Blaulicht und Blutmond - Dr. med. Christoph Schenk - E-Book

Blaulicht und Blutmond E-Book

Dr. med. Christoph Schenk

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Beschreibung

"Klaus, ist alles in Ordnung? Du bist so ruhig?", fragt Marion und gibt am Ortsausgang von Klein Dehlum wieder Gas. In dieser Sekunde öffnet ihr Mann unvermittelt seinen Sicherheitsgurt, reißt im gleichen Moment die Beifahrertür auf und springt bei etwa 60 km/h aus dem fahrenden Auto. Er klatscht auf den nassen Asphalt, überschlägt sich einige Male und bleibt nach gut zwanzig Metern regungslos am Straßenrand liegen. Wenige Augenblicke später piept es in meiner Hosentasche. Auf dem Display des Alarmmelders lese ich: "männlich, 52, Unfall, Kreisstraße 76, Klein Dehlum". Blaulicht an und los. Mit "Blaulicht und Blutmond - Im Einsatz zwischen Leben und Tod " gewährt der Autor seinen Lesern einen kurzweiligen, authentischen, hin und wieder komischen und manchmal tieftraurigen Blick in sein Leben als Notarzt.

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Dr. med. Christoph Schenk

 

Blaulicht und Blutmond

 

- Im Einsatz zwischen Leben und Tod -

 

 

 

 

 

 

 

 

Über den Autor

 

 

 

 

Dr. med. Christoph Schenk

Jahrgang 1965; Abitur in Wolfenbüttel; Medizinstudium in Marburg; Facharzt für Allgemein- & Unfallchirurgie, Notfallmedizin; seit 2019 „Ärztlicher Leiter Rettungsdienst“ im Landkreis Harz.

 

 

 

 

Über den Inhalt

 

Dr. med. Christoph Schenk ist seit 1996 als Notfallmediziner mit Blaulicht und Martinshorn unterwegs. In seinen Bestseller-Büchern beschreibt er temporeich und feinfühlig Notfalleinsätze, die ewig in seiner Erinnerung bleiben werden. Mal war das Erlebte besonders kurios, manchmal ausgesprochen tragisch. Dabei ist der Autor authentisch und immer nah bei seinen Patienten und deren Angehörigen.

 

 

 

 

 

Für meine Söhne und TT.

 

Hinweis

 

Zur besseren Lesbarkeit schreibe ich in meinen Geschichten von „Sanitätern“ oder kurz: „Sanis“.

 

Die korrekten Berufsbezeichnungen dieser nicht-ärztlichen Rettungsdienstmitarbeiter*innen lauten: Notfallsanitäter*in, Rettungsassistent*in und Rettungssanitäter*in (in absteigender Reihenfolge der Qualifikation und Ausbildungsdauer).

Jump

 

Kurz vor Dienstende piept es. Ich hole den Alarmmelder aus der Kitteltasche und lese auf dem Display:

„männlich, 52, Unfall, Kreisstraße 76, Klein Dehlum“

Schnell den weißen Kittel gegen die rote Jacke tauschen und runter zur Klinikpforte. Nach einer Minute Wartezeit im kalten Nieselregen braust Daniel mit dem signalroten Passat um die Ecke.

„Das ist doch genau das Wetter, was man sich für eine anständige Straßenrettung wünscht. Nieselregen, vier Grad!“ begrüßt mich der Sani.

„Ich wünsche mir Feierabend! Und eine Mütze! Sonst nichts!“ entgegne ich.

Unsere Fahrt bis zur genannten Einsatzstelle dauert gut 18 Minuten. Die Sicht- und Straßenverhältnisse sind katastrophal. Als wir Klein Dehlum endlich erreichen sehen wir schon aus der Ferne orangenes Blinklicht. Dazwischen einzelne Blaulichter. Daniel schlängelt sich am Stau der vor uns stehenden Autos vorbei, bis wir hinter einem einzelnen Polizeiauto parken, vom Rettungswagen keine Spur.

Ich steige aus dem Auto aus, schnappe mir den Notfallrucksack und das EKG. Es ist eisig kalt. Ein fieser Ostwind fegt über den kleinen Ort, dazu der Regen. Richtig mies.

