Viva La Reanimation! - Dr. med. Christoph Schenk - E-Book

Viva La Reanimation! E-Book

Dr. med. Christoph Schenk

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Beschreibung

Geschichten aus dem echten Leben – von einem Notarzt, dem nichts Menschliches fremd ist. Seit über 20 Jahren ist er im Einsatz: Dr. med. Christoph Schenk reanimiert, stabilisiert, operiert und rettet Leben. Als Notarzt ist für ihn jeder Einsatz eine neue Herausforderung – sei es ein dramatischer Verkehrsunfall, bei dem jede Hilfe zu spät kommt, eine spontane Geburt am Straßenrand oder verwechselte Medikamente, die bei Oma einen veritablen Rausch und bei den Enkeln große Sorge auslösen. Kein Tag ist wie der andere – und gerade das macht für Schenk den Reiz seiner Arbeit aus. In seinem Buch hat er nun die spektakulärsten, anrührendsten und kuriosesten Fälle zusammengetragen, gut beobachtet, temporeich und mit feinem Humor kommentiert. Dieses Buch enthält alle Texte aus den Bänden «Viva La Reanimation! 50 medizinische Notfälle, 50 Notrufe - ein Notarzt berichtet» und «Zwischen Leben und Tod. 20 Jahre als Notarzt».

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Seitenzahl: 350

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Dr. med. Christoph Schenk

Viva La Reanimation!

Als Notarzt im Blaulichtmilieu

Über dieses Buch

Geschichten aus dem echten Leben – von einem Notarzt, dem nichts Menschliches fremd ist

 

Seit über 20 Jahren ist er im Einsatz: Dr. med. Christoph Schenk reanimiert, stabilisiert und rettet Leben. Als Notarzt ist für ihn jeder Einsatz eine neue Herausforderung – sei es ein dramatischer Verkehrsunfall, bei dem jede Hilfe zu spät kommt, eine spontane Hausgeburt oder verwechselte Medikamente, die bei Oma einen veritablen Rausch und bei den Enkeln große Sorge auslösen. Kein Tag ist wie der andere – und gerade das macht für Schenk den Reiz seiner Arbeit aus. In seinem Buch hat er nun die spektakulärsten, anrührendsten und kuriosesten Fälle zusammengetragen, gut beobachtet, temporeich und mit feinem Humor kommentiert.

Vita

Dr. Christoph Schenk, Jahrgang 1965, ist Facharzt für Allgemeine und Unfallchirurgie sowie Notfallmedizin. Nach Stationen u. a. in Fulda, Darmstadt, Stuttgart und der Schweiz lebt er heute in Niedersachsen.

Für meine Söhne und TT

Vorwort

Was wird aus jemandem, der in Deutsch im Abitur nur schwache fünf Punkte hatte? Richtig: Arzt und Autor ;-)

Genauer ausgedrückt: Er wird erst Unfallchirurg und Notfallmediziner, danach dann «Subjekt-Prädikat-Objekt-Autor». Das passt prima zum Thema, wegen der notwendigen Eile im Blaulicht-Milieu. Und: Kompliziertere Sätze kann ich ohnehin nicht schreiben (siehe «Abi fünf Punkte»).

Ein Buch war nie geplant, als ich Ende 2016 begann, die Erinnerungen an besondere «Fälle» meiner zwanzigjährigen Notarzttätigkeit für meinen lesefaulen Sohn Yaris aufzuschreiben. Über den Umweg eines Blogs (www.the110.blog) und eine dazugehörige Facebookseite (@E1NSE1NSNULL) sowie erste Versuche als Selfpublisher, landeten meine Texte durch unglaubliche Zufälle letztlich bei Rowohlt und nun als «richtiges» Taschenbuch in Ihren Händen.

In diesem Buch versuche ich, spannende medizinische Sachverhalte für jedermann verständlich darzustellen.

 

Selbstverständlich sind sämtliche Namen, Orte und Handlungszeiten zum Schutz der Patientenrechte von mir verändert worden. Jedwede Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind also rein zufällig.

 

Ich wünsche gute Unterhaltung!

Christoph Schenk,

Frühsommer 2019

Das erste Mal – Sugar Sugar Baby

Es piept nicht.

Mitte der neunziger Jahre. Ich bin frisch vom Notarztkurs zurück. Stolz wie Bolle, den Pieper das erste Mal im Kittel. Ich bin aufgeregt ohne Ende.

Ist das Ding kaputt? Piept gar nicht. Muss kaputt sein. Oder ist die Batterie alle? Ich schaue alle fünf Minuten auf das Display – offenbar ist technisch alles o.k. Nix tut sich.

Kurz vor Dienstende ist es dann so weit: Ich habe mein allererstes Mal. Die knappe Meldung über Funk: Apoplex, männlich, achtundzwanzig Jahre.

«Schlägle», wie Manni, mein schwäbischer Sanitäter, verniedlichend sagt. Schlaganfall. Eine brutale Erkrankung. Ein Blutgerinnsel verstopft von einer Sekunde auf die andere wichtige Adern im Kopf, sodass das Gehirn Schaden nimmt. Im schlimmsten Fall dann Lähmungen, Sprachverlust oder gar Tod.

 

Mit Alarm geht es über die Fildern. Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Als wir das Zweifamilienhaus erreicht haben, kommt schon eine junge Frau mit Kleinkind auf dem Arm auf uns zugelaufen. «Beeilen Sie sich, mein Thomas stirbt, er reagiert auf nichts, macht nur noch Grimassen.»

Genauso ist es dann: Der junge Mann windet sich auf dem Boden, «kein Bild, kein Ton», null Reaktion auf Ansprache. Seine Pupillen sind rund, der rechte Mundwinkel hängt herunter. Er sabbert, und sein rechter Arm ist scheinbar lahm. Passt alles. Ich bin mir sicher: Schlaganfall mit gerade mal Ende zwanzig.

Mir zittern die Hände, als ich versuche, ihm einen Tropf zu legen. Dazu das Gehampel von Thomas mit seinem nicht gelähmten linken Arm. Der liebe Gott steht mir bei: erster Versuch und gleich ein Treffer.

«Zucker nicht messbar», höre ich Manni hinter mir sagen, als ich gerade die Tropfkanüle festklebe. Er hat mit einem Tropfen Blut einen Blutzuckerschnelltest gemacht. Da hätte ich vor lauter Aufregung im Leben nicht dran gedacht.

Ups? Unterzucker? «Kann sein, hat er eben Läuse und Flöhe. Unterzucker und Schlaganfall», denke ich im Stillen und grüble schon, ich welche Schlaganfallklinik wir Thomas fahren werden.

Manni gibt mir eine Spritze. «20 Milliliter Glucose 40 Prozent», sagt er, eine hochdosierte Zuckerlösung.

 

Etwa zwei Minuten nachdem ich die Lösung gespritzt habe, hört Thomas auf mit Zucken, liegt einfach nur ruhig auf dem Boden. Zwei Minuten später öffnet er die Augen, und nach weiteren fünf Minuten sitzt er dann völlig normal auf dem Sofa neben mir. Alles an ihm ist wieder komplett in Ordnung: Er spricht normal, der Mundwinkel hängt nicht mehr, und sein Arm funktioniert wieder. Er erzählt mir, dass er zuckerkrank sei und vergessen habe, ausreichend zu essen, nachdem er sich Insulin gespritzt hatte.

