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Ein Mann sitzt regungslos auf der Treppe am Maschteich. Vermutlich erschlagen von einem Rivalen aus Jugendtagen. Nach amtlichen Unterlagen ist der allerdings vor Jahren tödlich verunglückt. Oder hat die neidische Konkurrenz im Kampf um lukrative Internetgeschäfte gnadenlos zugeschlagen? Und was hat der Sohn des Ermordeten gesehen? Er war am Tatort. Doch der junge Mann ist geistig behindert, nennt sich Zwölf und malt lieber statt zu reden. Dann überschlagen sich die Ereignisse: Eine Informantin der Polizei wird bei einem Unfall schwer verletzt. Fahrerflucht. In der Altstadt liegt eine alte Frau ermordet in ihrer Küche und ein Hehler verschwindet mit dem Surfbrett spurlos auf der Ostsee. Eine von Zwölfs geheimnisvollen Zeichnungen führt die Ermittler schließlich in Hannovers Unterwelt. Alles scheint mit allem verbunden, über und unter der Erde. Es wird Zeit, dass Kalenberger und Obanczek Licht ins Dunkel bringen.
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Veröffentlichungsjahr: 2015
Titelseite
Impressum
Über den Autor
Inschrift
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Epilog
Günter von Lonski
5. Hannover-Krimi mit Marike Kalenberger
Im Verlag CW Niemeyer sind bereits folgende Bücher des Autors erschienen:
Das letzte Lied
Tödlicher Wind
Mord auf dem Schützenfest
Bittere Medizin
Eis!
Teufelskralle
Elend!
Alarm im Pfannkuchenhaus (Kinder-Krimi)
Royal Flash
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de
© 2015 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln
www.niemeyer-buch.de
Alle Rechte vorbehalten
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Bright Light ... ID1974 2014, Hanover Silhouette SH-Vector 2014
Druck und Bindung: Nørhaven, Viborg
eISBN 978-3-8271-9865-5
EPub Produktion durch ANSENSO Publishing www.ansensopublishing.de
Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Stätten von Hannover, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Spezielle Informationen wurden den allgemein zugänglichen Internetquellen entnommen.
Über den Autor:
Günter von Lonski wurde 1943 in Duisburg-Laar geboren. Er studierte an der Hochschule der Künste in Berlin. Seit 1981 schreibt er Romane, Krimis, Jugend- und Kinderbücher, Hörspiele, Kurzgeschichten, Glossen, Satiren und Schulbuchbeiträge. 2010 erhielt er den Rolf-Wilhelms-Literaturpreis der Stadt Hameln. Günter von Lonski ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in der Nähe von Hannover. Er ist außerdem Autor von bereits drei erschienenen Weserbergland-Krimis „Das letzte Lied“, „Tödlicher Wind“, „Bittere Medizin“ und „Teufelskralle“, in denen der akribische Journalist Hubert Wesemann ermittelt – spannend, unterhaltend, mit einem Schuss Humor und Ironie. „Ich, Zwölf“ ist nach „Mord auf dem Schützenfest“, „Eis!“, „Elend!“ und „Royal Flash“ der fünfte Hannover-Krimi aus der Feder von Günter von Lonski.
Mehr über Günter von Lonski und seine Aktivitäten erfahren Sie unter www.vonlonski.net
„Der Ermordete ist nicht ohne Verantwortung anseiner Ermordung. Und der Beraubte nicht schuldlosan seiner Beraubung. Der Rechtschaffene ist nichtunschuldig an den Taten des Bösen.“
Khalil Gibran (1883–1931),
libanesisch-amerikanischer Maler,
Philosoph und Dichter
Nun singt die Amsel wieder. Kalenberger tippt auf ihren Wecker, das Display wird beleuchtet. 5:24. Sie rollt sich auf die andere Seite, zieht die Bettdecke über die Schulter, segelt ab in unbekannte Traumwelten. Sie kommt nicht mal aus dem Hafen. Das Telefon klingelt. Ein Telefon, das um 5:27 klingelt, kann kein gutes Telefon sein.
Kalenberger tastet blind den Nachttisch ab. Papiertaschentücher, Wecker, Hustenbonbons, Telefon.
„Ja?“
„Guten Morgen!“
Kollege Obanczek. Jeder Morgen mit ihm ist unerträglich bis zum ersten Schluck Kaffee. Heute Morgen noch unerträglicher. 5:32. „Was gibt’s, Nervensäge?“
„Ich bin im Maschpark hinter dem Neuen Rathaus und stehe auf den Stufen der Rathausterrasse mit Blick auf den Maschteich. Einfach wunderbar und wahnsinnig romantisch. Komm doch einfach her und sieh es dir an.“
Das Neue Rathaus Hannover wurde 1901 bis 1913 im Stil des Späthistorismus auf 6.026 Buchenpfählen errichtet und in den zehn Hektar großen Maschpark am Südrand der Innenstadt eingebettet. Das schlossähnliche Gebäude ist 129 m lang, 67 m breit und 98 m hoch. Ein einzigartiger Bogenaufzug mit 17 Grad Neigung fährt auf die Kuppel des Rathauses. Jährlich besuchen 100.000 Gäste die Aussichtsplattform. Typisch Hannover: Der Bogenschütze vor dem Eingangsportal zielt direkt auf das Büro des Oberbürgermeisters.
„Was soll ich?“, mault Kalenberger.
„Dir das Gesamtkunstwerk ansehen! Wenn du dann schon einmal da bist, können wir uns auch gleich um den armen Kerl kümmern, der zu meinen Füßen sitzt. Offener Mund, starrer Blick auf seine Schuhe, Loch im Kopf.“
„Kann ich vorher unter die Dusche?“
„Du kannst dir alle Zeit der Welt lassen. Der läuft uns nicht mehr weg.“
Als Kalenberger eintrifft, befragt Obanczek einen dürren Mann im orange-grünen Joggingdress. Viel Energie, wenig Haare. Der Mann scheint sein Morgenpensum noch nicht abgearbeitet zu haben und trippelt auf der Stelle. Oder er friert.
