern sich die Beziehungen. Doch dann war da diese Hagere aus der Sitte, noch immer in ihrer dunkelblauen Strickweste. Auf der Toilette sah sie Kalenberger im Spiegel an, schüttelte den Kopf und ging. In der Tür drehte sie sich noch einmal kurz um. „Dass Sie sich überhaupt noch unter Kollegen trauen!“
Erst hatte Kalenberger den Satz gar nicht auf sich bezogen, doch sonst war niemand in der Toilette. Dann konnte sie ihn nicht einordnen. Benommen ging sie an ihren Arbeitsplatz zurück, grübelte den ganzen Tag und auch den folgenden und meldete sich dann zu einer Besprechung bei ihrem Vorgesetzten.
„Schön, dass Sie wieder bei uns sind!“ Paul Nisalski, erster Kriminalhauptkommissar, war mit weit vorgestreckter Hand auf sie zugeeilt, als sie sein Büro betrat. Sie spürte seine Verlegenheit. Kalenberger nahm seine Hand, setzte sich dann, wusste nicht, wie sie anfangen sollte. Entschied sich gegen Floskeln und wählte den direkten Weg:
„Warum werde ich gemobbt?“
„Wie kommen Sie denn darauf?“ Die trommelnden Finger von Nisalskis linker Hand signalisierten Nervosität. Bestimmt würde gleich, wie verabredet, sein Telefon klingeln und ihn seine Sekretärin an einen unaufschiebbaren Termin erinnern.
„Gibt es irgendeine Beschwerde gegen mich?“
Das Telefon klingelte, Nisalski nahm den Hörer auf und bevor er noch ein Wort sagen konnte, erhob sich Kalenberger und verließ sein Büro.
Es lag etwas in der Luft, das sie nicht fassen konnte. Wie eine dunkle Krake schienen klebrige, schleimige Tentakel nach ihr zu greifen. Sie hatte wieder Schmerzen im Einschussbereich. Sie brauchte Klarheit, sonst würde sie keinen Boden unter die Füße bekommen. Nicht zwischen Unterstellung und Bedrohung unterscheiden können. Wer würde ihr Auskunft geben?
Den Nachmittag verbrachte sie grübelnd in ihrem Büro. Sie versuchte mit drei, vier Anrufen einen Kontakt zu vertrauten Kollegen herzustellen. Doch kaum hatte sie ihren Namen ausgesprochen, spürte sie die Versteinerung auf der anderen Seite. Sie verlor den Mut, nachzufragen.
Schließlich nahm sie ihre Tasche, packte ihre Plastikdose mit den Apfelspalten hinein und fuhr den Computer herunter.
Sie lief die Treppe hinunter, Petra am Empfang wünschte ihr einen schönen Feierabend, und war schon fast am Parkplatz, als ihr eine mögliche Lösung einfiel. Wer wusste am meisten über Gerüchte, desolate Finanzlagen und zerbrochene Ehen?
Sie ging zurück, stellte sich zu Petra an den Tresen und nahm ihren Notizblock aus der Tasche, damit es nach einer offiziellen Nachfrage aussah.
„Petra, Sie sind immer geradeheraus.“
„So sagt man. – Schönen Feierabend, Herr Holtmann!“
„Was wirft man mir vor?“
„Tja, was wirft man Ihnen vor. – Bis morgen, Frau Sawade!“
„Ich muss es wissen, sonst geh’ ich kaputt.“
„Ich hab’ in einer halben Stunde Feierabend. Wir könnten uns im Caffè Casa am Neustädter Markt treffen. Ich hab’ aber nicht viel Zeit. – Schönen Feierabend, Herr ähhh … – ich muss noch fürs Abendessen einkaufen.“
Einmal Milchkaffee und einen Latte macchiato. „Ich will mir nicht den Mund verbrennen …“
Kalenberger sah, wie unangenehm Petra sich in der Situation fühlte. „Bleibt alles unter uns.“
Die beiden Kaffees werden gebracht.
„Nach dem, nun ja, Zwischenfall im Parkhaus vom Cinemaxx hat man sich in großer Runde zusammengesetzt. Der Chef dachte an einen Präsentkorb für dich oder einen Gutschein für die Markthalle. Doch Weidlich soll sich eingemischt haben. Im Parkhaus hättest du keineswegs sein Leben gerettet, es sei vielmehr umgekehrt gewesen. Dein zögerliches Eingreifen hätte ihn gezwungen, sich ohne ausreichenden Schutz in die Schusslinie des Geiselnehmers zu werfen, um dich zu schützen. Mehr weiß ich auch nicht.“
Petra beobachtet die vorbeilaufenden Menschen auf der Straße, sie möchte wohl nicht mit Kalenberger gesehen werden.
„Außerdem muss ich jetzt gehen, sonst gibt’s nur trocken Brot zum Abendessen.“ Petra steht auf, Kalenberger gibt ihr die Hand, übernimmt die beiden Kaffees. Petra geht, Kalenberger setzt sich wieder und bestellt einen doppelten Grappa.