Daniel und ich laufen in Richtung der beiden Polizisten. Sie stehen bei einem Mann, der komplett durchnässt auf der Straße liegt. Neben dem Verletzten hockt eine Frau, die ihm die Hand hält und unablässig auf ihn einredet:

„Klaus, es wird alles gut!“

„Klaus, bleib bei mir!“

„Klaus, wir schaffen das!“

Ich stelle mich knapp vor, dann berichtet mir der ältere der beiden Polizisten was passiert ist. Ich wende mich unserem Patienten zu.

„Hallo, können Sie mich hören?“

„Klaus, antworte doch!“ fordert ihn seine Frau auf.

Der Mann öffnet träge die Augen.

„Ja, ich kann Sie hören.“

„Was tut Ihnen weh?“, frage ich weiter und taste nach Klaus’ Puls am Handgelenk, den ich zum Glück kräftig unter meinen Fingern spüre.

„Nur mein Rücken.“

„Daniel, gib Sauerstoff. 15 Liter. Und hol dann die Wärmefolie! Und bring noch eine Einmaldecke mit!“, bitte ich den erfahrenen Sani und dann weiter zu Klaus:

„Ich untersuche Sie jetzt rasch hier draußen. Wenn der Rettungswagen da ist, gehts gleich ins Warme! Bitte bewegen Sie sich nicht!“

Meine kurze Untersuchung ergibt folgende Befunde: heftige Schmerzen im Bereich der Brustwirbelsäule, sowie eine Fehlstellung am rechten Handgelenk und reichlich Schürfwunden. Sonst scheinbar nichts! Keine schwere Blutung, kein Hinweis auf eine Lungen-, Bauch- oder Schädelverletzung, keine Lähmungen.

Daniel ist zurück.

„Ich lege jetzt den Tropf. Wickle Du den Mann in die Wärmefolie ein. Die beiden Polizisten können die Einmaldecke als Regenschirm über uns halten!“

Mit eiskalten, klammen Fingern geht mein erster Versuch, eine Vene zu punktieren, voll in die Hose. Der zweite klappt. Infusion läuft. Endlich trifft nun auch der RTW ein.

„Kümmert Euch bitte um den Halskragen! Danach eine Schiene an den rechten Unterarm. Ich gebe gleich noch Schmerzmittel und dann legen wir den Mann gemeinsam auf die Vakuummatte!“

„Fentanyl?“, fragt mich Daniel.

„Lieber Ketanest und Dormicum!“, antworte ich.

Während die beiden RTW-Sanis vorsichtig erst den straffen Kragen um Klaus’ Hals und Nacken legen und danach den gebrochenen Unterarm stabilisieren, gibt mir Daniel nacheinander die zwei Medikamente. Kurze Zeit später legen wir unseren Patienten ganz behutsam zu viert auf die Vakuummatte. Er bekommt davon nichts mehr mit. Auch nicht davon, dass wir ihn im Auto zu zweit an unseren Überwachungsmonitor anschließen.

Blaulicht an und los.

Auf der Fahrt in die Unfallchirurgie untersuche ich Klaus nochmal von Kopf bis Fuß, finde aber auch jetzt keine weiteren Verletzungen. Sein Kreislauf ist unverändert stabil. Eine gute halbe Stunde später erreichen wir unser Ziel. Einsatz beendet.

 

Rückschau - Was war Klaus widerfahren?

„Ja, ja! Mir gehts gut. So gut wie lange nicht mehr! Ich freue mich auf das Wochenende zuhause. Endlich mal wieder im eigenen Bett schlafen. Nach so langer Zeit!“

„Na dann genießen Sie die Zeit mit Ihrer Frau. Ich wünsche Ihnen zwei schöne Tage. Wir sehen uns dann am Montag wieder!“

Klaus reicht Frau Dr. Müller die Hand und verlässt das Arztzimmer.

„Schön, wie er sich entwickelt hat. Vor einem halben Jahr sah das ja noch ganz anders aus!“, denkt sich die Psychiaterin und wendet sich dem Aktenstapel auf ihrem Schreibtisch zu.

Marion geht zur gleichen Zeit aufgeregt im Foyer der Landesklinik auf und ab. Sie ist mit Klaus schon fast 28 Jahre verheiratet.

