Blau - Kai Kupferschmidt - E-Book

Blau E-Book

Kai Kupferschmidt

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Beschreibung

Liebe Leser*innen, bitte beachten Sie, dass auf einem Schwarz-Weiß-Endgerät die im Buch enthaltenen Abbildungen aus technischen Gründen schwarz-weiß bzw. in Graustufen und nicht in ihrer Originalfarbe angezeigt werden. Blau ist selten.  Dem widerspricht der Blick in den Himmel, doch schaut man sich genauer um, dann erkennen wir schnell: In der Tier- und Pflanzenwelt treffen wir selten auf Blau. Seit Menschengedenken sucht man nach einmaligen blauen Steinen und Farbstoffen, die Textilien, Porzellan oder Gemälde verwandeln. Denn Blau übt seit jeher eine magische Faszination auf uns aus. Sei es die Suche der Romantiker nach der blauen Blume oder die wundersame blaue Färbung von Vogelfedern.  Kai Kupferschmidt erlag der Faszination schon als Kind und sie begleite ihn nun schon sein Leben lang. Um das Geheimnis dieser Farbe zu ergründen, begab er sich auf eine Reise von Japan hin zu einem Vulkansee in Oregon und bis zu den letzten Exemplaren der Spix-Aras in Brandenburg. Steine, Pflanzen, Tiere oder der entrückte Blick aus dem Weltall auf unseren Blauen Planeten zeugen von unermesslicher Schönheit, die sich dann in unserem Sprechen und Schreiben widerspiegelt. Aber alles beginnt mit dem Licht und unserem Sehen.

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Seitenzahl: 229

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Kai Kupferschmidt

Blau

Wie die Schönheit in die Welt kommt

Hoffmann und Campe

Liebe Leser*innen, bitte beachten Sie, dass auf einem Schwarz-Weiß-Endgerät die im Buch enthaltenen Abbildungen aus technischen Gründen schwarz-weiß bzw. in Graustufen und nicht in ihrer Originalfarbe angezeigt werden.

»GLÜCKLICH

DIE IHR BETRUNKEN SEIN KÖNNT

VOM BLAU DES HIMMELS!«

KURT MARTI

INS BLAUE HINEIN

»Ein Meer von blauen Gedanken

ergießt sich über mein Herz.«

Heinrich Heine

Eines der berühmtesten Fotos der Menschheit wurde nicht auf der Erde aufgenommen. Es zeigt die Erde. Am 7. Dezember 1972 richteten Astronauten der letzten bemannten Mondmission Apollo 17 eine Kamera auf ihren, unseren Heimatplaneten.

Auf dem Erdball sind Afrika und die arabische Halbinsel in Grün- und Brauntönen zu sehen. Von der Eiskappe am Südpol scheinen weiße Wolken wegzuwirbeln wie auf einem Van-Gogh-Gemälde. Der Rest ist Blau: Indischer Ozean und Atlantischer Ozean, Rotes Meer und Mittelmeer. Blue Marble, blaue Murmel, heißt das Foto dann auch.

Vor ein paar Jahren war ich auf einem dieser blauen Flecken unterwegs. Es war Sommer und ich stand an Deck einer Fähre, die mich von Athen zu einer der zahlreichen griechischen Inseln bringen sollte. Plötzlich schoss mir eine Frage durch den Kopf: Wie würde ich einem blinden Menschen die Farbe Blau erklären?

Über mir wölbte sich der Himmel in strahlendem Blau und um mich herum erstreckte sich in alle Richtungen das tiefe Meerblau der Ägäis. Ich schien zwischen diesen beiden Sphären unendlichen Blaus zu schweben. Es war ein erhabener Moment. Aber wie würde ich dieses Gefühl jemandem erklären, der nicht weiß, was Blau ist?

Und was ist Blau überhaupt?

Ist die Farbe kühl? Ruhig? Nass? Ist Blau der Geschmack von Heidelbeeren? Der Geruch des Meeres? Das Gefühl, wenn man vor Kälte mit den Zähnen klappert?

Es ist vermutlich kein Zufall, dass mir diese Frage ausgerechnet zur Farbe Blau einfiel. Blau ist über Landesgrenzen hinweg die beliebteste Farbe bei Männern und bei Frauen. Goethe fand, die Farbe mache »für das Auge eine sonderbare und fast unaussprechliche Wirkung«. Zahllose Künstler haben sich von ihr inspirieren lassen. Im Mittelalter wurde der Farbstoff Ultramarin mit Gold aufgewogen. Pablo Picasso hatte seine Blaue Periode und der Maler Henri Matisse war von einem blauen Schmetterling fasziniert. Der französische Künstler Yves Klein sah in der Farbe den Übergang vom Materiellen zum Immateriellen. »Je tiefer das Blau wird, desto mehr ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem«, schrieb Wassily Kandinsky, einer der Gründer der Künstlergruppe Der Blaue Reiter.