Obanczek nickt Kalenberger zu, weist mit seinem Notizbuch auf die Stufen vor der Terrasse. Die Spurensicherung trifft ein. Als Erstes wird das Treppenportal bis zur Terrasse mit rot-weißem Flatterband abgesperrt.
Was für ein friedlicher Anblick. Zu ihren Füßen der dunkle Maschteich. Der Blick auf den größeren Maschsee wird von hohen Bäumen gerahmt. Erste Boote zeigen sich auf dem leicht bewegten Wasser. Sie müsste auch wieder Sport treiben, Rudern zum Beispiel.
Kalenberger atmet tief durch, dann begibt sie sich zu dem Häuflein Elend am unteren Ende des Treppenportals. Sie verschafft sich einen ersten Eindruck: Mittleres Alter, ältere Jeans, keine Marke, Pullover, schwarze Baseball-Cap mit gesticktem Schriftzug: Nie mehr Rügen! Das Kinn ist auf die Brust gesunken. Kalenberger beugt sich zu ihm hinab. Ein Loch im Hinterkopf, linke Seite; da der Mörder von hinten gekommen ist, muss er ein Linkshänder sein. Sonst hätte er übers Wasser laufen müssen. Die Haare sind vom Blut verklebt. Kalenberger denkt unwillkürlich an einen Besuch im Zoo. Sie hatte mit einer Menge Leute vor einem Brutkasten gestanden und zugesehen, wie sich ein Straußenküken aus seinem Ei befreite. Hier war es genauso, nur umgekehrt.
Obanczek kommt hinzu. „Hast du nach seinen Papieren gesehen?“
„Tut mir leid, in der Eile habe ich meine Handschuhe vergessen.“
Obanczek kennt die Ausrede, streift sich seine Plastikhandschuhe über und durchsucht die Taschen des Toten.
„War das ein Augenzeuge?“ Kalenberger deutet mit einer Kopfbewegung zum oberen Ende der Treppe.
„Viel konnte er nicht sagen. Er hat den Mann auf seiner Hinrunde entdeckt und für den späten Gast irgendeiner Veranstaltung gehalten. Als er bei seiner Rückrunde noch immer in der gleichen Haltung auf der Treppe saß, hat er ihn sich aus der Nähe angesehen.“ Obanczek richtet sich auf, zwischen den weißen Handschuhfingern ein älteres Portemonnaie. Er fischt einen Ausweis heraus. „Ralf Zoltan, hat hier gleich um die Ecke gewohnt, Mittelstraße.“
„Unfall ausgeschlossen? Er könnte doch mit dem Hinterkopf auf eine Treppenstufe gefallen sein.“
„Dafür ist das Loch in seinem Hinterkopf zu eindeutig und der Pflasterstein liegt direkt zu seinen Füßen.“ Kalenberger entdeckt den Pflasterstein vor Ralf Zoltans rechtem Fuß, zwei Stufen tiefer – im Wasser.
„Dann wird das wohl nichts mit Fingerabdrücken und DNA?“
„Kannst du vergessen, wir müssen selber denken.“
„Aber nicht vor dem ersten Kaffee. Auf dem Weg in die Waterloostraße muss noch einer von uns Kaffeepulver besorgen.“
„Ich bin mit dem Rad gekommen“, sagt Obanczek.
„Prima“, Kalenberger gähnt, „dann brauchst du wenigstens keinen Parkplatz.“
Ein Arzt trifft mit dem kriminaltechnischen Dienst ein, die Techniker übernehmen die Spurensicherung. Kalenberger geht zu ihrem Auto.
Obanczek schließt das Schloss an seinem Fahrrad auf, durch eine Verkehrskontrolle käme er mit dem Rad bestimmt nicht. Ein Streifenwagen biegt um die rechte Ecke des Rathauses. Obanczek radelt los, um die linke Ecke. Besser ist besser.
Der Wagen kommt vor Kalenbergers Auto zum Stehen. Ein Beamter steigt aus, grüßt Kalenberger. „Sind Sie Hauptkommissarin Kalenberger?“
„Wenn es nicht gegen mich verwendet werden kann!“
„Vielleicht passt der zu Ihnen.“ Der Beamte deutet mit dem Daumen seiner rechten Hand auf die hintere Sitzbank des Streifenwagens. Da sitzt ein verängstigter junger Mann mit starrem Blick auf die Nackenstütze des Fahrersitzes. „Er hockte drüben im Eingangsbereich des Sprengel Museums, ist nicht ansprechbar.“
„Vielleicht ein Tatzeuge?“ Kalenberger nähert sich dem Streifenwagen, geht auf die andere Seite und öffnet die Tür neben dem jungen Mann.
„Guten Morgen!“ Für einen Moment ist sich Kalenberger nicht sicher, ob der junge Mann überhaupt lebt. Sie berührt seine Schulter, keine Regung. Allerdings atmet er regelmäßig.
„Wie kommen Sie darauf, dass er etwas mit dem Toten auf den Stufen zu tun hat?“
„Er könnte doch etwas gehört oder gesehen haben, ist doch gleich über die Straße.“
In der krampfhaft geschlossenen linken Hand des jungen Mannes entdeckt Kalenberger einen Fetzen Papier.
„Den gibt er nicht her“, sagt der Streifenbeamte, „mit Engelszungen haben wir versucht, ihn zu überreden.“
Kalenberger verzieht einen Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln. Blitzschnell pikst sie dem Regungslosen einen Zeigefinger in die Seite. Für einen Augenblick ist er abgelenkt, und Kalenberger kann ihm mit einem leichten Ruck das Papier aus den Fingern ziehen.