Seit einem halben Jahr ist ihr Mann aber nicht mehr zu Hause gewesen.

Im Herbst vergangenen Jahres war es, als Klaus sich das Leben nehmen wollte. Mit Tabletten. Unmengen von Tabletten. Er schluckte alles was er fand: Blutdruckmittel, Paracetamol, Erkältungsdragees und Aspirin. Insgesamt fast 100 Pillen. Dazu eine halbe Flasche Wodka. Marion kam damals gerade noch rechtzeitig vom Sport zurück. Sie fand Klaus bewusstlos im Wohnzimmer vor dem Sofa liegend. Auf dem Tisch vor ihm die leeren Tablettenschachteln, der Rest vom Wodka und ein Abschiedsbrief. Darin stand in knappen Worten mit krakeliger Handschrift:

„Ich kann nicht mehr. Meine Kraft ist am Ende. Verzeih mir was ich tue! Es gibt für mich keinen anderen Ausweg. Ich wünsche Dir viel Glück! Dein Klaus.“

Nach zehn Tagen Akutmedizin wurde der 52-jährige direkt von der Uniklinik in die Psychiatrie verlegt. „Geschlossene Männerabteilung“ wegen anhaltender Suizidgefahr. Verriegelte Türen, Gitterstäbe vor den Fenstern und eine gute handvoll Psychopharmaka morgens und abends, die ihn seine Umwelt wie durch Watte erleben ließen.

Klaus’ Freiheit war vorübergehend weg, aber nach einigen Wochen ging es aufwärts.

Erst nur sehr langsam, dann jedoch mit immer größeren Schritten. Er fühlte sich täglich besser, nahm regelmäßig an den Einzel- und Gruppentherapien der Klinik teil und war sogar beinahe täglich im Sportraum. „Ein gesunder Geist wohnt in einem gesunden Körper!“ stand dort auf weißen der Wand geschrieben.

Seine Lebensfreude war zurückgekehrt.

Auch die behandelnden Ärzte waren einigermaßen überrascht vom schnellen Fortgang seiner Genesung. Und so war es dann nur konsequent, dass Klaus nach einem Monat von der geschlossenen Abteilung auf die „Allgemeinstation“ verlegt wurde. Er genoss die zurückgewonnene Freiheit. Klaus besorgte zusammen mit anderen Erkrankten den wöchentlichen Einkauf, kochte für seine fünf Mitpatienten und half den Krankenschwestern seiner Station, wo es nur ging.

Heute an diesem Februartag nun ein weiterer großer Schritt in Richtung auf seine vollständige Genesung. Als Klaus seine Frau Marion in der Vorhalle der Klinik sieht, werden seine Schritte schneller und seine Augen beginnen zu leuchten. Die beiden fallen sich in die Arme, halten sich lange Momente fest gedrückt in den Armen. Dann gehen sie, ohne ein Wort zu sagen, durch kalten Nieselregen zum Parkplatz, auf dem das Auto steht. Knapp vierzig Kilometer sind es nun noch bis nach Hause.

Auf halber Strecke hält Marion an einer Tankstelle an.

„Ich mache nur rasch den Tank voll, dann gehts auch schon weiter!“

Klaus nickt still. Und während sich Marion jetzt um das Auto kümmert, schaut sich Klaus im Auto um.

„Muss ich demnächst mal wieder putzen. Innen und außen. So schmutzig war unser Auto lange nicht!“, denkt er und beginnt auch gleich die Handschuhablage vor ihm aufzuräumen. Alte Parkhausbelege, Quittungen, eine leere Schachtel Kinderschokolade.

„Kann alles in den Müll!“, sagt er leise und schüttelt den Kopf.

Da hält er plötzlich einen Brief in der Hand. „Einschreiben“ steht da mit dicken Lettern drauf. Und weiter: „An Klaus und Marion Meier“. Er öffnet den Briefumschlag und beginnt zu lesen.

Ihm schnürt es schon beim Lesen des ersten Absatzes die Kehle zu...

Kurz bevor Marion wieder ins Auto steigt, legt er das Einschreiben zurück in die Ablage.