Weidlich, dieser Mistkerl. Natürlich haben ihm alle geglaubt. Bei ihrer Arthrose und den Wirbelvorfällen. Sie war in ihrem ganzen Berufsleben immer ehrlich mit ihren Kollegen umgegangen. Doch die Uhren tickten heute anders, es war eine neue Zeit. Weidlich sucht die Bewunderung der jungen Kollegen und vor allem Kolleginnen und – er will Karriere machen.
Einige Tage läuft noch alles normal. Vor der Arbeit versorgt Kalenberger ihren dreibeinigen Kater Toto. Die Nachbarin mit den Zwillingen hat einen Schlüssel zu ihrer Wohnung und in ihrer Abwesenheit Toto liebevoll versorgt. Nach einem kleinen Frühstück fährt sie in die Waterloostraße, parkt ihr Auto auf dem angestammten Platz, fährt in ihr Büro hinauf und stellt den Computer an. Sie versucht, sich zu konzentrieren, weiß nicht worauf, kann auch nicht feststellen, was sie ablenkt. Eigentlich möchte sie den ganzen Tag zum Fenster hinausschauen und den Wolken mit den Augen folgen.
In der ersten Zeit sind ihr die herablassenden Blicke der Kollegen noch unangenehm, doch dann sind sie ihr egal. Ihr ist alles egal. In der Kantine belädt sie ihr Tablett mit fast allem, was angeboten wird, setzt sich an einen freien Tisch mitten im Raum, verharrt einige Minuten und entfernt sich dann wieder, ohne etwas gegessen zu haben.
Sie fühlt sich leer, verbraucht und völlig nutzlos. Der Chef fragt nach Fortschritten im Fall der Handy-Abgreifer. Kalenberger kann die Akte erst nach längerem Suchen in einer Schublade finden, im Computer sind die Daten ohne verwertbares Suchwort abgelegt. „Keine Fortschritte“, meldet sie dem ersten Kriminalhauptkommissar. Dann steht sie auf und geht. Schließt weder den Internetordner, noch die Schreibtischschublade und vergisst sogar ihren Mantel.
Wie in Trance fährt sie nach Hause. Toto kann sein Glück gar nicht fassen, springt auf seinen drei Beinen etwas unbeholfen an ihrem Hosenbein hoch, mauzt und setzt sich einladend in die Sofaecke, um mit Frauchen zu schmusen.
Doch Kalenberger mag jetzt keine geschlossenen Räume, sie muss raus. Sie setzt Toto in ihre Umhängetasche, sucht ihren Mantel, findet ihn nicht und nimmt eine warme Jacke. Sie zieht die Wohnungstür hinter sich ins Schloss, ohne zu kontrollieren, ob sie ihre Schlüssel eingesteckt hat. Fast automatisch tragen sie ihre Füße in Richtung ihres Zufluchtsorts – Engesohder Friedhof. Ihre versteckte Bank hinter dem Mausoleum. Sie muss sich fangen und finden. Kaum hat sie sich gesetzt, da kann sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie weint fast lautlos, nur unterbrochen von gelegentlichen Schluchzern.
Toto streckt seinen Kopf aus der Tasche, scheint mit der Situation nichts anfangen zu können, verzieht sich wieder ins Innenfutter, hält es nicht aus, hangelt sich aus der Tasche heraus und schmiegt sich in Kalenbergers Schoß. Unbewusst streckt sie die Hand nach ihm aus und vergräbt sie in seinem seidenweichen Fell. Sie kann einfach nicht aufhören zu weinen.
Ein junger Friedhofsgärtner erspäht sie durch eine Buschreihe. Die stille Frau, die immer so freundlich grüßt. Heute stimmt irgendetwas nicht mit ihr.
Er stellt seine Schubkarre ab, geht um die Buschreihe herum und bleibt in einigem Abstand stehen. Er ist sehr verlegen, weiß nicht mit der Situation umzugehen. Nähert sich vorsichtig. Hüstelt, verzieht das Gesicht zu einem Lächeln und sieht sie fragend an.
Kalenberger reagiert nicht. Sie hat die Augen geschlossen, Tränen laufen ihr über die Wangen.
Der junge Friedhofsgärtner hüstelt erneut, diesmal schon ein wenig lauter. Er will sie nicht in ihrer Trauer stören, denkt kurz nach. In den letzten Tagen sind keine Beerdigungen angefallen. Und im Friedhofsamt am Eingang sind auch keine neuen angemeldet worden.
Hinter der Tasche auf ihrem Schoß lugt der Kopf einer Katze hervor. Er müsste einschreiten, es ist verboten, Haustiere auf den Friedhof mitzubringen. Obwohl, so eine kleine Katze … jetzt mauzt sie und es hört sich nicht allzu übermütig an.
Noch zwei Schritte vor. „Soll ich der Katze ein wenig Wasser bringen?“ Wenn das sein Chef wüsste!