„Immer die neuste Technik bei der Kripo!“, sagt der Streifenbeamte. „Was sollen wir mit ihm machen? In die Waterloostraße oder gleich in die Psycho am Deister? Wir haben schon angerufen. Da wird er schon vermisst.“
„Das soll ein Arzt beurteilen, da setze ich mich nicht in die Nesseln.“
Der Streifenbeamte klopft gegen das Seitenfenster des Streifenwagens. Eine sehr junge Frau steigt aus, die Kalenberger bisher überhaupt nicht gesehen hat. Schmal, blond, sportlich, Pferdeschwanz. 7:16 Uhr! Die können sie doch alle mal.
Der Streifenpolizist bespricht sich kurz mit seiner jungen Kollegin und schickt sie dann zur Spurensicherung hinüber, wahrscheinlich um einen Mediziner abzuwerben. Kalenberger setzt sich in ihr Auto und hofft, dass Obanczek vor ihr die Polizeidirektion erreicht hat und bereits Kaffee kocht.
Auf alle Fälle leuchtet bereits das rote Lämpchen an der Kaffeemaschine. „Ich hab uns zwei Croissants mitgebracht“, sagt Obanczek. „Ganz neu im Angebot – mit Bienenstichfüllung.“
„Bäh.“
„Hab ich auch gedacht, aber die beiden schaff ich auch alleine.“
„Untersteh dich!“
Das Telefon klingelt. Obanczek nimmt das Gespräch an. Da er keine Anstalten macht, das Papptablett mit den gefüllten Croissants herüberzuschieben, holt Kalenberger ihr Lineal aus der Schublade und angelt nach dem Papptablett. Obanczek legt auf, macht den Mund auf, Kalenberger sagt: „Moment!“ Steht auf, schüttet zwei Tassen Kaffee ein, setzt sich wieder, zieht die Kaffeetasse zu sich heran, beißt in das Croissant und sagt mit vollem Mund: „Jetzt!“ Oder so ähnlich.
„Ralf Zoltan“, sagt Obanczek, „verheiratet. Kollegen sind unterwegs, um seine Frau zu informieren.“
„Irgendwie schmeckt die Bienenstichfüllung nach Seife – oder?“
„Wir sind im Dienst, Frau Hauptkommissarin.“
„Also weiter!“ Kalenberger trinkt von ihrem Kaffee.
„Der Arzt hat unseren verwirrten jungen Mann in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen. In der Klinik waren dann alle ganz begeistert, als sie ihn wieder gesehen haben. Sie kannten ihn bestens. Er ist seit Jahren Bewohner der Walterthal-Klinik und sein Name ist Lars-Ivo ... na, kommst du drauf ... Lars-Ivo ...“
„Goethe, Schiller, Lessing?“
„Mach’s dir nicht so schwer: Lars-Ivo Zoltan!“
„Ach, nee!“
„Ach, doch!“
„Dann werden wir uns bei der Familie wohl mal umsehen müssen.“
„In der Kantine der Finanzdirektion gibt es heute Spaghetti mit Bologneser Soße.“
„Also nach der Mittagspause!“
„Ne, vorher. Dann haben wir es hinter uns.“
Monika Zoltan ist eine schlanke, attraktive Frau. Übermäßig aufgewühlt scheint sie nicht zu sein. Sie bietet den Kommissaren einen Kaffee an.
„Wie lange waren Sie verheiratet?“, fragt Kalenberger.
Monika Zoltan muss kurz überlegen. „Fast zwanzig Jahre.“
„War er jeden Morgen so früh unterwegs?“
„Ralf arbeitet beim Tiefbauamt der Stadt. Er fängt oft schon sehr früh an.“
„Ihr Mann wurde auf den Treppenstufen zum Neuen Rathaus gefunden.“
„Er hatte Lars-Ivo am Freitag zu einem Wochenendbesuch aus der Klinik abgeholt. Vielleicht wollte er noch ein paar Minuten mit ihm aufs Wasser schauen, bevor er ihn zurückbringen musste.“
„Gab es Streit zwischen ihnen?“, fragt Obanczek.
Kalenberger warnt ihn mit einem kurzen Blick. Obanczek ist nicht bekannt für seine zurückhaltende Befragungstechnik, doch Monika Zoltan scheint keineswegs verschreckt. „Was heißt schon Streit ...“
Sie steht auf, nimmt eine Schale mit Gebäck aus dem dunklen Wohnzimmerschrank und stellt sie auf den Tisch. Cantuccini, wie die Kommissare aus der Kaffeebar in der Markthalle wissen. Kalenberger greift zu, um endlich diesen Bienenstichgeschmack loszuwerden.
„... Lars-Ivo hat bis vor anderthalb Jahren in einem eigenen Zimmer bei uns gewohnt. Aber wie das so ist ... er ist geistig behindert und leidet unter psychischen Störungen. Irgendwann wurden seine Schübe so heftig, dass wir ihn nicht mehr bändigen konnten. In der Klinik geht es ihm gut. Er hat jetzt sogar eine Freundin, sagt er. Er wollte sie ... mitbringen ... übers Wochenende ... wir wollten das nicht. Ihre Kollegen haben gesagt, er wurde wieder in die Walterthal-Klinik gebracht?“
„Ist das denn überhaupt möglich, eine Freundin in der Klinik?“, fragt Kalenberger.
„Ich weiß nicht ... er hat uns sogar ein Bild von ihr gezeigt ... aber Ralf meint, das wäre auch nur so eine Wahnvorstellung.“
„Könnte sich Lars ...“, Obanczek schaut auf seine Notizen, „... Lars-Ivo in einem unkontrollierten Anfall auf seinen Vater gestürzt und ihn erschlagen haben?“ Kalenbergers missbilligender Blick trifft Obanczek und Obanczek fügt rasch „rein theoretisch“ hinzu.
