Blattgeflüster - Hope Jahren - E-Book
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Blattgeflüster E-Book

Hope Jahren

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Beschreibung

Eine hinreißende Geschichte über Pflanzen, Liebe und die Wissenschaft

Hope Jahren hat das, wovon viele Menschen träumen: einen Beruf, der ihr Herz und ihr Leben erfüllt. Seit sie denken kann, ist die Geo-Biologin fasziniert von der Natur – von Pflanzen, Bäumen, Blättern, Samenkörnern und den unglaublichen Geschichten, die sie uns erzählen, sogar noch in fossiler Form. Wie ist es beispielsweise möglich, dass ein Kirschkern hundert Jahre lang geduldig warten kann, bis er sich auf einmal dazu entscheidet zu keimen? Hope Jahrens Werdegang von der kindlichen Forscherin zur angesehenen Wissenschaftlerin, die sich trotz zahlreicher Hindernisse in einer Männerwelt behauptet, ist eine inspirierende und mitreißende Geschichte voller Leidenschaft, Durchhaltevermögen und ewiger Neugierde. Ein wunderbares Gleichnis über die Kraft der Natur und die Freude des Entdeckens, das einen ganz neuen Blick auf die Pflanzenwelt eröffnet. Seite für Seite. Blatt für Blatt.

Für die New York Times ist Hope Jahrens »Blattgeflüster« eines der 100 besten Bücher des Jahres 2016.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 497

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Hope Jahren hat das, wovon viele Menschen träumen: einen Beruf, der ihr Herz und ihr Leben erfüllt. Ihr Werdegang von der kindlichen Forscherin zur angesehenen Wissenschaftlerin ist eine mitreißende Geschichte voller Leidenschaft, Durchhaltevermögen und ewiger Neugierde. Sie nimmt uns mit auf ihre eigene Wissens- und Lebensreise, die zutiefst von ihrer Begeisterung für die faszinierenden Fähigkeiten der Pflanzenwelt geprägt ist. In ihrer langen Karriere beschäftigte sie die Frage, was uns Pflanzen alles über sich, ihre Umwelt und über die Zeit, in der sie gewachsen sind, erzählen. Blattgeflüster ist eine Liebeserklärung an die Natur genauso wie an die Naturwissenschaft. Ein Buch über das Glück, sich einer Sache ganz zu verschreiben und dabei sich selbst zu finden.

Hope Jahren, geb. 1969, ist eine anerkannte Geo-Biologin, die sich u. a. mit Bäumen, Blumen und Samen beschäftigt. Sie promovierte 1996 in Berkeley, lehrte an vielen renommierten Universitäten in den USA und wurde mit zahlreichen Wissenschaftspreisen ausgezeichnet. Derzeit lebt sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Honolulu und arbeitet an der University of Hawaii, wo sie als Professorin ihr eigenes Labor betreibt.

HOPE JAHREN

BLATTGEFLÜSTER

DIE WUNDERBARE

WELT DER PFLANZEN

Aus dem Leben einer

leidenschaftlichen Forscherin

Aus dem Amerikanischen von Merle Taeger

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Lab Girl bei Alfred A. Knopf, New York, und Alfred A. Knopf Canada, Toronto.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Blattgeflüster ist ein Sachbuch. Um Persönlichkeitsrechte zu wahren, wurden bestimmte Orte, Namen und Ereignisse geändert.

© by Hope Jahren 2016, published by arrangement with Alfred A. Knopf, a division of Penguin Random House LLC, New York, and in Canada with Alfred A. Knopf Canada, a division of Penguin Random House Canada Ltd., Toronto

© der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Ludwig Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Ute Daenschel

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-11438-1V001

www.ludwig-verlag.de

Alles, was ich schreibe, ist meiner Mutter gewidmet.

Je mehr ich Dinge berührte und ihre Namen und ihren Zweck erfuhr, desto freudiger und vertrauensvoller wurde mein Gefühl der Zugehörigkeit zum Rest der Welt.

Helen Keller

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil I

Wurzeln und Blätter

Teil II

Holz und Knoten

Teil III

Blüten und Früchte

Epilog

Danksagung

Schlussbemerkung

Zitierte Werke

Über die Autorin

Prolog

Alle lieben das Meer. Ich werde ständig gefragt, warum ich nicht das Meer erforsche, schließlich lebe ich auf Hawaii. Ich erkläre dann, dass ich mich so entschieden habe, weil das Meer ein einsamer, öder Ort ist. An Land gibt es sechshundert Mal mehr Leben als im Meer und das liegt vor allem an den Pflanzen. Eine normale Meerespflanze besteht aus einer Zelle, die ungefähr zwanzig Tage lang lebt. Eine normale Landpflanze ist ein zwei Tonnen schwerer Baum, der über hundert Jahre lang lebt. Das Massenverhältnis von Pflanzen zu Tieren liegt im Meer beinah bei vier zu eins, während das Verhältnis an Land eher in Richtung tausend zu eins geht. Die Anzahl von Pflanzen ist überwältigend: Allein in den geschützten Wäldern der westlichen Vereinigten Staaten gibt es achtzig Milliarden Bäume. Das Verhältnis von Bäumen zu Menschen in Amerika liegt bei über zweihundert zu eins. Generell leben Menschen inmitten von Pflanzen, aber sehen sie eigentlich nicht. Seitdem ich diese Zahlen kenne, sehe ich kaum noch etwas anderes.

Also tun Sie mir einen Moment den Gefallen und schauen Sie aus dem Fenster.

Was haben Sie gesehen? Wahrscheinlich Dinge, die Menschen erschaffen haben. Dazu gehören andere Menschen, Autos, Gebäude und Gehwege. Nach wenigen Jahren des Entwerfens, Konstruierens, Grabens, Schmiedens, Schürfens, Schweißens, Mauerns, Verglasens, Verspachtelns, Klempnerns, Verdrahtens und Streichens sind Menschen in der Lage, einen hundertstöckigen Wolkenkratzer zu bauen, der einen dreihundert Meter langen Schatten wirft. Das ist wirklich beeindruckend.

Schauen Sie jetzt noch einmal hin.

Haben Sie etwas Grünes gesehen? Falls ja, haben Sie eines der wenigen noch verbleibenden Dinge erblickt, die der Mensch nicht erschaffen kann. Was Sie gesehen haben, wurde vor über vierhundert Millionen Jahren in der Nähe des Äquators erfunden. Vielleicht hatten Sie das große Glück, einen Baum zu sehen. Der Entwurf für diesen Baum entstand vor ungefähr dreihundert Millionen Jahren. Das Anzapfen der Atmosphäre, das Mauern der Zellen, das Verspachteln mit Wachs, Verlegen der Leitungen und die Pigmentierung brauchten höchstens ein paar Monate und es entstand etwas nicht weniger Perfektes als ein Blatt. An einem Baum wachsen ungefähr so viele Blätter wie Haare auf Ihrem Kopf. Das ist wirklich beeindruckend.

Konzentrieren Sie sich jetzt auf ein Blatt.

Menschen wissen nicht, wie man ein Blatt erschafft, aber sie wissen, wie man es zerstört. In den vergangenen zehn Jahren haben wir über fünfzig Milliarden Bäume gefällt. Ein Drittel der Landfläche der Erde war früher von Wäldern bedeckt. Alle zehn Jahre fällen wir ungefähr ein Prozent dieses gesamten Waldes, der niemals nachwächst. Das entspricht ungefähr einer Landfläche in der Größe von Frankreich. Ein Frankreich nach dem anderen wurde jahrzehntelang von der Erde gefegt. Das sind über eine Trillion Blätter, denen täglich ihre Nahrungsquelle entrissen wird. Und anscheinend interessiert es niemanden. Aber es sollte uns interessieren. Es sollte uns aus demselben fundamentalen Grund interessieren, aus dem wir stets Interesse zeigen: Weil jemand gestorben ist, der nicht sterben musste.

Jemand ist gestorben?

Vielleicht kann ich Sie überzeugen. Ich schaue mir unheimlich viele Blätter an. Ich sehe sie mir an und stelle Fragen. Als Erstes betrachte ich die Farbe: Welchen Grünton hat es genau? Ist die Oberseite anders als die Unterseite? Die Mitte anders als die Ränder? Und was ist mit den Rändern? Sind sie glatt oder gezackt? Wie hydratisiert ist das Blatt? Ist es schlapp? Knitterig? Glatt? Wie groß ist der Winkel zwischen Blatt und Stiel? Wie groß ist das Blatt? Größer als meine Hand? Kleiner als mein Fingernagel? Essbar? Giftig? Wie viel Sonne bekommt es ab? Wie oft fällt Regen darauf? Ist es krank? Gesund? Wichtig? Unwichtig? Lebendig? Warum?

Stellen Sie jetzt eine Frage zu Ihrem Blatt.

Wissen Sie was? Jetzt sind Sie ein Wissenschaftler. Man wird Ihnen sagen, dass Sie Mathematik beherrschen müssen, um Wissenschaftler zu sein, oder Physik oder Chemie. Das stimmt nicht. Das ist so, als würde man behaupten, man müsse stricken können, um Hausfrau zu sein, oder Latein beherrschen, um sich mit der Bibel zu beschäftigen. Sicher, es ist hilfreich, aber dazu bleibt noch genug Zeit. Am Anfang steht eine Frage, und so weit sind Sie schon. Es ist gar nicht so kompliziert, wie man denkt.