»Farbe ist in erster Linie ein gesellschaftliches Phänomen«, schreibt der Kulturhistoriker Michel Pastoureau in seinem Buch über die Geschichte des Blaus.

Das ist sie sicher auch. Aber in erster Linie? Ist der Himmel ein gesellschaftliches Phänomen? Das Meer? Ein Regenbogen? Ist es das Gefühl der Weite, das Blau erzeugt?

Blau ist Physik. Ich hätte es damals an Bord der Fähre nicht genau erklären können, aber ich wusste, dass der Himmel und das Meer blau sind, weil Licht mit dieser Wellenlänge auf eine bestimmte Art und Weise mit den Molekülen in der Luft und im Wasser interagiert.

Blau ist Chemie. Lapislazuli entsteht unter bestimmten Bedingungen in der Erdkruste, wenn Kalkstein mit heißem Magma in Berührung kommt. Das Färben mit Indigo erforderte geschickte Chemie, um den blauen Farbstoff aufs Tuch zu bekommen; den Jeans-Look verdanken wir dem Verhalten dieser Farbstoffmoleküle. Und einer der Blautöne, den Picasso nutzte, stammte von Alchemisten in Berlin, die eigentlich ein Allheilmittel finden wollten.

Blau ist Biologie. Lange bevor Maler die Schönheit auf eine Leinwand pinselten, gab es Schmetterlinge, die blau schillerten, und Blumen, die blau blühten. Die Evolution hat sie hervorgebracht, wie auch unsere Fähigkeit, die Farbenpracht wahrzunehmen. Und der Mensch bedient sich bei diesem Blau, das die Natur geschaffen hat.

Blau ist besonders. Es kommt in der Natur seltener vor als andere Farben, das hatte Goethe in seiner Farbenlehre ebenfalls vermerkt. Warum? Was weiß die Wissenschaft über die Farbe Blau? Wie hängen all diese Dinge zusammen, die wir bewundern: die Falter und die Früchte, das Meer, die Mineralien und die Menschen? Wie viel mehr Schönheit gibt es zu entdecken, wenn wir wissen, was sie verbindet? Kurz: Wie würde ich die Farbe Blau einem Sehenden erklären?

Blaue Steine wie Lapislazuli oder Saphir verdanken ihre Farbe Kristallgittern, in denen sich Elemente wie Schwefel, Eisen, Kupfer oder Kobalt auf eine bestimmte Art und Weise anordnen. Aus manchen dieser Steine hat der Mensch gelernt, anorganische Pigmente herzustellen, um sie in der Kunst einzusetzen. Bei den Pflanzen sind es in aller Regel organische Pigmente, die sie blau erscheinen lassen, große Moleküle, die auf Kohlenstoff basieren. Diese anorganischen und organischen Farbstoffe sind auch die Grundlage der meisten Blautöne um uns herum.

In der Tierwelt kommt Blau ganz anders zustande. Die meisten Tiere kommen ganz ohne blaue Pigmente aus. Stattdessen manipulieren winzige Muster auf ihrer Oberfläche die Lichtstrahlen direkt, sodass blaues Licht verstärkt wird. Die Natur hat in den Federn der Vögel und den Schuppen der Schmetterlinge eine Technik gemeistert, die der Mensch zu Beginn des 21. Jahrhunderts gerade erst zu begreifen beginnt.

Die Schönheit all dieser Steine, Pflanzen und Tiere liegt aber auch im Auge (und Gehirn) des Betrachters. Unser Auge verwandelt die Lichtstrahlen, die sie reflektieren, in elektrische Signale, unser Gehirn interpretiert diese Signale und unsere Sprache ordnet die Eindrücke in Farben ein. Blau ist nicht da draußen und es ist auch nicht in uns. Das strahlende Blau einer Kornblume ist eine Art Gemeinschaftsarbeit zwischen uns und der Pflanze.

Isaac Newton habe den Regenbogen entwoben, fand der britische Dichter John Keats. Dabei erhellt die Wissenschaft gerade, was die Dinge im Inneren zusammenhält. Sie deckt Verbindungen auf, wo wir keine vermuten, bis wir im Blau des Schmetterlingsflügels das Schillern der Seifenblase erkennen, den Lapislazuli im Museums-Gemälde oder das Blau des Himmels in den blauen Augen eines Menschen.

