Tödlicher Wind - Günter von Lonski - E-Book

Tödlicher Wind E-Book

Günter von Lonski

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Beschreibung

Im Emmertal, einem wunderschönen Tal des Weserberglands, soll unterhalb der Hämelschenburg eine Windkraftanlage errichtet werden. Schon die Planung weckt kriminelle Energie von Hameln bis Bad Pyrmont. Da wird der Initiator des Projekts tot in Bad Pyrmonts Dunsthöhle gefunden – der Höhle hat bereits Goethe misstraut. Die Polizei geht von einem Selbstmord oder Unglücksfall aus. Das sieht Hubert Wesemann, der akribische Journalist mit seiner Einmann-Redaktion fürs Regional-Radio, ganzanders. Er wittert einen neuen Fall. Dann wird auch noch der Eigentümer von Grund und Boden, auf dem die Anlageerrichtet werden soll, tot aus dem Graben an der Hämelschenburg gezogen. Hubert Wesemanns zweiter Fall: spannend, unterhaltend, mit einem Schuss Humor und Ironie.

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Veröffentlichungsjahr: 2011

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Günter von Lonski

Tödlicher Wind

CW Niemeyer

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

© 2011 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Brigitte Mück

Umschlagfoto und Bearbeitung: CW Niemeyer Buchverlage

Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Printed in Germany

E-Book-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

E-Book-ISBN: 978-3-8271-9802-0

Auch Wesemanns 2. Fall spielt natürlich wieder an allseits bekannten Orten des Weserberglands, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden. Oder?

Über den Autor:

Günter von Lonski wurde 1943 in Duisburg-Laar geboren. Er studierte an der Hochschule der Künste in Berlin. Seit 1981 schreibt er Romane, Krimis, Jugend- und Kinderbücher, Hörspiele, Kurzgeschichten, Glossen, Satiren und Schulbuchbeiträge. 2010 erhielt er den Rolf-Wilhelms-Literaturpreis, Hameln. Günter von Lonski ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in der Nähe von Hannover. Er schreibt bereits an seinem nächsten Wesemann-Krimi.

Mehr über Günter von Lonski und seine Aktivitäten erfahren Sie unter www.vonlonski.net

Für Nike

Die merkwürdige Dunsthöhle in der Nähe des Ortes, wo das Stickgas, welches mit Wasser verbunden so kräftig heilsam auf den menschlichen Körper wirkt, für sich unsichtbar eine tödtliche Atmosphäre bildet, veranlaßte manche Versuche, die zur Unterhaltung dienten.

Johann Wolfgang von Goethe, Annalen 1804, zu seinem Kuraufenthalt im Jahre 1801 in Bad Pyrmont

EINS

Wenn man eine Beziehung aufbaut, braucht man gemeinsame Interessen, meint Karola. Zum Beispiel Theaterbesuche, Shopping-Touren und romantische Dinnerabende. Dem kann Wesemann nur seine Badeorgien am Sonntagmorgen entgegensetzen. Um ihn nicht zu enttäuschen, hat sich Karola schon zum zweiten Mal auf das feuchte Vergnügen eingelassen.

Sie sitzen sich in der Wanne gegenüber. Im Hintergrund läuft eine CD mit Lydie Auvrays Akkordeonmusik, auf Wunsch von Karola sehr leise. Man prostet sich mit einem Glas Campari-Soda zu. Wesemann streichelt sich mit den Zehen an der Innenseite von Karolas Beinen hinauf. Da klingelt das Telefon. Egal, der Anrufbeantworter soll den lästigen Anrufer abwimmeln. Es ist eine Anruferin:

„Hallo, Wesemännchen, wie geht’s denn so?“

Wesemann fällt das Campari-Glas fast aus der Hand.

„Nun geh schon ran. Hier spricht Lina aus Bad Pyrmont. Dein Mon Chéri mit der Pyrmont-Kirsche, wie du immer gesagt hast. Kennst du mich nicht mehr, oder willst du mich nicht mehr kennen? Ich habe dich jedenfalls nicht vergessen. Melde dich, aber schnell. Ich habe Cord zu Ottendorff gefunden. In der Dunsthöhle. Tot.“

Karolas Augen signalisieren Blitz und Donner zugleich.

„Meldest du dich?“, fragt Karola.

„Natürlich nicht!“ Wesemann, sie glaubt dir nur das erste Wort. Natürlich würdest du jetzt am liebsten aus der Wanne springen und ans Telefon hechten. „Das war lange vor deiner Zeit.“

„Das will ich hoffen.“

„Aber Cord zu Ottendorff? Tot? Der Mann mit den tausend Fingern, die er in zehntausend Sachen hat? – Kann bis morgen warten!“ Wesemann hebt sein Glas und schaut Karola in die Augen.

„Kann es wohl nicht!“, sagt Karola ernüchtert. „Lass das Wasser ab.“

Abrupt richtet sie sich auf, steht nun vor ihm und augenblicklich vergisst Wesemann Pyrmont, Ottendorff und das Mon Chéri.

„Finger weg“, sagt Karola, „und an die Arbeit, bevor es ein anderer tut.“

„Du liebst mich doch nur, weil ich schön, reich und berühmt bin.“

„Raus aus der Wanne, du Spinner, ich koche uns einen Kaffee.“

Wesemann ruft im Polizeikommissariat Bad Pyrmont an. Cord zu Ottendorff? Der liegt in Hameln. Nein, nicht die Leiche! Der Fall! Die Polizeiinspektion hat die Ermittlungen übernommen. Wer zuständig ist? Hauptkommissar Bertram. Aber heute sei Sonntag und da hätte HK Bertram auch ein Privatleben.