Die Frau schlägt die Augenlider auf, scheint durch den jungen Mann hindurchzusehen. Mechanisch streichelt sie das Fell der Katze.
„Ist Ihnen nicht gut?“ Verlegen wischt er seine Hände an der grünen Hose ab. „Soll ich einen Krankenwagen rufen?“
Ganz langsam wendet die Frau ihr Gesicht in seine Richtung. Fast unmerklich schüttelt sie den Kopf.
„Na, dann …“, sagt der Friedhofsgärtner und will sich zurückziehen. Doch irgendetwas sträubt sich in ihm, die Frau auf der Bank allein zurückzulassen. Es ist noch viel zu frisch, um stundenlang im Freien zu sitzen. Sie wird sich eine Erkältung holen. Seine Mutter hatte oft eine Blasenentzündung, weil sie einer Erkältung zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Sehr unangenehm und langwierig.
„Wohnen Sie hier in der Nähe?“ Die Frage ist ihm spontan eingefallen. „Dann rufe ich meinen Chef an und bringe Sie rasch nach Hause.“
Er nähert sich wieder der Bank. „Elkartallee.“ Es ist nur ein Flüstern.
Schon hat der junge Mann sein Handy am Ohr. Er müsse für eine halbe Stunde den Friedhof verlassen. Eine dringende Familienangelegenheit. Er setzt die Katze in die Tasche, hängt sich die Tasche über die Schulter. „Dann wollen wir mal“, sagt er aufmunternd, doch Kalenberger bewegt sich nicht. Er muss sie am Ellbogen fassen und sie beim Aufstehen unterstützen. Dann steht sie. Der junge Mann hängt ihren Arm in seinen ein und geht langsam einen Schritt voran. Kalenberger läuft mechanisch mit. Sie hat keine Tränen mehr, nur noch dieses Schluchzen tief aus ihrer Seele, die dem jungen Friedhofsgärtner richtig Angst macht. Er redet pausenlos, vom Wetter, den vielen Autos und den Tauben auf den Dächern. Mehrmals fragt er nach der Hausnummer, doch seine Fragen kommen bei ihr nicht an.
In der Elkartallee werden seine Schritte immer zögerlicher. Wie soll er ihre Wohnung finden. Er kann doch nicht einfach irgendwo klingeln.
Eine Frau nimmt aus dem Kofferraum ihres Autos zwei Einkaufskörbe, schließt die Schlösser des Autos mit der Fernbedienung und dreht sich um. „Frau Kalenberger, ist Ihnen nicht gut?“
Mit ihrer Hilfe bringt der junge Friedhofsgärtner die verstörte Frau in ihre Wohnung. Die Frau mit den Einkaufstüten stellt sich als Nachbarin vor. Sie wird sich um Frau Kalenberger kümmern, der junge Friedhofsgärtner kann zurück zu Karre und Harke eilen. Am Kiosk wird er sich auf den Schrecken noch rasch eine Cola gönnen.
Kalenberger lässt sich von der Nachbarin auf die Couch helfen. Sie wird zugedeckt und schläft augenblicklich ein.
Ein Telefon klingelt. Irgendwo. Lass es klingeln. Du warst schon so weit weg. Das Klingeln verstummt, setzt kurze Zeit später wieder ein. Näher. Es ist nicht das Telefon, es ist ihr Handy. Ihr Privat-Handy. Niemand von der Dienststelle kennt ihre Privatnummer. Also keine nervigen Kollegen. Sie schlägt die Augen auf. Das Licht blendet. Wie lange hat sie geschlafen. Eigentlich müsste jetzt Nacht sein. Sie schaut auf die Uhr über der Tür. Siebzehn nach drei.
Kalenberger schiebt die Beine von der Couch, stemmt sich mit den Händen am Polster ab und richtet sich auf. Auf dem Tisch steht eine Flasche Mineralwasser und daneben ein Glas. Sie ist so kraftlos, sie wird die Flasche nicht öffnen können. Das Klingeln bricht ab. Die Erinnerung kehrt zurück. Frau Rohrbach hat ihr auf die Couch geholfen und war sicher so fürsorglich, den Verschluss der Flasche anzudrehen. Mit beiden Händen hält Kalenberger die Flasche, als sie sich Wasser ins Glas gießt, und schüttet doch einen Schwall daneben.
Sie trinkt, hält einen Augenblick inne, trinkt wieder, sie muss fast vierundzwanzig Stunden geschlafen haben. Das Wasser tut ihr gut. Wieder setzt das Klingeln des Telefons ein. Vielleicht kann Frau Rohrbach nicht herüberkommen und will sich nach ihrem Gesundheitszustand erkundigen. Zwillinge in dem Alter von Lasse und … ihr fällt der zweite Name nicht ein … lassen ihren Müttern kaum eine Chance, ihre Zeit selbst einzuteilen.