Kein «Schlägle», wie die Schwaben sagen, Unterzucker war sein Problem. Seiner jungen Frau stehen die Tränen in den Augen. Und mir auch.

 

Fazit des Tages: Medizin ist der Wahnsinn. Notfallmedizin erst recht. Und: Manni ist der Beste – ohne seine Routine hätte ich Anfänger den Unterzucker nicht erkannt.

 

Feuertaufe bestanden.

Matsch

1997 – ich bin jetzt seit einem Jahr als Notarzt unterwegs. So eine richtige Scheiße blieb mir bisher erspart. Klar, es gab Tote, Blut und Benzingeruch. Aber eigentlich nix, was mich richtig nachhaltig angefasst hat.

 

Wir haben Sommer, kurz nach eins an einem Freitagmittag, als es piept. Heute haut mir das Schicksal voll ins Gesicht!

«Verkehrsunfall, eine verletzte Person.»

 

Ich nehme meine Jacke vom Haken und laufe zum Klinikausgang, wo mich der NEF-Fahrer Sekunden später abholt. Über Funk erfahren wir, dass es einen Unfall vorm hiesigen Gymnasium gegeben hat. Die knapp zwei Kilometer Anfahrt fliegen an mir vorbei. Als wir in die Glasergasse einbiegen, sehe ich bereits das Warnblinklicht von einem Schulbus, daneben das Blaulicht eines Polizeiautos.

Ich steige aus und laufe vor. Da liegt sie. Sophia. Dreizehn Jahre alt. Zwischen Bordstein und dem Heck des Schulbusses. Ihr Fahrrad wenige Schritte dahinter. Komplett Schrott. Ist der Bus drübergerollt.

 

Über Sophia auch.

 

Sie ist nach der sechsten Stunde mit dem Rad auf dem Nachhauseweg, als der Schulbus beim Überholen ihren Fahrradkorb touchiert. Sie schlingert, verliert das Gleichgewicht und stürzt genau vor den Bus. Der überrollt sie zunächst mit dem rechten Vorderreifen und dann mit dem hinteren Zwillingsreifen. Jetzt erst steht er.

 

Der Anblick ist der reinste Horror. Alles Matsch. Kopf, Hals und Brustkorb im wahrsten Sinne «breit gefahren.» Der Schädel ist offen. Hirn tritt aus. Das Gesicht ist nicht mehr als Gesicht zu erkennen. Irgendwo sehe ich Zähne, aber keinen Mund, die Augen treten aus dem Kopf, keine Nase. Überall Blut. Ihre langen blonden Haare in einer riesigen Lache aus Blut und unbekanntem menschlichem Gewebe. Der Hals ist flach wie eine Zigarettenschachtel. Auf dem weißen Girlie-Shirt neben Blutflecken auch Reifenspuren … Ich habe das Gefühl, dass es mir die Beine wegreißt.

«Willste intubieren?», fragt mich mein Sani. Ich drehe mich um und bedeute ihm, dass wir nichts mehr machen können. Nichts mehr außer diesen geschundenen jungen Körper vor den Blicken und den Fotoapparaten der bereits anwesenden Presse zu schützen.

 

Das folgende Wochenende ist ein Albtraum für mich, habe ich doch selbst Kinder.

 

Am darauffolgenden Montag rufe ich in der Rechtsmedizin an, um zu erfahren, was die Obduktion des Kindes ergeben hat. «Wer sind Sie? Der Notarzt vom Unfallort? Ich darf Ihnen keine Auskunft geben. Es wird wegen des Anfangsverdachtes auf unterlassene Hilfeleistung gegen Sie ermittelt. Bitte rufen Sie am Nachmittag noch mal an. Dann darf ich Ihnen eventuell etwas sagen.»

 

Wie vom Blitz gerührt lege ich auf. Unterlassene Hilfeleistung, weil ich entschieden hatte, nichts Lebensrettendes mehr für das Kind tun zu können. Habe ich einen fatalen Fehler gemacht? Habe ich die Unfallsituation falsch eingeschätzt? Hätte das Kind mit einem guten Notarzt überlebt? Was bedeutet das alles? Gericht? Knast? Eine schier endlose Zeit bis zum Nachmittag liegt vor mir. Mein Kopf dröhnt. Ich tigere durch die Klinik, versuche, mich irgendwie abzulenken. Es gelingt nicht.

 

Um 14 Uhr klingelt mein Diensthandy. «Rechtsmedizin, Dr. Meier am Apparat, wir hatten heute Morgen schon gesprochen. Ich hatte Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft. Die Ermittlungen gegen Sie sind eingestellt. Das Kind hatte allein schon sechs Verletzungen, die jeweils nur für sich betrachtet nicht mit dem Leben zu vereinbaren sind. Hirndurchtrennung, Halswirbelsäulendurchtrennung, Abriss der Halsschlagadern, Lungenabriss beidseits, Abriss der Hauptschlagader vom Herzen, Brustwirbelsäulendurchtrennung.»

 

Den Rest des Telefonates erlebe ich wie durch Watte. Ich will nur noch raus aus der Klinik, ab nach Hause, scheiß Medizin, fuck, hätte ich bloß was anderes studiert. Mein von mir sehr verehrter Chefarzt sieht mich gehen, deutlich vor Feierabend. Er sagt nur: «Bleib auch morgen noch zu Hause.»

Ich pflaster dir eine!

Nachmittags gegen 18 Uhr bekommen Markus und ich, gerade noch im Notarztwagen auf dem Rückweg zu unserer Wache, einen Einsatz über Funk vermittelt. «Marta M., Luftnot, zweiundachtzig Jahre, bedingt ansprechbar.»

Anscheinend ist im Nachbarlandkreis notfallmäßig die Hölle los: Beide Notärzte von dort müssen im Einsatz sein, denn wir werden um Unterstützung in diesen Kreis gebeten. Auf geht’s. Blaulicht an. Los.

 

Nach circa achtzehn Minuten erreichen wir den Einsatzort. Ein idyllisches Dorf. Fachwerkhäuser, Pferdekoppeln, Kinder auf dem Spielplatz. Wir sind zuerst hier – der Rettungswagen hat ebenfalls eine lange Anfahrt.

«Kommen Sie schnell, meiner Mutter geht’s nicht gut!» Wir schnappen uns Rucksack, EKG, Beatmungsgerät und Absaugung und laufen der gut fünfzigjährigen Frau hinterher, die uns in ein geräumiges Zimmer im Erdgeschoss des Einfamilienhauses führt. In der Mitte ein Pflegebett, das Kopfteil maximal hochgestellt, die Oma im Bett mit tiefblauen Lippen. Spucke läuft ihr aus dem Mund. Die Augen hat sie geschlossen.

 

«Das geht so seit dem Abendessen, ganz schläfrig isse, so kennen wir Mutter gar nicht, dabei war sie doch heute erst noch beim Doktor.»

«Weswegen?»

«Sie hatte so Rückenschmerzen.»