„Danke“, sagt Wesemann, „ich habe die Handynummer.“

„Wessen Handynummer?“, fragt Karola. Sie stellt zwei Kaffeetassen auf den Tisch.

„Hauptkommissar Bertram ist zuständig.“

Karola schlägt die Wochenendausgabe der Dewezet auf und sucht die Wohnungsangebote. Für einen Moment blitzt der kleine Stein im Ring an ihrer linken Hand auf. Wesemann betrachtet ihn als Verlobungsring, Karola mehr als Frage. Wesemann lächelt siegessicher. Er greift zum Handy.

„Es war ein Fehler, Ihnen meine Handynummer zu geben“, sagt HK Bertram.

„Ich bin nur neugierig im Dienst unserer Hörer.“

„Zwei Minuten“, sagt HK Bertram.

„Cord zu Ottendorff ist tot?“

„Wer hat Ihnen das denn geflüstert?“

„Michael.“

„Welcher Michael?“

„Erzengel Michael, der Schutzpatron kriminalistischer Ermittlungen.“

„Sind Sie sicher?“

Karola lacht, sieht Wesemann an, schüttelt den Kopf.

„Wieder eine Ihrer tollen Informationen“, sagt HK Bertram, „haben Sie das große Latinum?“

„Wie ist er gestorben?“

„Er saß in der ausgemauerten Grube der Dunsthöhle und hat nicht mehr geatmet.“

„So ein Feigling“, sagt Wesemann.

Er kennt HK Bertrams anspruchslosen Humor, will ihn bei Laune halten und nimmt sein Handy vorsichtshalber schnell vom Ohr. An HK Bertrams meckerndes Lachen wird er sich wohl nie gewöhnen. „Steht die Todesursache schon fest?“

„Wie es aussieht, wird er wohl erstickt sein.“

„Am eingeatmeten Kohlendioxid der Dunsthöhle?“

„Wesemann, Wesemann, Sie sind mir aber ein ganz schneller!“

Wieder dieses nervige Lachen.

„In welche Richtungen ermittelt die Polizei?“

„In alle, Wesemann, in alle.“ Hoffentlich drückt er das Gespräch jetzt nicht weg.

„Ein Verbrechen ist auszuschließen?“

„Wenn Sie mich privat fragen – da ist nichts zu holen. Für Sie. Der Mann hat einfach zu viel getrunken und ist durch Zufall in die Dunsthöhle geraten.“

„Wenn es so einfach ist.“

„Ist es. Was ich Ihnen jetzt sage, ist noch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Wir haben in seinem Jackett die Eintrittskarte für die Spielbank vom gleichen Tag gefunden. Dort konnte man sich sehr gut an Cord zu Ottendorff erinnern. Schließlich ist er Stammkunde. Am Abend vor seinem Tod hat er eine Menge Geld an den Automaten gewonnen und sich in bester Stimmung auf den Weg gemacht.“

„In bester Stimmung ist er dann wenig später in die Dunsthöhle gestiegen und hat sich erstickt?“

„Er hat jedenfalls da gesessen. Noch etwas: Er hatte ein lustiges Windrädchen in der Hand. So ein Spielzeug für kleine Kinder, die Spaß daran haben, es durch Pusten in Fahrt zu bringen.“

Wesemann erträgt HK Bertrams Lachen. Er muss mehr wissen.

„Eigenartig. So ein Kinderkram in der Hand eines Erwachsenen?“

„Wesemann, das waren mehr als zwei Minuten. Morgen können Sie einen vorläufigen Bericht als Fax abrufen. Schönen Sonntag noch!“

Wesemann legt das Handy auf den Tisch.

„Eine Vierzimmerwohnung im Klütviertel für …“, Karola sucht, „… Miete steht nicht in der Anzeige, hört sich aber sonst ganz gut an. Mit Balkon, Bad mit Fenster, Gäste-WC, neuer Einbauküche – hörst du mir überhaupt zu?“

„Natürlich.“

„Es ist ganz schön anstrengend, dich zu lieben.“

Wesemann schenkt ihr ein abwesendes Lächeln. „Ich hab doch vor einiger Zeit einen Bericht über die Dunsthöhle gemacht. Im Archiv …“

„Ich hol uns ein Stück Kuchen vom Bäcker. Für dich Bienenstich wie immer?“

„Du bist lieb!“

Karola macht sich auf den Weg, und Wesemann verschwindet in seinem Studio, wechselt die kaputte Glühbirne in der Deckenlampe aus und schneidet sich an der Lampenfassung. Blut, Blut, überall Blut? Nein, ein kleines Pflaster wird den Schaden schnell beheben. Karola muss gleich zurück sein, sie weiß, wo das Pflaster liegt. Seit sie seine Wohnung aufgeräumt hat, findet er nichts mehr wieder.

Mit der unverletzten Hand wühlt sich Wesemann durch die Schubladen mit den abgelegten Radiobeiträgen. Bad Pyrmont. Nichts. Aha, einfach nur Pyrmont. Geranien, Goethe, Heilquellen, Unterabteilung Dunsthöhle.

Karola kommt zurück, erst das Pflaster, dann Kaffee und Kuchen, schließlich startet Wesemann den MP3-Player mit seinem vor Jahren gesendeten Rundfunkbeitrag.