„Dann wollen wir mal weiterfahren!“, sagt Marion Sekunden später, schließt die Fahrertür und startet den Motor.

Ihr Mann antwortet nicht. Sagt keinen Ton. Klaus bleibt nach außen ganz ruhig, im Inneren jedoch kocht er. 1000 Gedanken rasen ihm durch den Kopf. Er hat das Gefühl, dass sein Schädel gleich platzt.

Fünf Kilometer später führt die schnurgerade Kreisstraße die Eheleute durch ein kleines Dorf. Marion hält sich strikt an die Geschwindigkeitsbeschränkung von 50km/h. Klaus ist immer noch still, scheint gedankenversunken.

„Klaus, ist alles in Ordnung? Du bist so ruhig?“, fragt Marion und gibt am Ortsausgang von Klein Dehlum wieder Gas.

Da öffnet ihr Mann unvermittelt seinen Sicherheitsgurt, reißt im gleichen Moment die Beifahrertür auf und springt bei etwa 60 km/h aus dem fahrenden Auto. Er klatscht auf den nassen Asphalt, überschlägt sich einige Male und bleibt nach gut zwanzig Metern regungslos am Straßenrand liegen...

 

 

Nachtrag:

Klaus hatte sich neben der Unterarmfraktur drei Brustwirbelkörper gebrochen. Er lag insgesamt knapp drei Wochen in der Unfallchirurgie. Anschließend hat er seine Therapie in der Landesklinik fortgesetzt.

In dem erwähnten Einschreiben, das Klaus zum Sprung aus dem Auto veranlasste, drohte die Sparkasse den Eheleuten mit der Zwangsversteigerung ihres Einfamilienhauses. Marion und Klaus hatten einzelne Kreditraten nicht begleichen können.

 

Susanne

 

Schweiz. Winter 2008.

Seit Dienstbeginn heute morgen um acht piept es ununterbrochen. Talstation hier, Bergstation da. Ein Ski- oder Snowboardunfall nach dem anderen. Das Wetter der letzten Tage trägt Mitschuld daran: tagsüber herrlicher Sonnenschein und des nachts strenger Frost. Das lässt den Schnee über den Tag schmelzen und sulzig werden. In der Nacht friert er dann knüppelhart. So ist dann beinahe jeder Sturz ein „Treffer“: ausgekugelte Schultern, verdrehte Knie, Wirbelsäulen- und Schädelhirnverletzungen. Das ganze Programm...

Giovanni, Hinrich, Bjarne und ich sitzen ausgelaugt um kurz vor sieben endlich mal für etwas längere Zeit auf dem Sofa der Rettungswache. Essen, trinken, Wunden lecken.

Zur gleichen Zeit klingelt in der Notrufzentrale das Telefon.

„Rettungsleitstelle Bern. Was können wir für Sie tun?“

Der Stimme nach ist ein Kind am anderen Ende der Leitung.

„Mein Papa ist krank. Schläft und zuckt!“

„Mit wem spreche ich denn?“

„Mit Susanne.“

„Bist Du allein?“

„Ja. Mama ist mit Oma spazieren!“

„Wo bist Du denn? Weißt Du wo Du wohnst?“

„Wir sind in den Skiferien.“

„Susanne, warte mal. Nur ganz kurz!“

Der Disponent der Rettungsleitstelle öffnet rasch an seinem Computer ein Programm zur Ortung von Festnetztelefonnummern. Der Monitor zeigt ihm innerhalb von Sekunden die Adresse jenes Apparates an, von welchem aus Susanne anruft. Während er nun die Alarmierung von Notarzt und Rettungswagen vorbereitet, spricht er gleichzeitig wieder mit der jungen Anruferin.

„Atmet Dein Papa?“

„Er grunzt!“

„Kannst Du ihn wecken?“

„Hab ich schon versucht. Er schläft. Und zuckt!“

„Mach Dir keine Sorgen. Gleich kommen Leute, die sich um Deinen Papa kümmern!“

Ein letzter Klick am Computer und kurze Zeit später piept es bei uns gleichzeitig in vier Hosentaschen.

„Krampfanfall. Unterheiderstrasse 15“ steht auf dem Display des Alarmmelders.