Kalenberger nimmt das Gespräch an. Aylin, die uneheliche Tochter ihres verstorbenen Mannes mit einer anderen Frau. „Wie geht es dir?“, fragt Aylin, „ich dachte schon, du bist verreist.“
Kalenberger lässt sich wieder auf die Couch fallen, schließt die Augen.
Aylin erwartet nur eine kurze Antwort: „Bist du noch da?“
„Ja.“
Dann erzählt sie. Sie geht mit Pia in die gleiche Jahrgangsstufe. Allerdings ist Pia schon ein paar Jahre älter. Oder war sie jünger? Kalenberger kann sich nicht konzentrieren. Jedenfalls ist Pia verschwunden. „Pia Sauer, ich habe dir von ihr erzählt. Schon ein paar Mal. Sie ist wahnsinnig cool drauf. Duzt die Lehrer, kommt mit riesen Ausschnitt zum Unterricht und ab und zu verschwindet sie einfach von der Bildfläche. Bist du eingeschlafen?“
„Nein“, flüstert Kalenberger.
„Meist steckt ein Kerl dahinter, aber dann ist sie auch nach ein paar Tagen wieder da. Sie will sich noch nicht binden. Blöde Ausrede für einen Liebes-Flop. Aber jetzt … also, ich mach’ mir richtige Sorgen. Sie hat da von einem Typen gesprochen, mit dem sie sich nach Hannover absetzen wollte. Angeblich ein russischer oder polnischer Eishockeyprofi. Sie war auch mal eine Weile Cheerleader bei den Hamburger White Angels. Petczik, Petschak oder so. Wahnsinnig gut aussehend, viel Geld und tolles Auto. Normalerweise ruft sie mich zwischendurch immer mal wieder an. Aber diesmal – absolute Funkstille. Hörst du mir überhaupt noch zu … hallo, Marike. Marike …?“
Kalenberger ist wieder eingeschlafen, das Handy ist ihr aus der Hand gefallen.
Am nächsten Morgen rafft sich Kalenberger auf, versorgt Toto, duscht und macht sich nach einer halben Scheibe Toastbrot mit Quittenmarmelade auf den Weg ins Büro. Doch im Treppenhaus hält sie an, geht noch einmal in die Wohnung zurück, steckt Toto in die Umhängetasche und nimmt ihn mit.
Sie parkt auf ihrem angestammten Parkplatz, stellt den Motor ab und öffnet die Tür. Jetzt wird sie die Beine auf den Asphalt stellen und sich aufrichten. Doch die Beine versagen ihren Dienst. Sie kann nicht aussteigen. Oder will sie es nicht? Die Beine zittern, ihre Finger verkrampfen sich um das Lenkrad, Toto mauzt ganz leise in der Tasche auf dem Beifahrersitz. Nun werd’ nicht albern, Kalenberger, steig’ aus und geh’ in dein Büro. Du hast schon so viel in deinem Leben durchgestanden, dann wirst du vor dieser Situation auch nicht kneifen. Die Narbe auf ihrem Bauch schmerzt. Kalenberger mobilisiert alle Kräfte, doch ihre Beine lassen sich nicht bewegen. Zwei Kolleginnen gehen vorbei, schauen ins Auto, ohne ihr angeregtes Gespräch zu unterbrechen, und laufen weiter auf den Eingang des Polizeigebäudes zu. Jetzt, Kalenberger, geh’ hinterher, lass dich nicht abhängen!
Kalenberger schließt die Wagentür. Sie hat vor längerer Zeit in einem Seminar Entspannungsübungen erlernt. Konzentrier’ dich! Womit fängt man an, mit der Schulter oder dem Rücken? Zuerst bewusst atmen. Ein, aus, ein, aus … der Kopf schmerzt, ein Rauschen in den Ohren. Sie wird heute nicht an ihren Arbeitsplatz zurückkehren können.
Sie startet den Wagen, rollt vorsichtig vom Hof, dann die Waterloostraße hinunter. Mit jedem Meter fällt ein Ring der Beklemmung von ihrer Brust. Toto schiebt den Kopf aus der Tasche, ein Sonnenstrahl fällt ihm direkt auf die Nasenspitze. Sie wird zum Arzt gehen müssen.
Sie fährt direkt zu ihrer Ärztin in die Mendelssohnstraße. Eine helle, moderne Praxis, freundliche Assistentinnen. Nein, sie hat keinen Termin, es wäre ein Notfall. Die blonde Frau hinter dem Tresen schaut von ihrem Bildschirm auf, stutzt und bittet Kalenberger, einen Augenblick im Wartezimmer Platz zu nehmen.
Kalenberger nimmt eine Zeitschrift vom Stapel, setzt sich und legt sich die Zeitschrift in den Schoß. Wieder dieses unkontrollierte Zittern in den Händen. Jeder im Wartezimmer müsste es eigentlich mitbekommen, doch die Patienten sind zu sehr mit sich oder den Berichten über das schwedische Königshaus beschäftigt.