… einzigartiges Naturphänomen am Helvetiushügel in Bad Pyrmont. Die Dunsthöhle. Sie liegt auf dem Gelände eines ehemaligen Steinbruchs, in dem Buntsandstein gebrochen wurde. Immer wieder fanden die Steinbrucharbeiter auf dem Grund der Höhle tote Tiere, die offensichtlich unverletzt waren. Der Pyrmonter Brunnenarzt Dr. Johann Philipp Seip, der 1712 nach Pyrmont kam, ging diesen Erscheinungen nach. Er kam zu dem Ergebnis, dass Schwefeldunst die Tiere ins Jenseits beförderte. Mit Genehmigung des Fürsten Friedrich Anton Ulrich zu Waldeck und Pyrmont ließ er 1720 die Grube ausmauern und darüber ein kleines Gewölbe errichten, um für die Kurgäste ein trockenes Schweißbad einzurichten, das Leuten aller Schichten gute Besserung und Hülfe gegen Geschwulst der Füße, Gichtschmerzen, Steifigkeit der Glieder und Linderung anderer Leiden bringen sollte.

Später erkannte man, dass es kein Schwefel, sondern Kohlendioxid ist, das in der Dunsthöhle trocken austritt. Das Gas dringt durch die Risse und Gesteinsklüfte der Quellspalte an die Oberfläche, ist eineinhalb Mal schwerer als Luft und bleibt daher in der Grube liegen. Selbst Johann Wolfgang von Goethe war von den vorgeführten Experimenten in der Grube schwer beeindruckt. Doch Vorsicht mit eigenen Versuchen, das Kohlendioxid auf dem Grund der Grube wirkt narkotisierend und erstickt auch die hartnäckigsten Lebensgeister nach sieben bis zehn Minuten.

„Ein langer Bericht“, sagt Karola, „und Baxmann hat ihn so über den Sender gehen lassen?“

„Für Johann Wolfgang ist ihm nichts zu viel, da steht er im Geiste stramm.“

„Komm“, sagt Karola und räumt die Kaffeetassen ab, „lass uns nach Pyrmont fahren, sonst bist du den ganzen Tag wieder geistig abwesend.“

„Wenn du meinst?“

Wesemann nimmt seine Tasche und Karola den Autoschlüssel für den Corsa.

„Willst du fahren?“, fragt Wesemann überrascht.

„Du hast heute schon zu viel geschluckt“, sagt Karola.

„Was soll ich denn geschluckt haben?“

„Wasser!“ Karola lacht. Wesemann, die steckt dich in die Tasche, wenn du nicht aufpasst.

Der Sender ruft an. Baxmann. Wesemann mit seiner Einmannredaktion für Funk und Presse ist angewiesen auf eine wohlwollende Auftragsvergabe. Baxmann hat was von einem interessanten Todesfall in Bad Pyrmont gehört. Da Wesemann nun mal sein bester Mann sei, habe er gleich an ihn gedacht.

„Bin schon unterwegs“, sagt Wesemann.

„Wollen Sie denn keine Einzelheiten?“

„Haben Sie welche?“

„Eigentlich nicht, bloß den Namen: Cord …“

„… zu Ottendorff.“

„Woher wissen Sie?“

„Ich bin doch Ihr bester Mann!“ Wesemann legt auf.

Karola und Wesemann fahren nach Bad Pyrmont. Staatsbad. Zwanzig Kilometer südwestlich von Hameln.

Als Heilbad bereits den Römern bekannt. Mit einem der schönsten Kurparks Deutschlands. Beherbergt die größte Palmenfreianlage nördlich der Alpen. In Anwendungen warme Sole. Ideal für Allergiker und wohltuend bei Atembeschwerden.

Sie stellen das Auto auf das Parkdeck in der Rathausstraße und gehen die Rauchstraße hinauf. Die Dunsthöhle ist verwaist. Kein Mensch zu sehen.

„Nicht mal rotweiße Bänder der Polizei.“ Karola ist enttäuscht.

„Die Polizei muss auch sparen“, meint Wesemann, „und so ein selbstverschuldeter Todesfall ist schnell fotografiert und protokolliert.“

An der Eingangstür des Höhlenumbaus, der aussieht wie ein überdimensionaler gläserner Hut mit runden Bommeln auf der Krempe, hängt ein Schild: Wegen Krankheit geschlossen.

„Gebe Gott, dass ich nie so krank werde“, sagt Wesemann.

Karola streckt die Hand nach dem Türgriff aus.

„Hab ich schon versucht“, sagt Wesemann, „die Tür ist abgeschlossen.“

„Schade“, sagt Karola, „man kann überhaupt nicht in die Grube sehen.“

„Die Grube ist so, wie sie immer ist: leer.“

„Bist du sicher?“

„Cord zu Ottendorff ist weg, die Polizei ist weg und der Bericht für den Sender wird wohl eine etwas längere Sendepause.“

Wesemann dreht sich um und geht den leichten Anstieg zu den Ruhebänken hinauf.

„So leicht verdienst du dein Geld?“, fragt Karola spöttisch.

„Was soll ich denn noch herausfinden, was die Polizei nicht längst ermittelt hat?“

„Wenigstens scheint die Sonne.“ Karola wischt mit einem Papiertaschentuch die Sitzfläche einer Bank sauber und setzt sich.

Wesemann stellt seine Tasche neben sie. „Ich sehe mich noch ein wenig um.“

„Du gibst wohl nie Ruhe?“ Karola verschränkt die Hände hinter dem Kopf und lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen.

„Hätte ich dich sonst erobert?“

„Hast du?“

Wesemann gibt ihr einen Kuss und stapft los.