„Irgendwann muss es aber auch mal aufhören. Die Pisten sind längst geschlossen!“, sagt Hinrich und steht vom Sofa auf.

„Alles hat ein Ende nur die Wurst hat zwei...!“ bekommt Hinrich eine gesungene Antwort von Giovanni, der sich schon seine Stiefel anzieht.

Gemeinsam gehen wir in die Fahrzeughalle. Blaulicht an und los.

„Susanne, kannst du schon allein die Wohnungstür aufmachen?“, fragt der Disponent derweil die kleine Anruferin.

„Ich bin schon acht!“

„Super! Dann pass jetzt mal gut auf: wenn Du ein Auto mit Sirene hörst, dann öffnest du ganz schnell die Tür und lässt die Männer rein, die Deinem Papa helfen wollen. Dann zeigst Du den Männern gleich wo dein Papa liegt!“

Schon nach drei Minuten erreichen wir die angegebene Adresse in einer Ferienhaussiedlung. In der geöffneten Wohnungstür steht ein kleines Mädchen im Schlafanzug. Wir schnappen unsere Ausrüstung und gehen zu dem Kind.

„Hallo, hast Du uns angerufen?“

Das Mädchen schaut mich schüchtern an und nickt.

„Wie heißt Du denn?“

„Susanne!“

„Was ist denn passiert?“

„Mein Papa liegt oben im Zimmer und zuckt!“, antwortet mir Susanne, dreht sich um und rennt auch schon die Treppe ins erste Obergeschoss hinauf. Wir können ihr kaum folgen. Oben angekommen zeigt die kleine Susanne auf Rainer, ihren Vater, der auf dem Fußboden liegt. Sein Gesicht ist tiefblau und zur Fratze verkniffen, seine zuckenden Arme sind vor den Brustkorb gebeugt und Schaum quillt Mund. Er röchelt. Das Vollbild eines Krampfanfalles.

Und die acht-jährige Tochter sieht das hier alles mit an...

„Bjarne, geh mit Susanne ins Nebenzimmer! Spielt irgendwas!“

Das Kind muss irgendwie abgelenkt werden. Jedenfalls raus hier aus dem Zimmer. Zum Glück lässt sich die Kleine darauf gleich ein. Der junge Sani und Susanne verlassen das Zimmer. Dann beginnen wir, jetzt nur noch zu dritt, mit unserer Arbeit.

„Mach mal gleich den Sauerstoffsensor an den Finder und dann die Absaugung fertig!“, sage ich zu Giovanni und dann weiter zu Hinrich:

„Sauerstoff mit Maske. Fünfzehn Liter! Danach Dormicum mit Vernebler!“

Ich knie mich neben Rainer und beginne mit der Untersuchung. Er reagiert nicht auf meine Frage, ob er mich hören kann. Dann ein Blick in Rainers Augen. Das gelingt erst nicht, der Krampfanfall lässt ihn die Augen fest zusammenkneifen. Irgendwie schaffe ich es dann doch, mit beiden Händen die Lider kurzzeitig auseinander zu drängen, so dass ich das Schwarze in Rainers Augen sehen kann. Auf beiden Seiten sind die Pupillen mittelweit gestellt.

Giovanni reicht mir den Absaugkatheter. Vorsichtig schiebe ich das Schlauchende zwischen Rainers Lippen hindurch und versuche nun so gut es geht den blutigen Schleim wegzusaugen. Ich bin nicht sehr erfolgreich, kann nur wenig rote Spucke von den Lippen und aus den Wangentaschen entfernen. Der Krampf lässt Rainer seine Zähne so fest zusammen-beißen, dass ich nicht in die Mundhöhle gelangen kann. Immerhin wird das Röcheln aber doch weniger.

Ich setze Rainer nun die Maske mit dem Sauerstoff auf sein Gesicht.

„Was sagt die Sättigung?“

„84% Sauerstoffgehalt im Blut!“, antwortet mir Giovanni, der den besten Blick auf unseren Überwachungsmonitor hat.

Kurze Zeit später klettert der Sauerstoffgehalt dank Absaugen und Sauerstoffmaske.