„Alles ist möglich. Ich habe mir abgewöhnt, mir etwas vorzustellen. Lars-Ivo ist ein guter Junge, aber die Schübe können ihn beherrschen wie ein Dämon.“
„Wir danken Ihnen, Frau Zoltan.“ Obanczek erhebt sich. „Sollten sich noch Fragen ergeben, melden wir uns.“
Monika Zoltan nickt geistesabwesend.
Man geht zur Wohnungstür. Plötzlich bleibt Kalenberger stehen. „Dürfen wir noch einen kurzen Blick in das Zimmer Ihres Sohns werfen?“
Monika Zoltan zuckt nur mit den Schultern, sie geht voraus und öffnet die letzte Tür links vom Eingang.
Kalenberger betritt das Zimmer. Tisch, Stuhl, Regal und ein Bett mit einer Tagesdecke mit einer scheußlichen Hundedarstellung, seitlich ein ramponierter Nachttisch mit einer Nachttischlampe ohne Schirm. An der Decke ein buntes Holzflugzeug, eine Kinderlampe mit einer kopfverspiegelten Glühbirne. An der Wand Bilder über Bilder. Kalenberger betrachtet sie genauer. Es sind merkwürdig unfertige Zeichnungen, an einigen Stellen sorgfältig ausgeführt, anderswo werden Striche und Farben nachlässiger aufgetragen und enden oft im Nirgendwo. Als Signatur Zwölf, in dickem Pinselstrich, dann mal wieder in Bleistift oder Kugelschreiber unter den Zeichnungen.
„Lars-Ivo ist Mitglied in einer Behindertenmalgruppe. Sie treffen sich jeden Mittwoch im Sprengel Museum.“
„Also heute?“
„Ich weiß natürlich nicht, ob er heute teilnehmen kann, nach den Vorfällen ...“ Monika Zoltan nimmt möglichst beiläufig eine kleinere Zeichnung von der Wand.
„Darf ich das mal sehen?“ Obanczek streckt ihr seine Hand entgegen.
„Das ist eigentlich nicht wichtig.“ Es ist keine Zeichnung, sondern ein Foto, auf normalem Papier ausgedruckt. „Seine angebliche Freundin ... genauso eingebildet wie sein Hund Arno. Er hatte nie einen Hund Arno und erst recht keine Freundin. Alles Hirngespinste!“
Kalenberger nimmt Obanczek das Foto aus der Hand. Das Gesicht einer jungen Frau mit strahlendem Lächeln. Kurze dunkle Haare, mit einem Marienkäfer auf einer seitlichen Haarklammer. Auf der Nase trägt sie eine Brille mit einer breiten dunklen Fassung, die ihr sicher einen ernsteren Gesichtsausdruck verleihen soll, aber auch ein wenig übertrieben aussieht.
„Sie haben doch nichts dagegen, wenn wir das Foto mitnehmen?“ Kalenberger gibt Obanczek das Bild zurück.
„Nein ... oder ... eigentlich nicht ...“
Kalenberger nimmt ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche, zieht die Nachttischschublade auf. Leer.
„Er hat hier nur geschlafen“, sagt Monika Zoltan, „was er brauchte, hatte er in seiner Reisetasche.“
Kalenberger sieht sich um. „Ich sehe keine Reisetasche.“
„Die hat er heute Morgen mitgenommen, mein Mann wollte ihn doch zurück in die Klinik bringen.“
Kalenberger dreht sich um die eigene Achse. „Es sieht so aufgeräumt aus. Haben Sie heute schon sauber gemacht?“
„Selbstverständlich. Gleich heute früh. Wie sieht das denn aus, wenn alles herumliegt ...“
Kalenberger seufzt. „Wir können gehen.“
„Fassen wir zusammen“, sagt Kalenberger, als sie zurück im Büro sind.
„Die Spaghetti waren lauwarm und die Bologneser Soße ...“ Obanczek löffelt einen Heidelbeerjoghurt.
„Kannst du immer nur ans Essen denken?“
„Immer noch schöner als an Leichen. Außerdem gibt es nichts zum Zusammenfassen. Noch zu früh.“ Das Telefon klingelt. Kalenberger schält ihre Banane, Obanczek nimmt das Gespräch an, es wird ein längeres Telefonat, dann zweimal „Ja, danke“ und aufgelegt. „Der Pflasterstein zu Füßen von Ralf Zoltan war die Tatwaffe. Keine Fingerabdrücke und Sonstiges, alles vom plätschernden Wasser abgewaschen.“
„Und? Was denkst du?“
„Tja, was denke ich?“ Der Joghurtbecher ist leer, Obanczek zeigt mit dem Joghurtlöffel auf Kalenberger, „Ralf Zoltan wollte, wie verabredet, seinen Sohn zurück in die Walterthal-Klinik bringen. Lars-Ivo hat etwas auf dem Herzen, vielleicht hat er seinem Vater die Sache mit seiner Freundin klarmachen wollen. Wie auch immer. Sie setzen sich hinterm Rathaus auf die Treppe am Teich. Dann werden die beiden überfallen. Der Sohn kann fliehen und ist in wenigen Schritten am Kurt-Schwitters-Platz, erkennt sein geliebtes Sprengel Museum und versteckt sich in dem Eingangsbereich.“
„Mit dem ersten Teil bin ich einverstanden, allerdings denke ich, dass sie nicht überfallen wurden. Lars-Ivo könnte mit seinem Vater in Streit geraten sein, und wenn er sich aufregt, ist er unberechenbar. Er erschlägt seinen Vater, sieht in einem lichten Moment vielleicht, was er angerichtet hat, und flieht. Ab hier wieder weiter in deiner Version.“
„Das werden schwierige Ermittlungen. Eine geistige Behinderung lässt sich wohl nicht so einfach vernehmen.“
„Der Erste Kriminalhauptkommissar will Ergebnisse sehen.“ Kalenberger holt aus ihrer Tasche das Foto von der jungen Frau, das sie aus Lars-Ivos Zimmer mitgenommen hat, und den Papierfetzen, den Lars-Ivo so krampfhaft in der Hand gehalten hat. Sie schaut sich beides an, wiegt den Kopf, schaut noch einmal. „Viel ist das nicht!“
Obanczek denkt an die Urlaubsprospekte in seiner Schublade. Er würde so gern nach Griechenland fliegen, einsame Insel, weißer Sandstrand, blaues Meer, Bikinischönheiten zum Anbeißen. Kalenberger lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und Obanczek muss zurück in die harte Realität. „Korfu“, sagt Obanczek, „Korfu – das wär’s jetzt!“
Kalenberger gönnt sich ein Entspannungsbad. Lavendel. Drei Teelichter auf dem Badewannenrand. Kopf ans Herzchenkissen anlehnen, Augen schließen, tief ins heiße Wasser einsinken und den Lavendelduft einatmen.