Er schaut in die Papierkörbe, schiebt die unteren Zweige der Büsche mit dem Fuß zur Seite, winkt Karola zu, um den Kontakt zu halten. Sie hat die Augen geschlossen. Wesemann läuft hin und her. Nichts. Im Grünzeug hinter dem Gedenkstein für den Pyrmonter Brunnenarzt Dr. Johann Philipp Seip findet er eine Flasche. Er hebt sie auf und eilt zu Karola.

„Nicht mal eine Pfandflasche!“, sagt Karola, als Wesemann vor ihr steht und sie die Augen aufschlägt.

Wesemann betrachtet die Flasche jetzt genauer. „Hat nicht lange in dem Gestrüpp gelegen.“ Er will Karola die Flasche reichen, doch Karola lässt ihre Hände hinter dem Kopf. „Das Etikett ist noch fast trocken.“

Karola gähnt.

„Champagner!“, stellt Wesemann fest. „Marke Paul Michel, kenn ich nicht.“

„Du kennst doch bloß den Schampus von Aldi!“

„Da ist wenigstens drin, was draufsteht.“ Wesemann setzt sich neben Karola.

„Sonst noch was gefunden?“

„Nur Klopapier.“

„Igitt!“ Sie rückt ein Stück von ihm ab.

Wesemann wirft die Flasche in den Abfallkorb neben der Bank und wischt sich die Finger an einem von Karolas Papiertaschentüchern ab.

„Wie kann sich Ottendorff denn selbst umgebracht haben?“

„Ganz einfach“, Karola schmunzelt, „er gewinnt in der Spielbank eine Menge Geld. Darüber ist er so sauer, dass er aufbricht und schnurstracks zur Dunsthöhle geht, um sich umzubringen. Er durchdringt die abgeschlossene Tür, schleicht die Stufen in die Grube hinunter und erstickt sich auf der drittletzten Stufe.“

„Was für ein dämlicher Tod“, sagt Wesemann. „Und dazu noch völlig unorganisiert.“

Ein kräftiger Mann in weißem Hemd und schwarzer Hose nimmt das Schild von der Eingangstür der Dunsthöhle.

„Den schickt der Himmel.“ Wenn er will, kann Wesemann schnell wie ein Wiesel sein. Er läuft die Treppenstufen zum Eingang der Dunsthöhle hinunter. Karola nimmt seine Tasche und folgt ihrem eifrigen Ermittler.

„Wesemann.“

Er streckt seine Hand dem Mann an der Eingangstür entgegen.

„Morsch“, sagt der Mann reserviert.

„Schrecklich“, meint Wesemann.

„Vielleicht kommen jetzt endlich mehr Leute. Sensationen ziehen schließlich mehr als Wunder!“ Herr Morsch betreibt oben an den Treppenstufen zur Dunsthöhle einen kleinen Kiosk mit einem Angebot an kalten Getränken, Postkarten und Informationsmaterial zur Höhle.

„Wie ist er denn da reingekommen?“, fragt Wesemann Herrn Morsch.

„Fragen Sie mich etwas Leichteres.“ Herr Morsch wirkt ein wenig abgespannt. „Ich habe schon der Polizei erklärt, dass es eigentlich unmöglich ist, die Höhle ohne mein Wissen zu betreten. Ich habe einen Schlüssel und sonst niemand.“

„Sonst niemand?“

„Nur noch der Wachdienst, der jede Nacht seine Runden dreht. Die Stadtverwaltung hat natürlich auch einen Schlüssel, genauer gesagt, das Friedhofsamt.“

„Also unmöglich, unbemerkt hineinzukommen?“

„Ausgeschlossen.“

„Aber drin war er nun mal.“

„Wollen Sie mir unterstellen …“

Wesemann sieht sich die Tür ein wenig genauer an. Stabil und nicht leicht zu knacken. Schon gar nicht von einem angetrunkenen Mann ohne Werkzeug. Ohne Werkzeug? Vielleicht die Champagnerflasche? Sie könnte doch von zu Ottendorff stammen.

Im Kiosk oberhalb der Höhle kauft Wesemann dann eine Ansichtskarte und fragt nach einer Plastiktüte. Er erhält eine ausrangierte Tüte vom Penny-Markt. Herr Morsch schaut ihm misstrauisch hinterher.

„Wir sollten die Champagnerflasche HK Bertram zur Untersuchung mitnehmen.“ Wesemann hängt sich seine Tasche über die Schulter. „Wenn sie von Cord zu Ottendorff stammt, könnten Fingerabdrücke weiterhelfen. DNA, DFB, DSDS oder so.“

„Du Spinner!“ Karola drückt sich an ihn. Er geht zum Abfallkorb, steckt seine Hand in die umgestülpte Plastiktüte und holt damit die Flasche heraus.

„Echte Profiarbeit“, spöttelt Karola, „wie im Fernsehen.“ Sie gehen zum Auto zurück, Wesemann legt die leere Champagnerflasche in den Kofferraum. „Noch ein Tässchen Kaffee?“

Ein paar Minuten später sitzen sie in einem Café in der Brunnenstraße. Karola hat sich einen Latte macchiato bestellt und Wesemann eine Eisschokolade.

„Da fehlt etwas.“ Wesemann saugt an dem Trinkhalm in seinem Glas.

„Zucker?“

„Es fehlt etwas in meinem Vorstellungsbild vom gestrigen Abend.“ Wesemann greift zum Tütchen mit dem Zucker. „Damit überhaupt etwas zusammenpasst, müsste noch eine Person hinzukommen. Eine Person, die mit Ottendorff gefeiert hat, mit ihm durch die Gegend gezogen ist und ihm dann das Geld abgenommen hat.“ Er schüttet den Zucker aus dem Tütchen in seine Eisschokolade.