Kalenberger wird schon nach kurzer Zeit aufgerufen, sie steht auf, die Zeitschrift rutscht ihr vom Schoß, die Sprechstundenhelferin bückt sich rasch und legt die Zeitschrift zurück auf den Stapel.
Frau Dr. Buffier gibt ihr die Hand, misst den Blutdruck und will wissen, was sie für Kalenberger tun kann.
Kalenberger berichtet möglichst kurz von ihren Aussetzern, erwähnt auch die Schießerei, ihren Klinikaufenthalt und die Rehamaßnahmen. Frau Dr. Buffier hört ihr ruhig und aufmerksam zu, muss mehrmals nachfragen, weil Kalenberger bei aller Anstrengung sehr leise spricht. Dann tippt sie etwas in den Computer. Ein Rezept für ein paar Pillen, und damit sind die Probleme aus der Welt geschafft?
„Ich werde Ihnen eine Überweisung für einen Neurologen ausdrucken lassen.“ Sie empfiehlt eine Adresse in Hannovers Innenstadt. „Außerdem habe ich Sie erst einmal für sechs Wochen krankgeschrieben. Danach sieht man weiter. Aber richten Sie sich auf einen langwierigen Verlauf ein.“
Kalenberger nickt kaum merklich.
„Soll ich bei meinem Kollegen anrufen, damit Sie schneller zu einem Termin kommen?“ Frau Dr. Buffier wartet erst gar nicht auf ein erneutes Kopfnicken, sie greift zum Telefon, und Kalenberger kann drei Tage später in einer Praxis am Opernplatz vorsprechen.
Wie sie die drei Tagen überlebt hat, weiß Kalenberger auf dem Weg zum Opernplatz schon nicht mehr. Sie hat sich ein Taxi bestellt, da ihr die Fahrten im eigenen Auto zu riskant werden.
Dr. Kleve hat sich einen Zettel unter die Schreibtischunterlage geklemmt. Da er ihren Namen von dem Zettel abliest, nimmt Kalenberger an, dass er sich Dr. Buffiers Vorabinformationen notiert hat.
Sie soll berichten, Dr. Kleve hört zu, stellt Zwischenfragen, untersucht ihre Reflexe und misst den Blutdruck. Dann muss sie in den nächsten Tagen noch zu zwei weiteren längeren Untersuchungen kommen.
„Wenn Sie nicht rasch aufgefangen werden, driften sie ab.“ Dr. Kleve sitzt hinter seinem Schreibtisch. „Ich schlage Ihnen eine offene Gesprächstherapie bei einem Psychotherapeuten vor.“ Allerdings – er will und kann ihr keinen Termin vermitteln. Darum müsse sie sich schon selber kümmern, das wäre dann auch gleichzeitig ihr erster Schritt in eine erfolgreiche Therapie.
Nur Toto freut sich über Frauchen neben sich auf der Couch. Stunde um Stunde krault sie ihm das Fell und er dankt es ihr mit ausgiebigem Schnurren unter dem er ganz leicht in eine friedliche Traumwelt entschlummert.
Das Mobilteil des Telefons liegt vor Kalenberger auf dem Couchtisch, daneben die Telefonnummer der Polizeipsychologin. Es scheint ihr der plausibelste Weg, durch ihre Vermittlung an die Adresse eines seriösen Psychotherapeuten zu kommen. Außerdem ist Frau Dr. Siebers an ihre Schweigepflicht gebunden und eine nette Kollegin.
Kalenberger muss nur die Hand ausstrecken und die Telefonnummer eintippen, die sie aus ihrem Telefonverzeichnis des aufgeschlagenen Notizbuchs ablesen kann. Doch Kalenberger kann sich nicht überwinden.
Es klingelt zweimal an der Wohnungstür, gleich darauf wird der Schlüssel ins Schloss gesteckt und Frau Rohrbach betritt die Wohnung mit einem Korb, in dem sie einen Topf und zwei Schüsseln trägt.
„Sie müssen unbedingt meine Kartoffelsuppe probieren, die isst sogar Leon, obwohl er viel mäkeliger ist als Lasse.“
Also Lasse und Leon, die Namen der Zwillinge will sich Kalenberger endlich merken. Dann hat sie aber doch keinen Appetit, Frau Rohrbach stellt den Topf auf die Ceranplatte und nimmt die Schüssel aus dem Korb. Milchreis. Kalenberger hat sicher seit vierzig Jahren keinen Milchreis mehr gegessen. Frau Rohrbach schiebt ihr einen Löffel in die Hand und Kalenberger probiert. Warum schmeckt nur alles wie Pappe? Sie murmelt irgendwelche anerkennenden Worte, damit Frau Rohrbach den Milchreis nicht wieder mitnimmt. Toto mag bestimmt Milchreis.
„Sie sitzen noch da wie heute früh.“ Frau Rohrbach hatte Dosenfutter für Toto im Drogeriemarkt besorgt, und Kalenberger hatte ihr kurz von ihrem bevorstehenden Anruf in der Polizeidirektion berichtet. „Haben Sie noch immer nicht angerufen?“
Kalenberger schüttelt leicht den Kopf, Toto schnüffelt in Richtung Milchreis.
