Bittersüße Freiheit - Anabella Freimann - E-Book

Bittersüße Freiheit E-Book

Anabella Freimann

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Beschreibung

"Liebe Anabella, zweifle nicht mehr an dir, denn es ist dir erlaubt, ja, es ist sogar deine Pflicht, so gut wie irgend möglich mit dir selbst umzugeben." Es mussten allerdings viele Jahre vergehen, bis Anabella von dieser ihrer "Pflicht" überzeugt war. Aber dann wagte sie es. Spät, doch nicht zu spät fand Anabella nach vielen, zum Teil nicht ungefährlichen Irrwegen den Mut, sich von ihrer bisherigen Heimat zu trennen und sich in Berlin eine winzige Wohnung und einen Job zu suchen. In freundschaftlichen Einvernehmen mit Christian, ihrem Mann, zog sie ganz allein auf Zeit in die große Stadt, um ihr Junggesellinnenleben nachzuholen. Ob sie wohl zurückkehrt? Begleiten Sie Anabella doch einfach auf ihrer Reise. Durchstreifen Sie mit ihr Berlin und nehmen Sie Anteil an ihrem bewegten Leben, das viel Trauriges, aber auch viele lustige und erotische Momente enthält.

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Dorothy L. Sayers

Eine fortschrittliche Frau fortgeschrittenen Alters kann keine Macht der Welt im Zaume halten.

Ich, Anabella Freimann, schreibe, weil ich Mut machen will, Mut zur Ehrlichkeit, zum Wagnis „Neuanfang“ und Mut, zu den eigenen Wünschen zu stehen.

Allen Menschen, die mir auf meinem nicht üblichen Weg begegnet sind, möchte ich danken. Auch den Unbequemen. Jeder war wichtig für mich.

Ein Hinweis der Autorin:: Die Namen der vorkommenden Personen wurden geändert.

Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel: Sag endlich Ja!

2. Kapitel: Wohnungssuche

3. Kapitel: Mein Weg

4. Kapitel: Wo ist mein Zuhause?

5. Kapitel: Der Tag X

6. Kapitel: Ein Brief an meine Mutter

7. Kapitel: Der Tod gehört zum Leben

8. Kapitel: Sabine- Die Wunden heilen

9. Kapitel: Weihnachten

10. Kapitel: Traumdeutung

11. Kapitel: Entscheide dich!

12. Kapitel: Epilog 1 und 2

sag endlich Ja!

„Frage die Wirklichkeit nicht warum, frage deine Träume, warum nicht“. (G.B. Shaw)

Mai 2006

Hilft mir denn keiner? Nein, ich muss es allein tun. Ich muss die Tür hinter diesem hässlichen Tier selbst schließen, ohne Hilfe. Doch es gelingt mir nicht. Das Monster hält die Klinke mit seiner behaarten Pranke fest, reißt sein Maul schmerzhaft weit auf, brüllt, grinst höhnisch, ja, es grinst, und ich denke, nein, das kann nur ein Traum sein, Tiere können nicht grinsen und mir in die Ohren schreien. Doch dieses Gruselding tut es und geifert: Tu ’s nicht, du schaffst es nie, du wirst nie dein Ziel erreichen, du wirst immer diese Schuldgefühle behalten, dein ganzes Leben lang!

Ich wache schweißgebadet auf. Oh, was für ein Traum. Aber jeder Traum hat einen Sinn. Also wohl auch dieser. Und ich muss nicht lange überlegen, ich kenne den Sinn genau.

Heute ist ein besonderer Tag. Mein Geburtstag, und zwar ein runder. Meine drei Kinder werden kommen, meine Mutter, mein Bruder mit Familie, die Enkel, meine Freundin. Alle möchte ich um mich haben. Wer weiß, ob es noch einmal solch ein Zusammentreffen geben wird. Wer weiß, es könnte schließlich in der nächsten Zeit sonst etwas passieren. Und danach will man mich nicht mehr sehen.

Mit dem „Sonst etwas“ meine ich natürlich etwas Bestimmtes. Etwas, das bisher nur ich allein weiß.

Während ich in meine Hausschuhe schlüpfe, meldet sich ungerufen der geheime Gedanke, der eng mit dem „Sonst etwas“ zusammenhängt. Dieser wiederum erinnert mich an den gestrigen Abend, als mir die Erkenntnis kam, dass keine andere als ich selbst die Verwirklichung meines Wunsch- Zieles verhindert.

Ich habe tausendmal Ich will gedacht. Ich habe tausendmal Ich will gesagt. Aber ich weiß inzwischen: Solange ich selbst nicht felsenfest davon überzeugt bin, wird nichts daraus.

Seltsam, etwas in mir hat sich über Nacht verändert. Wo sind die Angst- und Schuldgefühle geblieben? Hat sie der Albtraum hinweggewischt? Sollte der Moment da sein? Der Moment, in dem sich das Ich will in ein Ich werde verwandelt hat? Dann muss ich reden. Jetzt? Oder noch warten? Bis morgen. Ja, morgen erst. Denn gerade heute passt das doch schlecht! Schon wieder kommen die Zweifel. Habe ich überhaupt ein Recht dazu?

Der Strauß, den Christian mir schenkt, verscheucht sie und setzt das I-Tüpfelchen auf meinen Entschluss. Er fragte mich vor einigen Tagen, was ich mir wünschen würde. „Ich möchte einen großen Strauß roter Rosen“, war meine Antwort auf seine Frage und ich naives Weib dachte dabei an romantische Liebe. Ich hoffte, dass es bei ihm diesmal Klick gemacht hatte. Über 40 Jahre hatte es das nicht gemacht. Tief ein -und ausatmen, Anabella, bloß nicht aufregen! Nein, nicht aufregen, und bitte halt jetzt deinen Mund! Warte noch mit dem Reden. In mir wüten die Worte, sie wollen raus, sie wollen nicht wie so oft unterdrückt werden. Mussten es ausgerechnet diese Blumen sein, wo es doch so viele Arten gibt. Wir leben ja schließlich nicht mehr in der DDR, sondern in der Überflussgesellschaft! Man benötigt keine Beziehungen zu Blumenverkäuferinnen. Es gibt alles auf dem Ladentisch und nicht mehr darunter. Nicht nur das, man wirft es dem Kunden regelrecht hinterher!

Dumme Anabella, was hattest du dir eigentlich eingebildet? Etwa, dass dein Ehemann plötzlich zwischen den Zeilen deiner Worte lesen lernen würde? Nur weil du Geburtstag hast? Männer können das nicht, die sind nun mal so, die kannst du nicht ändern.