Das mag nicht nach viel klingen, aber meine Hoffnung ist, dass es reicht, um die Schönheit der Natur mit frischem Blick zu sehen. Und vielleicht hilft es auch, die Schönheit, Vergänglichkeit und schiere Unwahrscheinlichkeit unseres blauen Planeten und unsere Verantwortung ihm gegenüber besser zu begreifen. Oder wie der amerikanische Dichter Archibald MacLeish nach Apollo 8, der ersten Mond-Mission, auf der Titelseite der New York Times schrieb: »Die Erde zu sehen, wie sie wirklich ist, klein, und blau und schön in dieser ewigen Stille …«

© Coldmoon Photoproject/shutterstock.com

Das Mineral Azurit gehört zu den ältesten Blaus, die der Mensch nutzt. In der Natur taucht es häufig mit grünem Malachit auf.

STEINE

»Diese Steine sind es eben,

die uns viel Vergnügen geben,

woraus wir Ultramarin,

die so rare Farbe, ziehn«

Barthold Heinrich Brockes

Der erste italienische Satz, den ich gelernt habe (und es sind seither nicht viele hinzugekommen), war: »Mi fa uno sconto?«, »Würden Sie mir einen Rabatt gewähren?« So stand es in dem kleinen Sprachführer, den meine Eltern mitgenommen hatten zum Familienurlaub in Italien. Und so sagte ich es dem älteren Herrn an der Theke des Edelsteinladens.

Ich hatte in seinem Schaufenster einen Stein entdeckt, der mich magisch anzuziehen schien. Der Stein war azurblau und durchscheinend. Er erinnerte mich an das Meer und ich wollte ihn haben. Nur reichte mein Taschengeld dafür nicht. »Das hier ist Italien«, sagte mein Vater. »Du musst handeln.« Und so lernte ich brav meinen ersten italienischen Satz auswendig und stolperte nach der Siesta zurück zu dem kleinen Laden.

Das Wunder geschah: Ich bekam den Stein für das Geld, das ich hatte. Ich weiß nicht mehr, wie viel Rabatt mir der Verkäufer gegeben hat. Ich glaube, es war sehr viel.

Ich war damals in meiner Stein-Phase. Zu Hause hatte ich säuberlich geordnet goldglänzenden Pyrit, moosgrünen Malachit und neongelben Schwefel. Ich hatte auch eine kleine weiße Porzellantafel, über deren raue Oberfläche ich einen Stein ziehen konnte. Die Farbe des Strichs, die ein Stein hinterlässt, sein Abrieb, sollte helfen, zu bestimmen, um welches Mineral es sich handelt.

Meiner Mutter schien das alles ganz recht zu sein, auf jeden Fall der Tier-Phase vorzuziehen, in der ich Kellerasseln gesammelt und einmal darauf bestanden hatte, einen Eimer mit Erde und Regenwürmern über Nacht in meinem Kinderzimmer aufzubewahren. (Gestört hatte sie wohl vor allem, dass ich beim Frühstück am nächsten Morgen enttäuscht verkündete, die Regenwürmer seien im Eimer nicht mehr zu finden.)

Ich wusste, dass für einen echten Mineraliensammler ein Stein wertlos war, wenn seine Herkunft nicht dokumentiert war. Und doch: Bei diesem blauen Stein, von dem ich weder einen Namen wusste noch einen Fundort, war es mir egal. Seine Farbe machte alles wett.

Im Laufe der Jahre kamen zahlreiche andere Mineralien hinzu und stets waren es die blauen, die mich am meisten begeisterten: eine kleine Nadel Turmalin, zerbrechlich und dunkelblau, ein winziger Saphir, vielleicht das wertvollste Stück in meiner Sammlung, und ein Lapislazuli, Stein gewordener Himmel mit weißen Wolken aus Kalzit und glänzenden Sternen aus Pyrit.

Ich wusste, dass diese anorganischen Blaus sich von denen im Tier- und Pflanzenreich unterschieden. Aber wie genau? Wie konnte die unbelebte Natur, die Erde diese phantastischen Farben hervorbringen? Und wie hingen sie mit den Blaus der Kunstwerke zusammen, die ich während desselben Italien-Urlaubs in den Uffizien gesehen hatte? Diese Fragen hatte ich schon damals. Nie hätte ich gedacht, dass ich mehr als zwanzig Jahre später und tausende Kilometer entfernt eine Chance haben würde, Antworten zu bekommen.

Blaulicht

Als das Blaulicht hinter mir aufblitzt, bin ich sofort wieder hellwach. Das ist auch gut so. Denn es ist zwar mitten in der Nacht – erst recht, wenn ich den Jetlag einrechne –, aber ich sitze schließlich am Steuer eines Autos. Mein Flug von New York nach Portland, Oregon war nach Mitternacht verspätet gelandet, dann hatte ich ein Auto gemietet, um die 150 Kilometer nach Corvallis zu fahren. Mit einem Auge auf Google Maps und dem Radio am Anschlag, um mich wachzuhalten, bin ich über die verlassenen Straßen gejagt. Gegen drei Uhr früh, endlich am Ziel, sehe ich hinter mir das Blaulicht des Streifenwagens. Keine zehn Meter von meinem Hotel entfernt, halte ich am Straßenrand.