Sie möchte an Wasser denken, an Sonnenuntergänge, ans Steinhuder Meer. Sie sitzt auf einer der Bänke mit Blick auf die Insel Wilhelmstein. Von hinten schleicht sich ein Schatten an, sie ahnt, wie er den rechten Arm hebt, um sie gleich darauf mit einem schweren Gegenstand ..., hat ein geistig Behinderter keine Erinnerungen? Oder kann er sie nur nicht sortieren oder ausdrücken?
Sie hat mal von einem dubiosen Fall gehört, der sie nachdenken ließ und auch verunsichert hat. Oder war es ein Film?
Ein junger Mann hat sieben Jahre zu Unrecht im Maßregelvollzug gesessen. Der Achtzehnjährige war wegen räuberischer Erpressung und Diebstahls in Untersuchungshaft gekommen. Ein Psychiater hatte ihn untersucht und eine paranoide Schizophrenie bescheinigt. Daraufhin wurde der junge Mann zu zwei Jahren Jugendhaft verurteilt. Seine seelische Erkrankung wurde berücksichtigt, verminderte Schuldfähigkeit zugebilligt und die Einweisung in eine geschlossene Anstalt veranlasst. Allerdings hatte der Verurteilte den Psychiater getäuscht und die Schizophrenie nur vorgespielt. Er sprach von den üblichen Stimmen in seinem Kopf. Ein tödlich verunglückter Freund spreche zu ihm, jemand gebe ihm ständig Mordaufträge und ein Finanzberater habe ihm den Tipp mit dem Banküberfall gegeben.
Kalenberger lässt heißes Wasser nachlaufen.
Die Freude des Schizophrenen über seinen gelungenen Coup währte nicht lange. Der Maßregelvollzug hat keine zeitliche Begrenzung, die Jugendhaft hätte er nach zwei Jahren abgesessen. So brauchte er noch fünf Jahre, bis er zu einem entlastenden zweiten Gutachten kam. Entschädigt wurde er nicht für die zu Unrecht verbüßte Haft, weil er vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt habe.
Kalenberger wird morgen zur Walterthal-Klinik fahren und versuchen, mit Lars-Ivo Zoltan Kontakt aufzunehmen.
Der Deister ist ein weithin unterschätztes Gebirge, findet Kalenberger. Eine größere Bodenerhebung. Obwohl im Winter sogar ein Skilift in Betrieb sein soll. Doch wenn der Herbst beginnt und sich die Blätter gelb und rot färben, fährt sogar ein Fernsehteam des NDR hinaus und dreht einen Film über den Indian Summer vor den Toren Hannovers.
Das rote Backsteingebäude der Walterthal-Klinik liegt etwas abseits von der Kreisstraße, halb versteckt im Wald.
Kalenberger hält auf dem seitlich umzäunten Parkplatz. Ein Eichhörnchen springt ihr fast auf die Füße, auf dem Baumstumpf neben einem grauen Müllcontainer schläft eine Katze in der Sonne.
Kalenberger öffnet die Glastür und geht zur Anmeldung.
„Keine Besuchszeit.“ Die Frau hinter dem Tresen blickt nicht einmal auf.
„Dann hat sich mein Horoskop geirrt. Heute sollte eigentlich mein Glückstag sein.“
Jetzt blickt die Frau hinter dem Tresen von ihrer aufgeschlagenen Kladde auf. „Was kann ich für Sie tun?“
Ihr Blick ist so was von gelangweilt, da würde Kalenberger nicht mal mit einer Schachtel Pralinen punkten. „Ich möchte zu Herrn Zoltan, Lars-Ivo Zoltan.“
„Und wer sind Sie?“
Betont lässig greift Kalenberger in ihre Jackentasche, holt ihren Dienstausweis heraus und hält ihn der Gelangweilten unter die Nase. „Kripo Hannover.“
„Moment“, sagt die Dame, die ein seitlich aufgestelltes Schild als Frau Albrecht ausweist. Sie greift zum Telefon, spricht Unverständliches in den Hörer und Kalenberger muss nicht lange warten, bis sich die Tür zu einem seitwärts liegenden Gang öffnet und eine junge Frau auf sie zukommt. Sie begrüßt Kalenberger, ohne sich vorzustellen. Sie dreht sich um und geht einen Gang voraus an mehreren geschlossenen Türen vorbei. Ihre spitzen Absätze knallen auf dem hellen Steinboden wie Einschüsse.
Frau Ohnenamen klopft an eine Tür und öffnet sie fast gleichzeitig. Ein modernes Büro, hell, licht, einzelne bunte Bilder an den Wänden, Parkettfußboden. Hinter einem Glasschreibtisch blickt ein Mann jenseits der fünfzig von einem dünnen Schriftsatz auf, schaut Kalenberger an und weist ihr mit einer Handbewegung einen Besucherstuhl zu.