Ich bekam Blumen. Na also, da war doch alles in Butter! Nein, das war's eben nicht! Denn: Sollte ich mich über Nelken freuen, die ich noch nie leiden konnte? Die es zum 1. Mai, dem Kampftag der Werktätigen gab, bei Auszeichnungen zum „Aktivist der sozialistischen Arbeit“ zum Beispiel? Und dann befanden sie sich auch noch in enger Gemeinschaft mit weißen Lilien, die in meinen Augen Friedhofsblumen sind.

Erwartungsvoll schaute mich Christian an. Ich schwieg. Ja, was wollte er denn hören? Sicher etwas anderes, als das, was schließlich aus mir heraus brach. Mein Herz klopfte laut, und ich wusste schon, dass sich meine Stimme garantiert überschlagen würde. Wie immer, wenn ich aufgeregt war. Dieses Mal schien sich auch noch ein Krächzen dazu zu gesellen. Krampfhaft bemühte ich mich um Fassung. Als ich mich einigermaßen unter Kontrolle hatte, sagte ich ihm, dass ich mich auf die roten Rosen gefreut hätte und dass ich enttäuscht wäre. Er schaute mich an. Aber wie! Mit diesem harten Blick, den ich nicht ertragen kann. Hastig nahm er die Blumen aus der Vase, versuchte sie wie eine unbrauchbar gewordene Zeitung zusammenzuknüllen und in den viel zu kleinen geflochtenen Papierkorb zu drücken, der bei dieser plötzlichen Aktion langsam umkippte. Stille. Wie neben mir stehend blickte ich auf die bunte Mischung von Blättern, Blüten, zerrissenen Werbeprospekten, Wassertropfen und Walnussschalen, die sich vor meinen Augen auftat. Abstrakte Kunst, dachte ich, das könnte man malen. Das könnte ich malen, aber bitteschön ohne Nelken, grins.

Laut knallte die Haustür und heulend sprang der Motor von Christians Auto an. Weg war er.

Vor Monaten noch wäre ich in einer ähnlichen Situation in Tränen ausgebrochen. Ich hätte gejammert und geschluchzt und ich hätte mich in Selbstmitleid gestürzt. Dieses Mal blieb ich ruhig und seltsam gefasst. Was tat der Tinnitus? Oh, er summte zufrieden wie selten in meinen Ohren. Nicht nur das, er schien mir sogar zuzuflüstern: Gut so, Anabella!

Christian kam nach einiger Zeit zurück. Mit einem neuen Strauß. Mir war die Lust auf Blumen der Liebe vergangen. Er aber drückte mir ohne ein Wort der Entschuldigung Rosen in die Hand. Oder sollte der folgende Satz die Entschuldigung sein? Sein Psychologe hätte einmal gesagt, er würde nichts Langweiligeres kennen als rote Rosen.

Aha, sein Psychologe. Und ich? War ich nichts? Waren meine Wünsche nichts wert? Es gab nun einen fürchterlichen Streit. Ich wäre empfindlich wie eine Mimose und es wäre doch nicht so wichtig, welche Blumen es seien und überhaupt hätte er es satt.

Mir fiel Victor Hugo ein: Nichts auf der Welt ist so mächtig, wie eine Idee, deren Verwirklichung gekommen ist. Stimmt, und deshalb muss ich jetzt auch nicht laut werden! Mit fester Stimme, absolut überzeugt, und gar nicht wie das unsichere Mauerblümchen aus vergangenen Zeiten, meinte ich, auch ich hätte es satt. Und ich teilte ihm den lang gehegten Entschluss mit. Das Krächzen verschwand während des Redens wie von allein aus meiner Stimme.

Wieso ich ihm das gerade heute mitteilen würde, fragte er. Ich erklärte ihm, dass gerade diese Nelken den Ausschlag gegeben hätten. Wenn man seine Frau wirklich liebt, hört man doch auf jeden Hinweis, um ihr eine Freude zu machen. Noch dazu bei diesem runden Geburtstag. Wenn er sich meine Abneigung gegen Nelken nach über vierzig Ehejahren immer noch nicht merken könnte, dann zeugt das in meinen Augen von keiner großen Liebe.

Es war nicht das erste Mal, dass wir über eine räumliche Trennung redeten. Doch bisher waren wir nie zu einer Lösung gekommen. Unter dem Strich kam bei ihm immer dasselbe heraus: So etwas machen nur Promis. Wo sollen wir das Geld hernehmen? Oder noch eine Spur schärfer: Dann können wir uns gleich scheiden lassen!

Diesmal allerdings schien er anderer Meinung zu sein. Diesmal schien er meine Entscheidung zu akzeptieren. Er spürte wohl, dass ich nicht mehr die fügsame, alles verstehende Ehefrau war, und vielleicht ahnte er, dass diese räumliche Trennung eine letzte Chance bedeuteten könnte, wieder zusammen zu finden. Vielleicht würde es mit entsprechender Entfernung bei ihm Klick machen?

Wir sind schon lange verheiratet. Oft dachten wir beide leise oder auch sehr laut: Zu lange. Und jeder stellte sich Fragen wie diese: Schmieden gemeinsame Kinder zusammen? Nicht ein Leben lang. Oder gemeinsam durchgestandene Probleme? Vielleicht eine Weile. Oder gemeinsame schöne Erlebnisse? Nun, davon gab es recht wenige. Ehrlich gesagt, hatte ich irgendwann keine Lust mehr, etwas vorzuschlagen oder zu planen, was Christian doch nur widerwillig mitmachte und dann entsprechend schlechte Laune hatte. Schließlich ließ ich es ganz und gar sein oder ging allein ins Kino oder zu Veranstaltungen. Oder ich vertiefte mich in meine Schreibereien.

Okay, so war es am Morgen meines Geburtstags gewesen. Aber jetzt will ich Nägel mit Köpfen machen oder so ähnlich. Nein, Nägel nicht, auch keine Reißzwecken, die tun weh. Und wehtun soll es eigentlich keinem. Bella, Bella, sagte da eine leise Stimme in mir, wie willst du das schaffen? Keinem wehe tun? Ich antworte der leisen Stimme: Keine Ahnung…

Dann müsste ich wohl Kompromisse eingehen. Wollte ich eigentlich nicht mehr. Doch ich muss. Ich rede mir ein, vorerst.

Auf jeden Fall steht fest, dass ich höchstwahrscheinlich im September "auf Zeit" wegziehe. Wie lange dies sein wird, weiß ich nicht. Ich mache erst einmal die Probe aufs Exempel.