Also lassen Sie mich Ihnen ein paar Geschichten erzählen, von Wissenschaftler zu Wissenschaftler.

Teil I

Wurzeln und Blätter

1

Auf der Welt gibt es nichts Perfekteres als den Rechenschieber. Sein poliertes Aluminium fühlt sich an den Lippen kalt an und wenn man ihn gerade ins Licht hält, sieht man in jeder seiner Ecken den vollkommensten rechten Winkel, den Gott je erschuf. Wenn man ihn zur Seite dreht, verwandelt er sich anmutig in einen extravaganten Degen, der sich auch ganz heimlich zurückziehen lässt. Selbst ein sehr kleines Mädchen kann einen Rechenschieber schwingen, wobei der Läufer als Heft dient. In meiner Erinnerung ist dieses Spiel untrennbar mit den ersten Geschichten verbunden, die mir erzählt wurden, und deshalb werde ich nie das Bild eines mit sich ringenden Abrahams loswerden, der gerade dabei ist, den hilflosen kleinen Isaak mit seinem erhobenen, grausamen Rechenschieber zu opfern.

Ich wuchs im Labor meines Vaters auf und spielte unter den Chemietischen, bis ich so groß war, dass ich darauf spielen konnte. Mein Vater gab zweiundvierzig Jahre lang Anfängerkurse in Chemie und Geowissenschaft in diesem Labor, das sich in einem Community College im ländlichen Minnesota befand. Er liebte sein Labor und es war ein Ort, den meine Brüder und ich ebenfalls liebten.

Die Wände bestanden aus Betonblöcken, die von einer dicken Schicht halbmatter, beiger Farbe bedeckt waren, aber man konnte die Struktur des Zements darunter fühlen, wenn man die Augen schloss und sich konzentrierte. Ich erinnere mich, dass ich überzeugt war, die schwarze Gummiverkleidung sei aufgeklebt, weil ich nirgends Nagellöcher fand, als ich einmal die gesamte Länge mit dem gelben Maßband vermaß, das ganze dreißig Meter lang war. Es gab lange Arbeitstische, an denen Studenten Seite an Seite saßen, alle in dieselbe Richtung schauend. Diese schwarzen Arbeitsplatten fühlten sich so kühl an wie Grabsteine und bestanden aus einem ebenso zeitlosen Material, das weder von Säure verätzt noch mit dem Hammer zerschlagen werden konnte (aber versuchen Sie das nicht). Die Tische waren so stabil, dass man auf ihren Kanten stehen konnte und sie ließen sich noch nicht einmal mit Steinen zerkratzen (aber versuchen Sie das nicht). Der ganze Raum war sauber und offen und leer, aber jede Schublade enthielt faszinierende Ansammlungen von Magneten, Draht, Glas und Metall, die alle für etwas nützlich waren; man musste nur herausfinden, wofür. Im Schrank neben der Tür gab es pH-Teststreifen, die wie ein Zaubertrick waren, nur besser, weil sie nicht bloß ein Geheimnis sichtbar machten, sondern es auch lösten: Man konnte den Farbunterschied und somit den unterschiedlichen pH-Wert von einem Tropfen Spucke und einem Tropfen Wasser oder Root Beer oder Urin im Bad sehen, aber nicht von Blut, weil das undurchsichtig ist (also versuchen Sie das nicht). Diese Sachen waren kein Kinderspielzeug, sondern ernsthafte Dinge für Erwachsene, aber ich war ein besonderes Kind, weil mein Vater einen riesigen Schlüsselbund hatte und ich immer, wenn ich mit ihm dorthin ging, mit der Ausrüstung spielen konnte, weil er nie Nein sagte, wenn ich ihn bat, alles hervorzuholen.

In meinen Erinnerungen an jene dunklen Winternächte gehört meinem Vater und mir das gesamte Wissenschaftsgebäude und wir laufen herum wie ein Fürst und sein hoheitlicher Prinz, zu beschäftigt in unserem Schloss, um uns Gedanken über unser gefrorenes Reich zu machen. Während sich mein Vater auf den Unterricht am folgenden Tag vorbereitete, ging ich jedes vorbereitete Experiment und jede Vorführung rückwärts durch und stellte so sicher, dass die Studenten den leichten Erfolg haben würden, für den sie bestimmt waren. Wir brüteten über den Geräten und reparierten, was kaputt war und mein Vater brachte mir bei, Dinge vorsorglich auseinanderzunehmen und zu lernen, wie sie funktionierten, damit ich in der Lage war, sie instand zu setzen, wenn sie versagten, was unweigerlich geschah. Er brachte mir bei, dass es keine Schande ist, etwas kaputt zu machen, sondern nur, es nicht wieder reparieren zu können.

Um acht Uhr gingen wir normalerweise nach Hause, weil ich um neun im Bett sein sollte. Zuerst stoppten wir in dem winzigen, fensterlosen Büro meines Vaters, das bis auf den Stiftehalter, den ich für ihn getöpfert hatte, völlig karg war. Dort sammelten wir unsere Mäntel, Mützen, Schals und die anderen Dinge ein, die meine Mutter für mich gestrickt hatte, weil sie selbst nie gute gehabt hatte, als sie ein kleines Mädchen war. Während ich meine festen Stiefel mühsam über ein zusätzliches Paar Socken zog, spitzte mein Vater jeden Stift an, den wir stumpf gemacht hatten und der Geruch nach warmer, nasser Wolle vermischte sich mit dem nach Holzspänen. Dann knöpfte er rasch seinen dicken Mantel zu, zog seine Handschuhe aus Rehleder an und sagte mir, ich solle meine Mütze fest über beide Ohren ziehen.

Er war immer der Letzte, der das Gebäude am Ende des Tages verließ und er ging die Flure zweimal ab, das erste Mal, um sicherzustellen, dass alle Außentüren verschlossen waren und ein zweites Mal, um die Lichter nach und nach auszuschalten, während ich auf der Flucht vor der uns folgenden Dunkelheit hinter ihm hertrottete. Zum Schluss ließ mich mein Vater am Hintereingang mit nach oben gestrecktem Arm die letzten Lichtschalter ausknipsen und wir gingen hinaus. Er zog die Tür hinter uns zu und rüttelte immer zweimal daran, um sicherzustellen, dass das Schloss eingerastet war.

So ausgeschlossen standen wir in der Kälte auf der Laderampe und schauten zum gefrorenen Himmel hinauf, in die endliche Kälte des Alls, und sahen Licht, das Jahre zuvor von unvorstellbar heißen Feuern ausgestoßen worden war, die noch immer auf der anderen Seite der Galaxie brannten. Ich kannte keine der Konstellationsnamen, mit denen andere Leute die Sterne über mir bezeichneten und fragte nie, wie sie lauteten, obwohl ich sicher bin, dass mein Vater jede einzelne kannte und auch die dazugehörige Geschichte. Wir hatten uns schon lange angewöhnt, nicht zu reden, während wir die drei Kilometer bis nach Hause liefen. Stilles Zusammensein praktizieren skandinavische Familien von Natur aus und vielleicht am besten.

Das Community College, an dem mein Vater arbeitete, lag am westlichen Rand unserer kleinen Heimatstadt, die sich von einem Fernfahrerrastplatz zum anderen über sechs Kilometer ausdehnte. Meine drei älteren Brüder und ich lebten mit unseren Eltern in einem großen Ziegelhaus südlich der Main Street, vier Blocks westlich von dort, wo mein Vater in den 1920ern aufgewachsen war, acht Blocks östlich von dort, wo meine Mutter in den 1930ern aufgewachsen war, 160 Kilometer südlich von Minneapolis und acht Kilometer nördlich der Grenze zu Iowa.

Unser Weg durch die Stadt führte an der Klinik vorbei, wo derselbe Arzt, der mich zur Welt gebracht hatte, gelegentlich einen Halsabstrich bei mir nahm, um ihn auf Streptokokken-Infektionen zu untersuchen, vorbei am zahnpastablauen Wasserturm, dem höchsten Gebäude der Stadt, vorbei an der High School, in der Lehrer arbeiteten, die ehemalige Studenten meines Vaters waren. Wenn wir unter der Dachrinne der presbyterianischen Kirche hindurchgingen, hob mein Vater mich hoch, sodass ich einen dicken Eiszapfen abbrechen konnte. Hier hatten meine Eltern sich 1949 bei einem Sonntagsschulpicknick kennengelernt, hier hatten sie 1953 geheiratet, mich 1969 taufen lassen und hier verbrachte meine Familie ausnahmslos jeden Sonntagmorgen. Während wir weitergingen, kickte ich den Eiszapfen vor mir her wie einen Hockeypuck, und ungefähr alle zehn Schritte klirrte er, wenn er von den harten Schneebänken abprallte.

Wir setzten unseren Weg über handgeschaufelte Gehwege fort, vorbei an dick isolierten Häusern, in denen Familien lebten, die zweifellos Teil einer Stille waren, die der unseren ähnelte. In fast jedem dieser Häuser wohnte jemand, den wir kannten. Vom Laufstall bis zum Abschlussball wuchs ich mit den Söhnen und Töchtern der Mädchen und Jungen auf, mit denen meine Mutter und mein Vater als Kind gespielt hatten und keiner von uns konnte an eine Zeit zurückdenken, zu der wir uns nicht alle gekannt hatten, auch wenn uns die zutiefst verwurzelte Zurückhaltung daran hinderte, viel übereinander zu erfahren. Erst als ich siebzehn war und wegzog, um aufs College zu gehen, entdeckte ich, dass die Welt größtenteils von Fremden bevölkert ist.