Während der Polizist im Seitenspiegel langsam größer wird, fällt mir auf, dass »Blaulicht« eigentlich das falsche Wort ist. In Oregon rotieren auf den Streifenwagen wie in vielen Staaten in den USA rotes und blaues Licht nebeneinander. Dass Polizei, Feuerwehr und Ambulanz in Deutschland blaues Licht nutzen, ist im Grunde verrückt.

Bevor elektrisches Licht zur Norm geworden war, war das Zeichen der Feuerwehr die Petroleumfackel. Die Feuerwehr kündigte sich mit Feuer an. In den zwanziger Jahren begann dann rotes elektrisches Licht in vielen Ländern die Fackel abzulösen. Schließlich wird Rot allgemein als Warnfarbe erkannt und ist gut sichtbar. Doch im Mai 1938 stellte Deutschland auf blaues Licht (Glassorte »Kobaltblau massiv«) um. Der Krieg warf in Form der Verdunkelungsvorschriften wortwörtlich seinen Schatten voraus. Das Gesetz schrieb vor, dass »bei Dunkelheit und klarer Sicht aus 500 Meter Höhe« kein Licht zu sehen sein sollte. Blaues Licht mit seiner kleinen Wellenlänge wird in der Atmosphäre mehr gestreut. Von einem Flugzeug aus ist es deshalb schlechter zu erkennen. Die Polizei nutzt also Blaulicht, damit man sie aus der Ferne nicht sieht.

Ich erspare dem Polizisten meine Gedanken zur Farbe seines Warnlichts und reiche ihm stattdessen meine Papiere. Zwanzig Minuten und eine mündliche Verwarnung später (Spurwechsel ohne Blinken) liege ich schließlich im Bett und denke nur: Hoffentlich ist diese ganze Reise es wert.

Ich bin nach Corvallis gekommen, um den Chemiker Mas Subramanian zu treffen. Vor einigen Jahren hatte er ein neues Blau entdeckt.

Mehr Blau

Am nächsten Tag stehe ich in Subramanians Labor. Vor mir liegen die Anweisungen, um 10 Gramm seines blauen Farbstoffs zu machen. Sie passen locker auf ein DIN-A5-Blatt:

4,5392 Gramm Yttriumoxid

5,302 Gramm Indiumoxid

0,1586 Gramm Manganoxid

Das Ganze mischen und dann bei 1300 Grad Celsius mindestens 6 Stunden im Ofen backen.

Eine Labormitarbeiterin gibt mir die drei Ausgangsstoffe: weißes Yttriumoxid, schmutziggelbes Indiumoxid und schwarzes Manganoxid. Das Schwierigste ist, die Mengen genau abzuwiegen. Eine winzige Spatelspitze mehr. Dann wieder etwas wegnehmen. Noch etwas wegnehmen. Dann wieder ein winziges Körnchen hinzufügen.

Schließlich kommt das Ganze in einen Mörser und mit einem Stößel zerreibe ich alles zu einem einheitlich grauen Pulver, aus dem ich zwei große Tabletten presse, sodass sie sich im Ofen auch wirklich zu einem neuen Material verbinden können.

Es ist schwer zu glauben, dass dieses Grau sich in strahlendes Blau verwandeln soll.

Während wir warten, erzählt Subramanian, dass er als Kind häufig in die Bibliothek des British Council ging, um zu lesen. Er war 1954 im südindischen Chennai geboren worden. Einmal habe er in der Bibliothek ein Buch mit den Lebensläufen berühmter Wissenschaftler gefunden und einer der darin porträtierten Forscher war der Chemiker Linus Pauling. Pauling hatte geholfen zu verstehen, wie Eiweiße aufgebaut sind und wie chemische Verbindungen entstehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte er sich der Friedensbewegung angeschlossen und war als einer der wenigen Menschen gleich mit zwei Nobelpreisen ausgezeichnet worden: dem Friedensnobelpreis und dem für Chemie.