Und warum gehe ich? Doch nicht wegen eines Nelkenstraußes allein! Nein, da ist unsere mit den Jahren totgelaufene Ehe. Da ist das Fehlen sexueller Übereinstimmung. Aber ich gebe zu, es ist mehr. Es ist auch die Abenteuerlust, die mich wegtreibt, weg aus der Provinz, wo jeder jeden kennt, wo alles registriert wird, wo sich nichts vorwärts bewegt, wo man regelrecht auf das Älterwerden wartet. Ich mag auch nicht mehr mit den Lügen leben. Ich mag keinen gestohlenen Sex mehr, ich will auf ehrliche Weise das haben, was mein Körper noch braucht. Ich will es auch nicht mehr unterdrücken. Oh, jetzt habe ich schon mehrmals Sätze mit einem überzeugenden „Ich will“ aufgeschrieben. Dieses Mal war es nichts mit nur mal so daherreden. Nein, es war der Entschluss einer nicht mehr jungen Frau! Bin ich nun egoistisch, wenn ich an meine Wünsche denke? Aber ich habe ja nur das eine Leben, und davon ist schon ein großes Stück vorbei. Und dieses große Stück war vor allem davon geprägt, dass ich es allen recht machen wollte.

Genau das will ich jetzt ändern. Ich will ein Stück ehrliches Leben. Ich will endlich einmal für mich allein verantwortlich sein und in einer eigenen Wohnung diesen noch nie dagewesenen Zustand genießen. Das heißt, Freunde oder Freundinnen einladen, wann und wie lange ich es will. Das heißt ebenfalls, ausgehen zu können, ohne zu einer bestimmten Zeit zuhause sein zu müssen. Ich mag keine strafenden Blicke mehr erleben oder tödliches Schweigen, wenn ich die vereinbarte Zeit minimal überschritten habe. Nein, das alles will ich nicht mehr haben.

Und ich will natürlich auch in der Nähe meines Liebsten sein. Den gibt es natürlich. Sonst würde ich ja gar nicht mehr so genau wissen, ob ich noch begehrenswert bin. Ganz klar, dass dadurch Berlin zu meinen absoluten Favoriten gehört.

Vielleicht darf er mich sogar ab und zu besuchen? Vielleicht. Aber eines sagte ich ihm: Hey, damit du es weißt, ich bin der Chef, ich bestimme. Er hatte bei meinen Worten in sich hinein gegrinst und ich wusste genau, was dieses Grinsen bedeutete: „Red du nur, ich werde dich schon um den

Finger wickeln, ich kriege sowieso, was ich will.“ Wenn er sich da mal nicht täuscht! Er kriegt es nur, wenn ich es auch will.

Ach, ich bin so aufgeregt! Ich könnte alle Welt umarmen, möchte, dass sich alle mit mir freuen. Am liebsten hätte ich es, wenn Christian dabei wäre. Das aber wäre wohl zu viel verlangt.

Immerhin hat er vorhin einen flüchtigen Blick auf die Website mit den Wohnungsangeboten geworfen. Mehr kann ich nicht erwarten.

Nur nicht übermütig werden, Herbstfrau, du! Wie waren gleich die Worte, mit denen meine Mutter früher die überschäumende Fröhlichkeit der kleinen Bella zu bremsen pflegte? Übermut tut selten gut. Ja, das bekam ich fast täglich zu hören. Und damals ließ ich mich davon einschüchtern. Damals konnte man mich bremsen. Jetzt nicht mehr! Denn übermütig wie ein glückliches und endlich erwachsenes Kind zu sein, das tut gut!

Ansonsten weiß ich selbst, dass ich unbekanntes Terrain betrete und deshalb nicht nur mit angenehmen Überraschungen rechnen darf. Es wird nicht einfach sein. Irgendwann werde ich die gewohnte Sicherheit vermissen. Ich werde mich finanziell einschränken müssen. Ich werde lernen, für mich selbst zu sorgen.

Auf jeden Fall beginne ich nun gezielter nach einer Wohnung zu suchen. Bis jetzt war es mehr oder weniger ein Spielen mit den Möglichkeiten. Nun wird es ernst. Ich muss systematisch vorgehen. Ich muss mir einige Suchagenten einrichten. Immonet. de und Immobilien- Scout scheinen die besten Anbieter zu sein. Aber da gibt es noch unzählige andere. Und vielleicht wartet gerade dort, wo ich nicht nachsehe, die Traumwohnung auf mich? Mir schwirrt der Kopf von den vielen Angeboten. Meine große Tochter möchte, dass ich in den östlichen Teil von Berlin ziehe, in ihre Nähe. Es ist gut gemeint, und ich weiß auch, warum sie das will. Sie hat ihrem Vater versprochen, auf mich zu achten. Oh je, schon wieder jemand, der auf mich aufpassen soll. So war es immer. Zuerst die Eltern, dann der Ehemann. Von einer Abhängigkeit war ich in die andere gerutscht. Meine Eltern ließen mich nie allein weg, Christian übernahm sozusagen die Familienorder. Und ich ließ alles mit mir geschehen. Er meinte, es geschähe doch nur, weil er sich Sorgen machen würde. Es könnte ja so viel passieren. Und ich hätte keine Ahnung, wie schlecht die Welt wäre. Und ich wäre ja so was von blauäugig. Tja, oft genug gab ich dann klein bei und sagte den Meditationskurs oder den Wellnesstag ab, blieb zuhause und schimpfte im Stillen mit mir selbst. Meist mischte sich der Tinnitus mit lauten Tönen in meine Schimpftirade ein und gab mir damit zu verstehen, dass ich es wieder einmal allen recht machen will, in diesem Fall Christian, nur mir selbst nicht.

Doch jetzt? Hallo, Tochter, schau mich an! Ich bin schon groß! Es kribbelt in meinen Beinen. Ich glaube fast, die Herbstfrau hat noch einmal einige Zentimeter zugelegt! Ob ich nachmesse? Könnte ja immerhin sein. Nein, lieber eine andere Neugierde befriedigen. Ich schaue in mein Mailfach, ob schon die ersten Ergebnisse der Suchagenten zu finden sind.

Hilfe, es wimmelt nur so von Angeboten. Berlin scheint nur aus leeren Wohnungen zu bestehen! Auf den ersten Blick alles super. Doch mein Liebster hat mich schon vorgewarnt. Erst ansehen. Alles sorgfältig prüfen. Auch das Umfeld. Er meint, das könnte er doch für mich tun. Oh nein, das will ich selbst in die Hand nehmen. Jawohl. Wenn ich seine Hilfe benötige, sage ich ihm Bescheid.