„Sie sind Frau ...?“ In seinem Frettchengesicht runden sich die Wangen, die Haare im dünnen Schnurrbart vibrieren bei jedem Wort.
„Marike Kalenberger, Kriminalinspektion 1.“
„Was möchten Sie wissen?“
„Ich möchte mir ein eigenes Bild von Lars-Ivo Zoltan machen.“
„Das ist nicht so einfach. Lars-Ivo Zoltan hat eine paranoide und dissoziale Persönlichkeitsstörung. Er lebt in seiner eigenen Welt, und zu dieser Welt bekommennur wenige Zugang. Ein paar Ärzten und Pflegern ist es gelungen, sein Vertrauen zu gewinnen. Seine aggressiven Schübe werden medikamentös behandelt, sind aber nie auszuschließen. Man kann ihn also nicht einfach so befragen.“
„Woran ist Herr Zoltan denn genau erkrankt?“
„Aber Frau ...“
„Kalenberger!“
„... Frau Kalenberger, schon mal was von Datenschutz gehört? Aber einmal kurz und allgemein zusammengefasst: Menschen mit einer krankhaften Persönlichkeitsstörung leiden zusätzlich häufig an psychotischen Erkrankungen, Depressionen, Angststörungen, Hyperaktivitätsstörungen, autistischen Erkrankungen oder anderem Problemverhalten. Wenn Menschen intellektuell eingeschränkt sind, empfinden sie doch genauso seelisches Leid wie alle anderen.Ärzte, Angehörige, Betreuer und Therapeuten betrachten Verhaltensauffälligkeiten oft als Ausdruck der geistigen Behinderung und nicht als Hilferuf. Unabhängig von einer genauen Diagnose durch die medizinische Versorgung profitieren viele Betroffene von einem sozialen Kompetenztraining. Es dient vor allem der Stärkung des Selbstbewusstseins und einer besseren Bewältigung von negativen Gefühlen, Stress und belastenden Situationen. Einmal in der Woche geht zum Beispiel Herr Zoltan mit anderen Patienten zur Kunsttherapie. In unseren Gemeinschaftsräumen hängen wir dann die Bilder der Malgruppe in Wechselausstellungen aus, zur Freude und Selbstbestätigung der beteiligten Künstler. Auf diese Weise versuchen wir, die Patienten neben der angemessenen Behandlung langfristig zu stabilisieren.“
„Für den Augenblick war’s das.“ Kalenberger steht auf, das Frettchengesicht beugt sich wieder über einen Schriftsatz, man trennt sich, ohne sich zu verabschieden. Vor der Tür steht Frau Ohnenamen und weist Kalenberger mit einer Handbewegung den Weg zurück zum Ausgang.
Kalenberger hat ein Schild neben der Tür entdeckt. So viel Zeit muss sein: Dr. Tobias Novak. Darunter in gleicher Schriftgröße: Klinikleitung.
Frau Ohnenamen scheint ungeduldig zu werden und sagt mit wedelnder Hand: „Bitte.“
Kalenberger verabschiedet sich mit einem Kopfnicken von Frau Albrecht, die jetzt Stein heißt, das Schild auf dem Tresen wurde wohl ausgetauscht.
Kalenberger geht zu ihrem abgestellten Auto. Ob sie mal ein Buch schreiben sollte über ihre Rausschmisse? Da käme so einiges zusammen. Vielleicht ließe sich damit ordentlich Geld verdienen. Für einen Kurzurlaub am Steinhuder Meer würde es doch bestimmt reichen. Schadenfreude wird doch immer gern genommen.
Sie schließt das Auto auf, von irgendwoher macht es „Pssst“.
Nein, jetzt bitte keinen Reifenschaden!
„Pssst!“
Kalenberger schaut sich um. Zwei Autodächer weiter ist der Kopf einer jungen Frau zu sehen. Sie pssstet wieder und winkt mit einer fast unmerklichen Handbewegung.
Kalenberger sieht sich um, ob sie gemeint ist, dann geht sie zu der Frau hinüber. Schmales Gesicht, schlanke Figur, blonde Haare, irgendwie zu einem spaßigen Knoten zusammengebunden, aufgeklebte Fingernägel, Brille mit dunklem Rand. Natürlich, die Frau auf Lars-Ivos Foto, das seine Mutter außer Sichtweite bringen wollte. Zwischen den Fingern der rechten Hand hält sie eine selbst gedrehte Zigarette.
„Sie wollten zu Lars-Ivo Zoltan?“
„Ja.“
„Was wollten Sie denn von ihm?“
„Ihn besuchen.“
„Privat hab ich kein Interesse an witzigen Dialogen. Davon gibt es in der Klinik schon genug.“
„Herr Zoltan war eventuell Zeuge bei einem Mord am Rathaus in Hannover. Ich bin von der Kripo Hannover und hätte gern gewusst, ob er etwas beobachtet hat.“
„Ich habe von dem Mord gelesen. Schrecklich. Aber Lars-Ivo Zoltan können Sie nicht einfach so befragen, selbst wenn Sie zu ihm vordringen. Dann sollten Sie ihn übrigens Zwölf nennen, auf Lars-Ivo Zoltan reagiert er nicht. Den kennt er nicht einmal.“
„Warum erzählen Sie mir das?“
„Zwölf geht es schlecht. Seine Schübe verstärken sich und sie setzen ihm übel zu. Heute früh hat er einen Schuh nach mir geworfen. Es scheint ihn etwas zu bedrängen und er kann es nicht verarbeiten.“
„Vielleicht können Sie Ihr Fachwissen einsetzen und ihn für uns befragen? Natürlich nur inoffiziell?“
„Selbst dann kann und darf ich Ihnen nichts sagen.“ Die Blonde tritt ihre Zigarettenkippe auf dem Schotter aus. „Ich schreibe meine Doktorarbeit über Zwölf und arbeite für kleines Geld als Pflegekraft. Ich bin also zum Schweigen verpflichtet. Aber einen Tipp hätte ich für Ihre Nachforschungen: Schauen Sie doch mal an einem Mittwochnachmittag im Sprengel Museum Hannover vorbei. Da trifft sich eine interessante Malgruppe und die Leutchen sind da viel zugänglicher als in ihren Heimen.“ Sie drückt sich zwischen den Autos an Kalenberger vorbei, sie riecht ganz leicht nach Brennnesseln und Ginster.