Wenn ich auf der anderen Seite der Stadt ein Geräusch wie das Seufzen eines erschöpften Monsters hörte, war mir klar, dass es dreiundzwanzig Minuten nach acht war und der Zug von der Fabrik abfuhr, wie jeden Abend. Ich hörte, wie die großen Eisenbremsen knirschten und sich lösten, wenn die Reihe leerer Tankwaggons begann, sich nach Norden zu schleppen, Richtung Saint Paul, wo jeder von ihnen mit 114 000 Litern Pökel gefüllt werden würde. Morgens hörten wir den Zug zurückkommen und das erschöpfte Monster seufzte wieder, während seine Last in den bodenlosen Salzspeicher gepumpt wurde, den die Fabrik für die ständige Herstellung von Speck benötigte.

Die Gleise verliefen von Norden nach Süden und schnitten eine Ecke meiner kleinen Stadt ab, in der noch immer das vielleicht prächtigste Schlachthaus des Mittleren Westens steht. Ausgehend von seiner Schlachtstraße werden hier täglich über zwanzigtausend Tiere zur Fleischgewinnung verarbeitet.

Meine Familie war eine der wenigen, die nicht direkt in der Fabrik beschäftigt waren, aber unsere Vorfahren hatten dort reichlich gearbeitet. Meine Urgroßeltern waren um 1880 während einer Massenauswanderung von Norwegen nach Minnesota gekommen, so wie die fast aller anderen auch. Und genau wie bei allen anderen in meiner Heimatstadt ist das so ziemlich das Einzige, was ich über meine Vorfahren weiß. Ich hatte den Verdacht, dass es wohl kaum die guten Lebensbedingungen in Europa gewesen sein konnten, die sie an den kältesten Ort der Welt getrieben hatten, um dort Schweine auszuweiden, aber ich war nie auf den Gedanken gekommen, mich nach der Geschichte zu erkundigen.

Meine Großmütter lernte ich nie kennen – sie waren beide schon tot, als ich geboren wurde. An meine Großväter hingegen erinnere ich mich – sie starben, als ich vier beziehungsweise sieben Jahre alt war –, aber so weit ich weiß, hat keiner von ihnen jemals direkt mit mir gesprochen. Mein Vater war ein Einzelkind, aber ich glaube, meine Mutter hatte mehr als zehn Geschwister, von denen ich vielen nie begegnet bin. Zwischen den Besuchen bei unseren Onkels und Tanten vergingen oft Jahre, obwohl einige von ihnen in derselben kleinen Stadt wohnten wie wir. Nicht einmal, dass meine älteren Brüder erwachsen wurden und nach und nach unser Haus verließen, fiel mir besonders auf, da es für uns nicht ungewöhnlich war, tagelang nicht miteinander zu reden.

Die riesige emotionale Distanz zwischen den einzelnen Mitgliedern einer skandinavischen Familie wird früh aufgebaut und täglich verstärkt. Können Sie sich vorstellen, in einer Kultur aufzuwachsen, in der Sie sich niemals nach etwas Privatem erkundigen dürfen? Wo »Wie geht es dir?« als persönliche Frage betrachtet wird, die man nicht beantworten muss? Wo man dazu erzogen wird, immer darauf zu warten, dass andere sagen, was sie stört, während dir gleichzeitig anerzogen wird, niemals zu sagen, was dich selbst stört? Das muss eine Überlebenstechnik aus der Zeit der Wikinger sein, als man über lange Phasen hinweg Stille bewahren musste, um unnötige Morde während der langen, dunklen Winter zu verhindern, wenn es wenig Platz gab und die Vorräte schwanden.

Solange ich ein Kind war, ging ich davon aus, dass alle Menschen auf der Welt sich so verhielten wie wir, und war daher verwirrt, als ich den Bundesstaat verließ und Menschen kennenlernte, die sich mühelos die einfache Wärme und beiläufige Zuneigung zeigten, nach der ich mich so lange gesehnt hatte. Dann musste ich lernen, in einer Welt zu leben, in der es daran liegt, dass Menschen sich nicht kennen, wenn sie nicht miteinander reden und nicht daran, dass sie sich kennen.

Wenn mein Vater und ich die Fourth Street überquert hatten (oder »Kenwood Avenue«, wie er sie nannte – er hatte die Straßennamen als Kind in den 1920ern gelernt, lange bevor sie nummeriert wurden, und sich nie an das neue System gewöhnt), konnten wir die Eingangstür unseres großen Ziegelhauses sehen. Meine Mutter hatte als Kind davon geträumt, in diesem Haus zu wohnen und nachdem meine Eltern geheiratet hatten, sparten sie achtzehn Jahre lang, um es kaufen zu können. Obwohl ich schnell gegangen war – es kostete immer Mühe, mit meinem Vater Schritt zu halten –, waren meine Finger so kalt, dass ich wusste, sie würden beim Aufwärmen schmerzen. Ab einem bestimmten Punkt unter null Grad halten selbst die dicksten Fäustlinge der Welt einem nicht die Hände warm und ich war froh, dass der Weg fast geschafft war. Mein Vater drehte den eisernen Türknauf, stemmte sich mit der Schulter gegen unsere schwere Eichentür und öffnete sie. Wir betraten das Haus, in dem uns eine andere Art der Kälte erwartete.

Im Eingangsbereich setzte ich mich hin, zog mühsam meine Stiefel aus und begann, mich aus Mänteln und Pullovern zu schälen. Mein Vater hängte unsere Kleidung in den Wärmeschrank und ich wusste, dass sie warm und trocken auf mich warten würde, wenn es am nächsten Morgen an der Zeit war, zur Schule zu gehen. Ich konnte hören, wie meine Mutter in der Küche die Geschirrspülmaschine ausräumte, wie die Buttermesser aneinanderklirrten, als sie sie in die Besteckschublade fallen ließ und diese dann zuknallte. Sie war immer wütend und ich konnte mir nie erklären, warum. In meiner typisch kindlichen Ich-Zentriertheit war ich sicher, dass es an mir liegen musste, an etwas, das ich gesagt oder getan hatte. Zukünftig, so schwor ich mir, würde ich besser auf meine Worte achten.

Ich ging nach oben, zog meinen Flanellschlafanzug an und legte mich ins Bett. Mein Zimmer hatte einen Blick nach Süden, in Richtung des gefrorenen Teiches, auf dem ich den ganzen Samstag mit Schlittschuhlaufen verbringen würde – wenn es bis dahin warm genug wäre. Der Wollteppich war blassblau und die Wände mit passendem Damast tapeziert. Das Zimmer war ursprünglich für Zwillingsmädchen entworfen worden, mit zwei eingebauten Schreibtischen, zwei Waschtischen und so weiter. Wenn ich nachts nicht schlafen konnte, setzte ich mich an meinen Fensterplatz und fuhr mit dem Finger über die federigen Eiskristalle auf dem Glas, wobei ich mich bemühte, nicht den leeren Platz vor dem anderen Fenster anzuschauen, wo eine Schwester hätte sitzen sollen.

Dass ich mich an so viel Kälte und Dunkelheit in meiner Kindheit erinnere, ist nicht überraschend. Ich wuchs an einem Ort auf, an dem jedes Jahr neun Monate lang Schnee liegt, und das Eintauchen in und Auftauchen aus dem Winter bildete den treibenden Rhythmus unseres Lebens. Als Kind ging ich davon aus, dass an allen Orten Menschen zuschauten, wie ihre Sommerwelt starb, zuversichtlich, dass sie früher oder später wiederauferstehen würde, da sie schon oft die Feuerprobe des Eises überstanden hatte.

Jedes Jahr sah ich zu, wie die ersten zögerlichen Septemberflocken zu den überbordenden weißen Bergen im Dezember anschwollen, dann zur tiefen, eisigen Leere des Februars versteinerten, um irgendwann vom Aprilgraupel zu einer glatten, weiten Ebene lackiert zu werden. Unsere Halloweenkostüme und Osterkleider waren so genäht, dass sie unter unseren Schneeanzügen getragen werden konnten, und zur Weihnachtszeit wickelten wir uns in Wolle, Samt und noch mehr Wolle. Die einzige Sommeraktivität, an die ich mich lebhaft erinnere, ist die Gartenarbeit mit meiner Mutter.

In Minnesota kommt die Frühjahrsschmelze mit einem Schlag, wenn der gefrorene Boden der Sonne nachgibt, sodass das lockere Erdreich bis tief ins Innere durchnässt wird. Am ersten Frühlingstag kann man in den Boden greifen und leicht große, lose Dreckklumpen hervorholen, als seien sie Hände voll von frischem Schokoladenkuchen, und den dicken, rosafarbenen Regenwürmern dabei zuschauen, wie sie sich hervorwinden und sich glücklich wieder zurück in das Loch werfen. Im Erdboden von Südminnesota gibt es nicht das kleinste bisschen Ton; bis auf die gelegentliche Vertreibung durch Gletscher liegt er seit hunderttausend Jahren wie eine schwere schwarze Decke über dem Kalkgestein der Region. Er ist fruchtbarer als jede vorgedüngte Pflanzerde aus dem Baumarkt. Es gibt nichts, was in einem Garten in Minnesota nicht gedeiht und man braucht kein Wasser oder Düngemittel – Regen und Würmer liefern alles, was nötig ist – aber die Wachstumsperiode ist kurz, daher darf man keine Zeit verlieren.