Doch es war ein kleines Detail, das den 13-jährigen Mas faszinierte: Linus Pauling war am gleichen Tag geboren wie er selbst, am 28. Februar. »Ich dachte, warum sollte ich nicht so werden können wie dieser Mensch. Wir waren immerhin am gleichen Tag geboren.« Auf dem Weg nach Hause – einige Kilometer, die er zu Fuß lief, um das Geld für den Bus zu sparen – habe er nicht aufhören können, darüber nachzudenken, erinnert sich Subramanian. »Es war ungeheuer naiv.«

Subramanian studierte Chemie, promovierte, ging dann nach Texas und bekam schließlich einen Job bei Dupont, einem der größten Chemiekonzerne der Welt. 2006 verließ Subramanian nach zwanzig Jahren das Unternehmen und wechselte an die Oregon State University. Es war dieselbe Universität, an der Linus Pauling sein Studium begonnen hatte.

Drei Jahre später entdeckte Subramanian sein neues Blau.

Der Anblick sei ein Schock gewesen, sagt Subramanian. Und so geht es mir auch, als der Ofen am nächsten Tag geöffnet wird. Die beiden Tabletten sind blau, tief blau. Es ist, als hätte jemand die Essenz der Idee »Blau« in Materie überführt. Es sei das »blaueste Blau«, das er je gesehen habe, schreibt der Historiker Simon Schama.

© Mas Subramanian, Oregon State University

© © Mas Subramanian, Oregon State University

Der Forscher Mas Subramanian entdeckte 2009 durch Zufall einen neuen blauen Farbstoff.

Offiziell ist das Pigment nach den Abkürzungen der beteiligten Elemente benannt: Y, In, Mn, YInMn-Blau (»Jinnminn« gesprochen). Subramanian nennt es manchmal scherzhaft Mas-Blau, schließlich ist das nicht nur sein Vorname, sondern »Mas« bedeutet im Spanischen auch »mehr«.

Fürs Subramanian war es die Entdeckung seines Lebens, das erste neue blaue Pigment in der anorganischen Chemie seit 200 Jahren. Er habe Hunderte wissenschaftliche Artikel veröffentlicht und Dutzende Patente angemeldet, erzählt er (er hat zum Beispiel einen neuen Supraleiter entdeckt und eine umweltfreundlichere Methode, die Chemikalie Fluorbenzol herzustellen), doch keine seiner Entdeckungen habe die Öffentlichkeit so begeistert wie sein neues Blau. Internationale Medien interessierten sich dafür, Künstler und Unternehmer. Die Entdeckung inspirierte ein Musikfestival in Atlanta und einen neuen Wachsmalstift der Firma Crayola. Die Welt konnte, schien es, gar nicht genug bekommen von der neuen Farbe. Dabei war es nur die jüngste Episode in einer Obsession des Menschen mit Blau, die Tausende Jahre zurückreicht.

Blau aus der Erde

Schon vor hunderttausend Jahren mischten unsere Vorfahren aus eisenhaltigen Mineralien erste Pigmente. Forscher haben in der Blombos-Höhle in Südafrika Abalone-Muscheln gefunden, in denen Farbreste erhalten geblieben sind. Offenbar nutzte der Urmensch damals gelben und roten Ocker, Holzkohle, zerbröselte Knochen und andere Stoffe und verrührte diese mit Fett zu den frühesten Farbstoffen.

Wozu die Farben genutzt wurden, ist unklar. Möglicherweise bemalten die Bewohner der Blombos-Höhle damit ihre Haut. Klar ist: Der Urmensch hatte noch nicht alle Farben auf seiner Palette. Die Blombos-Höhle ist nur wenige Meter vom prächtig blauen Indischen Ozean entfernt, doch es gibt keine Hinweise, dass die Menschen damals ein Pigment besaßen, um diese Farbe auf Haut, Gegenständen oder Wänden festzuhalten.

Irgendwann begann Homo sapiens dann, Tiere auf die Steinwände von Höhlen zu pinseln oder zu sprühen: Bisons und Bären, Pferde, Hirsche, Nashörner und Mammuts. Doch auch hier ist von der Farbe Blau weit und breit nichts zu sehen. Die Farbe des Himmels und des Meeres ließ sich aus der Erde nicht gewinnen. Und so ist es offenbar zehntausende Jahre geblieben.

Der Mensch entdeckte schließlich einen Blau-Vorrat in den Bergen des Hindukusch im heutigen Afghanistan. Lapislazuli (der Name bedeutet nichts anderes als »blauer Stein«) wurde dort bereits vor siebentausend Jahren zu Schmuckstücken verarbeitet. Marco Polo beschrieb im 13. Jahrhundert diese Berge, »in welchen man Adern des Steins Lapis-Lazuli findet«. Es seien »die besten der Welt«. Heute wird Lapislazuli auch in Chile, Russland oder Pakistan abgebaut. Doch der schönste Lapislazuli wird noch immer in der Sar-e-Sang-Mine im Hindukusch gewonnen.

