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Harald Darer

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Beschreibung

Ein Mann im besten Alter hält ein Versprechen ein und fährt nach fünfundzwanzig Jahren zu seinem ehemaligen Lehrbetrieb in die steirische Provinz. Damit beginnt für ihn eine Reise in die eigene Vergangenheit. Der Kollege, mit dem er dieses Treffen einst vereinbart hat, erscheint jedoch nicht. Sein Warten lässt den Erzähler immer tiefer in die Erinnerung an seine Lehrzeit als Elektriker eintauchen. Bilder flammen auf – von Geringschätzung und Schinderei, kleinen Gaunereien, vermeintlichen Lebensweisheiten und stiller Rebellion. Es ist eine schaurig aberwitzige Zeitreise in die Welt der Arbeit, wie sie gerade noch war. Lebensnah, erdig und fesselnd: Harald Darer taucht tief in die Abgründe eines Arbeiterlebens und schafft damit eine bitterböse, grotesk-komische Realsatire.

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Seitenzahl: 221

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Die Arbeit an diesem Roman wurde durch einLiteraturstipendium der Stadt Wien gefördert.

Copyright © 2019 Picus Verlag Ges.m.b.H., WienAlle Rechte vorbehaltenGrafische Gestaltung: Dorothea Löcker, WienUmschlagabbildung: mauritius images/imageBROKER/Karl F. SchöfmannISBN 978-3-7117-2075-7eISBN 978-3-7117-5394-6

Informationen über das aktuelle Programmdes Picus Verlags und Veranstaltungen unterwww.picus.at

Harald Darer, geboren 1975 in Mürzzuschlag, Steiermark, begann nach der Lehre zum Elektroinstallateur und einschlägigen Weiterbildungen mit dreißig Jahren zu schreiben. Seither zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Sein Debütroman »Wer mit Hunden schläft« erschien 2013 im Picus Verlag. 2015 folgte »Herzkörper«, im Jahr darauf »Schnitzeltragödie«. Harald Darer lebt und arbeitet in Wien. www.der-darer.net

HARALD DARER

BLAUMANN

ROMAN

PICUS VERLAG WIEN

Die Jahre verfliegen,nur der Nachmittag zieht sich.