Meine Mutter erwartete von ihrem Garten zwei Dinge: Effizienz und Produktivität. Sie bevorzugte widerstandsfähige, pflegeleichte Gemüsesorten wie Mangold und Rhabarber, bei denen man sich darauf verlassen konnte, dass sie reichlich abwarfen und besonders gut zu gedeihen schienen, wenn man sie häufig aberntete. Sie hatte weder die Zeit noch das nötige Feingefühl, sich um Salatpflanzen zu kümmern oder Tomaten zu beschneiden. Stattdessen gab sie Radieschen und Karotten den Vorzug, die sich unter der Erde in aller Stille selbst versorgen konnten. Selbst die Blumen, die sie anpflanzte, wurden aufgrund ihrer Zähigkeit ausgewählt: die golfballgroßen Knospen der Pfingstrosen, die vor Blütenblättern zu bersten schienen, während sie zu pinkfarbenen Blüten in der Größe von Kohlköpfen anschwollen, lederige Tigerlilien und die fetten, bärtigen Schwertlilien, die unfehlbar Frühling für Frühling aus ihren Zwiebeln drängten.

An jedem Tag im Mai steckten meine Mutter und ich einzelne Samen in den Boden und eine Woche darauf zogen wir diejenigen, die nicht angegangen waren, wieder heraus, ersetzten sie und alles fing von vorne an. Ende Juni gedieh die Saat prächtig und die Welt um uns herum war so grün, dass es sich anfühlte, als sei es niemals anders gewesen. Ab Juli hatten die schwitzenden Blätter dieser Pflanzen die Luft so mit Feuchtigkeit vollgepumpt, dass die Stromleitungen über unseren Köpfen in der Nässe summten und knisterten.

Meine stärkste Erinnerung an unseren Garten ist nicht, wie er roch oder aussah, sondern wie er klang. Vielleicht erscheint es Ihnen unwahrscheinlich, aber im Mittleren Westen können Sie tatsächlich hören, wie Pflanzen wachsen. Zur Spitzenzeit wächst Zuckermais jeden Tag fünf Zentimeter, und wenn man an einem völlig stillen Augusttag in den Reihen eines Maisfeldes steht, kann man das leise stete Rascheln der Schalen hören, deren Lagen sich verschieben, um dieser Ausdehnung Platz zu machen. Während wir unseren Garten umgruben, lauschte ich dem trägen Summen der Bienen, die wie betrunken von Blume zu Blume torkelten, dem kleinlichen, kurzen Zwitschern der Kardinale, die unser Vogelfutterhaus kommentierten, dem Kratzen unserer Pflanzkellen in der Erde, und der gebieterischen Pfeife der Fabrik, die täglich zu Mittag geblasen wurde.

Meine Mutter glaubte, dass man alles entweder richtig oder falsch machen konnte und dass man, wenn man es falsch machte, von vorne anfangen musste, am besten mehrfach. Sie wusste, wie man unterschiedliche Spannung in jeden Knopf eines Hemdes nähte, je nachdem, wie oft er benutzt werden würde. Sie wusste, wie man montags am besten Holunderbeeren erntete, damit ihre Stiele am Mittwoch nicht den alten Blechdurchschlag verstopften, wenn wir sie abgossen, nachdem wir sie den ganzen Dienstag über gedünstet hatten. Sie dachte stets zwei Schritte in jede mögliche Richtung voraus, ohne je an sich zu zweifeln und war der Meinung, dass es auf der Welt nichts gab, was sie nicht konnte.

Tatsächlich konnte meine Mutter viele Dinge – und tat sie auch weiterhin –, die inzwischen nicht mehr absolut nötig waren, nachdem die Große Depression vorbei war, keine Lebensmittelknappheit mehr herrschte und Präsident Ford uns versichert hatte, dass all unsere Albträume vorüber waren. Sie betrachtete ihren eigenen Aufstieg vom Tellerwäscher zum (Beinahe-)Millionär als einen hart erkämpften Sieg über etwas Böses und beschloss, dass ihre Kinder weiterkämpfen sollten, um dieses Erbe zu sichern. Daher hörte sie nicht auf, uns für einen Kampf zu stählen, der nie kam.

Wenn ich meine Mutter ansah, konnte ich nur mit Mühe glauben, dass die wortgewandte und elegant gekleidete Frau mir gegenüber jemals ein schmutziges, hungriges und verängstigtes Kind gewesen war. Nur ihre Hände verrieten sie: Sie waren viel zu derb für das Leben, das sie nun führte, und ich spürte, dass sie das Kaninchen, das unseren Garten plagte, einfach greifen und ihm ohne groß darüber nachzudenken den Hals hätte umdrehen können, wäre es so dumm gewesen, ihr zu nahe zu kommen.

Wenn man unter Menschen aufwächst, die nicht viel reden, brennt sich das, was sie zu einem sagen, unauslöschlich ins Gedächtnis. Als Kind war meine Mutter das ärmste und zugleich das klügste Mädchen in Mower County. In ihrem letzten Highschooljahr erhielt sie bei der neunten jährlichen nationalen Westinghouse-Talentsuche für Wissenschaftler eine lobende Erwähnung. Dies war eine ungewöhnliche Auszeichnung für eine Frau, die auf dem Land aufgewachsen war, und obwohl sie damit knapp am eigentlichen Preis vorbeischrammte, brachte es sie in gute Gesellschaft. Unter den Mitbewerbern von 1950 waren Sheldon Glashow, der später den Nobelpreis für Physik erhielt, und Paul Cohen, der 1966 mit der Fields Medal geehrt wurde – der höchsten Auszeichnung auf dem Gebiet der Mathematik.

Unglücklicherweise brachte die lobende Erwähnung meiner Mutter nur eine einjährige Ehrenmitgliedschaft an der Wissenschaftsakademie von Minnesota ein, nicht das Universitätsstipendium, das sie sich erhofft hatte. Doch davon ließ sie sich nicht abschrecken. Sie zog nach Minneapolis und versuchte, sich selbst über Wasser zu halten, während sie an der Universität von Minnesota Chemie studierte. Allerdings stellte sie rasch fest, dass sie nicht an den langen nachmittäglichen Laborkursen teilnehmen und gleichzeitig genug Stunden als Babysitter arbeiten konnte, um ihre Studiengebühren zu bezahlen. 1951 war das Studium auf Männer ausgerichtet, normalerweise auf Männer mit Geld, oder zumindest Männer, die andere Arbeitsmöglichkeiten hatten, als bei einer Familie als Kindermädchen einzuziehen. Sie ging zurück in unsere Heimatstadt, heiratete meinen Vater, bekam vier Kinder und machte sich mit ganzem Eifer daran, sie zwanzig Jahre lang großzuziehen. Entschlossen, ihren Bachelor-Abschluss zu erreichen, sobald das letzte ihrer Kinder in der Vorschule war, schrieb sie sich erneut an der Universität von Minnesota ein. Ihre Auswahl beschränkte sich auf Fernstudienkurse, also wählte sie englische Literatur. Da ich die meiste Zeit in ihrer Obhut verbrachte, bezog sie mich ganz selbstverständlich in ihre Studien ein.

Wir ackerten uns durch Chaucer und ich lernte, ihr mit dem Wörterbuch für Mittelenglisch zu helfen. In einem Jahr verbrachten wir den Winter damit, jeden Fall von Symbolismus in The Pilgrim’s Progress auf separaten Karteikarten zu notieren, und ich war entzückt, dabei zuzuschauen, wie unser Haufen wuchs und dicker wurde als das Buch selbst. Meine Mutter drehte sich Lockenwickler in die Haare, während sie sich wieder und wieder Aufnahmen von Carl Sandburgs Gedichten anhörte, und sie brachte mir bei, die Worte jedes Mal ein wenig anders wahrzunehmen. Nachdem sie Susan Sontag entdeckt hatte, erklärte sie mir, Bedeutung an sich sei ein konstruiertes Konzept, und ich lernte zu nicken und so zu tun, als verstünde ich alles.

Meine Mutter brachte mir bei, dass Lesen eine Art Arbeit ist und dass jeder Absatz Anstrengung verdient, und so lernte ich, mich mit schwierigen Büchern zu beschäftigen. Kurz nachdem ich in die Vorschule gekommen war, merkte ich jedoch, dass schwierige Bücher einem auch Ärger einbringen können. Ich wurde dafür bestraft, dass ich schneller las als der Rest der Klasse, und dafür, dass ich nicht willens war, mit anderen zu sprechen und mich »nett« zu verhalten. Ich wusste nicht, warum ich meine Lehrerinnen zugleich fürchtete und anhimmelte, aber ich wusste sehr wohl, dass ich ständig ihre Aufmerksamkeit brauchte, egal ob positiv oder negativ. Vorsichtig, aber entschlossen, tastete ich mich vor auf dem verwirrenden und unsicheren Weg, ich selbst zu sein, wissend, dass das mehr war, als die anderen sehen wollten.