„Jetzt 89%“

Rainer krampft unverändert. Hinrich reicht mir nun das Medikament, mit dem ich den epileptischen Anfall stoppen möchte.

„Hier! Zwei Milliliter Midazolam. 5 Milligramm pro Milliliter. Samt MAD.“

MAD ist die Abkürzung für „Mucosal Atomization Device“. Das ist ein kleiner Spritzenaufsatz, der (samt Spritze) auf ein Nasenloch aufgesetzt wird. Drückt man nun den Spritzeninhalt aus der Spritze, so wird das flüssige Medikament durch das MAD in Sprühnebel verwandelt, quasi atomisiert. Dieser Medikamentennebel ist so fein, dass er optimal durch die Nasenschleimhaut (med.: Mucosa) in die Blutbahn auf-genommen wird. Von hier aus gelangt der Wirkstoff dann an seinen Bestimmungsort, in diesem Fall in das Gehirn.

Die Möglichkeit, Medikamente über die Nasenschleimhaut zu verabreichen anstatt in eine Vene zu injizieren, ist gerade bei Krampfanfallpatienten und bei kleinen Kindern ein großer Vorteil: im Krampfanfall ist es ausgesprochen schwierig, einen Tropf zu legen, da der Patient seine Arme nicht ruhig hält. Bei Kindern, vor allem bei Babys mit speckigen Armen, ist das Tropflegen ohnehin eine Herausforderung. Und noch ein Vorteil: das MAD-Verfahren tut nicht weh.

Ich nehme Rainer kurz die Sauerstoffmaske vom Gesicht. Er krampft ohne Unterlass. Nun spraye ich jeweils einen Milliliter in jedes Nasenloch. Insgesamt 10 Milligramm des Sedativums sollten reichen. Nach einer kleinen Ewigkeit lässt Rainers Zucken nach. Sein Gesicht entspannt sich zusehends und seine Arme sacken kraftlos neben sich auf den Boden. Er scheint jetzt zu schlafen. Ich schaue ihm nun noch einmal in die Augen. Alles in Ordnung, auch die Pupillenreaktion, als ich mit meiner Taschenlampe in Rainers Augen leuchte.

„Dann verkabeln wir ihn jetzt komplett, und ich lege noch einen Tropf. Danach fahren wir ihn in die Neurologie!“

Nachdem unser Patient an den Überwachungsmonitor angeschlossen ist und die erste Infusion läuft, legen wir ihn gemeinsam auf unser Bergetuch, um ihn ins Erdgeschoss zu tragen. Just in diesem Moment öffnet sich unten die Haustür. Wir hören eilige Schritte die Treppe emporkommen, dann steht eine aufgeregte Frau neben uns.

„Oh Gott, was ist passiert?“, fragt mich die schockierte Dame mit weit aufgerissenen Augen.

„Ihr Mann hatte einen Krampfanfall. Ihre Tochter hat uns per Telefon alarmiert. Das hat sie super gemacht. Nun ist Susanne nebenan. Ein Kollege von uns kümmert sich um sie!“

Die Frau scheint fürs Erste erleichtert, daher frage ich sie:

„Ist Ihr Mann Epileptiker? Kennen Sie das? Hat er schon mal gekrampft?“

„Nein. Das ist das erste Mal. Mein Mann hat Lungenkrebs nach 25 Jahren an der Zigarette. Und seit drei Wochen wissen wir jetzt auch von Metastasen in seinem Gehirn.“

Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Ich halte kurz inne und frage dann:

„Hat Ihr Mann in den letzten Tagen über neue Probleme geklagt? Kopfschmerzen? Übelkeit?“

„Ja. Seit zwei Tagen war ihm ständig schlecht.“

„Ihrem Mann geht es jetzt soweit ganz gut und sein Kreislauf ist stabil. Alle gemessenen Werte sind in Ordnung. Wir bringen ihn nun runter ins Auto und dann zur Überwachung in die Neurologie. Sie können ja später nachkommen!“

Rainers Frau nickt. Ihr stehen die Tränen in den Augen.

Wir starten mit dem Rettungswagen in Richtung Krankenhaus. Als ich gerade anfange das Einsatzprotokoll auszufüllen, fängt Rainer unver-mittelt erneut an zu krampfen. Sein ganzer Körper wird von einem heftigen epileptischen Anfall erfasst.