Ich speichere einige interessante Wohnungen ab. Zwei Ordner lege ich mir in den Favoriten an. Witzig. Einen Ostordner und einen Westordner. Der Westordner gefällt mir besser, nicht nur, weil mir der Westen unbekannt ist, sondern auch, weil die liebe Familie mich lieber in den Osten Berlins haben will. Die Donnerdistel kommt durch. Das Trotzköpfchen. So nannten mich meine Eltern. Ich muss wohl in der Kindheit einen ganz schönen Dickschädel gehabt haben. Eines Tages ging dieses kindliche Selbstbewusstsein allerdings verloren und dafür machten sich Angst und Minderwertigkeit breit. Wann? Vielleicht, als man mich ertappte, als meine Finger, statt die Klaviertasten zu berühren, meine erogenen Zonen entdeckten? Pfui, du Ferkel, so etwas tut man nicht, da kann man krank davon werden! Gott wird dich strafen!

Hat Gott mich gestraft? Bis jetzt noch nicht. Im Gegenteil. Er lässt nicht nur die Ausbruchsgedanken zu, sondern erlaubt mir sogar einen Westordner und einen Ostordner anzulegen. Guter Gott.

Der Westordner beinhaltet Angebote in Wilmersdorf, Charlottenburg, Grunewald, Reineckendorf. Im Ostordner befinden sich Wohnungen in Köpenick, Prenzlauer Berg und Lichtenberg.

Mein Plan sieht vor, dass ich im August für zwei Tage in die große fremde Stadt fahre, um einige Wohnungsangebote genauer unter die Lupe zu nehmen.

Wohnungssuche die erste

Dienstag, 13. Juni 2006

Vor mir liegt der aufgeklappte Stadtplan von Berlin. Ich stehe vor ihm und staune. Provinzlerin grüßt die Hauptstadt. Ich habe erst einmal keinen Durchblick. Wie soll ich hier eine bestimmte Straße finden? Zum Beispiel die Allee der Kosmonauten? Aber wozu gibt’s Google Maps Berlin! Na bitte. Hier haben wir sie doch, in Lichtenberg. Das ist im Osten. Und die Eisenzahnstraße? Die wiederum befindet sich im Westen. Ein James-Bond-Film fällt mir ein, in dem der Ober-Bösewicht Zähne aus Eisen hatte. Mehr als die härteste Nuss konnte er knacken. Ich frage mich, ob ich die harte Nuss „Anabella-allein in Berlin“ auch so leicht knacken werde? Ohne Eisenzähne? Ich bin oft zu dünnhäutig. Hier in Berlin muss ich mir das wohl abgewöhnen. So jedenfalls lautete der Rat einer alten Freundin. Noch einmal schauen, gezielter jetzt, und da habe ich die Eisenzahnstraße. Sie liegt im Stadtteil Charlottenburg/Wilmersdorf. Die Wohnung hat zwei Zimmer, aber keinen Balkon. Die Höhe der Miete gefällt mir auch nicht. Hatte ich nicht maximal 350 in die Suchmaske eingegeben? KM? Ach so, das ist die Kaltmiete. Hilfe, ich komme aus der Provinz, noch dazu aus dem Osten, und ich habe keine Ahnung von alldem. Auch nicht, was WW, WB, EBK und WB heißt. Aha, WM heißt Warmmiete, und genau diese Summe möchte ich wissen. Warm soll es schon in meiner zukünftigen Wohnung sein. Aber nicht mit einer zu hohen Miete.

Beim Ansehen der Wohnungsangebote bemerke ich, dass der Suchagent heute vor allem Angebote in Grunewald ausspuckt, und die gefallen mir ausnehmend gut. Nur, ich kann und will da nicht hin. Denn dort wohnt mein Liebster, mein Berliner Icke. Könnte ja sein, dass mir zufällig seine Frau über den Weg läuft. Obwohl, ich weiß ja nicht einmal genau, wie sie aussieht. Und ich will es auch gar nicht wissen. Weil ich Angst habe, dass sie eine attraktive Frau ist. Doofes Minderwertigkeitsgefühl, verschwinde! Ich bin doch ebenfalls eine attraktive Frau. Jedenfalls sagt man das von mir. Also brauche ich mich doch nicht zu verstecken! Egal, der Suchagent wird trotzdem geändert. Grunewald streichen. Dafür Wilmersdorf noch einmal aufnehmen mit anderen Vorgaben. Soviel ich weiß, ist der Ku’damm ganz in der Nähe, auf den bin ich mega-gespannt! Und da irgendwo muss auch das KaDeWe zu finden sein! Ich schaue auf die ausgebreitete Karte, suche Straßennamen, Plätze, Sund U- Bahn-Stationen, und bei dieser Tätigkeit wird mir klar, wie groß Berlin in Wirklichkeit ist. Ein wenig dämmerte mir die Erkenntnis schon letzten Sommer, als ich mit meiner Enkeltochter Franzi an die Ostsee fahren wollte. Statt hinaus fuhren wir immer tiefer in das Zentrum hinein. Es schien mir eine Ewigkeit zu dauern, bis wir endlich die Auffahrt zur A 19 erreichten. Unser frenetischer Jubel beim Erspähen des Schildes klingt mir heute noch in den Ohren! Zwei Weibsstücke unter sich. Ein junges knackiges und ein schon etwas älteres, aber recht gut erhaltenes. Jawohl.

Jetzt allerdings will ich woanders hin. Jetzt zieht es mich in die Mitte, in das Großstadtleben. Ganz nebenbei lerne ich bestimmte Abkürzungen kennen. Ich suche eine Wohnung mit EBK. Klar, wenn da schon eine Einbauküche drin ist, muss ich mir keine kaufen. Ich muss sowieso mein Geld gut einteilen. Aber einen WBS werde ich nicht beantragen. Den Wohnberechtigungsschein. bekommen nur auf Dauer getrennt lebende Ehepaare. Und das will ich eigentlich nicht. Irgendwann möchte ich eventuell wieder zu meinem Mann zurückkehren Eventuell. Nichts überstürzen! Lieber abwarten, wie das nächste Jahr sich entwickelt.

Oh, was sehe ich da? Eine DG, was ich unschwer als Dachgeschosswohnung definieren kann. Und die gefällt mir gut! Ich sehe mich im Gedanken darin herumgehen. Dieser Ausblick! Auch die WM ist nicht hoch, nur, ich muss ja die BK noch dazurechnen. Wie sieht es mit einem BLK aus? Hat sie nicht? Und die schrägen Wände lassen kaum Platz für das Stellen von Möbeln. Also out. Und weitersuchen.

Donnerstag, 15. Juni 2006

Die Bürgschaft, aber nicht die von Schiller

Ich liebe mein Herbstleben, aber heute nicht. Scheiß-Bürokratie. Scheiße sagt man nicht, würde Amelie, meine kleine Enkeltochter jetzt sagen. Grins, sie hört es ja nicht. Gleich noch einmal, weil es mir so zumute ist. Scheiße! Dieses vulgäre Wort passt zur Situation.