„Und Ihr Name?“
„Marschalk, Sarah Marschalk.“
Kalenberger bittet sie um ihre Handynummer und gibt ihr die eigene Visitenkarte. Die junge Frau setzt ihren Motorradhelm auf und schwingt sich auf ihr schweres Motorrad. Kalenberger wartet, bis Sarah Marschalk abgefahren ist, dann setzt sie sich in ihr Auto. Auf dem Beifahrersitz mauzt Augenstern in seiner Tasche, fühlt sich vernachlässigt. Kalenberger krault ihrer einäugigen Katze den Nacken, das Mauzen geht in ein zufriedenes Schnurren über.
Sie fährt ins Büro. „Ich habe einen Entschluss gefasst.“
Obanczek schrickt zusammen. Mit einer Handbewegung wischt er Kekskrümel auf dem Schreibtisch zusammen und wirft sie in den Papierkorb. Wenn gerade keine neuen Fälle reinkommen, spielt er mit den Kekskrümeln Tipp-Kick auf ein Büroklammertor. „Wie ist es ausgegangen?“
„Zwei zu null für Hannover.“
Manchmal ist Obanczek auch Wolfsburg oder St. Pauli.
„Gestern lag in der Zeitung ein Schuhprospekt. Da ist mir zum ersten Mal so richtig aufgefallen, dass die Herrenschuhe durchweg robuster und bequemer aussehen als Frauenschuhe. Ich will in der Stadt mal in ein Paar reinschlüpfen.“
„Nimm welche mit Stahlkappen und Stoßeisen.“
„Stoßeisen gibt es doch schon lange nicht mehr. – Fährst du mich nach Feierabend in die Stadt?“
„Och, nööö. Ich muss auch mal abschalten.“
„Wenn ich keine neuen Schuhe bekomme, schicke ich dich nächste Woche zu den Junkies in den Hauptbahnhof Leibesvisitationen machen.“
„Ich koche doch schon die ganze nächste Woche Kaffee.“
„Du kannst auch in einer Einfahrt stehen bleiben, und ich bin ganz schnell mit dem Einkauf fertig.“
„Ach, Mann ...“
„Frau! – Einen Cappuccino in der Markthalle spendiere ich auch.“
Sie sitzen an einer Kaffeebar in der Markthalle. Kalenberger hat sich zwei Paar Herrenschuhe gekauft: Ein rotes und ein schwarzes. Passen wie angegossen, meint sie. Meint sie nach jedem Schuhkauf.
Ein Mann mittleren Alters tritt an die Bar. „Darf ich?“, er weist auf den freien Hocker neben Kalenberger.
„Jein!“ Ein Nein von Obanczek, ein Ja von Kalenberger. Obanczek sieht sich den Mann genauer an. Schlank, dunkle Haare, markantes Gesicht, tadelloser Anzug, Krawatte perfekt gebunden. Obanczek seufzt, seine Vorgesetzte ist weisungsbefugt.
Der Neue bestellt sich einen Latte macchiato. Man kann an der Bar nichts reden, ohne dass der Nachbar etwas mitbekommt. Also kommt man über zwei, drei neckische Bemerkungen ins Gespräch.
Der Neue stellt sich als Karsten Kaufmann vor, Geschäftsführer eines Buchverlags im Weserbergland, Obanczek sich und seine Begleiterin als Vollzugsgehilfen richterlicher Anordnungen.
Kaufmann berichtet von seinen Buchveröffentlichungen. Krimis mit überregionalem Bezug, Nordsee, Ostsee, Westerwald, Wuppertal Hildesheim, Rheinmosel und so weiter, und so weiter ...
Karsten Kaufmann nippt an seinem teuflisch heißen Latte macchiato. „Schwerpunkt ist natürlich unsere eigene Region: Weserbergland, Hildesheim, Hannover ...“ Er lacht. „Ich will Ihnen nichts verkaufen! Aber wenn Sie in eine Buchhandlung gehen, schauen Sie doch mal nach Krimis aus unserer Region. Da gäbe es zum Beispiel eine Casting-Queen, die in der Weser ertrunken ist, oder die männliche Leiche im Schlossteich der Hämelschenburg. Auch den verwaisten Chinesenkopf im Söltjer-Brunnen in Bad Münder und erst die Knochenfunde in der Kleingartenanlage an den Töneböns Teichen. Alles Spannung pur!“ Sein Smartphone vibriert auf der Theke, Karsten Kaufmann entschuldigt sich, schaut auf das Display. „Ich muss los, ein Besprechungstermin bei Hugendubel wurde vorgezogen.“ Er rutscht vom Hocker, trinkt noch einen Schluck. „Sie erleben in Ihrem Job doch auch eine Menge. Wenn Sie Lust haben, darüber einen Krimi zu schreiben, vielleicht beide zusammen ...“ Karsten Kaufmann legt seine Visitenkarte auf den Tresen. „Aber aktuell muss er sein und spannend. Wir sind auf einem guten Weg!“ Er greift seinen Aktenkoffer und ist auch schon verschwunden.
Lars-Ivo Zoltan sitzt auf seinem Bett. Auf die Tagesdecke ist von Lars-Ivo mit Textilfarbe ein struppiger Hund gemalt worden. Lars-Ivo hat die Hände auf die Oberschenkel gestützt. Ihm gegenüber sitzt Sarah Marschalk, eine offene Schreibmappe für das Protokoll auf den Knien.