„Halt an!“, ruft Giovanni durch die kleine Luke in die Fahrerkabine. Hinrich hält sofort am Seitenstreifen der Kantonsstraße an.

„Gib mir nochmal Midazolam!“ sage ich zum Sani, da schlägt in der gleichen Sekunde der Monitor Alarm: die Sauerstoffsättigung ist auf 89% gefallen, der Puls auf 48. Ein kurzer Blick in Rainers Augen. Die rechte Pupille ist nun deutlich grösser als die linke.

„Verdammt! Hirndruck!“

Es passt alles zusammen: die Metastase, die Übelkeit, das Krampfen und nun noch die Kreislauf- und Atemverlangsamung!

Tochtergeschwülste von bösartigen Tumoren führen im Kopf häufig zu einem Hirnödem, also einer Wasseransammlung im Gehirn. Das Ödem wird durch die Tumorzellen verursacht, welche die umliegenden Blutgefäße und Zellen schädigen und für Flüssigkeiten durchlässiger machen. Diese Wassereinlagerungen rund um den Tumor lassen das Hirn anschwellen und erhöhen so den Druck innerhalb des Schädels.

Anzeichen für eine Erhöhung des Druckes innerhalb des knöchernen Schädels sind Kopfschmerzen, Übelkeit, Bewusstseinsstörungen, Krampfanfälle, Störungen des Atemantriebes und der Herzfrequenz.

„Erst rasch Midazolam, dann Intubation und danach Dexa!“

Giovanni gibt mir jetzt eine weitere Spritze mit dem krampfdurchbrechenden Medikament, welches ich diesmal direkt in die Vene spritze. Nun beatme ich Rainer zunächst mit dem Maskenbeutel und unterstütze damit seine eigene Restatmung. Hinrich und Giovanni machen in der Zwischenzeit alles bereit für die Intubation: Narkosemedikamente aufziehen und das Material zur Beatmung vorbereiten. Als alles bereit liegt, legen wir Rainer in ein künstliches Koma. Von nun an übernimmt eine Maschine sein Luftholen.

„Hier, Dexamethason. 100 Milligramm!“, sagt Hinrich und reicht mir das Medikament.

Dexamethason ist ein Kortisonpräparat, das bei erhöhtem Hirndruck angewendet wird. Es führt innerhalb von etwa einer Stunde zum (teilweisen) Abschwellen des Hirnödemes.

Nachdem ich die 100 Milligramm gespritzt habe, überprüfen wir noch einmal die Kreislaufwerte und setzen dann unsere Blaulichtfahrt fort. Nach gut 30 Minuten erreichen wir die Klinik, wo uns die Mitarbeiter der neurologischen Intensivstation längst erwarten. Nach einer kurzen Übergabe machen wir uns auf den Rückweg zur Wache.

Dieser Einsatz hat mich sehr angegriffen. Rainer und die kleine Susanne rasen durch meinen Kopf. Was passiert mit Rainer? Was wenn die kleine Tochter die Notfallnummer nicht gewusst hätte? Wie lange wird Susanne noch das Leben mit ihrem Vater teilen? Furchtbar...

Kurz bevor wie unsere Rettungswache wieder erreicht haben, bitte ich Giovanni nochmal bei der kleinen Susanne vorbeizufahren.

Als ich klingele, öffnet mit Susannes Oma die Tür. Ich erzähle ihr rasch, wie es Rainer bis zu seiner Einlieferung in der Klinik ergangen ist. Sie hingegen erzählt mir, dass ihre Tochter schon zur Klinik los-gefahren ist. Dann frage ich die alte Dame, ob ich nochmal kurz mit ihrer kleinen Enkelin sprechen kann.

„Susanne, komm nochmal runter. Hier ist jemand, der mit dir reden möchte!“

Kurze Zeit später kommt die Achtjährige schüchtern die Treppe heruntergeschlendert.

„Hallo Susanne, ich wollte dir nur noch eben vorm Schlafengehen sagen, wie toll Du das vorhin gemacht hast, als Dein Papa so gezuckt hat!“

Susanne schaut verlegen zu Boden.