„Und danach?“

Karola gähnt schon wieder.

„Du hast heute Nacht geschnarcht wie ein zufriedenes Faultier“, sagt Wesemann.

„Ich habe keine Luft gekriegt, weil du dich so breit gemacht hast.“ Karola seufzt. Erholung vom Alltagsstress ist so ein Wochenende mit Wesemann jedenfalls nicht. „Du bist mir einfach zu anstrengend”, jammert sie, „ich brauche einen Beamten, der sonntags lange schläft, keinen Lärm macht und sein Oberhemd für den nächsten Tag selber bügelt.“

„Man müsste sich mal in der Spielbank umhören und Ottendorffs Weg zur Dunsthöhle rekonstruieren.“

„Aber ohne mich“, sagt Karola.

ZWEI

Wesemann trägt ein gebügeltes, weißes Hemd unter seiner Lederjacke, als er sich am nächsten Morgen auf den Weg zur Polizei macht. Von seiner Wohnung in der Deisterstraße bis zur Zentralstraße sind es nur ein paar Schritte.

HK Bertram ist in einer wichtigen Besprechung. Wesemann gibt die Champagnerflasche in der Anmeldung ab und schreibt noch einen Zettel dazu:

Gefunden hinter dem Seip-Denkmal an der Dunsthöhle. Vielleicht interessant im Hinblick auf Fingerabdrücke etc., Gruß Wesemann

Eine mürrische Beamtin nimmt die Plastiktüte und das Blatt Papier an sich. „Was heißt denn etc?“ Wesemann ruft Karola auf dem Handy an. Sie kann jetzt nicht reden, hat zu viel zu tun. Dann eben nach Pyrmont fahren.

Das Parkdeck in der Rathausstraße ist besetzt. Wesemann muss einige Blocks umrunden, bevor er einen freien Platz findet. Halbfreien. Parkverbot. Wird schon nichts passieren.

Er geht die Brunnenstraße hinauf, trinkt im Stehen einen Kaffee. Vor dem Drogeriemarkt dreht sich das Kinderkarussell mit Hund, Katze, Kuh und Pferd. Lärmende Kinder springen von der Drehscheibe hinunter und wieder auf. Ein etwas dickerer Junge kann der Geschwindigkeit nicht folgen, kommt ins Straucheln, hält sich an einem der Gitterstäbe des Karussells fest und wird eine halbe Umdrehung mitgeschleift. Ein Aufschrei neben Wesemann, eine Tasse fällt zu Boden, eine Frau läuft hinüber zum Karussell, um das dicke Kind zu trösten.

Ein paar Schritte die Brunnenstraße hinunter hat Lina Franitzki Obst und Gemüse vor ihrem Laden aufgebaut. Lina, rund, weiblich, warm mit lachsroten Haaren.

Wesemann trinkt seinen Kaffee aus und schlendert zum Laden hinüber. Eine ältere Frau verlässt das Geschäft, hält sich an dem Griff neben der Tür fest, um die flache Stufe zu meistern. Als Wesemann den Laden betritt, steht Lina mit dem Rücken zu ihm und sortiert Bananen ins Regal. „Bin gleich so weit.“

„Keine Eile!“

Lina scheint Wesemanns Stimme sofort erkannt zu haben. Sie dreht sich auf dem Absatz um, lässt Bananen sein und breitet die Arme aus.

„Mein Wesemännchen!“

Das Rot ihrer Haare ist nur ein wenig matter geworden, Richtung pochierter Lachs.

„Schön, dich zu sehen.“

Lina lässt die Arme sinken. „Komm setz dich. So ein Schreck am frühen Morgen. Und niemand da, der mich tröstet.“

Ein jüngerer Mann betritt den Laden, kauft zwei Äpfel, dann doch nur einen. Lina schiebt Wesemann in einen kleinen Nebenraum, Wesemann setzt sich auf einen wackeligen Holzstuhl. „Du kommst sicher wegen diesem Ottendorff“, Lina stellt sich in den Durchgang zwischen Laden und Nebenraum, „das war schrecklich, ganz schrecklich. Und ich habe ihn gefunden.“

„Was machst du denn so früh am Sonntagmorgen an der Dunsthöhle?“

„Auch ich werde nicht jünger und muss was für meine Figur tun …“

Wesemann, sie erwartet jetzt eine lobende Bemerkung hinsichtlich ihres Aussehens! Wesemann betrachtet sie wohlwollend.

„… und in der Woche habe ich zu viel Arbeit. Ich muss doch den Laden ganz alleine schmeißen.“

Statt Schmetterlinge im Bauch spürt Wesemann ein leichtes Kribbeln im Nacken. Reiß dich zusammen, Wesemann!

„Ich jogge.“

„Toll“, sagt Wesemann.

„Die Brunnenstraße hinauf, dann über die Rathausstraße, Rauchstraße weiter, rechts ab, links, rechts. Immer drei Runden, das schlaucht ganz schön. Lohnt sich aber. Man sagt, dass ich für mein Alter noch recht gut aussehe.“ Sie fällt leicht ins Kreuz und dreht sich ein wenig zur Seite. Wesemann kribbelt es jetzt bis in die Finger.

„Jede Runde so zehn Minuten. Doch gestern fing es plötzlich an zu regnen. Ich habe mich nach einem Schutz umgesehen und bin dann unter das Vordach der Dunsthöhle. Da hat es so richtig gepladdert. Und dann frischte auch noch der Wind auf.“

Eine Kundin will drei Stangen Porree und vier rote Zwiebeln.