Erste Informationen in Sekundenschnelle. Ich spreche Marta an. Nix. Mein Zwicken in ihr Ohrläppchen lässt sie unbeeindruckt. Erst kräftiges Kneifen in die Haut am Hals entlockt ein Grunzen. Ihr spärlicher Atem blubbert. Wir messen eine Sauerstoffsättigung im Blut von nur noch neunundsiebzig Prozent. Viel zu wenig! Schnell nehme ich das kleine Handtuch vom Nachtschrank, wische den Mund ab. Dann meinen Finger in ihren Mund. Nach einer Runde durch die Mundhöhle kann ich reichlich Essensreste hervorholen. Markus hat inzwischen die Sauerstoffmaske vorbereitet, die er jetzt der alten Dame aufsetzt, bevor er anschließend gleich das EKG klebt. In der Zwischenzeit höre ich die Dame ab und lege einen Tropf. Die Lunge hört sich nicht so schlecht an, vielleicht ein geringes Rasseln. Hat Marta ihr Abendessen in die Lunge bekommen? Wir sind immer noch nur zu zweit beim Rettungsdienst. Da wünschst du dir, dass du ein Tintenfisch wärst – mit acht Armen. Als ich ihr den Absaugschlauch in den Hals schiebe, kommt kaum Gegenwehr. Die Sättigung steigt nicht vernünftig an. Marta atmet zu wenig, als würde der Atemantrieb fehlen. Hatte sie einen Schlaganfall? Eine Hirnblutung? Irgendwas anderes Neurologisches? Der Bewusstseinszustand würde dazu passen. Ich schaue in ihre Augen. Die könnten Aufklärung geben.

 

Jene Nerven am Auge, die uns sehen lassen, reagieren ganz sensibel auf Druck im Kopf. Steigt der Druck, zum Beispiel durch eine Hirnblutung, führt das häufig dazu, dass die gedrückten Augennerven die Pupillen unrund oder ungleich groß werden lassen.

Martas Pupillen sind rund, wie sie sein sollen, aber eher zu klein. Sicher nicht zu groß.

«Welche Medikamente bekommt ihre Mutter?» Die Tochter gibt mir einen Zettel. Tausend Tabletten, alles Mögliche, aber nicht das, wonach ich suche: ein starkes Schmerzmittel, Morphium oder sonst ein Opiat, also eine Art Heroin. Diese Medikamente machen die Pupillen eng. Und sie lähmen bei Überdosierung das Atemzentrum, sodass Erstickung droht. Passt alles zu Marta. Indes, auf dem Medikamentenplan steht davon nix. Und heroinsüchtig wird Marta mit 82 nicht sein.

«Ist das wirklich alles, was ihre Mutter an Medikamenten hat?»

Die Tochter nickt, während sie die Tür öffnet, um die RTW-Besatzung reinzulassen.

Martas Zustand wird schlechter. Jetzt erbricht sie. Markus ergreift ihren Oberkörper und zieht ihn zur Seite, sodass das Erbrochene ungehindert ablaufen kann und nicht in die Lunge gerät. Dabei verschiebt sich das Nachthemd, sodass ich kurz auf ihr Schulterblatt schauen kann. Ein Pflaster!

«Narcanti», rufe ich Markus zu, während ich erst das Pflaster abreiße und dann erneut den Mund von Erbrochenem befreie.

«Ach ja, Mutter hat ja heute vom Doktor so ein Pflaster gegen die Rückenschmerzen bekommen. Das steht nicht auf dem Plan.»

Ich spritze das genannte Medikament, das vor allem an Bahnhöfen bei Junkies mit Überdosierung Anwendung findet. Die alte Dame wird von Sekunde zu Sekunde wacher.

«Marta, tief schnaufen!»

Sie folgt meinem Kommando. Der Sauerstoffgehalt im Blut steigt. Marta ist wieder da. Was denn los sei? Was die ganzen Menschen denn bei ihr machen würden? Ich erkläre ihr, dass sie wohl durch das Schmerzpflaster eine zu hohe Dosis Morphium bekommen hat, sodass sie einerseits bewusstlos war und andererseits fast mit dem Atmen aufgehört hat.

 

Wir laden die jetzt redselige Patientin ein und bringen sie zur Überwachung in die Kreisklinik.

 

Wahnsinn – 0,4 Milligramm «Gegengift» entscheiden zwischen Leben und Tod.

 

Heute waren wir schnell genug.

Polnische Wirtschaft

Früher Abend in Niedersachsen. Es piept. «Bewusstlose Person auf Feldweg.» Nach zehn bis zwölf Minuten haben wir den Einsatzort mit Hilfe von GPS-Ortung erreicht: Middle of Nowhere. Irgendwo zwischen Rüben- und Kartoffeläckern muss das NEF vor einer Neunzig-Grad-Kurve hinter einem riesigen Gespann aus Trecker und zwei Anhängern anhalten.

 

Ein aufgeregter Bauer führt mich an seinem Traktor vorbei. Direkt hinter der Kurve liegt die «bewusstlose» Person auf dem Rücken mit riesiger Platzwunde an der Stirn. Ein Fleck auf der Jeans zeigt, dass der Mann sich eingepinkelt hat. Eine kurze Untersuchung. Wir sind zu spät gekommen. Der Mann ist tot.

 

Der Landwirt berichtet mir, dass sein angestellter polnischer Treckerfahrer den Mann auf dem Feldweg liegend vorgefunden habe, als er mit dem landwirtschaftlichen Gespann um die Ecke gebogen sei.

Ich schaue mir die Szene noch mal an. Der Tote liegt auf dem Rücken. Er hat aber eine riesige Platzwunde im Gesicht und nicht am Hinterkopf. Rechts vom Leichnam sehen wir einen roten Fleck auf dem Kies des Feldweges – Blut? Die Hose des Mannes ist im Bereich des linken Oberschenkels nass. Neben dem linken Oberschenkel befindet sich dunkel gefärbter Kies. Keine Frage: der Körper wurde gedreht, von der Bauchlage in die Rückenlage.

Hmm, komisch. Zufall? Unfall? Mensch gegen Traktor? Gewaltverbrechen auf abgelegenem Feldweg?

Meine Fragen an den polnischen Gastarbeiter, ob es denn einen Unfall gegeben habe oder ob er den Mann gedreht habe, werden verneint. Der Mann ist sehr aufgeregt, fängt immer wieder an zu weinen.

 

Wie immer in Fällen unklarer Todesart verständigen wir die Polizei.

Als die Kripo eintrifft, ist es längst stockdunkel. Die Jungs der benachbarten Feuerwehr können helfen und sorgen mit ihrer Technik für ausreichend Beleuchtung. Gemeinsam kommen die Kriminalisten überein, dass der Tod des Mannes völlig unklar ist. Die Staatsanwaltschaft ordnet daraufhin die rechtsmedizinische Leichenöffnung an, um die Todesursache zu klären.

 

Einige Tage später erfahre ich, dass die Obduktion einen natürlichen Tod feststellen konnte. Der Mann hatte komplett verkalkte Herzkranzgefäße und so einen tödlichen Herzinfarkt beim Feierabendspaziergang erlitten.

 

Und die Drehung von der Bauch- in die Rückenlage? Die polizeiliche Anhörung des Gastarbeiters mit einem richtigen Polnisch-Dolmetscher ergab, dass er den Mann doch umgedreht hatte, als er ihn fand.

Lieber Gott, warum tust du das?

Nachmittags um drei geht mein Pieper. «Bewusstloses Kind, 6 Monate, Forsthaus XY.»

 

DAS will kein Notarzt lesen! DA musst du dich beim Lesen fast übergeben. DAS ist die Hölle!

 

Wir rasen mit Affentempo über scheinbar endlose Landstraßen durch die Wälder des Mittelgebirges, bis Karl – mein heutiger NEF-Fahrer – irgendwann in einen Forstweg einbiegt. Anfangs noch Asphalt, dann über Stock und Stein, bis wir nach einer Ewigkeit endlich am Forsthaus angelangt sind. Wir sind die Ersten. Der RTW ist noch nicht da.