Genau genommen ist Lapislazuli kein Mineral, sondern ein Gestein, eine Mischung aus verschiedenen Mineralien. Das wichtigste ist das Lasurit, das dem Lapislazuli seine blaue Färbung gibt (es sind Schwefel-Atome im Lasurit, die die blaue Färbung verursachen, aber dazu später mehr). Lasurit kommt in reiner Form selten vor, aber hin und wieder finden Sammler wunderschöne würfelförmige Kristalle, die so außerirdisch wirken wie der Monolith in Stanley Kubricks 2001. Hätte ich Lasurit als Kind gekannt, ich hätte es unbedingt für meine Sammlung haben wollen.

Im Lapislazuli ist Lasurit meist mit goldenem Pyrit, weißem Kalzit und anderen Mineralien wie Afghanit und Titanit vermengt. Zermahlt man den Stein, bekommt man deshalb auch kein leuchtend blaues Pigment, sondern eher ein blassgraues Pulver. Es benötigte etwas anderes als das Blau aus den Bergen, um endlich ein brauchbares Blau an die Wand pinseln zu können.

Farbe der Pharaonen

Auch die Ägypter waren dem Blau des Lapislazuli verfallen. Die Steine aus dem Hindukusch wurden im Alten Ägypten als kostbare Juwelen gehandelt. In der prunkvollen Totenmaske des Pharaos Tutanchamun sind die Augenbrauen des gottgleichen Königs aus Lapislazuli gefertigt. Selten und kostbar zugleich wurden auch kleinste Teile verarbeitet und für immer wieder neue Gegenstände verwertet.

In Tutanchamuns Grab fanden sich zahlreiche weitere Lapislazuli-Gegenstände und viele von ihnen sind aus kleinen Stein-Stücken zusammengesetzt. Ein Käfer trägt auf dem Rücken einen kleinen Kreis, Überbleibsel aus einem früheren Leben des Steins als Teil einer Kette. Und unter den Schätzen der Könige der 21. Dynastie findet sich eine wunderschöne doppelreihige Kette aus 56 Lapislazuli-Perlen. Eine dieser Perlen ist besonders blau und wenn man genau hinschaut, findet man darauf drei Zeilen in Keilschrift graviert – die Widmung eines assyrischen Wesirs für seine Tochter einige hundert Jahre vor der Zeit des Pharaos, in dessen Grab sie schließlich landete.

Vielleicht war es ihre außerordentliche Liebe zum Blau. Vielleicht war es Zufall. Auf jeden Fall gelang den Ägyptern, was Menschen vorher vergeblich versucht hatten: Sie machten Blau.

In der Wüste westlich des Nils, in der Totenstadt Sakkara befindet sich einer der ältesten Monumentalbauten der Welt: die Stufenpyramide des Djoser. Djoser regierte Ägypten vor etwa 4700 Jahren und mit ihm beginnt das Alte Reich, die glorreiche Zeit der Pharaonen und Pyramiden. Wer die Pyramiden in Gizeh gesehen hat, den mag der 62 Meter hohe Bau in sechs Stufen wenig beeindrucken. Doch als ich 2018 in Kairo war, machte ich den Abstecher in den Süden, weniger als eine Stunde Autofahrt. Denn Djosers Pyramide steht nicht nur am Anfang aller Pyramiden, sie steht auch am Anfang der Geschichte des Blaus oder, genauer, über ihm.

Unter der Pyramide liegt die Grabkammer Djosers und sie ist umgeben von kilometerlangen Tunneln, einige von ihnen ausgekleidet mit tausenden Kacheln, die blaugrün glänzen: das wohl erste menschengemachte Blau. Vermutlich hatte man weiße Kiesel, Sandstein, Kupfererz und Soda zu einem Pulver vermischt. Mit Wasser versetzt entsteht eine Paste, die im Ofen eine Art Keramik aus einem festen (meist weißen Kern) und einer blau glänzenden Glasurschicht bildet (heute kann man viele dieser Kacheln im Metropolitan Museum in New York besichtigen, im Britischen Museum in London oder eben direkt in Sakkara im Imhotep-Museum).

Die Ägypter haben das Rezept vermutlich nicht erfunden, aber sie perfektionierten es. Und sie schufen daraus zahllose Objekte. Einen langen Morgen schlenderte ich durch das Ägyptische Museum in Kairo und bewunderte blaue Vasen, Schachteln, Anhänger und Kelche. Es gibt Amulette, die in die Bandagen der Mumien eingewickelt wurden, um die Toten in der Unterwelt zu schützen, und zahllose Statuetten: von Vögeln und Käfern, Gazellen und Nilpferden, Ochsen, Früchten und Hieroglyphen.