Inhalt

1. TEIL ARBEIT ADELT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

2. TEIL ENDLICH KEINE ARBEIT

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

1. TEILARBEIT ADELT

1

Es ist ja nichts verhaut, wenn du hinfährst, hat meine Frau gesagt, als sie mich während des Frühstücks beim Honigbrotschmieren daran erinnert hat, dass nun bald das Datum komme, an dem ich Frank Sonnenschein seinerzeit nach unserer bestandenen Lehrabschlussprüfung auf dem Eingangsportal vor dem Grazer Wirtschaftsförderungsinstitut, von den auf nüchternen Magen getrunkenen Bieren und hosensackwarmen Leibwächtern schon leicht betrunken, in die Hand hinein versprochen hatte, einander fünfundzwanzig Jahre später vor dem Holztor an der Vorderseite des Gebäudes, wo wir uns zum ersten Mal begegnet waren, wiederzusehen. Fahr hin, hat sie gesagt, obwohl ich diese vergangenen fünfundzwanzig Jahre nichts mehr mit Frank Sonnenschein zu tun gehabt habe, außer – anfangs mehr, dann immer seltener – in meinen Gedanken, die ich manchmal als Brief, öfter als kurze Notizen oder Nachrichten an ihn niedergeschrieben habe, und wir noch dazu an genau dem Tag unseren zehnjährigen Hochzeitstag in einem Hotel in der Prager Altstadt feiern wollten, das wir schon vor einem Jahr gebucht hatten. Sie könne doch auch mit ihrer Schwester statt mit mir hinfahren, die sehe sie sowieso so selten, seit sie für eine neue Arbeitsstelle in die Hauptstadt gezogen ist, hat sie gesagt, mit einem Ausdruck im Gesicht, bei dem ich mir gedacht habe, ein Wochenende ohne mich, noch dazu in Prag ohne mich, ist wohl das schönste Hochzeitsgeschenk, das ich ihr machen kann. Trotzdem, schon wenige Minuten nachdem ich mich von meiner Frau verabschiedet und sie mir bei diesem Abschied wie schon lange nicht mehr – keine Erinnerung daran vorhanden, wie lange genau schon nicht mehr, kein konkretes Bild im Kopf – ihre Zunge in den Mund gesteckt und fünf Sekunden mit meiner Zunge gespielt hatte – ich habe mitgezählt, weil ich zum geistigen zeitlichen Erfassen für mich besonderer Momente neige –, voll Vorfreude wie mir vorkam, ahnte ich, dass ich auf einen Trick meiner Frau reingefallen war. Spürte ich das Gefühl der Ungerechtigkeit des Geneppten, des Zu-kurz-Gekommenen, in mir aufsteigen, in die Vergangenheit reisen zu müssen, noch dazu in die eigene Vergangenheit, und das durch den Staub, der mir in die Nase gefahren war, nachdem ich mich unvorsichtigerweise in den abgewetzten Sitz des Regionalzugabteils habe fallen lassen, noch verstärkt wurde, während meine Frau und meine Schwägerin im Ruheabteil eines Intercity-Zuges, beide einen Latte macchiato schlürfend, oder, noch schlimmer, mit einem Glas Sekt, einem Prosecco womöglich, auf die gelungene Finte anstoßend, wie ich mir vorstellte, erleichtert, weil ohne mich, in Richtung Prag quasi glitten. Der Staub aus den Waggonsitzen, der, wie es mir vorkam, aus der Zeit stammen musste, in die ich, von meiner Frau aufgemuntert, gerade reiste und in der ich täglich mit dem Zug zu meinem Arbeitsplatz fuhr, wo ich meine Lehrstelle auszufüllen hatte und in der sich die Schichtarbeiter um fünf Uhr Früh ihre erste Zigarette angezündet und das erste dabei pfauchende Dosenbier aufgerissen hatten, legte sich sofort an meiner Naseninnenwand fest und trocknete sie aus, was mich wieder an die Tage auf der Baustelle erinnerte, an denen Frank Sonnenschein und ich den ganzen Tag damit verbrachten, Wände aufzustemmen und Beton-, Ziegel- und Verputzstaub einzuatmen, der meine Naseninnenwände bis zur Verstopfung verkrustete und ich, von der stundenlangen Stemmerei auf der Baustelle völlig erschöpft, nachts auf dem Rücken in meinem Bett liegend, mit dem Nagel des kleinen Fingers meiner rechten Hand die marienkäfergroßen Krusten vorsichtig von der Naseninnenwand löste und mit dem Mittelfinger in die Dunkelheit schnepfte, wo sie irgendwo am Ende des Zimmers, als wären sie Streusplitt, deutlich hörbar landeten. Somit war ich schon allein durch das Mich-Hineinplumpsenlassen in die verdreckten Regionalzugpolstersitze, ohne auch nur einen Meter gefahren zu sein, in meiner eigenen Vergangenheit angekommen.

Jetzt, wo ich hier vor dem Tor stehe und mich frage, wie er wohl nach all den Jahren ausschaut, mein Frankenschein, wie ich ihn bespitznamt habe, sehe ich uns beide, so wie wir damals ausgeschaut haben, vor dem Tor stehen, das, im Unterschied zu uns, heute noch ganz genauso wirkt wie damals. Sehe sein glänzendes, massives Resopalgesicht, die den Geruch von Kuhstall und verbrannter Milch verströmende, hellblond verfilzte Bauerngenickmatte, deren Spitzen sich am Kragen seines braunen Plastikanoraks einringeln wie frittierte Erdäpfellocken, und den Oberlippenflaum, der aussieht wie ein eingetrockneter Kleinkindermilchbart. Halb sieben in der Früh war es. Ich war eine Dreiviertelstunde vor Arbeitsbeginn da, weil meine Mutter meinte, es mache ein gutes Bild, am ersten Arbeitstag sehr früh zu erscheinen, es sei wichtig, vor dem Chef da zu sein, als Zeichen der Motivation, der Vorfreude auf die Arbeit, der Kadaverfleißigkeit, die von einem Lehrling, der ja einem Betrieb kaum nichts bringt, wie sie immer sagte, erwartet wird, und weil der Chef meistens immer früher als zum offiziellen Arbeitsbeginn erscheine, müsse man sicherheitshalber noch früher erscheinen als er, was ihrer Meinung nach eine Dreiviertelstunde früher war. Vor allem am ersten Arbeitstag müsse man ein gutes Bild machen, das bestmögliche, hatte sie gesagt. Das hatte wohl die Mutter meines zukünftigen Arbeitskollegen Frank Sonnenschein auch zu ihm gesagt, weil er zur gleichen Zeit wie ich vor dem verschlossenen Holztor an der Rückseite des Gebäudes aufgetaucht war. Wir nickten einander zu, traten, die Hände in die Jacken gesteckt, von einem Fuß auf den anderen und warteten. Es war Herbst. November. Kurz nach Allerheiligen. Über dem Torbogen hing ein Holzschnitt. Unter der Abbildung Vorschlaghämmer schwingender Stahlarbeiter mit kantigen Gesichtern und klobigen Gliedmaßen stand in Kurrentschrift: Arbeit adelt. Das kam mir von Anfang an nicht geheuer vor.