„Dann werden wir die Sache jetzt mal gemeinsam in die Hand nehmen!“
Frau Rohrbach nimmt das Mobilteil, hält Kalenberger das Notizbuch unter die Nase. „Welche Nummer?“
„Die achtundfünfzig zwölf.“ Kalenberger kennt die Nummer auswendig.
Frau Rohrbach tippt die Nummer ein, wartet, sagt „Augenblick“ und hält Kalenberger das Telefon ans Ohr. Damit hat Kalenberger nicht gerechnet. Sie hat geglaubt, Frau Rohrbach würde mit der Psychologin sprechen.
„Hallo, wer ist da?“
Kalenberger hustet, nennt ihren Namen. Natürlich viel zu leise.
„Wer ist da?“
„Kalenberger.“
„Ach, Sie sind’s Frau Kalenberger, ich habe Ihren Namen nicht verstanden.“
Frau Rohrbach nimmt ihren leeren Korb, winkt Kalenberger zu und verlässt die Wohnung. Ganz leise zieht sie die Tür ins Schloss und Toto traut sich auf den Couchtisch.
Kalenberger berichtet Frau Dr. Siebers von ihrem Besuch beim Neurologen. Frau Dr. Siebers hält eine Gesprächstherapie für äußerst nützlich und will sich sofort bei einer frei praktizierenden Kollegin nach einem freien Termin erkundigen. „Ich rufe zurück!“ Damit ist das Gespräch beendet.
Kalenberger legt das Telefon auf den Couchtisch, Toto stößt mit der Schnauze gegen ihren Arm, und Kalenberger füttert ihn mit dem Löffel.
Ein Anruf. Kalenberger zögert. Es könnte Frau Dr. Siebers sein. Auf dem Display steht Unbekannt. Kalenberger nimmt das Gespräch an. Es ist nicht die Polizeipsychologin, es ist Aylin. „Bist du wach?“
Kalenberger murmelt irgendetwas.
„Ich hatte dir doch von Pia erzählt?“
„Ja“, murmelt Kalenberger, kann sich aber nicht mehr genau erinnern.
„Also, Pia hat angerufen. Das heißt, eigentlich hat sie nicht richtig angerufen. Sie hat nur ihren Namen gesagt und dann geschluchzt und geweint und dann wieder aufgelegt. Hörst du mir überhaupt zu?“
„Ja.“
„Warum bist du eigentlich nicht im Büro? Ist auch egal, geht mich nichts an. Zurück zu Pia – kein Wort hat sie herausgebracht. Ich habe schon mit ihren Eltern gesprochen. Die machen sich auch große Sorgen, weil sie überhaupt nichts von ihr gehört haben. Sie haben schon vor einiger Zeit die Polizei eingeschaltet, also, die Eltern. Aber nichts. Außerdem gilt Pia nicht als vermisst, weil sie bereits achtzehn ist und ab und zu mal verschwindet. Kannst du denn wirklich nichts tun? Oder sag mir wenigstens, was ich machen kann. Soll ich nach Hannover kommen und mit dir suchen? Der Fall ist dir wohl zu klein für dich, aber so richtig schwere Jungs habe ich leider nicht zu bieten.“ Aylin lacht gekünstelt.
„Brauch‘ ich auch nicht!“
„Aber da ist noch was. Blöde Sache. – Hast du Kopfschmerzen, du bist so schweigsam?“
„Ein wenig.“
„Ist auch nicht so wichtig. War total blöde. Pia und ich, also, wir haben von uns so ein paar Fotos im Badezimmer gemacht. Nichts Besonderes, sollte irgendwie sexy sein. War dann aber nur albern. Pia war so blöde und hat die Fotos ein paar Freunden übers Handy geschickt. Mich hat dann so ein Typ mit verstellter Stimme angerufen, er wollte sich mit mir treffen und mich testen. Ja, testen hat er gesagt. Wenn ich nicht mitmachen würde, kämen die Fotos ins Internet. Ich hab ihn angeschrien und gleich aufgelegt. Aber könnte doch sein, dass Pia mit den Fotos erpresst wird, oder? – Oder? …“
„Ich weiß es nicht.“
„Kannst du dich nicht mal drum kümmern, wenn du keine Kopfschmerzen mehr hast?“
„Aylin, ich kann nicht …“
„Überleg es dir bitte. ich muss jetzt auflegen, der Bus kommt.“
Damit ist das Gespräch beendet. Kalenberger holt einen Notizblock aus ihrer Tasche, will sich Stichworte zum Gespräch mit Aylin aufschreiben. Doch außer Aylins Namen bringt sie nichts aufs Papier. Es hat doch alles keinen Sinn!