Ich hatte mich zähneknirschend damit abgefunden, dass mein Vorruhestandsgeld nur dreistellig ist. Ich sagte mir, andere haben noch weniger. Gut. Aber dass man nun genau aus diesem Grund einen Riegel vor meine Umzugspläne schieben will, erfüllt mich mit Zorn. Es gibt Vorgaben. Mindestgrenzen. Paragrafen. Eine "nette" Dame von der Wohnungsgesellschaft erklärte mir am Telefon in belehrendem Ton, dass Berlin ein teures Pflaster sei und ich müsste so rechnen, dass ein Drittel meines Einkommens für die Miete übrig bleibt. Also trotz zurückgesteckter Pläne, statt zwei nur ein Zimmer, darf ich ohne die Bürgschaft einer vertrauenswürdigen Person nicht damit rechnen, dass mein Antrag auch nur angesehen geschweige denn akzeptiert wird. In irgendeinem Weblog las ich, dass eine Wahlberlinerin die Behörden an der Nase herumgeführt hatte, indem sie einfach ihre Kontoauszugsdaten mittels Kopierer nach oben aufrundete. Kein Angestellter, schrieb sie, hätte sich jemals die Mühe gemacht, die Angaben zu kontrollieren. Denen würde es nur darum gehen, dass sie etwas abgeheftet haben. Aber so etwas ist nicht mein Ding, darauf möchte ich es denn doch nicht ankommen lassen. Nicht schon wieder eine Lüge.

Ja. So ist das Leben. Mein Leben. Die Euphorie der letzten Abende ist vorbei. Ich bin zuerst wütend und danach fühle ich mich dumm und arm und unglücklich und ich heule eine Runde in meinem Zimmer. Man hat mich wieder einmal unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.

Zwei „vertrauenswürdige Personen“ habe ich schon angesprochen. Es scheint wohl eine schwere Entscheidung zu sein, solch eine Bürgschaft! Kann ich gar nicht nachvollziehen! Ich bin doch ein ehrlicher Mensch, und Schulden werde ich gewiss keine machen!

Nach vielem Hin und Her und Absagen von weiteren „vertrauenswürdigen Personen“ verspricht Christian schließlich für mich zu bürgen. Wenn es halt keine andere Möglichkeit gibt. Welch ein Widersinn. Er tut's sicher auch, weil er weiß, was auf dem Spiel steht. Es ist sozusagen sein Beitrag zum eventuell positiven Ausgang unseres geplanten Getrenntlebens. Welch menschliche Größe. Oder? Peinlich ist mir das trotzdem und es kommt mir schizophren vor, dass ausgerechnet mein Ehemann die behördenmäßig gewünschte Grundlage für mein Wegziehen liefern muss.

Irgendwie fällt mir in diesem Zusammenhang Schillers Bürgschaft ein.

Ob gerade das der springende Punkt ist, weswegen die Personen mir abgesagt haben? Ob sie Schiller kennen? Für Personen, die einmal im Leben als Bürgen in Frage kommen könnten, sollte das Lesen dieser Ballade verboten werden. Jawohl.

Samstag, 24. Juni 2006

Aufregung um eine Traumwohnung

Hach, was bin ich aufgeregt. Ich muss darüber schreiben, vielleicht werde ich dann ruhiger! Denn bis nächsten Freitag 15 Uhr ist es noch so lange. Wie soll ich das bloß aushalten?

Hundertmal habe ich nun schon die Bilder der Wohnung angesehen. Hundertmal habe ich davon geträumt, wie ich darin herumlaufe und wie ich die Leiter zum Hochbett erklimme, um von oben auf mein Reich schauen zu können. Natürlich erschöpfte sich damit der Traum noch nicht. Ich sah auch, wie mein Liebster zu mir nach oben klettert, auf das Kingsizeähnliche breite Bett. Wie wir also beide nach unten schauen, dies aber bald sein lassen, weil wir den Blick auf uns beide richten, weil wir Besseres zu tun haben! Dieses Bett würde dann die am meisten frequentierte Stelle im großen Zimmer ausmachen! Herrlich wäre das!

Dieses Bett würde dann die am meisten frequentierte Stelle im großen

Der Plan des U-und S-Bahn-Netzes ist ausgedruckt, ich habe schon rote Pünktchen gesetzt, wo sich meine- oh je- ich dachte eben wirklich diese Worte- also wo sich meine Wohnung befindet und wie die nächste S-Bahnstation heißt.. ich glaube, Halensee. Oder war es Charlottenburg?

Des Weiteren errechne ich die Entfernung bis zu meiner Tochter, oh, da muss ich ja mehrmals umsteigen. Dann wäre es noch interessant, wie lange ich bis zu meinem Liebsten benötigen würde, wenn ich denn fahren würde, was ich schön sein lassen werde. Ja.

Aber nun will ich mich doch noch einmal vergewissern und rufe deshalb die Maklerin ein zweites Mal an. Sie versichert mir am Telefon: „Wenn Ihre Akten stimmen, dann kriegen Sie die Wohnung auch!"

Ich habe heute trotzdem noch jede Menge andere Angebote studiert, irgendwie macht das auch Spaß. Es ist ein Spiel mit den Möglichkeiten.

Aber ehrlich, bei keiner hat mein Herz so verliebt geklopft wie bei dieser!

Mittwoch, 28. Juni 2006

Nur noch einmal schlafen. Morgen, am Donnerstag startet die Herbstfrau zu ihrer Reise in die große Stadt. Ich muss noch den Routenplaner befragen, weil ich erst ein einziges Mal allein mit dem Auto nach Berlin gefahren bin.

Dann die Route ausdrucken, eine Kurzfassung erstellen, diese irgendwie mit Klebestreifen rechts an die Armatur kleben, um ab und zu einen Seitenblick darauf werfen zu können. Oder ich lege einen Zettel auf den Beifahrersitz. Beim Ausdrucken etwa Schriftgröße 18 wählen!

Wohnen werde ich bei Greta in Köpenick. Sie freut sich schon darauf, ihre Mama wieder einmal bei sich zu haben. Ich mich auch. Bestimmt hat sie auch Bügelwäsche aufgehoben, grins. Aber das Bügeln ist Nebensache. Das erledige ich am Abend oder gleich am Vormittag. Aber nur bis zu dem Moment, wenn das Handy klingelt. Dann wird in Windeseile das Bügeleisen ausgeschaltet. Weil dann jemand mit einer Stadtrundfahrt auf mich wartet. Mit diversen Zwischenstationen selbstverständlich. Nähere Einzelheiten schreibe ich mal lieber noch nicht nieder. Vielleicht wird ja nichts daraus! Dann wäre ich wieder Himmelhochjauchzend- zu Tode betrübt!