Wie heißt du?
(Lars-Ivo Zoltan lächelt)
An deiner Tür steht Walter Köppel.
(er lächelt)
Welchen Namen würdest du dir selber geben?
(längere Pause) Ich, Zwölf! (lächelt)
Warum Zwölf?
Weiß nich.
Wann bist du geboren?
Weiß nich.
Würde Zwölf es wissen?
Ja. (lächelt)
Wann wurde Zwölf geboren?
Zwölf, Zwölf.
Am zwölften Dezember?
Weiß nich. (lächelt)
Wo wohnst du?
In mein’ Bett.
Wie siehst du aus?
Weiß nich.
Wie sieht Zwölf aus?
Ohren, Augen zum Sehen, Rasieren.
Wohnt Zwölf hier allein?
Mit Arno. (leichte Veränderung, sieht sich suchend um)
Was gefällt dir an Arno?
Weiß nich. Was fällt Zwölf zu seiner Malgruppe ein?
Malen.
Was malt Zwölf am liebsten?
Hunde. Bilder malen in Hannover.
Lieblingsfarbe?
Blau.
Lieblingsgeschmack?
Lieblingsgeruch?
– – –
Lieblingsmaler?
Zwölf. Zwölf macht das, malen.
Ist Zwölf ein Künstler?
Weiß nich.
Was kann Zwölf am besten?
Essen.
Was kann Zwölf gar nicht?
Weiß nich.
War Zwölf am Mittwoch in Hannover?
Weiß nich.
Hat Zwölf mit einem Mann am Wasser gesessen?
Weiß nich. Weiß nich. Weiß nix mehr. (springt auf,fegt den Becher mit den Pinseln vom Tisch; Befragung abgebrochen)
Obanczek hat sich in Ralf Zoltans Leben eingegraben.Geboren 1959 in Neubukow, 1994 Übersiedlung nach Hannover, Anstellung im Bauhof, seit 1997 angestellt im Tiefbauamt. Keine Auffälligkeiten, keine Vorstrafen.
Nächster Vorgang: Monika Zoltan, geboren 1958 in Kröpelin. Vor der Heirat Monika Neuburger. Seit 1997 in Hannover, Heirat im gleichen Jahr. Kassiererin, Aushilfstätigkeiten, Kontrolldienst bei den Nahverkehrsbetrieben.
Lars-Ivo Zoltan, geboren 1993 in Neubukow, Sonderschule, psychiatrische Betreuung, keine Ausbildung. Seit 2008 wiederkehrende Aufenthalte in der Walterthal-Klinik. Durchgehend dokumentiertes Krankheitsbild. Schizophrenie. Schuldunfähig.
Letzter Wohnort vor Hannover für alle drei: Rerik an der Ostsee.
„Nichts Besonderes“, sagt Obanczek und schiebt missmutig den Ausdruck Kalenberger über den Schreibtisch.
„Mangels ortsansässiger Verdachtsmomente der einzige Anhaltspunkt.“ Kalenberger schneidet ihren geschälten Apfel in kleine Rechtecke.
„Neue Diät?“, fragt Obanczek.
„Alte Zähne!“ Kalenberger scheint das Apfelstückchen mehr zu lutschen als zu kauen.
„Anhaltspunkte?“ Obanczek klatscht die flachen Hände auf den Tisch. „Wir sind viel zu altmodisch, wir wollen einen Fall klären, statt ihn abzuwickeln. Unser allseits geliebter Erster Kriminalhauptkommissar hat angerufen. Es gäbe Wichtigeres.“
„Die Aufklärungsstatistik ist ein Moloch!“
„Nicht der Fall ist das Entscheidende, sondern die Bearbeitungsdauer in den einzelnen Ermittlungsgruppen. Effektivität als Konkurrenz untereinander. Da werden Ermittlungsergebnisse schon mal manipuliert, geschönt und wegdiskutiert. Das ist doch Ermittlungsalltag. Wir sind überarbeitet, unterbezahlt, angefeindet und ständig gezwungen, ein bis anderthalb Augen zuzudrücken. Am Ende fügen sich dann die Fakten trotzdem zu einem vertretbaren Ergebnis und der Richtige wird verurteilt. Wenn nicht, ist das auch kein Beinbruch. Der Verdächtige hat meist mehr auf dem Kerbholz als diesen einen Fall und ist schuldig für Verbrechen, die nie ans Tageslicht gekommen sind. Wirklich Unschuldige wandern selten in den Knast. Also Stempel drauf und Unterschrift drunter und ab in die Ablage!“
„Herr Obanczek, woher dieser destruktive Skeptizismus?“
„Unser Erster Kriminalhauptkommissar hat meinen Urlaubsantrag für Freitag abgelehnt.“
„Friss es in dich hinein, aber lass es mich nicht spüren.“
„Kein Problem, Frau Vorgesetzte!“ Obanczek schmollt. Kalenberger schiebt ihm das Tellerchen mit den Apfelstückchen über den Tisch. Erst ignoriert Obanczek das Besänftigungsangebot, aber die Äpfel sind vom Markt, schmackhafte Heimatware.
„Einer von uns müsste nach Rerik fahren und sich ein bisschen umhören. Die Fakten sind zwar nicht verdächtig, aber ungewöhnlich. Ralf und Monika Zoltan haben in Rerik gewohnt. Er siedelt in den Westen über, sie kommt nach und bringt einen vierjährigen Sohn mit. Merkwürdige Konstellation. Hat Ralf den gemeinsamen Sohn bei Monika zurückgelassen, als er sich in den Westen abgesetzt hat? Sie haben erst im Westen geheiratet. Ketzerische Frage: Ist es überhaupt ein gemeinsamer Sohn?“