 

Die Haustür steht offen. Ich rufe. Ein Mann, der Kleidung nach der Förster, kommt mir mit einem Bündel von Kind entgegengelaufen. Schlaff wie ein nasses Badetuch hängt der Säugling in den Armen des Mannes. Als mir der Förster gegenübersteht höre ich den Rettungswagen vor das Forsthaus rollen. Ich stelle mich in Sekundenschnelle vor und nehme das Kind entgegen, das mir der Mann, der wohl der Vater ist, mit Tränen in den Augen übergibt.

«Ralf ist nach dem Mittagsschlaf nicht aufgewacht», sagt er mir noch, bevor es mit großen Schritten rasch zum Krankenwagen geht, der zwischenzeitlich eingetroffen ist. Tür auf, rein ins Auto, Säugling sanft auf die Trage. Der Kopf ist blitzeblau. Fast violett. Kein Puls. Keine Atmung. Die Pupillen seiner strahlend blauen Augen sind weit. «Hubschrauber», rufe ich Karl zu.

Schnell den Kindernotfallkoffer! Mit der kleinsten Beatmungsmaske drücke ich Luft durch Nase und Mund in den kleinen Menschen, derweil Thorsten sofort mit der Herzdruckmassage beginnt: Zwei Finger drücken ab jetzt gut hundertzwanzigmal pro Minute auf das winzige Brustbein. Karl zerschneidet den Strampelanzug, nachdem er über Funk einen Rettungshubschrauber angefordert hat, und klebt die EKG-Elektroden auf die Brust. Nix. Nada. Scheiße. Nulllinie. Ich sage Michael, dem zweiten Mann aus dem RTW, dass er die Beatmung übernehmen soll.

 

Wir brauchen einen Zugang! Der kindliche Körper benötigt das Stresshormon Adrenalin, soll sein Herz wieder anfangen zu schlagen. Karl gibt mir auf Ansage die Bohrmaschine. Damit wird eine Knochenmarkkanüle in Windeseile in das Schienbein gebohrt. Die verabreichten Medikamente resorbiert der Körper genauso gut aus dem Knochenmark. Gesagt, getan. Derweil Thorsten und Michael weiter im Wechsel drücken und beatmen, spritze ich die erste Dosis Adrenalin. Nach einer Minute ein Blick auf das EKG. Nix. Weiterdrücken.

 

In der Zwischenzeit mein erster Versuch, einen Beatmungsschlauch in die Luftröhre zu legen. Der geht in die Hose. Der Schlauch landet in der Speiseröhre. Der zweite Versuch gelingt. Das Beatmungsgerät ist bereits von Karl auf «Säugling» eingestellt, sodass der Wechsel vom Beatmungsbeutel zur Maschine flott vonstattengehen kann. Die nächste Dosis Adrenalin. Weiterdrücken. Abwarten. Kurze Pause. Blick auf das EKG. Nix. Weiterdrücken. Wieder Adrenalin. Weiter drücken. Pause. Blick auf das EKG. Nulllinie. Weiterdrücken.

 

Nach circa dreißig Minuten trifft die Hubschrauberbesatzung ein. Sie mussten abseits landen und noch eine Strecke zu Fuß absolvieren. Das Wesentliche ist schnell berichtet, sodass ich den Hubschrauberarzt bitte, sich mit dem Vater zu unterhalten, um weitere Hintergründe zu erfahren.

 

Adrenalin. Weiterdrücken. Kurze Pause und rascher Blick auf das EKG. Nulllinie. Weiterdrücken.

 

Mein Kollege kommt wieder. Der Junge sei ein halbes Jahr alt und wurde nach seinem Fläschchen zum Mittagsschlaf gebettet. Als die Mutter gegen halb drei nach ihrem Sohn sah, habe er nur noch regungslos dagelegen. Der Vater habe das Kind dann die ganze Zeit beatmet. Wesentliche Vorerkrankungen habe der kleine Ralf nicht, die Schwangerschaft sei normal verlaufen.

 

Wieder Adrenalin. Weiterdrücken. Wieder Blick auf das EKG. Nulllinie. Weiterdrücken. Wir sind jetzt seit fünfundvierzig Minuten dabei. Wir verabreichen zusätzlich ein anderes Medikament.

 

Weiterdrücken.

 

Wieder Adrenalin.

 

Weiterdrücken. Kurze Pause und rascher Blick auf das EKG. Nulllinie. Weiterdrücken.

 

Neuerliche Pause beim Drücken. Da! Zacken auf dem EKG! Ganz deutlich. Ein schwacher Puls in der Leiste.

 

Michael setzt sich ans Steuer des RTW. Wir rumpeln über den Waldweg zu der Wiese, wo der Hubschrauber steht. Schnell ist das ganze medizin-technische Gedöns umgeladen, da dröhnt auch schon die Turbine des Helikopters. Abflug in die Uni-Kinderklinik.

 

Die Jungs sind euphorisch, als sie den RTW aufräumen, total aufgekratzt. Ich auch. Sollte das wirklich noch geklappt haben? Bevor wir abfahren, erkläre ich dem Försterehepaar, wo sie sich in der Uniklinik melden sollen. Die beiden bedanken sich mit rotgeweinten Augen.

 

Zurück auf der Rettungswache, sitze ich ziemlich mitgenommen allein in meinem Bereitschaftszimmer. Am Abend ein Anruf. Der Hubschrauberarzt meldet sich aus der Uniklinik. Der kleine Ralf hat es nicht geschafft. Ist auf der Intensivstation verstorben.

 

Leere. Mir laufen die Tränen.

 

Lieber Gott, warum tust du das?

Hast ’n Arsch auf?

Nachmittags um 15 Uhr. «Chirurgisch, Talstation.»

Diese knappe Meldung auf dem Pieper kann alles bedeuten: von «einfacher», aber schmerzhafter Sprunggelenksfraktur bis zu übelster Wirbelsäulen- oder Beckenverletzung. Wir kämpfen uns mit Blaulicht durch dichtes Schneetreiben im ansonsten idyllischen Tiroler Skiort. Als wir die Talstation der Gondelbahn erreicht haben, grinst mich der «Burger Anton», einer der Pistenretter, an. Ich werde noch verstehen, was er meint.

 

In der kleinen, total überwärmten San-Station liegt Mareike auf der Behandlungsliege. Sie ist eine gut dreißigjährige holländische Snowboarderin mit total blutiger Hose und dickem Verband am Hintern. Auf dem Stuhl davor sitzt ihr Ehemann Piet.

«Was ist passiert?»

In gebrochenem Deutsch versucht der offensichtlich geknickte Piet mir das Geschehene zu erklären. Anton kommt ihm zu Hilfe: Piet würde sich seit Jahren immer selbst um den Skiservice, also das Wachsen und Kantenschleifen des Snowboards von Mareike und seines eigenen kümmern. Heute seien Mareike und er wie immer auf ihren Boards im Skigebiet unterwegs gewesen. Irgendwann habe Mareike eine kurze Pause gemacht und sich – das Board noch fest an die Füße geschnallt – auf die Piste gesetzt, um zu verschnaufen. Piet sei ihr gefolgt und habe sich dann zur Pistenpause zu ihr gesellen wollen.