Die blaue Keramik war lediglich der Anfang. Ein wirkliches blaues Pigment, das es erlauben würde, die Farbe etwa an Wände zu malen, hatte man damit noch nicht. Dafür mussten die Ägypter ihre Blaukünste noch weiter entwickeln. Etwa um die Zeit von Djosers Herrschaft gelang es ihnen schließlich, das erste künstliche Pigment herzustellen: Ägyptischblau.

Aufzeichnungen darüber, wie die Farbe hergestellt wurde, finden sich in Ägypten keine. Erst tausende Jahre später brachte der Römer Vitruv schließlich ein Rezept zu Papier: Sand, Kupfer (vermutlich in Form von Metallspänen oder dem Mineral Malachit) und Soda, zerkleinert, vermischt und im Ofen gebrannt. Nach dem italienischen Wort für »gebacken«, »fritta«, wird Ägyptischblau darum gelegentlich auch Frittenblau genannt (ein Wort, in das ich mich sofort verliebt habe und das ich seitdem nutze, um meinen Zustand zu beschreiben, wenn ich nach einem Abend mit Freunden auf dem Weg nach Hause noch in irgendein Fast-Food-Restaurant einfalle, das ich nüchtern nie betreten würde).

© Metropolitan Museum of Art

Das Grab des ägyptischen Königs Djoser wurde mit zehntausenden dieser grün-blauen Kacheln ausgekleidet. Sie sind 4600 Jahre alt.

In der Nähe von Djosers Pyramide befinden sich zahlreiche Gräber von Beamten aus dem Alten Ägypten, deren Wände mit beeindruckenden Malereien verziert sind. Noch heute kann man in vielen von ihnen Überreste dieses ersten Blaus sehen.

Die Geschichte des Ägyptischblau nahm noch einmal eine Wendung – tausende Jahre später. 1938 beschrieb ein italienischer Forscher ein neues, blaues Mineral, das er an den Hängen des Vesuv gefunden hatte. Er gab ihm den Namen Cuprorivait. Zwei Jahrzehnte später entschlüsselte der Geologe Adolf Pabst dann die chemische Struktur dieses Minerals: Es war dieselbe wie die des Ägyptischblau. Es hatte den Farbstoff also die ganze Zeit schon gegeben: als Stein. Die Ägypter hatten kein neues Blau kreiert. Sie hatten lediglich einen natürlichen Stoff künstlich hergestellt. Der Traum von einem wirklich neuen Blau sollte erst viel später in Erfüllung gehen.

Eine Spur von Blau

Es ist nicht leicht, Ägyptischblau durch die Jahrhunderte zu verfolgen. Wenn wir heute antike Skulpturen betrachten, dann sind sie in der Regel reiner weißer Marmor. Diese Ästhetik wurde von Gelehrten der Renaissance regelrecht verehrt. »Da nun die weiße Farbe diejenige ist, welche die mehresten Lichtstrahlen zurückschickt, folglich sich empfindlicher machet: so wird auch ein schöner Körper desto schöner sein, je weißer er ist«, schrieb etwa der deutsche Archäologe (und weiße Mann) Johann Joachim Winckelmann.

Doch waren die meisten Statuen wirklich weiß? Hatten die Künstler, nachdem sie endlich ein Blau gefunden hatten, es unberührt liegen lassen?

Die Frage führte mich nach London zu einer der größten Sammlungen der Welt: dem British Museum, mehr als 250 Jahre alt und Hort von über acht Millionen Gegenständen. Alles zu sehen, was hier zur Schau steht, würde Jahre dauern. Doch ich war gekommen, um etwas zu sehen, das den meisten Besuchern verborgen bleibt. Der Forscher Giovanni Verri hatte sich bereit erklärt, mir eine Art Zaubertrick vorzuführen.

Verri ist Italiener, er spricht schnell und voller Begeisterung. Schon als Kind habe ihn die Kunst der Antike und des Alten Ägyptens fasziniert. »Als ich in London war, um Englisch zu lernen, bin ich jeden Tag hierhergekommen, um die gleichen Objekte anzuschauen«, sagt er. Verri studierte dann allerdings Physik und nicht Antike Kunst (»Das Übliche, die Eltern erzählen einem, dass man keinen Job bekommen wird, wenn man so etwas studiert«, sagte er). Er promovierte mit einer Arbeit über Kernfusion, fand dann aber den Weg zurück zur Antike. Er begann moderne physikalische Methoden für die Untersuchung uralter Objekte einzusetzen und so bei der Erhaltung der Kunstwerke zu helfen. Heute arbeitet er als Konservator unweit des British Museum am renommierten Courtauld-Institut für Kunst.