Wenn meine Mutter und ich zu Hause gärtnerten und lasen, spürte ich vage, dass wir etwas nicht taten, etwas Zärtliches, das Mütter und Töchter normalerweise tun, aber ich fand nicht heraus, was es war, und sie ebenso wenig. Wahrscheinlich liebten wir einander, jede auf ihre eigene sture Weise, aber ich bin mir nicht ganz sicher, wahrscheinlich, weil wir nie offen darüber gesprochen haben. Mutter und Tochter zu sein, fühlte sich immer an wie ein Experiment, das wir einfach nicht richtig hinbekamen.

Mit fünf Jahren verstand ich, dass ich kein Junge war. Ich war noch nicht sicher, was ich war, aber mir wurde klar, dass ich auf jeden Fall weniger war als ein Junge. Ich sah, dass meine Brüder, die fünf, zehn und fünfzehn Jahre älter waren als ich, all unsere Laborspiele in der realen Welt anwenden konnten. Bei den Pfadfindern veranstalteten sie Modellautorennen und bauten Raketen, die sie abfeuerten. Im Werkunterricht benutzten sie Werkzeuge, die so groß und leistungsfähig waren, dass sie an der Wand befestigt wurden oder von der Decke hingen. Wenn wir Carl Sagan und Mr. Spock und Doctor Who und den Professor anschauten, verloren wir nie ein Wort über Schwester Chapel oder Mary Ann im Hintergrund. Ich zog mich tiefer in das Labor meines Vaters zurück, an den Ort, an dem ich die mechanische Welt am freisten erforschen konnte.

Irgendwie ergab es Sinn. Ich war diejenige, die unserem Vater ähnelte, zumindest dachte ich das. Die Unterschiede zwischen uns waren rein optischer Natur: Mein Vater sah genauso aus, wie ein Wissenschaftler aussehen sollte. Er war groß und blass und sauber rasiert, dünn, fast ausgemergelt in seinen Kakihosen und weißen Hemden, mit der Hornbrille und dem ausgeprägten Adamsapfel. Mit fünf Jahren entschied ich auch, dass mein wahres Ich ihm glich, und dass mein mädchenhaftes Äußeres nur eine Verkleidung war. Tagsüber, wenn ich vorgab ein Mädchen zu sein, verbrachte ich meine Zeit damit, mich geschickt zu pflegen und mit meinen Freundinnen darüber zu tratschen, wer wen mochte und was wäre, wenn nicht. Ich konnte stundenlang seilspringen und meine eigene Kleidung nähen und alles, was irgendjemand möglicherweise hätte essen wollen, auf drei unterschiedliche Arten zubereiten. Aber spät am Abend begleitete ich meinen Vater stets zu seinem Labor, wenn das Gebäude leer, aber noch hell beleuchtet war. Dort verwandelte ich mich von einem Mädchen in einen Wissenschaftler, wie sich Peter Parker in Spider-Man verwandelt, nur irgendwie umgekehrt.

So sehr ich auch sein wollte wie mein Vater, so genau wusste ich doch, dass ich dazu bestimmt war, das Leben meiner unverwüstlichen Mutter zu vollenden: Ich sollte jenes Leben leben, das sie verdiente und hätte führen sollen. Ich ging ein Jahr früher von der Highschool ab, um ein Stipendium an der Universität von Minnesota anzutreten – derselben Universität, die meine Mutter, mein Vater und alle meine Brüder besucht hatten.

Anfangs studierte ich Literatur, stellte aber bald fest, dass ich eigentlich zur Naturwissenschaft gehörte. Der Kontrast machte es umso klarer: In naturwissenschaftlichen Kursen taten wir Dinge, anstatt nur herumzusitzen und darüber zu reden. Wir arbeiteten mit den Händen und es gab konkrete und beinah tägliche Erfolge. Unsere Laborexperimente waren so eingerichtet, dass sie jedes Mal perfekt und elegant funktionierten, und je mehr man davon durchführte, desto größer wurden die Maschinen und desto exotischer die Chemikalien, die man benutzen durfte.

In naturwissenschaftlichen Vorlesungen ging es um soziale Probleme, die noch gelöst werden konnten, statt um längst nicht mehr bestehende politische Systeme, deren Befürworter sowie Gegner vor meiner Geburt gestorben waren. Die Naturwissenschaft beschäftigte sich nicht mit Büchern, die geschrieben worden waren, um andere Bücher zu analysieren, die ursprünglich als Nacherzählungen uralter Bücher geschrieben worden waren; sie beschäftigte sich damit, was gerade jetzt geschah und mit einer Zukunft, die sich noch entwickeln konnte. Eben jene Eigenschaften, die mich für all meine früheren Lehrer zu einem Quälgeist gemacht hatten – meine Unfähigkeit, Dinge durchgehen zu lassen, gepaart mit meiner Tendenz, alles zu übertreiben –, waren genau das, was meine Professoren gern sahen. Sie akzeptierten mich, obwohl ich »nur« ein Mädchen war und bestärkten mich in dem, was ich bereits vermutete: Dass mein eigentliches Potenzial in meiner Bereitschaft lag, mich anzustrengen, und nicht in meinen jeweiligen Lebensumständen. Wieder einmal war ich in Sicherheit wie im Labor meines Vaters und durfte mit allen Spielzeugen spielen, solange ich wollte.

Menschen sind wie Pflanzen: Sie wachsen zum Licht hin. Ich wählte die Naturwissenschaft, weil sie mir gab, was ich brauchte – ein Zuhause im buchstäblichen Sinne: einen sicheren Ort.

Erwachsen zu werden, ist für jeden ein langer und schmerzvoller Prozess und das Einzige, was ich jemals mit Sicherheit wusste, war, dass ich eines Tages mein eigenes Labor haben würde, weil mein Vater eines hatte. In unserer winzigen Stadt war mein Vater nicht bloß ein Wissenschaftler, sondern der Wissenschaftler, und Wissenschaftler zu sein war nicht seine Arbeit, sondern seine Identität. Mein eigener Wunsch, ihm darin zu folgen, fußte auf einem tief greifenden Instinkt und nichts anderem. Ich habe nie eine einzige Geschichte über eine Frau in den Naturwissenschaften gehört, nie eine kennengelernt oder wenigstens im Fernsehen gesehen.

Als Naturwissenschaftlerin bin ich nach wie vor ungewöhnlich, aber in meinem Herzen war ich nie etwas anderes. Im Lauf der Jahre habe ich drei Labore von Grund auf erschaffen, drei leeren Räumen Wärme und Leben eingehaucht, jedes Mal größer und besser als zuvor. Mein derzeitiges Labor ist beinah perfekt – es liegt im milden Honolulu in einem herrlichen Gebäude, das häufig von Regenbogen gekrönt wird und von ständig blühenden Hibisken umstanden ist – aber mir ist dennoch bewusst, dass ich niemals aufhören werde, weiterzubauen und mehr zu wollen. Mein Labor ist nicht »Raum T309«, wie es auf den Grundrissen meiner Universität heißt; es ist »das Jahren-Labor« und wird es immer sein, egal, wo es sich befindet. Es trägt meinen Namen, weil es mein Zuhause ist.

Mein Labor ist ein Ort, an dem immer Licht brennt. Mein Labor hat keine Fenster, aber es braucht auch keine. Es ist in sich geschlossen, eine Welt für sich. Mein Labor ist sowohl privat als auch vertraut und wird von einer kleinen Anzahl von Menschen bevölkert, die sich gut kennt. Mein Labor ist der Ort, an dem meine Gedanken direkt durch meine Finger in meine Arbeit fließen. Mein Labor ist ein Ort, an dem ich mich bewege. Ich stehe, gehe, sitze, hole, trage, klettere und krieche. Mein Labor ist ein Ort, an dem es gut ist, dass ich nicht schlafen kann, weil es auf der Welt so viele andere Dinge zu tun gibt. Mein Labor ist ein Ort, an dem es nicht egal ist, ob ich verletzt werde. Es gibt Warnschilder und Regeln, um mich zu schützen. Ich trage Handschuhe, eine Brille und festes Schuhwerk, um mich gegen katastrophale Fehler abzuschirmen. In meinem Labor überwiegt das, was ich habe, bei Weitem das, was ich brauche. Die Schubladen sind voller Gegenstände, die vielleicht nützlich werden könnten. Die Existenz jedes Dings in meinem Labor – egal wie klein oder unförmig – hat einen Grund, selbst wenn sein Zweck noch nicht gefunden wurde.

Mein Labor ist ein Ort, an dem meine Schuldgefühle für das, was ich nicht getan habe, von all den Dingen verdrängt werden, mit denen ich beschäftigt bin. Ungetätigte Anrufe bei meinen Eltern, unbezahlte Kreditkartenrechnungen, ungewaschenes Geschirr und unrasierte Beine verblassen angesichts der hehren wissenschaftlichen Ziele. Mein Labor ist ein Ort, an dem ich das Kind sein kann, das noch immer in mir steckt. Es ist der Ort, an dem ich mit meinem besten Freund spiele. In meinem Labor kann ich lachen und lächerlich sein. Ich kann die ganze Nacht hindurch daran arbeiten, einen Stein zu analysieren, weil ich vor Morgengrauen wissen muss, woraus er besteht. All die verwirrenden, unliebsamen Dinge, die das Erwachsenwerden mit sich brachte – Steuererklärungen und Autoversicherungen und Abstriche –, sie alle sind gleichgültig, wenn ich im Labor bin. Es gibt kein Telefon und deswegen schmerzt es nicht, wenn jemand mich nicht anruft. Die Tür ist verschlossen und ich kenne jeden, der einen Schlüssel hat. Weil die Welt da draußen nicht in das Labor hereinkommen kann, ist es zu dem Ort geworden, an dem ich wirklich ich selbst sein kann.