Donnerstag, 29. Juni 2006

Berlin ist einfach schön. Ich konnte himmelhoch jauchzend und gar nicht betrübt sein! Weil es himmlisch schön war! Mein Berliner Icke, der eigentlich Norman heißt und von mir manchmal auch noch Paco genannt wird, hat mich am Morgen abgeholt und mit mir eine dreistündige Stadtrundfahrt gemacht. Mein Adler war ein kundiger Fremdenführer. Aus jedem seiner Worte sprach die Liebe zu seiner Heimatstadt.

Ich war das erste Mal in meinem Leben hautnah an den Brennpunkten der Berliner Geschichte. Ich sah das Brandenburger Tor, den Jackpoint- Charlie, die Grenzsteine auf der Straße, welche den Osten vom Westen trennten, irgendwie schlimm das alles, dann die Glienicker Brücke, wo die Agenten und Freigekauften ausgetauscht wurden, den Grunewald, den Wannsee, die vielen Brücken, das Charlottenburger Schloss. Die anderen Sehenswürdigkeiten wurden überlagert vom nächsten Ereignis.

Mein Icke zeigte mir nämlich noch mehr. Zum Beispiel sein Büro. Wir waren ganz allein. Sein Kollege sollte in einer Stunde wiederkommen. Zuerst fiel mein Blick auf die kleinen roten Kästchen, die ich von der Webcam her schon bestens kannte. War das der Grund unseres Aufenthalts? Natürlich nicht! Schon eher sein Drehstuhl. Norman setzte sich jedenfalls darauf, streckte die Arme nach mir aus und zog mich auf seinen Schoß. Nun ja, dabei muss ich meinen Icke wohl sehr angemacht haben, oder dachte er, mir ist zu warm? Jedenfalls zog er mir meine Bluse nebst Jeans aus, immer mit einem Seitenblick zum Fenster. Ich revanchierte mich und tat es ihm nach und half ihm beim Ablegen seiner Kleidung. Ohne Seitenblick zum Fenster. Und was folgte dann? Zum Däumchendrehen waren wir schließlich nicht an diesen Ort gekommen. Also fielen wir ausgehungert übereinander her. Jawohl. Das taten wir. Ohne Scheu. Für ein langes „Davor“ hatten wir keine Zeit wegen des eventuell eher zurückkehrenden Kollegen, und außerdem mussten auf schnellstem Weg die vorhandenen Entzugserscheinungen beseitigt werden.

Nachdem wir diesen besonderen Hunger aufeinander gestillt und uns wieder einigermaßen salonfähig gemacht hatten, gingen wir nach draußen, schauten uns verstohlen um und eilten über den Hof zum Parkplatz. Schwitz, kein Kollege kam uns entgegen! Im Auto fragten wir uns lachend, was sich der arme Stuhl wohl bei diesem ungewohnten Treiben gedacht haben mag! War es ihm peinlich? Norman meinte: „Du, der war ganz einfach stolz auf sein „Durchstehvermögen!“ Ich erwiderte: „Meinst du jetzt seins oder deins?“ Er lächelte mich darauf zufrieden an, ohne rot zu werden. Das war die treffendste Antwort auf meine freche Frage. Die Kästchen in den Regalen als weitere Augenzeugen sahen jedenfalls schon vorher rot aus. Sie brauchten ihre Farbe nicht erst zu wechseln. Macht Sex hungrig und durstig? Klar, bei uns schien es zumindest der Fall zu sein. Wir fuhren zu einem schönen kleinen Restaurant mit Namen „Charlottchen“, das sich in der Nähe des S-Bahnhofs Charlottenburg befindet. Die Sonne schien, und wir nahmen draußen an einen kleinen Tisch Platz. Die Speisekarte erschien uns sehr umfangreich, sie war viele Seiten lang, wir blätterten und blätterten, es gab lauter leckere Sachen, aber ich konnte mich gar nicht auf eine Bestellung konzentrieren. Als die Kellnerin zu unserem Tisch kam, wusste ich immer noch nicht, was ich wählen sollte.

War der Drehstuhl die Ursache oder der Kerl da neben mir, der mich noch vor wenigen Minuten bis zum Gipfel der Lust getrieben hatte? Jedenfalls konnte ich fast nichts essen. Alles kam mir so unwirklich vor. Träumte ich? Nein, es schien Wirklichkeit zu sein, denn mein großer Paco saß neben mir, lächelte mich an und streichelte meinen Arm. Ich sagte zu ihm: „Kneif mich mal in den Arm!“ Er tat's, und zwar so heftig, dass ich vor Schmerz schreien musste. Also doch, ich bin in keinem Traum. Nein, in Berlin.

Freitag, 30. Juni 2006

Nächster Tag. Nach einem ausgiebigen Frühstück machte ich mich „stadtfein“. Und keine Minute zu früh klingelte auch schon mein Handy. „Komm schnell runter, ich stehe vor der Tür, jede Minute zählt!“

Ja, die Zeit drängte, aber eigentlich hatte ich Greta, meiner großen Tochter versprochen, heute Morgen zumindest zwei Wohnungen in ihrer Nähe anzusehen. Wir fuhren eiligst los, zuerst zur Bahnhofsstraße, dann ohne anzuhalten zum Stellingdamm. Nein, beide lagen unmittelbar an der S-Bahn. Das musste ja nun wirklich nicht sein. Ich sagte telefonisch ab.

Die Zeit, in der mein Paco seinen Termin bei der Bank wahrnahm, nutzte ich für einen informativen Rundgang im Forum Köpenick. Sehr chic und sehr groß und sehr verlockend! Schöne Boutiquen! Vormerken für einen Bummel, wenn ich in Berlin wohne! Klingt das Wort Bummel zu östlich? Okay, ich kann genauso gut Shopping sagen. Doch es ist eh dasselbe. Denn der Geldbeutel wird auf jeden Fall um einiges erleichtert. Norman saß schon im Auto und öffnete die Beifahrertür. Bitte einsteigen.

Bitte einsteigen zum zweiten Teil der Besichtigungstour! Aber erst einmal Küssen. Unsere Lippen kannten sich ja nun schon lange. Hatten sie immer noch nicht genug voneinander? Jedenfalls protestierten sie heftig, als wir sie trennen wollten. Also noch eine Runde, Hilfe, das bekannte Kribbeln stellte sich ein, nun aber wirklich losfahren!