2008 untersuchte Verri ein wunderschön bemaltes Becken aus dem Alten Griechenland, als er etwas Interessantes beobachtete. Die Augen des Menschen nehmen nur einen schmalen Bereich des Lichtspektrums wahr. Doch die Technik erlaubt es uns heute, auch mit anderen Wellenlängen zu »sehen«. Forscher, die Kunstwerke untersuchen, nutzen häufig Infrarot. In der Regel bestrahlen sie ein Kunstwerk mit Infrarot-Licht und fotografieren die Strahlen, die zurückgeworfen werden. Weil die Lichtstrahlen durch die aufgetragenen Farbschichten dringen können, werden so beispielsweise frühere Skizzen auf der Leinwand sichtbar, die der Künstler übermalt hat.

Als Verri damals Fotos im infraroten Bereich machte, leuchteten die blauen Verzierungen des Beckens auf wie geheime Schriftzeichen. Verri erinnerte sich, dass das schon vor Jahren beschrieben worden war: Der Farbstoff Ägyptischblau nimmt sichtbares Licht auf und sendet Licht im infraroten Bereich zurück.

Normalerweise ist dieses schwache Infrarot-Leuchten des Ägyptischblau nicht wahrzunehmen, weil es von dem Infrarot-Licht der Umgebung völlig überstrahlt wird. Doch als Verri das Becken fotografierte, war die Beleuchtung eine einfache Neonröhre. Im Gegensatz zu einer Glühlampe sendet die kaum Infrarot-Licht aus – und darum war das Leuchten des Ägyptischblaus so deutlich zu sehen. Verri verstand sofort, dass er mit Hilfe dieser einfachen Methode Farbreste auf uralten Skulpturen und Gemälden nachweisen könnte.

Im British Museum zeigt mir Verri zunächst eine Digitalkamera, die er für seine Zwecke umgebaut hat. In die meisten Digitalkameras ist von vornherein ein optischer Filter eingebaut, der Infrarot-Strahlung blockiert. Diesen Filter hat Verri entfernt und stattdessen vor die Linse einen Filter gesetzt, der sichtbares Licht blockiert. Und auch den Blitz der Kamera hat er angepasst. Hier lässt ein Filter nur sichtbares Licht hindurch. Die Kamera blitzt nun nur mit sichtbarem Licht und nimmt ausschließlich infrarotes Licht auf.

Verri führt mich in die Galerie des Mausoleums von Halikarnassos, einem der sieben Weltwunder der Antike. In London ist unter anderem ein Fries aus dem Grabmal zu sehen, auf dem Amazonen und Griechen gegeneinander kämpfen. Verri hebt die Kamera, es blitzt und auf dem Display erscheint das Bild des Kämpfers vom Fries, doch in seiner Hand leuchtet grell der Griff eines Schwertes auf. Wir gehen durch einige Räume und im Blitzlicht der umgebauten Digitalkamera erscheinen die Umrisse von weiteren Waffen, Farbreste und Muster auf Kleidern. Die Augen einiger römischer Skulpturen leuchten gespenstisch auf: Offenbar haben die Künstler ein wenig Blau in das Weiß der Augen gemischt, um sie realistischer aussehen zu lassen.

Mit dem bloßen Auge ist von diesen Dingen nichts zu erkennen und es ist geradezu gespenstisch, wie in Verris Blitzlicht lange verborgene Zeichen sichtbar werden. Als könne er mit seiner Kamera eine Geisterdimension festhalten, in der die Farben der verwitterten Kunstwerke noch in alter Pracht erhalten sind.

Für die Kunstwelt ist Verris Methode ein wichtiges neues Werkzeug. So konnte er etwa zeigen, dass die berühmten Elgin Marbles, jene Marmorskulpturen, die Lord Elgin von der Akropolis in Athen stahl und dann ans British Museum verkaufte, Spuren von Ägyptischblau aufweisen. Es bestätigte, was lange vermutet wurde: Der Parthenon war früher nicht weiß, sondern bunt bemalt.

Die Interpretation der Spuren, die Verri findet, ist allerdings schwierig. Das Schwert des Kämpfers auf dem Fries des Mausoleums zum Beispiel war vermutlich nicht blau. Möglicherweise war der ganze Hintergrund des Frieses blau und ein Schwert aus Metall, das dort früher einmal prangte, hat die Farbreste geschützt, so dass sie überdauert haben und der Rest nicht.

Was immer es war, so wie die Farben auf den Statuen verschwanden – abgeblättert, verwittert und mitunter von übereifrigen Kunstliebhabern abgewaschen – so verschwand auch das Ägyptischblau. Nach dem Ende des Römischen Reichs ging das Rezept irgendwann verloren und die Welt war einen Farbton ärmer. Künstler mussten sich im Mittelalter mit Blau aus anderen Quellen behelfen.

Über das Meer