Mein Labor ist wie eine Kirche, weil ich mir hier darüber klar werde, woran ich glaube. Die Maschinen brummen eine Begrüßungshymne, wenn ich hereinkomme. Ich weiß, welche Kollegen ich wahrscheinlich sehen werde und wie sie sich vermutlich verhalten werden. Ich weiß, dass es Stille geben wird; ich weiß, dass es Musik geben wird; Zeit, meine Freunde zu begrüßen und Zeit, die anderen ihren Gedanken zu überlassen. Ich folge Ritualen, von denen ich manche verstehe und andere nicht. In meinem Labor kommt der beste Teil von mir zum Vorschein und ich bemühe mich, jede Aufgabe perfekt auszuführen. Genau wie eine Kirche hat mein Labor an Feiertagen geöffnet, wenn der Rest der Welt geschlossen bleibt. Mein Labor ist ein Zufluchtsort und ein Heim. Es ist mein Rückzugsort vom beruflichen Schlachtfeld, der Ort, an dem ich kühl meine Wunden untersuche und meine Rüstung repariere. Und weil ich darin aufgewachsen bin, ist es genau wie die Kirche ein Ort, von dem ich mich niemals wirklich abwenden kann.

Mein Labor ist ein Ort, an dem ich schreibe. Ich bin inzwischen sehr geübt darin, eine seltene Art von Prosa zu produzieren, die in der Lage ist, die zehnjährige Arbeit von fünf Personen auf sechs Druckseiten zusammenzufassen, in einer Sprache, die sehr wenige Menschen lesen können und die niemand jemals spricht. Diese Prosa vermittelt die Details meiner Arbeit mit der Präzision eines Laserskalpells, aber ihre stromlinienförmige Schönheit ist eine Art Trick, ein Modell in Größe Null, das dazu bestimmt ist, die Pracht eines Kleides zu präsentieren, das an einem normalen Menschen sehr viel weniger perfekt aussehen würde. Meine Aufsätze zeigen nicht die Fußnoten, die dazugehören, nicht die Zahlentabellen, die in akribischer monatelanger Arbeit erneuert werden mussten, nachdem eine Studentin im Aufbaustudium aufgegeben und das Labor mit den höhnischen Worten verlassen hatte, ein Leben wie meines wolle sie nicht. Sie verschweigen, dass ich an einem Absatz fünf Stunden lang schrieb, während ich gelähmt vor Trauer im Flugzeug saß, auf dem Weg zu einer Beerdigung, die ich nicht wahrhaben wollte. Und sie verheimlichen den frühen Entwurf, den mein Kleinkind mit Wachsmalstift und Apfelmus bedeckte, kaum hatte ich ihn noch warm aus dem Drucker gezogen.

Zwar enthalten meine Veröffentlichungen minuziöse Details über die Pflanzen, die tatsächlich keimten, über die Serien, die reibungslos verliefen und die Daten, die daraus entstanden, doch zeigen sie zugleich eine respektlose Amnesie gegenüber ganzen Gärten, die unter Pilzen und Schreckensschreien verrotteten, elektrischen Signalen, die sich weigerten, sich zu stabilisieren, und Druckerpatronen, die wir spät in der Nacht auf schändliche Art besorgten. Ich weiß es verdammt noch mal genau: Gäbe es einen Weg zum Erfolg, der nicht durch Katastrophen führt, hätte ihn schon jemand entdeckt und die Erfahrung somit unnötig gemacht, aber bisher gibt es kein Journal, in dem ich erzählen kann, wie meine Wissenschaft sowohl mit dem Herzen als auch mit den Händen entsteht.

Irgendwann ist es acht Uhr am Morgen, Chemikalien müssen aufgefüllt, Lohnzahlungen gesenkt, Flugtickets gekauft werden und so beuge ich meinen Nacken und schreibe einen weiteren Forschungsbericht, während sich Schmerz, Stolz, Reue, Angst, Liebe und Verlangen tief in meinem Hals anstauen, unausgesprochen. Die zwanzigjährige Arbeit in meinem Labor hat mich mit zwei Geschichten zurückgelassen: der, die ich schreiben muss und der, die ich schreiben will.

Die Wissenschaft ist eine Institution, die so von ihrem eigenen Wert überzeugt ist, dass sie es nicht über sich bringt, etwas wegzuwerfen. Das trifft sogar auf meinen Vater und seine Rechenschieber zu, die sorgfältig in Kisten verpackt im Keller meines Elternhauses stehen, versehen mit der Aufschrift »Normale lineare Rechenschieber [25cm] 30 Stück«. Es gibt dreißig Stück, weil es wichtig ist, dass jeder Schüler seinen eigenen hat – Wissenschaftler tun vieles, aber sie teilen nicht ihre Ausrüstung. Diese alten Rechenschieber werden nie wieder nützlich sein; sie wurden vollkommen und endgültig ersetzt, erst durch Taschenrechner, dann durch Computer und neuerdings durch Telefone. Auf der Box befindet sich kein Name, nur ein Aufkleber, der angibt, was darin ist. Früher schaute ich sie manchmal an und wünschte mir mit einer unerklärlichen Sehnsucht, dass mein Vater meinen Namen auf die Kiste schreiben würde. Aber diese Rechenschieber gehören niemandem; sie existieren nur. Und vor allem gehörten sie niemals mir.

***

2009 wurde ich vierzig. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits vierzehn Jahre lang Professorin. Im gleichen Jahr erreichten wir auch einen bedeutenden Durchbruch in der Isotopenforschung, denn es gelang uns, eine Maschine zu bauen, die parallel zu unserem Massenspektrometer arbeiten konnte.

Sie besitzen wahrscheinlich eine Badezimmerwaage, die den Unterschied zwischen einem 82 und einem 84 Kilo schweren Mann anzeigen kann. Ich habe eine wissenschaftliche Waage, die den Unterschied zwischen einem Atom mit zwölf Neutronen und einem mit dreizehn Neutronen erkennt. Ich habe sogar zwei solcher Waagen. Sie werden als Massenspektrometer bezeichnet und sind jeweils ungefähr eine halbe Million Dollar wert. Die Universität hat sie mir in dem nicht völlig stillschweigenden Einverständnis gekauft, dass ich mit ihnen wunderbare und zuvor unmögliche Dinge tun würde, wodurch der wissenschaftliche Ruf der Institution weiter steigen sollte.

Ausgehend von einer groben Kosten-Nutzen-Analyse müsste ich jedes Jahr, bis ich im Grab liege, ungefähr vier wunderbare und zuvor unmögliche Dinge tun, damit die Universität die von mir verursachten Kosten decken kann. Dies wird dadurch verkompliziert, dass ich das Geld für sämtliche weitere Materialien – Chemikalien, Bechergläser, Klebezettel, ein Lappen, mit dem das Massenspektrometer poliert wird – selbst aufbringen muss, durch schriftliche oder mündliche Bitten um staatliche und private Förderungen, von denen es auf nationaler Ebene immer weniger gibt. Das ist nicht der stressigste Teil. Der Lohn jeder einzelnen Person im Labor – mit Ausnahme von meinem – muss auf die gleiche Art aufgebracht werden. Es wäre schön, einem Mitarbeiter, der alles für die Wissenschaft geopfert hat und achtzig Stunden pro Woche arbeitet, für mehr als sechs Monate einen sicheren Job versprechen zu können, aber so sieht die Welt, in der ein Forscher arbeitet, nicht aus. Falls Sie diesen Text lesen und uns unterstützen möchten, rufen Sie mich gerne an. Ich wäre verrückt, diesen Satz nicht hier hinzuschreiben.

2009 arbeitete mein Team schon das dritte Jahr daran, von Hand einen Apparat herzustellen, der Stickstoffoxid aus den Gasen herauswaschen konnte, die bei der Explosion eines selbst gebauten Sprengsatzes entwichen. Wenn er funktionierte, wollten wir ihn vorne an einem der Massenspektrometer anbringen und Messungen vornehmen. Wir hofften, eine neue Methode der forensischen Analyse nach einem Terroranschlag zu entwickeln, bei der die Anzahl von Neutronen in unterschiedlichen Substanzen als eine Art Fingerabdruck dienen sollte. Unsere Idee bestand darin, den chemischen Fingerabdruck der Rückstände nach der Detonation mit denen zu vergleichen und im besten Fall zu verknüpfen, die von Oberflächen entnommen wurden, auf denen der Sprengsatz möglicherweise gebaut worden war – zum Beispiel einer Küchenarbeitsfläche.

Diese Idee »verkauften« wir 2007 an die National Science Foundation – zufällig genau, nachdem die Presse berichtet hatte, dass IEDs (Improvised Explosive Devices, zu Deutsch Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtungen, USBV) mehr als die Hälfte der Todesfälle von Koalitionsstreitkräften in Afghanistan verursachten. Wir bekamen nicht einfach Fördergelder, sondern hinter dem Betrag standen mehr Nullen, als ich jemals zuvor auf Papier gesehen hatte. Ich wollte Pflanzenwachstum erforschen, aber Wissenschaft im Dienste des Krieges wird immer besser bezahlt als Wissenschaft, die Wissen schafft. Daher entwickelte ich den perfiden Plan, dass wir die erwarteten vierzig Stunden pro Woche an dem Sprengsatzprojekt arbeiten und nebenher weitere vierzig Stunden mit unseren biologischen Experimenten an Pflanzen verbringen würden.