Seine rechte Hand lag andauernd auf meinem linken Oberschenkel. Suchte sie Schutz? Oder gab es da noch etwas anderes zu finden? Norman meinte auf meine Frage, er wollte nur den tadellosen Sitz meiner Halterlosen überprüfen!

Das Wetter war herrlich, und wir machten erst einmal Pause, um in einem Eiscafe gegenüber vom S-Bahnhof Halensee die Speisekarte zu studieren. Einen großen Eisbecher mit Mandarinen bitte, aber schnell!

Mein Eis schmeckte, und ich beobachtete dabei die Menschen auf den Straßen. Illustre Gestalten pilgerten vorbei. Kein Mensch regte sich auf, ob jemand bunte Haare hatte oder einen zu kurzen Rock, oder ob ein eindeutig dem männlichen Geschlecht angehörendes Wesen Damenstrümpfe trug und hochhackige Pumps. Nicht zu vergessen einen Hut mit Blumen. Herrlich, genau das war’s. Nicht auszudenken, was für ein Gezeter in meiner Heimatstadt losgegangen wäre! Mit Fingern hätte man auf die aus der Reihe tanzende Person gezeigt. Ja, so wird man auf mich zeigen, denke ich mir, wenn „es“ rum ist, dass ich eine Zweitwohnung in Berlin habe. Ich werde dann einhellig zum aktuellen Gesprächsstoff am Bäckerwagen erklärt. Wir schauten uns verliebt in die Augen, dann jedoch auf die Uhr. Fast 15 Uhr! Wie doch die Zeit vergeht. Nun aber los. Die Traumwohnung wartete auf mein Urteil und ich fragte mich gespannt, ob sie so aussehen würde wie auf den Bildern. Gleich würden die Würfel fallen. Jedoch ich benötigte keine Würfel. Mein Urteil stand sofort fest. Was mir auf den ersten Bilder- Blick ausnehmend gut gefallen hatte, war ganz anders.

Der Live- Blick auf einen tristen Hinterhof, ein Balkon, wo kein Sonnenstrahl hinfällt, das Hochbett nicht zum Schlafen geeignet, weil man sich beim Aufrichten empfindlich an den Kopf stoßen würde. Bloß gut, dass ich auf den Rat von Maja, meiner Jüngsten gehört hatte. Sie meinte, ich solle alles genau in Augenschein nehmen und unbedingt auch die Leiter hochklettern.

Die als Einbauküche ausgewiesenen Schränkchen, angeblich zur Wohnung gehörend, sollte ich für teures Geld übernehmen und überhaupt, ich fühlte mich nicht wohl in diesem großen düsteren Zimmer.

Enttäuschung machte sich breit. Ich verabschiedete mich und murmelte etwas von Bedenkzeit, aber ich wusste eigentlich schon, dass ich die nicht benötigte. Wie man doch mit geschickt platzierter Kameraeinstellung verfälschte Bilder fabrizieren kann!

Doch es war noch nicht alles verloren. Da gab es eine zweite Wohnung zu besichtigen, ganz in der Nähe, in der Johann-Georg-Straße. Diese hatte ich ebenfalls bei Immobilien-Scout gefunden, mit einer ansprechenden Beschreibung, allerdings ohne ein einziges Bild. Da suchte man einen Nachmieter. Und ein Teil Möbel sollte übernommen werden. Irgendwo in meiner Handtasche hatte ich die Telefonnummer. Vielleicht war die Mieterin zufällig da und ich konnte gleich ohne Anmeldung zu ihr kommen? Norman schaute mir amüsiert dabei zu, wie ich nervös meine Handtasche durchwühlte. Er meinte: „Warum können Frauen in ihrer Tasche bloß keine Ordnung halten!“

Doch da hielt ich ihm das Gesuchte schon triumphierend unter die Nase. Er strich den Zettel glatt, diktierte, und ich tippte die Nummer in mein Handy ein. Sofort meldete sich eine sympathische Frauenstimme mit leicht ausländischem Akzent. Ich möchte gleich kommen, es wäre kein Problem, im Gegenteil, meinte sie als Antwort auf meine Frage.

Norman bestand darauf, mich die wenigen Meter bis zur Johann-Georgstraße zu fahren, nicht ohne mir noch schnell eine Erklärung über den Ursprung des Straßennamens zu geben. Nun wusste ich also, dass Kurfürst Johann Georg um das Jahr 1600 in Brandenburg gelebt hatte und Gründer der ersten humanistischen Bildungseinrichtung Berlins gewesen war. Sehr interessant. Ich nahm seine Worte zwar wahr, aber mit meinen Gedanken weilte ich bereits in der Johann-Georgstraße und nicht beim ollen Kurfürsten.

Mit Küssen und Umarmungen holte Norman mich wieder in unsere Wirklichkeit zurück. Was sollte das denn? Wollte er etwa jetzt am hellerlichten Tag im Auto...? Dem schob ich schnell einen Riegel vor. Seine vorwitzigen Hände bekamen einen Klaps und ich stieg aus. Er schaute enttäuscht drein, aber ich stieg auf Grund seines „Hundeblicks“ nicht etwa wieder ein, sondern winkte ihm nur noch einmal flüchtig zu. Jetzt keine Zeit für Kuscheln und Co, hieß das Winken. Ja, ich hatte anderes im Sinn. Fünfter Stock, wenn ich richtig gehört hatte. Also los. Kurz durchatmen und nicht enttäuscht sein, wenn es wieder nichts ist. Etwas abgehetzt kam ich oben an. Die Dame war keine seriöse Dame, sondern eine junge Frau und sie war sehr nett und die Wohnung ein Traum! Helle Zimmer, zwar alles etwas klein, aber perfekt geschnitten. Vom Balkon hatte man eine herrliche Aussicht auf einen kleinen Park.

Diese Wohnung wollte ich haben! In meiner Euphorie hätte ich am liebsten laut Hurra geschrien. Doch erstens war ich nicht allein und zweitens gehörte sie mir noch lange nicht! Wenn es nach Lutfi, der Inhaberin ging, würde ich sie bekommen. So jedenfalls waren ihre Worte.

Als ich das Haus verließ, war mir, als würde ich schweben, vielleicht auf einer Wolke der Glücksgöttin? Ich hatte das Gefühl, jeder müsste mir meine Vorfreude ansehen. Wohin damit? Schnell den Paco anrufen und ihm etwas davon abgeben! Er freute sich und fragte, wann er die Traumwohnung denn sehen könnte.