Lina lässt sich Zeit, Wesemann kann nicht ungesehen abhauen – wie damals. „Ich hab mich also gegen die Glasfassade gedrückt, aber das hat auch nicht viel geholfen. Und plötzlich sehe ich, dass die Tür zur Dunsthöhle ein bisschen offen steht. Ein kleiner Stein hatte sich zwischen Tür und Rahmen verklemmt.“

Jetzt wird Spitzkohl verkauft. Anderthalb Kilo und eine Salatgurke.

„Der Wachdienst hat wohl ein bisschen oberflächlich kontrolliert. Jedenfalls habe ich die Tür aufgezogen und bin hinter die Glasfassade des Höhlenumbaus geflüchtet.“

Irgendwo hat Wesemann gelesen, dass ein Mann trotz aller Anstrengungen nicht monogam sein kann. Liegt ihm einfach nicht.

„Ich war noch ein bisschen außer Atem und hab mich ein wenig am Chromgeländer der ausgemauerten Grube abgestützt. Und da habe ich ihn gesehen.“

Ein Kilo Tomaten, ein Bund Frühlingszwiebeln und eine Petersilienwurzel.

„Er saß unten auf einer Stufe in der Grube, mit dem Rücken gegen die Mauer gelehnt. Und wie der ausgesehen hat. Schrecklich. Ganz weiß im Gesicht. Und Schweiß stand ihm auf der Stirn. Kalter Schweiß. Die Augen waren aufgerissen, als hätte er eine Erscheinung. Und seine langen schwarzen Haare klebten an seinem Kopf wie eine enge Bademütze und sein teurer Anzug, total verknittert und verdreckt.“

„Das konntest du alles vom Rand der Grube aus sehen?“

„Eine Frau sieht so etwas!“

Die Frau mit den Tomaten kommt zurück und wünscht zusätzlich ein Bund Basilikum. Lina hat nur Töpfchen.

„Ich hab geschrien und geschrien. Als keiner kam, habe ich die Polizei angerufen und dann gleich dich.“

Wesemann hätte sie gern getröstet, hält sich aber zurück. „Ist dir sonst noch etwas aufgefallen?“

„Nichts, absolut nichts. Doch. Er hielt ein Windrädchen in der Hand.“

„Ein Windrädchen in der Hand?“

„In seiner linken.“

„Bist du sicher?“

„Ganz sicher.“

„Danke, dass du mich angerufen hast. Wenn ich einen Bericht daraus mache, werde ich dich lobend erwähnen.“

Lina gibt den Durchgang zum Laden nicht frei. Küsschen links, Küsschen rechts und dann die Mitte. Sie schmeckt ganz leicht nach Sellerie. „Lass dir nicht wieder drei Jahre Zeit!“

„Du weißt doch, der Job!“ Wesemann hängt sich die Tasche um und fasst nach dem Türgriff.

„Es war einfach gruselig, wie er da mit dem Windrad gesessen hat“, sagt Lina, „wie ein Gespenst, das von einem Kindergeburtstag gekommen ist. Und diese Augen. Wie sie mich angesehen haben. Entsetzlich. Ich habe die letzte Nacht kein Auge zugemacht. Hoffentlich kann ich heute Nacht schlafen, so allein …“

„Danke“, sagt Wesemann, „du hast mir sehr geholfen.“ Wesemann winkt ihr noch einen Gruß zu und ist raus, fährt zurück in die Deisterstraße. Baxmann hat gemailt:

Wir warten auf Ihren Bericht. Was hat Ottendorff aus dem Anzug gehauen?

Mein Gott, ist der wieder mal witzig. Wesemann begibt sich in sein kleines Studio in der Abstellkammer, um den Bericht für den Sender aufzunehmen und dann schnellstens zu übermitteln:

Ein tragischer Todesfall in der Dunsthöhle von Bad Pyrmont. Der allseits bekannte Geschäftsmann Cord zu O. wurde am frühen Sonntagmorgen in der Grube der Dunsthöhle entdeckt. Tot. Erstickt im Kohlendioxid der Höhle. Er saß auf einer der unteren Stufen mit einem bunten Windrädchen in der Hand. Wie Cord zu O. in die bestens gesicherte Höhle gekommen ist, war zuerst ein Rätsel. Doch die Zeugin berichtet, dass die Tür zur Höhle um wenige Millimeter offen stand, als sie vor einem heftigen Regenguss Schutz suchte. Nach ihrer Aussage hatte sich ein winziger Stein zwischen Türrahmen und Tür verklemmt. Cord zu O. hatte nach einem gewinnträchtigen Abend die Pyrmonter Spielbank in gehobener Stimmung verlassen. Er wird sich in alkoholisiertem Zustand verlaufen haben und in der Dunsthöhle gelandet sein. Eine Fremdeinwirkung schließt die Polizei vorerst aus. Allerdings wurde bei Cord zu O. auch nichts von dem gewonnenen Geld gefunden. Ein undurchsichtiger Fall, wir bleiben dran. Hubert Wesemann für radioTOTAL.

Wesemann rührt sich einen Teelöffel Luvos Heilerde in ein Glas Wasser. Hat ihm Karola gegen sein Sodbrennen verordnet. Heute Morgen hat er die Einnahme vergessen. Wird Zeit, dass er mit Karola zusammenzieht. Er nimmt sein Handy und ruft Karola an.

Noch bevor er etwas sagen kann, hat sie eine Frage: „Woher weißt du das mit der offen stehenden Tür?“

„Recherche.“

„Bei deiner Pyrmont-Kirsche?“

„Rein beruflich.“ Dieser eine Kuss fällt sicher nicht ins Gewicht. War doch nur ein ganz kleiner.