2

Dass ich hier stand, lag in einem bedauerlichen Zwischenfall begründet, wie es der Direktor der höheren technischen Bundesleeranstalt bei der Vorladung meiner Erziehungsberechtigten genannt hatte, der circa sechs Monate davor passiert und der damals, zumindest in meiner Erinnerung, so abgelaufen war:

Augustin, Berger, Buresch, Dachs. Mit dem Aufrufen dieser vier Namen hat jeden Montag Früh die Schulwoche in besagter höheren technischen Bundesleeranstalt angefangen, in die mich die Schulpflicht jeden Montag Früh hineinzugehen gezwungen hat, um nach den vier aufgerufenen Namen auf das Aufrufen meines Namens zu warten und meine Anwesenheit dem diensthabenden Fachlehrer mit einem Hier zu bestätigen. Ich kann mich zwar an kein einziges zu den Namen gehörendes Gesicht mehr erinnern, aber die Namen und die Reihenfolge werde ich nie vergessen. Augustin, Berger, Buresch, Dachs, hat der Fachlehrer aufgerufen, mit einem öligen Bleistiftstummel in der Hand, einen zweiten hatte er immer hinter einem Ohr stecken, das Gesicht in das Klassenbuch vertieft, gleich nachdem die Glocke geläutet und der Sekundenzeiger geradezu spöttisch seine Runden gedreht hat über mir wie ein eiernder Deckenventilator in einem Detektivfilm der fünfziger Jahre. Augustin, Berger, Buresch, Dachs, die Aufgerufenen antworteten flott, fast vorauseilend, um keine Zeit zu verschwenden oder zu verlieren, an die der eiernde Sekundenzeiger die Anwesenden ermahnte, dann kam schon mein Name aus dem Mund des Fachlehrers mit den buschigen Augenbrauen, die ihm wie Vorhangkordelquasten von den Augenbögen hingen und die er mit Gesichtsmuskelzuckungen erfolglos aus seinem Blickfeld zu wischen versuchte. Da hilft nur rausreißen, dachte ich beim Anblick der die Zuckungen auslösenden Augenquasten des Fachlehrers. Den ganzen Tag während des Aufenthalts in dem Schulgebäude dachte ich eigentlich ans Rausreißen, aber nicht nur ans Rausreißen der Augenquasten des Fachlehrers, sondern daran, mich selbst rauszureißen, endlich rauszureißen aus diesem mir aufgezwungenen Zustand, zu dem ich gesetzlich zwar verpflichtet war, den ich aber eigentlich nicht mehr aushielt. Rausgerissen zu werden ist das eine, sich selbst rauszureißen das andere. Ich hatte von bleibenden – irreversiblen – Schäden gehört, die bei frühzeitigem Verlassen mutmaßlich sicherer Umwelt entstehen können, anhaltende, immer wiederkehrende Schwächezustände bis hin zum vorzeitigen jähen Absterben könnten demnach auftreten, wie der plötzliche Kindstod bei sogenannten Frühchen. Schon in der Früh beim Aufstehen, als mir die Mutter durch die Haare gefahren war und wo ich mir werktags auch immer wie ein Frühchen vorkam – allerdings eines mit Stimmbruch und nächtlichen Samenergüssen –, witterte ich meine Chance, mich an diesem Morgen aus dem Pflichtschuljahr und somit aus der Maschinenbauklasse der höheren technischen Bundesleeranstalt, und zwar praktischerweise beim montäglichen Werkstättenunterricht, rauszureißen und meine Schullaufbahn, wie man so schön sagt, endgültig zu beenden. Die Hoffnung keimte nach dem Aufwecken durch die Mutter und dem anschließenden ruckartigen Aufrichten meines Oberkörpers und beim Sitzen auf der Bettkante, meine Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, die Stirn in die Hände gelegt, und zwar in Form eines Bluttropfens, der mir aus der Nase rann, kurz an der Nasenspitze hängen blieb und zwischen meine Füße auf den mit Klarlack versiegelten Fischgrätparkettboden klatschte. Instinktiv legte ich meinen Kopf sofort leicht in den Nacken und spürte, wie mir das Blut über den Gaumen in den Rachen rann. Aufsparen und durchhalten!, dachte ich, bis zur Anwesenheitskontrolle des Fachlehrers durchhalten!, dachte ich sofort und: Unauffällig bleiben, damit die Mutter und meine Schulverderber nichts merken, das kann ja nicht so schwer sein, dachte ich, weil die Mutter es gewohnt ist, dass ich in der Früh nichts mit ihr rede, und die Schulverderber sind es gewohnt, grundsätzlich nichts mit mir zu reden, außer Augustin vielleicht, der, mit dem pflichtbewussten Mitgefühl des ersten Ministranten einerseits und dem Solidaritätsgefühl des Eisstockschießvereinsmitglieds seines Bauerndorfs andererseits ausgestattet, mich manchmal, nicht immer, in ein Außenseiteraufmunterungsgespräch verwickelte und damit einer Schikane eines anderen Schulverderbers, zum Beispiel Buresch, heldenhaft zuvorkam und diese verhinderte. Musste von mir also nur noch die Hürde des von der Mutter hergerichteten Frühstücks genommen werden, was ein großes Häferl Kakao und ein in der Mitte auseinandergeschnittenes Honigbrot war, weil ab sofort jeder Tropfen Blut, der aus meinen Nasengängen rann, wie ich dachte, für die Effektverstärkung bei meinem Rausreißplan im Rachen aufgesammelt werden musste. Ich wartete, bis meine Mutter aufs Klo ging, ließ gewissermaßen schweren Herzens Honigbrot und Kakao auf dem Küchentisch stehen und lief aus der Wohnung. Auf dem Weg von zu Hause zum Bahnhof ließ ich das sich in meinem Mund ansammelnde Blut voll Vorfreude mit den Wangen von einer Seite des Mundes zur anderen schwappen.