Kalenberger legt sich auf die Couch. Bruchstücke des Gesprächs fallen ihr wieder ein. Pia, Schluchzen, Vermisst, Fotos, Erpressung. Sie kann die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen. Aylin vertraut ihr. Aber wo soll sie die Kraft hernehmen, um Ermittlungen aufzunehmen?
Eins nach dem anderen. Aufstehen, durchatmen, wenigstens ein paar Schritte gehen.
Es dauert über eine halbe Stunde, bis Kalenberger mit Toto in der Tasche die Wohnungstür hinter sich abschließt. Frau Rohrbach kommt die Treppe herauf. „Wie schön, dass Sie wieder auf den Beinen sind! Zur Feier des Tages komme ich nachher mit einem Stück selbstgebackenen Marmorkuchen, und wir machen uns einen richtig guten Kaffee!“
Kalenberger nickt.
„Oder soll ich Sie jetzt begleiten? Kein Problem! Meine Mutter passt auf die Zwillinge auf …“
„Es geht schon“, sagt Kalenberger. Sie hält sich am Treppengeländer fest.
„Dann bis nachher!“ Frau Rohrbach schließt ihre Wohnungstür auf.
Kalenberger braucht keine Ansprache, nur Ruhe und ein bisschen Natur. Ihre Füße tragen sie wie selbstverständlich zum Engesohder Friedhof. Eine Oase der Ruhe und Zeitlosigkeit umfängt sie.
Frisches Grün sprießt aus grauen Rasenflächen, die Knospen an den Bäumen strotzen vor Energie, Eichhörnchen huschen ihr fast über die Füße. An der Friedhofsmauer sitzen Stockenten, zum Maschsee wird es für die Jungen nur ein kurzer Weg sein.
Kalenberger biegt am knienden Engel zu ihrer Bank ab. Sie bleibt wie angewurzelt stehen. Die Bank ist besetzt. Ein älterer Mann, ovales Gesicht, lichtes graues Haar, dunkles Jackett und gestreifte Krawatte. Er wendet sich ihr zu, sieht sie an, schaut dann auf seine Schuhe.
Als Kalenberger noch immer keinen Schritt in irgendeine Richtung macht, sieht er sie wieder an, blickt an seiner Kleidung herunter, hebt nacheinander beide Arme und besieht sich die Außenseiten der Jackenärmel.
Da er keine Auffälligkeiten feststellen kann, schaut er wieder in Kalenbergers Richtung.
Kalenberger rappelt sich zusammen, geht vorsichtig zwei Schritte zurück, da scheint der Fremde zu begreifen. „Ich sitze auf Ihrem Platz?“
Er steht auf, sehr energisch für sein Alter, sieht sich um und deutet mit dem Kopf in Richtung Enten. „Ich setze mich woanders hin. Es herrscht schließlich kein Mangel an freien Bänken.“ Er lächelt. Kalenberger versucht ebenfalls ein Lächeln, es misslingt. Der Fremde nickt, sagt: „bis demnächst“, und geht in Richtung der Bänke an der Friedhofsmauer davon.
Kalenberger möchte die gefühlte Umklammerung sprengen, etwas Freundliches sagen, doch sie setzt sich einfach nur auf ihre Bank, ganz vorne auf die Kante.
Zwischen den Latten steckt eine Zeitung, der Fremde wird sie vergessen haben. Toto mauzt. Er will sein Fressen. Kalenberger nimmt ihn aus der Tasche und setzt ihn auf ihre Knie. Mit einer Hand angelt sie aus der Tasche den Plastikbehälter mit dem Katzenfutter, will das Futter in der Dose portionieren, sonst würde Toto alles auf einmal fressen.
Mit Toto auf den Knien kann sie die Dose nicht öffnen, sie schaut sich um, zieht die Zeitung zwischen den Bankstreben hervor und breitet sie aus. Die Schlagzeile der Zeitung: Mysteriöser Tod eines … Mehr liest sie nicht, es ist ihr egal. Sie stellt das Katzenfutter auf das Foto mit den Polizeiautos, Absperrbändern und Gaffern.
Toto stürzt sich auf sein Fressen. Über dem Nistkasten an der gegenüberstehenden Birke sitzt eine Blaumeise mit Moos im Schnabel. Immer wieder wendet sie den Kopf in Kalenbergers Richtung, dann scheint sie beruhigt und verschwindet im Kasten. Kalenberger lehnt sich zurück. Ihr Handy klingelt. Sie schaut aufs Display. Eine dienstliche Nummer, sie meldet sich. Frau Dr. Siebers hat ihr einen ersten Termin bei einer Psychotherapeutin vermittelt. Übermorgen. Schon übermorgen? Sie wird sich helfen lassen müssen, sonst sitzt sie noch im nächsten Jahr hier auf der Bank, hört nichts, sieht nichts und will auch nichts wissen.
Auf dem Weg hinter dem knienden Engel erscheint der ältere Mann. Er winkt im Vorübergehen. „Noch ein bisschen frisch!“
Kalenberger nickt.