„Weißt du was“, sagt Karola, „lass mich meine Arbeit machen und du machst deine.“

„Und unser Tangokurs am Donnerstag?“ Da hat Karola bereits aufgelegt.

Kaum hat Wesemann das Gespräch beendet, ruft Baxmann an. „Tolle Einstimmung. Den Hörer neugierig machen auf die weiteren Berichte. Bleiben Sie dran, Wesemann. Sie sind von der Alltagsarbeit freigestellt.“

„So eine Recherche ist langwierig.“

„Ich weiß, Wesemann, aber wer soll es machen, wenn nicht Sie?“

„Ich dachte da an einen kleinen Vorschuss auf die kommenden Berichte …“

„Ich nicht!“ Baxmann beendet das Gespräch.

Zwei Gespräche, zwei Nieten. Soll er sich vielleicht eine grüne Schürze umbinden und mit Lina Schlangengurken, Tafelbirnen und Kartoffeln verkaufen?

Wesemann fährt nach Pyrmont zur Spielbank. Er war noch nie in einer Spielbank. Am Eingang erwarten ihn bestimmt tief dekolletierte Damen, die ihn mit einem verheißungsvollen Lächeln begrüßen und an den Roulettetisch geleiten werden. In Pyrmont gibt es seit Jahren keinen Roulettekessel mehr, muss er sich sagen lassen. Nur noch Automatenspiele. Wesemann durchsucht sein Portemonnaie nach Münzen. Mehr als sechs Euro wird er nicht setzen.

Im Saal stehen jede Menge Spielautomaten. Es summt und brummt, ab und zu unterbricht das Klacken der Chips die gedämpfte Stille. Nur wenige Spieler sitzen vor den Geräten.

Wesemann schlendert von Automat zu Automat. Bleibt hinter einem Mann stehen, der spielt und gleichzeitig in einem Prospekt blättert. Der Automat vor ihm zieht plötzlich eine Superschau ab, Geheul, Blitzlicht und farbige Raketen. Doch der Mann sieht nicht mal von seinem Prospekt auf.

„Ist das die Serie?“, fragt Wesemann.

„Sind Sie die Glücksfee?“

„Entschuldigen Sie, ich verstehe nichts davon“, sagt Wesemann.

„Das merkt man“, sagt der Mann.

„Sie sind öfter hier?“

„Die große Serie will einfach nicht fallen. Neunzigtausend im Jackpot. Neunzigtausend! Und wie sieht meine Serie aus? Zweihundert einsetzen und achtzig gewinnen. Merde!“

„Kennen Sie Cord zu Ottendorff? Der soll auch öfter hier gespielt haben.“

„Der Tote aus der Dunsthöhle?“

Der Mann sieht Wesemann an.

Der Mann ist gar kein Mann, sondern eine ziemlich maskuline Frau.

„Cord zu Ottendorff muss am Samstagabend hier gewesen sein.“

„Und hat mächtig auf den Putz gehauen. An mehreren Automaten den großen Gewinn abgefischt. Das müssen über achtundvierzigtausend gewesen sein. Hat aber sofort eine Lokalrunde Prickelwasser spendiert.“

„Einen Paul Michael?“

„Sie meinen sicher Paul Michel. Den bekommen Sie drüben im Palas, so um die fünfzig Euro. Hier gibt es nur Sekt.“

Wieder spektakelt der Automat.

„Ich will Sie nicht stören“, sagt Wesemann.

„Bleiben Sie ruhig noch ein bisschen, dann können Sie mir beim Tragen der Chips helfen, die der Automat gleich ausspucken wird.“

„War Cord zu Ottendorff allein?“

„Der ist nie allein. Immer mit einem Spezi unterwegs. Diesmal mit Hermann Tenschel. Der denkt wohl auch, dass ihn keiner erkennt, wenn er sich eine dunkle Brille aufsetzt. Aber alle wissen, dass es der Kreistagsabgeordnete ist. Leiter des Ausschusses für Regionalplanung, Umwelt und Naturschutz, um genau zu sein.“

Wesemann spielt mit den Münzen in seiner Hand.

„Versuchen Sie’s doch auch mal.“ Die Person weist auf einen Automaten zur rechten Hand. „Anfänger haben immer das meiste Glück.“

Wesemann wirft seine wenigen Münzen in den gierigen Automatenschlitz.

„Wissen Sie zufällig, ob die beiden zusammen weggegangen sind?“

„Weiß ich“, sagt die Person. „Kurze Zeit vor mir. Muss so gegen eins gewesen sein.“

Wesemanns Automat signalisiert Gewinn. Er drückt auf Auszahlung. Wesemann will sein Glück nicht überstrapazieren und steckt die Chips in die Jackentasche.

„Und allein waren sie auch nicht“, sagt die herbe Dame. Sie wendet sich jetzt dem eigenen Automaten zu, drückt kurz hintereinander mehrere Knöpfe, wartet gespannt und kommentiert dann das Ergebnis mit „Merde!“

Jetzt nicht lockerlassen, Wesemann. „Sie waren nicht allein?“

„Die Petite hat sich zu ihnen gesellt. Fiona Petite.“

„Müsste ich sie kennen?“

„Fiona würde Sie nicht kennen wollen. Heißt eigentlich Ilona Jungk und arbeitet in der Therme. Sucht sich gelegentlich Herren mit dicker Brieftasche und diesmal waren eben Ottendorff und Tenschel dran. Auch nicht mehr die Jüngste, aber Charme hat sie, das muss man ihr lassen. Zu dritt sind sie in bester Stimmung ab, wollten noch was unternehmen.“

Der Automat brummt bedrohlich, eine Sirene ertönt, eine zweite. Alarm? Die Person wendet sich ihrem Spielautomaten zu.