Mit elegantem Einwärtsschwung wollte er hinter seiner wartenden Gattin «einparken», habe dann aber mit seinem Board zu wenig Abstand zur sitzenden Mareike eingehalten. Genau genommen zu wenig Abstand zu ihrem Hintern, so dass er seiner Frau den Hintern langstreckig mit der Snowboardkante aufgeschnitten hat.

Da «viel» Blut geflossen war, hatte man den Notarzt verständigt.

Game OveR

Ende der Neunziger. Sonntagvormittag. In einer süddeutschen Großstadt schlägt mein Pieper Alarm. «Bewusstlose Person in Tiefgarage.» Bei diesem Stichwort denke ich zuerst an den Rand der urbanen Gesellschaft, an Drogen, an Urin und an Erbrochenes in dunklen Ecken. Flott geht es mit Blaulicht in der G-Klasse durch die Stadt. Kaum Verkehr. Offenbar sind fast alle Schwaben brav im Gottesdienst oder im Mercedes-Museum.

 

Einige Jugendliche erwarten uns bereits und winken, als wir die Einfahrt der Kaufhaustiefgarage erreichen. Johannes, Zivi und Fahrer des Notarztautos, geht mit mir zusammen die Abfahrt der Tiefgarage hinunter.

Der Vorraum zur Hölle.

Blasse «Untote» sitzen an endlos langen Tischen vor zahllosen flackernden Bildschirmen. Pickelige Teenager-Zombies mit dunklen Augenrändern hämmern wie von allen guten Geistern verlassen auf ihre Tastaturen. Lautes Geballer aus Computerlautsprechern, helle Explosionen auf den Monitoren. Willkommen auf einer LAN-Party.

Vor einer dieser Tastaturen liegt der sechzehnjährige Kevin mit seinem Kopf auf dem Tisch. Zwischen Colaflasche, Computerkabeln und Aschenbecher. Um ihn herum seine verstörten Kumpel. Kevin hätte irgendwann immer schlechter «gefightet» und zuletzt am ganzen Körper gezuckt. Wie bitte? Ich stoße ihn an. Wie betrunken schaut er mich aus glasigen Augen an. «Eishockey», verstehe ich ihn sagen. Was? Ich kapiere kein Wort. Ein Mitspieler übersetzt für mich: «Alles o.k.»

«Blutdruck 100 zu 80, Puls 110, Sauerstoffsättigung 97 Prozent», ruft mir Johannes zu. Und kurze Zeit später, nachdem ein Tropf gelegt wurde: «Zucker 82.» Alle medizinischen Werte soweit wirklich erst mal «Eishockey.» Meine neurologische Untersuchung zeigt bis auf Kevins Verlangsamung nix Auffälliges: Eingenässt hat er nicht, er antwortet angemessen und kann alles bewegen. Seine Pupillen sind auf beiden Seiten gleich groß und werden schnell eng, als ich die Augen mit der Taschenlampe blende.

 

Seit knapp zwei Tagen läuft die «Doom-Party» («Doom» war der erste große Egoshooter-Erfolg). Wie ich erfahre, hatte sich Kevin seit circa sechsunddreißig Stunden ausschließlich von Zigaretten, Cola und Tütensuppen «ernährt.» Geschlafen habe er gar nicht. Das sei hier normal.

 

Ich habe den Verdacht auf einen «fotogenen Krampfanfall.» Vielleicht ist es auch «nur» ein Erschöpfungssyndrom. Mit einer Infusion geht es in eine neurologische Klinik. Einer speziellen Therapie bedarf es erstmal nicht.

 

«Game over.» Jedenfalls für dieses Wochenende.

Zähes Luder

Auf der Rückfahrt vom Einsatz zur Rettungswache erhalten wir einen Funkruf von der Rettungsleitstelle. Wo wir denn gerade wären. Karsten, der Fahrer des Notarztwagens, antwortet knapp: «Bundesstraße 6, Höhe bla-bla-bla.»

«Dann habe ich einen Einsatz für euch.» Und weiter: «Bewusstlose Person, sechsundsiebzig Jahre, weiblich, Laienreanimation nicht möglich.» Noch fix die Einsatzadresse, Blaulicht an, los.

 

Nach circa fünf bis sechs Minuten sind wir da, der ebenfalls alarmierte Rettungswagen leider noch nicht, sodass wir das gesamte Rettungs-Equipment, also riesiger Notfall-Rucksack, Beatmungsgerät, EKG-Gerät und Absauger selbst mitnehmen müssen. Scheißschlepperei! Meist ist der Rettungswagen eher da, und dann muss dessen Besatzung alles tragen.

Bis auf ein erleuchtetes Fenster ist das kleine Haus samt Umgebung stockdunkel. Wir suchen die Klingel. Karsten findet sie dank iPhone-Taschenlampe. «Kommen Sie hoch», ruft eine Stimme, als wir das Haus betreten.

Maria sei auf dem Weg in die Küche umgefallen, sie antworte nicht – der kleine Opa, offenbar der Ehemann der Patientin, überschlägt sich fast beim Sprechen.

Und so liegt Maria da: rücklings im halbdunklen Flur, bewusstlos.

Wir ziehen die zierliche Frau rasch ins Wohnzimmer. Da sind Platz und Licht. Ich suche den Puls der Schlagader am Hals und überprüfe die Pupillen, derweil Karsten zwei große EKG-Klebeelektroden und den Beatmungsbeutel bereitmacht.

Als ich ihm bestätige, dass ich keinen Pulsschlag fühlen kann, fängt Karsten an zu drücken. Mitten auf das Brustbein. Hundertmal pro Minute – genau der Takt von «Ha-ha-ha-ha stayin’ alive, stayin’ alive, ha-ha-ha-ha stayin’ alive» der «Bee Gees». Passt im doppelten Sinn.

An seinen Armen vorbei klebe ich die beiden Elektroden auf Marias Brustkorb. Als sie sicher platziert sind, macht Karsten eine Pause, sodass wir rasch zweimal Luft in ihre Lungen pumpen und die Herzströme vom EKG-Monitor ablesen können: Kammerflimmern! Marias Herz steht nicht still. Im Gegenteil: Es rast wie verrückt, zuckt unrhythmisch, zittert, hat dabei keine Zeit mehr, sich mit Blut zu füllen. So kommt es dann zum Kreislaufstillstand. Karsten drückt unmittelbar weiter, derweil ich den Defi lade. Als das «Fertig, geladen!»-Signal ertönt, kommt endlich auch die Besatzung des Rettungswagens. Karsten tritt zurück, zack! – zweihundert Joule Strom durchströmen schlagartig Marias Körper. Karsten drückt sofort weiter. Ich taste den Hals ab. Jedes Mal, wenn Karsten drückt, spüre ich die große Schlagader unter meinem Finger. Karsten soll kurz pausieren. Ein Blick auf das EKG – jetzt nach dem Stromschock ein normaler Rhythmus. Das Kammerflimmern ist durchbrochen, und der Puls am Hals bleibt fühlbar. Marias Kreislauf ist wieder da!

 

Nunmehr zu viert, ist die Lage entspannter: Die drei Rettungsassistenten legen einen Tropf und montieren die gesamte Überwachungstechnik (Blutdruck, Sauerstoffgehalt des Blutes und «großes» EKG), derweil ich Maria einen Beatmungsschlauch in die Luftröhre schiebe. Schnell ist das Beatmungsgerät angeschlossen. Der Überwachungsmonitor zeigt unverändert stabile Kreislaufwerte. Aber vor allem: Die Pupillen werden enger und reagieren auf Licht. Ein gutes Zeichen, wenn sich die Pupillen wieder verengen. Scheint, dass das Gehirn mindestens keinen Riesenschaden genommen hat.