Dieses ungeschriebene Protokoll führte nicht nur zu einer prächtigen Erschöpfung, sondern auch dazu, dass wir den gewohnten Rückschlägen und halben Misserfolgen mit zunehmend größerer Verzweiflung begegneten. Die chemische Reaktion, die wir zu optimieren versuchten, war kompliziert und widerspenstig: Es war nicht weiter schwierig, den Stickstoff aus den Sprengstoffrückständen herauszulösen, aber den darin gebundenen Sauerstoff umzuwandeln, erwies sich als viel komplizierter, als wir gedacht hatten, und wir hatten Mühe, während des Vorgangs den Überblick über die Neutronen zu behalten. Tatsächlich erhielten wir von allen Proben, die wir analysierten, beinah identische Werte, sobald wir sie an das Massenspektrometer anschlossen. Es machte uns verrückt. Es war, als würde man eine Versuchsperson bitten, festzustellen, ob ein Licht rot oder grün leuchtete und jedes Mal die Antwort »grün« erhalten, egal, was man ihr zeigte.

Wann begleitet man seine verdatterte Versuchsperson zur Tür und fängt mit einer anderen von vorne an? Nun, niemals, wenn man so störrisch ist wie ich. Wir hatten das Tempo gedrosselt und waren vorsichtiger geworden, in der Hoffnung, nachlässige Ungenauigkeiten auszuschließen, die ein stabileres Experiment vielleicht ausgehalten hätte. Schon bald nahmen Aufgaben, für die wir zwei Laborstunden veranschlagt hatten, bis zu ihrer Fertigstellung vier Tage in Anspruch, und acht Tage bis zur korrekten Fertigstellung. Außerdem mussten wir diese ganze Laborarbeit jeden Tag irgendwie zwischen das Bewässern, Düngen und Dokumentieren des Wachstums von hundert Pflanzen quetschen.

Ich werde nie die Nacht vergessen, in der es uns endlich gelang, unseren Sprengstoffanalyseapparat erfolgreich mit dem Massenspektrometer zu synchronisieren, sodass er uns die standardisierten Werte lieferte, die wir erwarteten – obwohl sie vielen anderen Nächten in meinem Leben ähnelte. Es war ein Sonntagabend, so spät, dass man bereits begann, die Drohung des Montags zu spüren. Wie gewöhnlich sorgte ich mich um unser Budget. Da das Projekt fast beendet war, konnte ich den genauen Tag berechnen, an dem das Labor ohne Finanzierung dastehen würde. Ich saß in meinem Büro, brütete über Chemikalienpreise, murmelte Zaubersprüche über Zehncentstücken und versuchte, sie durch Alchemie in Dollars zu verwandeln, aber es schien, als könnte ich den Bankrott dennoch nur wenige Monate hinauszögern.

Die Tür flog auf und mein Laborpartner Bill kam in mein Büro gehüpft. Er warf sich in einen kaputten Stuhl und schmiss ein paar Papiere auf meinen Schreibtisch. »Nun gut, jetzt bin auch ich bereit, es zuzugeben. Das verdammte Ding funktioniert und es funktioniert wunderbar!«, meldete er.

Ich begann, den Stapel aus Werten durchzublättern, und war nicht überrascht, dass jede der verschiedenen Gasproben jetzt einen unterschiedlichen und exakten Wert aufwies. Normalerweise bin ich lange vor Bill so weit, etwas als Erfolg zu bezeichnen. Er will immer noch einmal alles durchgehen und kalibrieren, bevor er eingesteht, dass wir den Misserfolg besiegt haben.

Bill und ich grinsten einander an, weil wir es wieder einmal geschafft hatten. Das gesamte Projekt war ein gutes Beispiel dafür, wie wir zusammenarbeiten: Ich lasse mir irgendein Hirngespinst einfallen und schmücke es aus, bis es beinah unmöglich umzusetzen ist, preise die Idee einer Regierungsbehörde an und verkaufe sie, besorge die Materialien und lade das Ganze auf Bills Schreibtisch ab. Daraufhin erschafft Bill ein erstes, zweites und drittes Modell, wobei er die ganze Zeit beteuert, die Idee sei absolut unrealisierbar. Wenn sein fünfter Entwurf vielversprechend aussieht und sein siebter funktioniert (sofern man beim Einschalten ein blaues Hemd trägt und nach Osten schaut), hat uns beide der Geruch des Erfolgs verführt.

Danach beginnt die Phase, in der ich tagsüber und er nachts arbeitet, wobei wir beide jeden einzelnen Datenausdruck twittern, texten und facebooken, bis unser Werk sich als ebenso genau und zuverlässig erweist, wie die Singer-Pedalnähmaschine meiner Großmutter. Dann, nachdem Bill noch eine weitere Testreihe gemacht hat – oder zwei, oder eventuell noch eine dritte –, dann sind wir fertig. Nun ist es meine Aufgabe, einen Schlussbericht zu verfassen: Zu schildern, wie wir unser Baby mit höchster Leichtigkeit in Gang gebracht haben, und zu spezifizieren, welch exzellente Investition das Ganze für unseren Gönner war. Mit dem neuen Geschäftsjahr fangen wir wieder von vorne an – mit einem noch ehrgeizigeren Projekt und einem Budget, das uns vielleicht sogar halb zum Ziel bringt, solange wir sparsam sind.

Ein endgültiger Datensatz, der integer erstellt und ehrlich ausgewertet wurde, ist das Unschuldigste auf der Welt, aber jedes Mal, wenn wir einen erstellen, fühlen Bill und ich uns wie Bonnie und Clyde, die eine weitere geglückte Flucht feiern. »Nimm das, Universum!«

In der Nacht dieses Durchbruchs reckte ich die Fäuste gen Himmel; dann fuhr ich mit den Fingern durch meine strähnigen Haare und versuchte, so etwas frischen Sauerstoff in mein Hirn zu massieren – eine Angewohnheit aus der Universität. »Weißt du was, wir werden beide langsam zu alt für diese langen Nächte.« Ich warf einen Blick auf die Uhr und bemerkte, dass mein Sohn schon vor mehreren Stunden ins Bett gegangen war.

»Aber wie sollen wir den Apparat nennen?« Bill, der wegen des Erfolgs voller Energie steckte, wollte Ideen für einen lustigen Namen sammeln, den man zu einem noch lustigeren Akronym abkürzen konnte. »Ich glaube, wir können ›CAT‹ einbauen, weil eine durch Nickel katalysierte Disproportionierung stattfindet.«

Kein Schriftsteller der Welt zerbricht sich so den Kopf über Wörter, wie es ein Wissenschaftler tut. Terminologie ist alles: Wir identifizieren etwas durch den dafür gängigen Namen, beschreiben es mit den allgemein vereinbarten Bezeichnungen, erforschen es auf ganz individuelle Weise und berichten dann in einem Code darüber, für dessen Beherrschung man Jahre braucht. Wenn wir unsere Arbeit dokumentieren, stellen wir »Hypothesen« auf, aber nie »Vermutungen«. Wir ziehen »Schlüsse«, statt »Entscheidungen« zu treffen. Das Wort »deutlich« betrachten wir als so vage, dass es überflüssig ist, aber man muss wissen, dass der Zusatz »sehr« eine halbe Million Dollar in Fördermitteln ausmachen kann.

Das Recht, eine neue Spezies, ein neues Mineral, ein neues atomares Teilchen, einen neuen Stoff oder eine neue Galaxie zu benennen, gilt als die höchste Ehre und bedeutendste Aufgabe, die ein Wissenschaftler erstreben kann. Die Gepflogenheiten der Namensgebung unterliegen auf jedem Gebiet der Wissenschaft strengen Regeln und Traditionen. Man muss alles zusammennehmen, was man über seine Entdeckung und über die Welt, in der wie leben, weiß, einbeziehen, an was man sich erinnert, überlegen, was einen zum Lächeln bringt, eine Anspielung auf etwas zugleich Zeitgemäßes und Ewiges machen und den kostbaren Gegenstand letzten Endes so gut taufen, wie man kann, darauf hoffend, dass ein Teil der plumpen Bezeichnung vielleicht die kommenden Zeitalter überdauert. An jenem Abend war ich jedoch zu hirntot für das semantische Fest; ich wollte einfach nur nach Hause in mein Bett.

»Wir könnten es ›vierhundertachtzigtausend Dollar aus Steuergeldern‹ nennen, denn so viel haben wir für das verdammte Teil ausgegeben«, schlug ich mit einem Zischen in Richtung der ungehorsamen Budgetlisten vor, die ich durch Folter dazu zwingen wollte, sich auszugleichen. Mir wollte nicht einfallen, bei wem zur Hölle ich weitere Fördergelder beantragen sollte, da das Projekt nun beendet war. Unsere gängigen Quellen hatten wir alle im Vorjahr ausgereizt und die Budgets aller Regierungsämter, die unsere Forschung förderten, schrumpften. So sehr ich es auch immer geliebt habe, Wissenschaftlerin zu sein – ich bin bereit zuzugeben, dass ich all die komplizierten Dinge leid bin, die mir inzwischen leichtfallen sollten.