„Haben Sie das auch der Polizei …“

„Keine Störung mehr, ich muss mich jetzt konzentrieren. Morgen fahre ich in den Süden und brauche noch etwas Taschengeld. Der Winter im Norden ist Gift für meine Bronchien.“

„Und Ihr Name?“

„Superchance und Multiplikator sieben!“

Wesemann zieht sich zurück.

Tauscht seine Chips in Bargeld. „Glückwunsch!“, sagt die Bedienstete der Spielbank und händigt ihm acht Euro vierzig aus.

„Toller Gewinn“, sagt Wesemann. Er verlässt die Spielbank. Leichter Regen lässt das Kopfsteinpflaster glänzen. Er sucht Schutz unter einem der mächtigen Bäume vor dem Gebäude und ruft in der Therme an. Frau Jungk? Ilona Jungk? Sie hat Frühdienst. Außerdem vermitteln wir keine Privatgespräche an unsere Mitarbeiterinnen.

„Dumme …“, Vorsicht, Wesemann, deine Handynummer ist sichtbar, „… Situation. Aber vielen Dank.“

„Vielleicht besuchen Sie uns einmal. Wir haben auch für den Herrn interessante Angebote. Zum Beispiel unsere Ayurveda-Wellnessanwendungen im Hamambereich.“

Wesemann unterbricht die Verbindung und ruft die Auskunft an.

Jungk, Ilona ist im Telefonbuch von Bad Pyrmont nicht verzeichnet. Auch nicht in der Umgebung. Doch die Auskunft findet einen halbwegs passenden Eintrag: Jungk, I., Welsede.

„Darf ich Sie mit der Telefonnummer verbinden?“

„Nur keine Umstände, es reicht, wenn Sie mir die Telefonnummer verraten.“

Wesemann notiert die Nummer, überlegt einen kurzen Augenblick und wählt dann die Telefonnummer in Welsede.

„Hallo?“

„Hier spricht Hubert Wesemann. Ich bin Journalist und arbeite für Rundfunk und Presse.“ Kurzzeitig hatte er überlegt, sich von Wesemann zu nennen.

„Habe ich etwas gewonnen?“

„Ich würde gerne mit Ihnen sprechen.“

„Also nichts gewonnen? Nicht mal eine CD oder eine Tasse mit Werbeaufdruck des Senders?“

„Sie waren doch am Samstag mit Cord zu Ottendorff und Hermann Tenschel zusammen?“

„Was heißt schon zusammen?“

„Sie wissen, dass Cord zu Ottendorff tot ist?“

„Schrecklich! Nein, wie schrecklich! Wann ist denn das passiert?“

„Wahrscheinlich am frühen Sonntagmorgen.“

„Und wie ist es passiert? Unfall? Er hatte ein bisschen viel getrunken und dann noch mit dem Auto unterwegs.“

„Es scheint kein natürlicher Tod gewesen zu sein.“

„Sie meinen …“

„Darüber würde ich mich gerne mit Ihnen unterhalten.“

Stille. Undurchdringlich, abweisend. Der Regen plätschert jetzt aufs Pflaster.

„Da gibt es nichts zu reden“, sagt Frau Jungk, „wir haben am Samstagabend ein bisschen miteinander gefeiert und dann ist jeder seiner Wege gegangen.“

„Ich bin Journalist und meine Informanten sind geschützt. Oder wollen Sie sich lieber mit der Polizei unterhalten?“

Keine Antwort, nur das stoßweise Atmen.

„In einer halben Stunde im Café Steinmeyer am Ende der Brunnenstraße?“

„Ich brauche mindestens eine Stunde.“

„Ich habe nur ein paar Fragen.“

„Und Sie sind wirklich von der Presse?“

Wesemann gibt ihr die Nummer des Senders und macht sich auf den Weg in die Brunnenstraße. Sein Handy klingelt.

HK Bertram ist am Apparat. „Wesemann, sitzen Sie?“

„Ich hab noch nie gesessen.“ Vielleicht sollte er seine kleinen Scherze unterlassen, um HK Bertrams dreckiger Lache zu entgehen.

„Wir haben eine wichtige Information im Fall Cord zu Ottendorff. Da Sie mein Lieblingsjournalist sind, habe ich gleich an Sie gedacht.“

Wesemann weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll.

„Es geht um die Champagnerflasche, die wir am Tatort sichergestellt haben.“

„Siiie haben am Tatort eine Champagnerflasche gefunden?“

„Wollen Sie nun die Information, oder soll ich mich an einen Ihrer Kollegen vom Bezahlradio wenden?“

Wesemann schluckt seine aggressive Bemerkung herunter. „Also Fingerabdrücke von Cord zu Ottendorff?“

„Kein einziger Fingerabdruck auf der Flasche. So blank wie ein, na ja, Sie wissen schon. Aber: In der Flasche wurden Spuren von GHB gefunden.“

„K.-o.-Tropfen?“

„Genau die!“

„Dann könnte Cord zu Ottendorff betäubt worden sein, bevor er in die Dunsthöhle geschleift wurde?“

„Wesemann, ich bewundere immer wieder Ihre Kombinationsgabe. Die Pathologie schneidet ihn gerade auf. Wollen Sie dabei sein?“