 

Als wir Maria in den Krankenwagen verladen haben, gehe ich noch schnell zu ihrem Mann. Ich sage ihm, wo wir jetzt hinfahren und dass die Situation zwar ernst ist, aber nicht ganz ohne Hoffnung, da wir seine Frau ja nach ganz kurzer Zeit schon «wiederhatten» und nun gute Werte messen würden.

«Das war mir klar. Sie war schon immer ein zähes Luder. All die ganzen Jahre.»

 

Maria hatte einen Herzinfarkt, der zum Kammerflimmern geführt hatte. Etwa einen Monat später bekamen wir vom «zähen Luder» eine Dankeskarte aus der Kurklinik.

Mit Kraft geht alles

«Bewusstlose Person hinter Tür» – so steht es auf meinem Pieper, der mich mitten in der Nacht weckt. Zum Glück nur fünf Minuten mit Blaulicht durch die Kleinstadt. Als wir am Einsatzort, einem Vierfamilienhaus, eintreffen, ist bereits das ganz große Besteck vor Ort: Polizei, Feuerwehr und Rettungswagen. Ich erhalte eine kurze Einweisung von den beiden Polizisten: Die Nachbarn hätten sich Sorgen gemacht, es piepe in der Wohnung im Erdgeschoss unten links, auf wiederholtes Klingeln mache keiner auf.

 

Als ich den Polizisten folge, sehe ich von der Straße aus auf das große Haus. Alles dunkel. Nur unten links brennt hinter einer Fensterscheibe Licht, das auch den Balkon der Wohnung erhellt.

Als wir das Treppenhaus betreten, sind die Feuerwehrleute schon dabei, die massive Wohnungstür aufzubrechen – grobes Werkzeug, viel Kraft, nach kurzer Zeit ist die Tür Schrott, aber offen.

Im Innern der Wohnung piept es in der Tat laut. Mein Rufen «Hallo, jemand zu Hause?» bleibt unbeantwortet. Wir gehen einen langen Flur entlang bis zu dem einzig beleuchteten Zimmer der Wohnung. Vorsichtig öffne ich die Glastür und betrete offenbar das Wohnzimmer. Die Glotze ist an, auf dem Sofa davor liegt ein Mann: bewusstlos oder Tiefschlaf plus taub, denn er atmet deutlich sichtbar, hat uns aber trotz Krach immer noch nicht registriert. Auf seinem Gesicht ist eine Beatmungsmaske, die Menschen tragen müssen, die im Schlaf längere Atemaussetzer haben. Ich stupse den Bewohner an – einmal, zweimal. Nix. Beim dritten Mal schreckt er hoch. Total von der Rolle. Ich stelle mich vor, versuche ihn zu beruhigen, derweil er sich die Maske vom Kopf nimmt. Nein, es fehle ihm an nichts, es gehe ihm gut. Und was der ganze Quatsch denn soll. Das Piepen kenne er. Komme immer mal wieder vor und käme vom Beatmungsgerät. Es habe zuletzt immer mal wieder Fehler per Alarmton gemeldet. Der Mann steht auf, geht dem Sauerstoffschlauch folgend zu dem Gerät in ein Nebenzimmer, drückt auf einen Knopf, und der Apparat ist endlich still. Genauso still wie jetzt alle Beteiligten in der Wohnung.

 

Mein Fahrer und ich verabschieden uns höflich und verlassen die Wohnung durch die zerstörte Tür.

 

Meine Frage, ob denn jemand mal vor dem Türaufbrechen einen Blick vom Balkon der Erdgeschosswohnung in das Wohnzimmer geworfen habe, bleibt von beiden Polizisten unbeantwortet. Keine Antwort ist ja bekanntlich auch eine Antwort.

 

Nachtrag:

In der Regel ist ein Glasfenster viel billiger als eine Wohnungstür. Deshalb bereiten viele Feuerwehren dem Rettungsdienst den Weg ins Wohnungsinnere via Fenster.

Haste ma Feuer?

2001. Es piept am frühen Abend. Die knappe Auskunft auf dem Alarmmelder: «Verbrennung in psychiatrischer Klinik.»

 

Nach zehn Minuten mit Blaulicht und Martinshorn durch den Berufsverkehr sind wir am Einsatzort, dem Landeskrankenhaus, einer großen psychiatrischen Klinik. Die Pflegekräfte der geschlossenen Erwachsenenstation erwarten uns bereits am Eingang.

Als wir durch scheinbar endlose Stationsflure laufen, bekomme ich erste Informationen. Es geht um Doris. Zwanzig Jahre alt. Borderline-Störung. Ich bin irritiert. Borderline – das sind doch diese armen Mädchen, die sich selbst mit allem Möglichen schneiden, um sich durch diesen Schmerz wieder selbst spüren zu können. Warum also «Verbrennung in psychiatrischer Klinik»? Sicher ein Übermittlungsfehler.

Wir erreichen Doris’ Patientenzimmer. Eine zarte junge Frau sitzt mit verschränkten Armen auf ihrem Bett und starrt teilnahmslos ins Leere. Hat uns offenbar gar nicht bemerkt, ist mit ihren Gedanken sonstwo. Eine Krankenschwester sitzt vor Doris’ Bett, eine Sonderwache.

Ich sehe kein Blut auf dem Boden, kein Blut auf dem weißen Bettlaken. Stattdessen riecht es nach Grill und nach verbranntem Fleisch. Die Sitzwache steht auf, greift nach Doris’ linkem Arm und zeigt mir die linke Hand. OH GOTT! Der komplette Handrücken ist tief verbrannt, dunkelgrau, blasig. In ihrer Hilflosigkeit haben die Pflegekräfte irgendeine Creme draufgeschmiert, als sie auf uns warteten.

«Wie ist das passiert?», frage ich. Die Antwort schockiert: Das habe Doris selbst gemacht. Sie sei doch an Borderline erkrankt. Anstatt jedoch mit Messer oder Rasierklinge zu ritzen, würde sie sich mit einem Feuerzeug Verbrennungen zufügen. WAS? Ich kann nicht mal für einen kurzen Augenblick ein abgebranntes Streichholz festhalten. Wie lange muss sie das Feuerzeug an ihren Handrücken gehalten haben, um eine derart tiefe Verbrennung zu produzieren? Ich bekomme eine Gänsehaut.

 

Wir machen dann unsere Arbeit: Tropf legen und Kreislaufwerte bestimmen, Überwachungsmonitor. Schmerzmittel möchte sie nicht. Nur einen Verband. Wir bringen sie in die Klinik, in der ich als Unfallchirurg arbeite. Noch am selben Abend werden ihr die verbrannten Areale im Operationssaal in Narkose entfernt. Die Verbrennungen sind so tief, dass sie die Strecksehnen erreichen.

 

Es folgen in den nächsten vier Wochen sieben weitere Operationen, bei denen jeweils abgestorbenes Gewebe entfernt wird. Einen Großteil dieser Operationen habe ich selbst durchgeführt. So auch die letzte OP, bei der Haut verpflanzt wurde, um den großen Hautdefekt am Handrücken zu verschließen. Das war nicht so einfach, denn es gab kaum noch eine Stelle an Doris’ Körper mit «normaler» Haut. Nach Jahren der Selbstverbrennungen war ihre Haut entweder durch frühere Verbrennungen oder durch die Entnahme von Spenderhaut nahezu überall verändert und ungeeignet. Irgendwie gelang es aber dennoch, so dass wir nach circa sechs Wochen die Behandlung der linken Hand glücklich abschließen konnten.