Der Schulverderber nahm Anlauf und trat mir mit den Stahlkappenschuhen, die wir alle im Werkstättenunterricht tragen mussten – genauso wie die uniformen Blaumänner –, in den Arsch. Fast hätte ich mich verschluckt, mehr vor Schreck als vor Schmerz, der Schmerz war mir ja bekannt, weil es nicht der erste Arschtritt gewesen war, den ich kassiert hatte, ganz im Gegenteil! Vielmehr konnte ich an der Intensität des Schmerzes und daran, an welcher Stelle und in welchem Winkel die Stahlkappen der Schuhe meiner Schulverderber in meinen Arsch einfuhren, ohne hinzuschauen sagen, wer der Arschtreter gewesen war, machten sich meine Schulverderber sogar einen zusätzlichen Spaß daraus und schlossen Wetten ab, ob ich es schaffen würde, den Arschtreter ohne hinschauen zu erraten, und zur Freude des betreffenden Arschtreters erriet ich es immer. Aber dieses Mal konnte ich es nicht erraten, doch, erraten konnte ich es schon, nur sagen konnte ich es nicht, weil mein Rachen zu dem Zeitpunkt schon mit so viel Blut aus meiner Nase angefüllt war, dass ich nicht einmal mehr den Mund schließen konnte und ich den Unterkiefer unnatürlich nach vor schieben musste, sodass die Schulverderber den Eindruck hatten, ich mache mich mit dieser Grimasse über sie lustig und sie mich deshalb mit noch mehr Anlauf und in den unglaublichsten Winkeln geradezu akrobatisch in den Arsch hineintreten zu müssen glaubten, und deshalb die Stahlkappen der Sicherheitsschuhe im Sekundentakt auf meine hinteren Oberschenkel, Arschbacken und auf mein Steißbein prasselten. Der circa dreißig Meter lange Gang wurde mir aufgrund des morgendlichen Stahlkappenniederschlags mindestens doppelt so lang, einige Male knickte mir ein Bein weg und ich kippte seitlich nach vorne, dass mir das Blut aus der Nase zu rinnen drohte und ich den Kopf, um nicht aufzufliegen, übertrieben in den Nacken legen musste, um das Blut wieder in den Rachen zu leiten, was mir von den Schulverderbern wiederum als Hochnäsigkeit ausgelegt wurde und sie dazu veranlasste, die Arschtrittfrequenz noch weiter zu erhöhen undsoweiter undsofort. Der Blaumann aus hautfeindlichstem Gewirk wetzte handtellergroße Flächen meines Unterleibs blutig, und das ist ja nichts, wofür man sich schämen müsste.