Kathrin, eine Freundin aus dem Internet, wollte natürlich auch sofort einen telefonischen Bericht, ich meine natürlich den Bericht über die besichtigten Wohnungen. Das andere konnte sie sich selbst zusammen reimen. Sie meinte nur: „Du, dass du dich für den Westen entscheidest, war mir sowieso klar. Schon aus Opposition heraus, habe ich recht?“ Ja, sie kannte mich genau. Wenn ich das Gefühl habe, bevormundet zu werden, reagiere ich allergisch. Kindheitserinnerungen. Ich ließ mich zu oft unter Druck setzen bei Dingen, von denen ich selbst nicht überzeugt war. Einfach, weil ich von mir nichts hielt.

Morgen fahre ich wieder nach Thüringen zurück. Jetzt aber werde ich ein Stück vom Kudamm erkunden und danach sehr gepflegt im Rapallo, dem „Italiener“ in Halensee zu Abend essen. Bestimmt ruft mich Norman noch einmal an, und wir werden uns am Telefon gegenseitig vorschwärmen, wie schön es heute wieder war. Und dann bekomme ich bestimmt als letztes gesagt: Versprich mir, dass du vorsichtig fährst, du weißt, ich brauche dich noch! Es fängt alles erst an!

Das Versprechen kann ich ihm ja immerhin geben. Aber wie ich mich kenne, weiß ich: Wenn ich erst einmal das Steuerrad in der Hand spüre, muss ich einfach auf die „Tube“ drücken! Es ist wie eine Sucht. Und auch der Unfall hatte mich nur für eine kurze Zeit davon heilen können. „Es fängt alles erst an“ klingt wahnsinnig gut, doch diese Hoffnung mag ich nicht zu groß werden lassen.

Sonntag, 2. Juli 2006

Ich bin wieder in der Provinz. Herrliches sommerliches Wetter empfängt mich. Da bekomme ich doch tatsächlich Lust auf Rasenmähen! Nur zu, sagt Christian und ist froh, dass ich da bin und dass er mir den Rasenmäher anwerfen kann. Aber keine falsche Hoffnung, bald werfe ich meinen Corsa an, meinen geliebten Tizian, und dann kann der nächste Schritt in mein neues Leben kommen.

Nach dem Mähen werden die Blumenbeete geharkt, es sind viele Samen vom letzten Jahr aufgegangen, Ringelblumen und Löwenzahn vor allem. Nelken gibt es in unserem Garten nicht, aber Rosen! Die können einen Rückschnitt gebrauchen. Eigentlich ist es zu spät dafür, so etwas macht man ja im Frühling. Aber sie werden es schon vertragen.

Zwischendurch beschäftige ich mich kurz am Notebook. Mein Icke drängelt im Chat, wo ich denn bliebe. Er würde schon lange auf mich warten. So ist es recht, denke ich mir. Nur nicht gleich zur Stelle sein, das vertragen die Herren der Schöpfung nicht. Da werden sie übermütig.

Wir erzählen uns, was wir am Tag so getan haben und dann lassen wir beide das entsprechende Smiley seufzen, weil wir uns so lange nicht gesehen haben. Zwei Tage sind doch lang, oder nicht? Morgen werde ich mit der Hausverwaltung telefonieren. Norman meint, ich soll doch nicht so ungeduldig sein. Aber ich bin nun mal so. Ich brauche dringend eine neue Bachblütenmischung. Mit Impatiens!

Kürzlich las ich einen interessanten Spruch, an den sollte ich mich halten: Erwarte nichts, und du wirst auch nicht enttäuscht. Mhmm, ja. Ich werde also lieber nicht zu viel erwarten und mich auf eine eventuelle Absage einstellen. Doch ich glaube, die Dame von der Hausverwaltung ist entgegenkommend und auf jeden Fall netter als die Tussi von der Wohnungsgenossenschaft. Zumindest ihre Stimme versprach es.

Wenn alles wunschgemäß verläuft, fahre ich nächste Woche wieder gen große Stadt. Mit allen gewünschten Unterlagen. Inklusive Bürgschaft von Christian.

So, nun aber wieder raus in den Garten. Noch einige Feinarbeiten erledigen. Beete harken, die Wege vom Unkraut säubern und gießen.

Am Abend wollten wir eigentlich grillen, aber Christian hat keinen rechten Appetit. Bei diesem herrlichen Wetter bin ich gern draußen, er in letzter Zeit gar nicht mehr. Er sagt, ihm gefällt es draußen nicht, er friert und das Gegrillte würde ihm nicht mehr schmecken. Das verstehe ich nicht. Was ist nur mit ihm los? Früher war er heiß darauf. Ich weiß nicht, woran das liegen könnte. Bin ich etwa indirekt der Grund, ist es, weil ich im September weggehe?

Oh, Hilfe. Da fallen mir meine Versäumnisse ein. Ich muss ihm noch schonend beibringen, dass die Wohnung schon ab August frei ist, dass also alles etwas schneller geht als besprochen. Hoffentlich wird er es akzeptieren. Aber er muss wohl. Das Tempo der Herbstfrau ist nicht mehr zu bremsen.

Mein Weg

Man kann dir den Weg weisen,aber gehen musst du ihn allein. (Bruce Lee)

Montag, 3. Juli

“Ich drücke dir die Daumen, dass aus meiner Vergangenheit deine Zukunft wird...“Das schrieb mir heute Morgen Lutfi, die sympathische junge Frau, der die von mir auserkorene kleine hübsche Wohnung gehört. Sie hat diese Wohnung geliebt und ich werde sie ebenso lieben, wenn ich sie bekomme! Was heißt werde, ich liebe sie ja schon heute! Alle Unterlagen sind per Fax unterwegs. Nun kann ich nur hoffen, dass man nicht an meiner Bonität zweifelt, denn ich habe keine Reichtümer! Ich schaue mir das Foto an, welches ich letztens bei Lutzi gemacht habe und träume: Ich liege unten im Park auf dem Rasen und sonne mich. Von meinem

Platz aus kann ich meinen kleinen Balkon im fünften Stock sehen. Ob ich mir bei Quelle schon mal vorab zwei Stühle und einen Sonnenschirm bestelle? Geduld zu haben fällt mir so schwer. Am liebsten hätte ich heute schon wieder bei der GFG Hausverwaltung angerufen und gedrängelt: Krieg ich sie nun oder nicht?

Nun, zumindest bis morgen will ich mich noch gedulden. Dann aber frage ich vielleicht einfach nach. Oder es gelingt mir, bis Donnerstag zu warten? Das bezweifele ich stark. Wieder diese Ungeduld! Ich sollte mir eine neue Bachblütenmischung zubereiten. Mit Impatiens selbstverständlich!.

Christian nahm die Nachricht über den geänderten Zeitpunkt nicht gerade freudig auf. Ich kann es ja verstehen.