 

Genau einen Tag später klingelt am frühen Nachmittag mein Klinikhandy. Ich möge mal bitte in die Ambulanz kommen. Mich haut es fast um: In Kabine 3 sitzt Doris. Diesmal ist es ihre rechte Hand.

Grenzen

Mitten in der Nacht werde ich durch das Piepen aus dem Tiefschlaf gerissen. «Bauchschmerzen, Nachforderung.» Komische Meldung. Bauchschmerzen sind ein sehr seltener Grund für einen Notarzteinsatz. Und dann noch eine Nachforderung durch die RTW-Besatzung, die bereits bei der Patientin ist. Ich bin gespannt.

 

Über Land geht es durch die Nacht in das kleine norddeutsche Dorf. Am Bauernhof angekommen, empfängt uns der Altbauer. Seine Frau und die Sanitäter seien oben im Badezimmer. Zwei Treppen hoch und einmal links um die Ecke. Da sitzt dann Gerda vor mir im kleinen Bad, im Nachthemd auf der Toilette nach Luft ringend. Mit monströsem Bauch und auffallend dünnen Ärmchen und Beinchen. Ihr total eingefallenes Gesicht schmerzverzerrt. Wäre sie nicht 75, so würde ich die Situation «dicker Bauch und krampfartige Schmerzen» womöglich als beginnende Geburt mit Wehenschmerz interpretieren. Aber so? Sicher nicht. Vielmehr denke ich an irgendeinen fortgeschrittenen Krebs in der Bauchhöhle und in dessen Gefolge einen «Wasserbauch.»

Meine kurze Anamnese ergibt, dass sie schon länger Unterbauchschmerzen habe. Ihre Heilpraktikerin habe ihr immer «Schüssler-Salze» verordnet. Und nein, einen Arzt habe sie deshalb nicht aufgesucht. Ärzte würden sowieso nur Chemie verschreiben.

Wir legen einen Tropf und geben Sauerstoff. Ich verabreiche Gerda ein Medikament gegen Bauchkrämpfe und ein starkes Schmerzmittel. Dann schaffen wir es gemeinsam mit viel Mühe und der Unterstützung von Jung- und Altbauer, die alte Dame in den Krankenwagen zu tragen. Der Transport erfolgt auf der Trage sitzend mit herunterbaumelnden Beinen. Jeder Versuch einer «normaleren» Lagerung muss wegen sofort einsetzender Luftnot abgebrochen werden. Der riesige Bauch drückt in alle Richtungen. Auch nach oben auf die Lunge.

 

Im Krankenhaus angekommen, mache ich eine schnelle Übergabe an den diensthabenden Kollegen.

Wir verabschieden uns und wünschen alles Gute. Dann fahren wir zurück zu unserer Rettungswache. Noch mal ab ins Bett. Ich kann nicht einschlafen, wälze mich die restliche Nacht von links auf rechts. Gerdas Geschichte beschäftigt mich.

Am nächsten Morgen fahre ich in die Klinik, um zu erfahren, was die Diagnostik bei Gerda ergeben hat. Man habe umgehend nach ihrer Einlieferung eine Computertomographie veranlasst. Hier habe sich schon auf den ersten Bildern ein großer Eierstockkrebs gezeigt. Weitere Informationen konnten nicht gewonnen werden, da Gerda noch während der Untersuchung auf dem Tisch des Computertomographen starb.

 

Schüssler-Salze haben ihre Grenzen.

Taser auf Krankenkasse

Vor einigen Jahren vormittags in Südniedersachsen. Die Sonne scheint, blauer Himmel. Da piept es mitten in unser Frühstück hinein. Die kurze Nachricht auf dem Piepser: «Defi löst ständig aus.»

 

Nach kurzer Blaulichtfahrt erreichen wir unser Einsatzziel. In der Eingangstür des Einfamilienhauses liegt die circa sechzigjährige Gabi. Gerade als wir die Haustreppe zu ihr hinaufgehen, durchzuckt es die Patientin von Kopf bis Fuß, gefolgt von einem markdurchdringenden «Auaaaaaa.» Gabi ist wach. Sie berichtet mir kurz von einem «Defi», den sie seit einigen Jahren habe.

Schnell platzieren die Rettungsassistenten die EKG-Elektroden, um die Herzströme aufzuzeichnen. Da passiert es erneut: Der ganze Körper zuckt, gefolgt von einem Schmerzensschrei. Beim Versuch, einen Tropf zu legen, folgt der dritte Schrei nach neuerlichem Durchschütteln. Kacke, zweiter Versuch für den Tropf. Mein erster wurde Opfer des Zuckens. Ader kaputt. Riesiger Bluterguss. Zum Glück klappt es beim zweiten Mal. Dann kann ich endlich einen Blick auf das EKG werfen: Herzrasen. Und wie! Gabis Herz rast mit Tempo 220–250 pro Minute. Wumm! Ein erneutes Zucken, ein erneuter Schrei.

 

Was ist Gabis Problem? Normalerweise schlägt unser Herz in Ruhe circa sechzig- bis achtzigmal pro Minute und pumpt dabei das sauerstoffreiche Blut gleichmäßig in unseren Körper. Bei verschiedenen Erkrankungen ist der innere «Taktgeber» des Herzens defekt. Er gerät sozusagen außer Rand und Band. Das Herz schlägt schnell und schneller. Ungebremst. Unkontrolliert. Das Fatale: Je schneller das Herz schlägt, desto weniger Zeit hat es, sich zwischen zwei Schlägen mit Blut zu füllen, welches in den Körper gepumpt werden muss. Es flattert oder flimmert vor sich hin, ohne dass noch ein vernünftiger Blutdruck hergestellt wird. Die Folge im schlimmsten Fall: erst Ohnmacht, dann Tod.

 

Bei Gabi wurde wegen dieses Problems ein Defibrillator (kurz: Defi) implantiert. Das ist ein kleiner Elektrokasten, etwa so groß wie eine Streichholzschachtel, der mittels Kabeln direkt mit dem Herzen verbunden ist. Registriert der Kasten, dass das Herz rast, so gibt er einen Stromstoß ab, der das Herz wieder in den normalen Rhythmus zwingen soll. So eine Art «Reset-Taste.» Das Doofe: Der Strom durchdringt nicht nur das Herz, sondern den gesamten Körper. Fühlt sich dann an, als habe man versehentlich in die Steckdose gefasst. Oder sei vorsätzlich vom Taser des SEK getroffen worden.

Sicher sehr schmerzhaft. Mindestens unangenehm. Der blanke Horror: Du bist wach, du weißt, dass dein Herz rennt, weißt auch, dass es jetzt gleich wieder einen Stromschlag gibt! Todesangst. Hölle. Hölle. Hölle.

Gabis Herz rast, der Defi versucht immer wieder, den normalen Rhythmus herzustellen. Vergeblich. «Reset» funktioniert nicht. Schnell gibt mir Mike, mein heutiger Assistent und Blaulicht-Fahrer, das von mir angesagte Herzmedikament: Cordarex. Über einige Minuten injiziere ich langsam zwei Ampullen, dreihundert Milligramm. Dazu ein starkes Schmerzmittel und drei Milligramm Midazolam, welches der Patientin einen kurzen Schlaf schenkt, ihr aber vor allem die Erinnerung an diesen Vormittag rauben wird.