Bill sah mich einen Moment an und stand dann auf, wobei er sich auf die Oberschenkel klatschte. »Wir brauchen ihn nicht zu benennen. Ich schleife einfach deinen Nachnamen hinein. Das reicht völlig.« Unsere Blicke trafen sich und wir sahen fünfzehn Jahre unserer gemeinsamen Geschichte, die sich in unseren Augen spiegelte. Ich nickte zustimmend und während ich noch nach den richtigen Worten suchte, um ihm zu danken, drehte sich Bill um und verließ mein Büro.

Seine Stärken liegen dort, wo ich Schwächen habe, und daher sind wir erst zusammen eine vollständige Person. Jeder von uns bekommt eine Hälfte von dem, was er braucht, von der Welt und die zweite Hälfte vom jeweils anderen. Innerlich schwor ich mir, alles Nötige zu tun, um mehr Geld für seinen Lohn aufzubringen, und um unsere gemeinsame Arbeit am Laufen zu halten. Wie schon viele Jahre zuvor würde ich einfach einen Weg finden müssen. In zwei getrennten, aber nebeneinanderliegenden Zimmern stellten wir zwei Radios auf unterschiedliche Sender ein und gingen wieder an die Arbeit, nachdem wir uns ein weiteres Mal versichert hatten, dass wir nicht allein sind.

2

Wie die meisten Leute habe ich einen bestimmten Baum, an den ich mich aus meiner Kindheit erinnere. In meinem Fall ist es eine Blaufichte (Picea pungens), die all die langen, harten Wintermonate hindurch trotzig grün dastand. Sie reckte ihre Nadeln scharf und wütend gegen den weißen Schnee und den grauen Himmel und wirkte schon damals wie ein perfektes Vorbild für meine eigene Unerschütterlichkeit. Im Sommer umarmte ich sie und kletterte auf sie und sprach mit ihr und ich stellte mir vor, dass sie mich kannte und dass ich unsichtbar war, wenn ich unter ihr saß und Ameisen beobachtete, die tote Nadeln hin und her trugen, dazu verdammt, in irgendeinem unteren Kreis der Insektenhölle zu leben. Als ich älter wurde, begriff ich, dass der Baum sich nicht um mich sorgte und man lehrte mich, dass er seine eigene Nahrung aus Wasser und Luft herstellen konnte. Ich wusste, dass mein Geklettere für ihn (allerhöchstens) eine Schwingung darstellte, die nicht weiter auffiel, und das Abreißen von Ästen vergleichbar war mit dem Ausreißen einzelner Haare von meinem Kopf. Und doch schlief ich noch einige Jahre lang jede Nacht nur durch ein Glasfenster getrennt drei Meter von diesem Baum entfernt. Dann ging ich zur Universität und begann den langen Prozess, in dem ich meine Heimatstadt und meine Kindheit hinter mir ließ.

Seitdem ist mir klar geworden, dass mein Baum auch einmal ein Kind war. Der Embryo, aus dem er wuchs, lag jahrelang am Boden, gehemmt durch die Gefahr, zu lange zu warten und die Gefahr, zu früh das Samenkorn zu verlassen. Der falsche Zeitpunkt hätte zum sicheren Tod geführt und dazu, dass er von einer brodelnden Welt verschluckt worden wäre, die keinen Fehler verzieh und dazu in der Lage war, selbst das stärkste Blatt innerhalb weniger Tage verrotten zu lassen. Irgendwann wurde mein Baum zum Teenager. Er wuchs über einen Zeitraum von zehn Jahren wie wild, mit wenig Rücksicht auf die Zukunft. Zwischen seinem elften und dem einundzwanzigsten Lebensjahr verdoppelte er seine Größe und war häufig schlecht auf die neuen Herausforderungen und die Verantwortung vorbereitet, die eine solche Größe mit sich brachte. Er bemühte sich, mit seinen Altersgenossen Schritt zu halten und traute sich manchmal, sie zu übertrumpfen, indem er dreist den einzigen Fleck Sonne für sich beanspruchte. Da er völlig auf sein Wachstum konzentriert war, war er noch nicht in der Lage, Samen zu produzieren, aber er war bereits empfänglich für die gelegentlichen Hormonschübe, die dafür nötig waren. Er verbrachte das Jahr so, wie die anderen Teenager: Im Frühling wuchs er hoch hinaus, produzierte neue Nadeln für die Sommerzeit und dehnte im Herbst seine Wurzeln aus, bevor er sich widerstrebend für den langweiligen Winter bereit machte.

Aus Sicht des Teenagers stellten die erwachsenen Bäume eine Zukunft dar, die ebenso lähmend wie unendlich war. Fünfzig, achtzig, vielleicht hundert Jahre, in denen sie sich nur bemühten, nicht umzufallen, während sie jeden Morgen die abgefallenen Nadeln ersetzten und jeden Abend die Enzyme abstellten. Statt neuer Territorien, die bei jeder Eroberung eine Nährstoffflut mit sich brachten, erwarteten sie nur noch neue Risse aus dem letzten Winter, in die sie ihre zuverlässige abgenutzte Pfahlwurzel versenken konnten. Die Erwachsenen legten jedes Jahr um die Mitte herum ein wenig zu und hatten ansonsten für die vergehenden Jahrzehnte wenig vorzuweisen. Voller Geiz ließen sie die hart erarbeiteten Nährstoffe in ihren Ästen über der dauernd hungrigen jüngeren Generation pendeln. In einer guten Umgebung, die reich an Wasser, schwerem Boden und – am allerwichtigsten – vollem Sonnenlicht ist, können Bäume ihr größtes Potenzial ausschöpfen. Dagegen erreichen Bäume in einer schlechten Umgebung nicht einmal die Hälfte der Höhe, durchleben als Teenager nie einen großen Wachstumssprung, sondern konzentrieren sich nur darauf, durchzuhalten, weshalb sie weniger als halb so schnell wachsen wie die Glücklicheren.

Im Verlauf seiner ungefähr achtzig Lebensjahre war mein Baum wahrscheinlich mehrmals krank. Da er nicht in der Lage war, dem ständigen Ansturm von Tieren und Insekten zu entfliehen, die ihn zum Zweck von Schutz und Nahrung auseinandernehmen wollten, kam er Angriffen dadurch zuvor, dass er sich mit scharfen Spitzen und giftigem, ungenießbaren Pflanzensaft panzerte. Besonders gefährdet waren seine Wurzeln, die ungeschützt unter einer Decke aus verrottendem Pflanzenmaterial lagen. Die Kosten für die Aufrechterhaltung dieser Verteidigung deckte mein Baum aus den mageren Ersparnissen, die eigentlich für schönere Gelegenheiten gedacht waren: Jeder Tropfen Pflanzensaft war ein Samen, der nicht entstand, jeder Dorn ein Blatt, das nicht gebildet wurde.

2013 machte mein Baum einen schrecklichen Fehler. In der Annahme, der Winter sei vorüber, dehnte er seine Äste aus und ließ sich in Erwartung des Sommers einen neuen Nadelmantel wachsen. Doch dann brachte ein ungewöhnlich kalter Mai einen seltenen Frühlingsschneesturm und an einem Wochenende fiel eine üppige Menge Schnee. Nadelbäume können schweren Schnee aushalten, aber das zusätzliche Gewicht der Nadeln erwies sich als zu viel. Die Äste bogen sich zunächst und brachen dann ab. Zurück blieb ein hoher, kahler Stamm. Meine Eltern schläferten meinen Baum ein, indem sie ihn fällten und mühsam seine Wurzeln ausgruben. Als sie es Monate später am Telefon erwähnten, stand ich im blendenden Sonnenschein, an einem über sechstausend Kilometer entfernten Ort, an dem es nie schneit. Es lag eine gewisse Ironie darin, dass ich von seinem Tod erfuhr, als ich gerade erst wirklich begriffen hatte, dass er lebte. Aber das ist nicht alles: Meine Tanne lebte nicht nur, sie hatte ein Leben – meinem ähnlich, und doch ganz anders. Sie erreichte ihre eigenen Meilensteine. Mein Baum hatte seine Zeit und die Zeit hat ihn verändert.

Die Zeit hat auch mich verändert, die Wahrnehmung meines Baumes und meine Wahrnehmung der Selbstwahrnehmung meines Baumes. Die Wissenschaft hat mir beigebracht, dass alles komplizierter ist, als wir zunächst annehmen und dass die Fähigkeit, aus Entdeckungen Freude zu ziehen, ein Rezept für ein schönes Leben ist. Sie hat mich auch davon überzeugt, dass es nur ein Mittel gegen das Vergessen gibt, nämlich das, alle wichtigen Dinge, die einmal waren und nicht mehr sind schriftlich festzuhalten, auch die Tanne, die mich hätte überleben sollen, es aber nicht schaffte.

3

Samen können gut warten. Die meisten Samenkörner warten mindestens ein Jahr, bevor sie zu wachsen beginnen; ein Kirschsamen kann problemlos hundert Jahre warten. Worauf genau jeder Samen wartet, weiß nur er allein. Eine spezielle Kombination von Auslösern, von Temperatur, Feuchtigkeit, Licht und vielen anderen Dingen, ist nötig, um den Samen davon zu überzeugen, ins kalte Wasser zu springen und die Chance zu ergreifen – seine einzige Chance zu wachsen.