„Ach“, der Mann kommt näher und mit jedem Schritt steigert sich eine Art Panik in Kalenberger. „Sie haben nicht zufällig meine Zeitung gesehen? – Ich muss sie hier liegengelassen haben.“
Kalenberger krault Totos Fell. Toto frisst ohne Rücksicht auf Verluste, und so sieht die Zeitung auch aus.
„Macht nichts“, der Mann zieht sich zwei, drei Schritte zurück, „ich hatte sie fast ausgelesen.“ Noch einen Schritt. „Wünsche einen schönen Nachmittag!“ Er dreht sich um und geht gemessenen Schritts in Richtung Haupttor.
Toto hat die Mahlzeit beendet, er wischt sich Schnauze und Barthärchen mit den Pfoten ab, Kalenberger greift ihm unter den Bauch, setzt ihn auf ihren Schoß und Toto kuschelt sich in ihre Jacke.
Kalenberger zieht die Zeitung zu sich heran, um sie zusammenzurollen und am Ausgang in den Abfallkorb zu werfen. Da fällt ihr erneut die Hauptschlagzeile auf. Mysteriöser Tod eines Eishockeyprofis. Eine Verbindung zu Aylin und Pia? Aylin sagte etwas von einem russischen oder polnischen Eishockeyprofi. Aylin hatte auch etwas von Hannover gesagt!
Die Sonne fällt auf Kalenbergers Arm. Wohlig steigt die Wärme bis zu ihrer Schulter hinauf. Eine dicke Schlagzeile, aber ein äußerst dünner Artikel. Warum kaufen Männer bloß immer dieses Revolverblatt? Sie liest. In den Umkleidekabinen der Hannover Indians wurde der polnische Eishockeyprofi Jan P. aufgefunden. Erschossen. Seit einem Vierteljahr hat er am Probetraining der Hannover Indians teilgenommen. Weitere Einzelheiten sind noch nicht bekannt.
Erschossen. Jan P.. War das der Mann, mit dem Aylins Freundin Pia verschwunden ist?
Mit einem Papiertaschentuch wischt Kalenberger die Reste von Totos Menü von der Zeitung und steckt sie in ihre Tasche. Aylin hatte auch einen Namen genannt, doch Kalenberger kann sich nicht an ihn erinnern, und mit einem Mal ist sie müde, so grenzenlos müde, dass sie nichts mehr denken kann. Sie schließt die Augen, Toto schnurrt in ihrer Jacke und Kalenberger nickt ein.
Regentropfen wecken sie. Dicke Tropfen klatschen auf den Weg, die Blätter, die Bank und Kalenbergers Arme glänzen im Nu. Ein warmer Frühlingsregen. Gott sei Dank nicht mehr dieses kalte, winterliche Nass. Es duftet nach Thuja, Buchsbaum und ein wenig nach Muskat.
Kalenberger steckt Toto in die Tasche und macht sich auf den Heimweg. Doch der Regen nimmt zu und Kalenberger setzt sich auf eine Bank unter der Balustrade des imposanten Eingangstors. Jetzt platscht der Regen auf die Straße, dicke Blasen treiben auf den Pfützen, im Rinnstein schwimmt eine kleine leere Saftverpackung. Wie ein Schornstein ragt der Strohhalm aus dem davontrudelnden Dampfer.
Auf der Straße hält ein weißes Auto. Carl Stange, Floristik. Eine junge Frau steigt aus, springt ins Blumengeschäft und stellt die Tür des Geschäfts auf, um die frische Frühlingsluft hereinzulassen.
Und plötzlich ist da ein Bild. Kalenberger sieht sich, wie sie auf der Wiese ihrer Oma Gänseblümchen pflückt. Oma hat die Blumen sorgfältig in eine Vase gestellt und über Mittag wurden aus den kleinen unscheinbaren Gänseblümchen stattliche Blumen mit weißen Blütenstrahlen und einem gelben Pompon in der Mitte. Erst Jahre später hat Oma gestanden, dass Opa die Gänseblümchen gegen Margeriten ausgetauscht hat, um sie zum Staunen zu bringen. Es war die glücklichste Zeit ihres Lebens. Sie wurde geliebt, mein kleiner Sonnenschein hat Opa sie genannt.
Trotz des Regens trägt die junge Frau Blumengebinde ins Geschäft. Sie hat sogar noch Zeit herüberzugrüßen.
Kalenberger steht auf und geht hinüber. Sie kauft ein Sträußchen Margeriten für den Esstisch. Die junge Frau will die Blumen in Papier einschlagen, doch Kalenberger möchte den kleinen Strauß direkt in ihrer Hand spüren.
Zu Hause hat Kalenberger kaum die Jacke an die Garderobe gehängt und die Schuhe ausgezogen, da kommt Frau Rohrbach mit dem Kuchen und den zappeligen Zwillingen. Es ist ein Zuckerbutterkuchen geworden, die Streusel sind ihr misslungen und dann verputzen die Zwillinge den Kuchen auch nicht gesitteter als Toto sein Fressen.