Wumm! Wieder dieses Zucken. «Aahhh.»

Mist! Klappt es mit Cordarex doch nicht? Habe ich das EKGfalsch interpretiert? Ist für mich heute das allererste Mal, dass ich dieses Medikament einsetzen muss. Als Unfallchirurg sind Herzrhythmusstörungen ja nicht mein tägliches Brot. Ich habe großen Respekt vor dieser Droge.

Wumm! Der nächste Schock. Herzfrequenz 230 pro Minute. Mir ist heiß. Ich zweifele.

 

O.k. Kurz nachdenken. Innehalten. Noch mal eine Ampulle des Medikamentes, hundertfünfzig Milligramm Zugabe, so wie ich es gelernt habe. Dann warten, warten, warten. Nach zwei endlosen Minuten passiert es endlich: Das Herz springt in den normalen, ruhigen Rhythmus zurück. Medikamentöser «Reset» gelungen! Jetzt Gabi schnell in den Rettungswagen und ab in die Klinik.

Uncle Sam

Irgendein früher Abend im Herbst. Dunkel. Nasskalt. Doof. Wir werden zu einem dreiundsechzigjährigen Mann gerufen. Seit Jahren bekannte COPD, eine Art Asthma, also Schwierigkeiten mit dem Atmen. Im Herbst, wenn Erkältungswellen durch die Lande ziehen, geht es diesen Menschen häufig ganz schnell ganz besonders schlecht. So ist es auch bei Dieter. Auf seinem Bett sitzend pfeift er aus dem letzten Loch, mit blauen Lippen kämpft er um jeden Atemzug. Unsere Messung der Sauerstoffsättigung im Blut zeigt einundachtzig Prozent. Normal sind mehr als zweiundneunzig Prozent. Zu diesem organspezifischen Problem gesellt sich noch ein «ganzheitliches» Problem: Der Frührentner wiegt circa hundertsiebzig Kilo, das macht das Atmen auch nicht leichter.

 

Schnell treffen wir die notwendigen Maßnahmen, um Dieter wieder einigermaßen auf Reihe zu kriegen: Bronchienerweiternde Medikamente und reinen Sauerstoff per Maske und ein mildes Beruhigungsmittel gegen die quälende Angst, nicht genug Luft zu bekommen. Seine Situation bessert sich ganz allmählich. Daher ist es jetzt an der Zeit, sich Gedanken über den Abtransport des Kolosses zu machen. Er wohnt im ersten Obergeschoss. Selbst bis zum Rettungswagen zu laufen fällt wegen der Erkrankung aus. Die Rettung mittels Feuerwehrdrehleiter und Tragekorb scheidet aus, da es keine vernünftige Zuwegung zum Fenster des Schlafzimmers gibt. Also: Tragetuch und menschliche Kraft! «Vier Mann, vier Ecken» allerdings nicht. Müssten schon einige kräftige Retter mehr sein. Dazu das Problem, dass normale Krankentragen nur bis zu hundertzwanzig Kilo Körpergewicht ausgelegt sind. Wird die Trage zu schwer belastet, macht sie eine Grätsche. Und mit ihr dann auch der Patient.

 

Ich bespreche mich mit meinem Fahrer Jan. Ich hatte zuletzt mal in einer Großstadt bei der Berufsfeuerwehr einen Notarztjob gemacht. Als da ein ähnliches Problem anstand, wurde der «Schwerlast-RTW» angefordert. Es kam ein großer Krankenwagen, mit riesiger Krankentrage bis vierhundert Kilo Belastbarkeit. Dazu die komplette Besatzung eines Hilfeleistungs-Feuerwehr-LKW: Sechs Kerle, bärenstark, Kreuze wie kanadische Holzfäller. Jan sagt: «Kein Problem, ich bestelle den.»

 

Im sicheren Gefühl, dass nun alles läuft, habe ich den Einsatz eigentlich schon abgehakt. Dieter nur noch von einer «Gewichthebertruppe» der Feuerwehr einpacken lassen, dann ab in die Klinik, fertig.

Nach einer halben Stunde kommt der angeforderte Rettungswagen. Viel Platz für viel Manpower scheint er indes nicht zu bieten, aber womöglich sitzen die ganzen kräftigen Kerle ja hinten drin.

Und schwupps! geht zuerst die Fahrertür auf, ein junger Mann mit eher unsportlicher Figur, hager, vielleicht fünfundsechzig bis siebzig Kilo. Versteckte Kräfte? Dann geht die Beifahrertür auf – eine junge Frau, äußerlich eigentlich noch ein Mädchen, circa hundertfünfzig Zentimeter, fünfundvierzig Kilo, ganz dünne Ärmchen. Und dann ist Schluss. Es steigt niemand mehr aus. Ist in diesem Landkreis nämlich leider anders organisiert: Nur die Drehleiterbesatzung (zwei Personen) besetzt den Spezialrettungswagen, fertig, sonst keiner mehr.

 

Und nu? Ich gehe zu Dieter und erkläre ihm die Situation, dass es nun noch etwas dauern würde, fehlende helfende Hände und so weiter. Da fällt er mir fast ins Wort: Sein Enkel sei sehr stark, würde hier um die Ecke gerade trainieren. Da auf dem Tischchen läge seine Handynummer. Ich rufe ihn gleich an. Eine freundliche Stimme. Er würde sich kümmern, käme gleich mal rum. Ich bin gespannt.

 

Keine zehn Minuten später kommen zwei 3er-BMW vor das Haus gefahren. Aus den Autos steigen fünf Jungs – Jogginghosen, Uncle-Sam-Muskelshirts, sämtlich so breite Rücken, dass sie kaum durch die Tür passen. Ja, sie hätten gerade gepumpt, also Bodybuilding-Training gemacht, jetzt würden sie eben noch helfen, den Opa runterzutragen.

 

Gesagt, getan. Großartige Jungs. Einsatz erledigt.

Selbst mit viel Mühe …

Mittagszeit. Irgendwann im Hochsommer. Fünfunddreißig Grad. Alles siecht vor sich hin, als es piept. «Bewusstlose Person.» Wir werden zusammen mit dem RTW der gleichen Wache in Gang gesetzt. Anfahrt lediglich zwei Minuten. Die Polizei ist bereits vor Ort – hat uns angefordert.

 

Bereits im Treppenhaus des Mehrfamilienhauses stinkt es unglaublich. Unglaublich süßlich. Unglaublich durchdringend. Wer das mal in der Nase hatte, vergisst es nicht.

Die Tür im zweiten Stock geht fast nicht auf – Müllberge verhindern ein flottes Vorankommen in der Wohnung. Am Ende des Flures befindet sich das Schlafzimmer – ein «Suchbild»: Finde den Patienten in Unrat.

 

Der Leichnam ist bereits in weit fortgeschrittener Fäulnis. Maden und Fliegen an allen Körperöffnungen, die Augenhöhlen leer, die Haut ledern.

Bleiben zwei Fragen: Welche notfallmedizinischen Fähigkeiten trauten uns die Polizisten zu, die uns alarmiert hatten? Und weiter: Für was bekam der gerichtlich bestellte Betreuer des Verstorbenen sein Geld? Betreut hatte er diesen Klienten jedenfalls nicht (ausreichend).

ACAB

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