Merke: Der Fleiß des Arbeiters adelt dessen Körper mit von Schweiß aufgeweichten dicken Schrunden.

Erst als hinter dem grün lackierten Werkstättentor der graue Arbeitsmantel des Fachlehrers sichtbar wurde, ließen die Schulverderber von mir ab. Ich ging, während die anderen noch vor dem Tor zusammenstanden und plauderten und lachten und das Wochenende Revue passieren ließen, zu dem mir am Anfang des Schuljahres – nach alphabetischer Reihenfolge – zugewiesenen Platz an der Werkbank vor den Schraubstock, machte die Schubladen darunter auf und tat so, als würde ich die Feilen nachzählen, denn das Wichtigste in dieser mir völlig fremden Werkstättenwelt schien die korrekte Anzahl und Position der Feilen, Hämmer, Körner, Winkel, Schiebelehren und Haarlineale in den dazugehörigen fix verbauten Schablonen der Werkbankschubladen zu sein und dieses Werkzeug und die Arbeitsflächen penibel sauber zu halten, aber dafür im Gegensatz dazu die Hände und Fingernägel, Blaumänner und -mäntel penibel, aber angemessen dreckig. Die Werkstättenwelt charakterisierten außerdem rechte Winkel, gerade Linien, Pünktlichkeit, kurze Pausen, die in diesen kurzen Pausen übertrieben hastig hinuntergeschlungenen mit Polnischer Spezial gefüllten Wurstbrote, der Geruch von Getriebeöl, Bohrmilch, Metallstaub und das Verbot von Menschenmaterialermüdung. Ich stellte mir vor, wie meine alt und nostalgisch gewordenen Schulverderber ihren auf ihrem Schnürlsamthosenschoß sitzenden Enkeln von der Schulzeit erzählen würden: Diese Kameradschaft! Dieser Zusammenhalt! Diese Hetz! Das hat es später nur mehr beim Militär gegeben!

Die Glocke schepperte den Unterricht ein. Die Schulverderber eilten zu ihren Plätzen, hielten ihren Rücken gerade und sich selbst an ihren Schraubstöcken fest und ich bekam vor lauter Blut im Mund schon fast keine Luft mehr. Der Fachlehrer mit den Vorhangkordelquastenaugenbrauen und dem hinter dem Ohr eingeklemmten Bleistiftstummel stellte sich an den Kopf der Werkbank, bückte sich über das Klassenbuch und begann, ohne aufzuschauen, mit der obligatorischen Anwesenheitskontrolle und den damit einhergehenden Gesichtsmuskelzuckungen. Augustin!, sagte er, und Augustin sagte: Hier!, Berger!, sagte er, und Berger sagte Hier!, Buresch!, sagte er, und Buresch sagte nichts, Buresch spielte mit dem Schraubstock, darum schrie ihm Berger ins Ohr: Buresch!, Buresch erschrak und sagte Ja, Hier!, und noch mal: Hier!, und gleich darauf sagte Dachs Hier!, noch bevor der Fachlehrer ihn aufgerufen hatte, was die Anzahl der Gesichtsmuskelzuckungen in dessen Gesicht steigerte, obwohl ihm in diesem Moment gar keine Augenbrauenquasten in die Augen hingen. Er machte eine kurze Pause, in der er seinen Kopf zuerst ein wenig nach links, dann nach rechts legte, und sagte meinen Namen. Ich sagte nichts. Er schaute nicht auf und sagte noch mal meinen Namen. Ich sagte nichts. Die anderen sagten auch nichts. Es war uncharakteristisch ruhig für eine Werkstättenatmosphäre. Er hob den Kopf, schaute mich an und sagte ihn noch einmal. Die anderen schauten mich auch an. Ich sagte nichts. Die Schulverderber schauten den Fachlehrer ernst und betroffen an, drehten sich zu mir her und grinsten. Der Fachlehrer verschränkte die Arme vor seiner Brust und holte Luft. In dem Moment, in dem er mit seiner Rede anheben und mich somit zusammenscheißen wollte, ließ ich meine Knie ruckartig einknicken, fing mich mit den abgewinkelten Armen an der Werkbank auf und zog mich wieder hoch. Ich hielt mich mit einer Hand am Schraubstock fest, den anderen Arm ließ ich seitlich an meinem Körper herunterbaumeln. Ich wankte und tat so, als würde es mich recken. Einmal. Zweimal. Beim dritten Mal drehte ich mich zur Seite, machte einen Ausfallschritt und spuckte fast alles, was ich den Morgen über so sorgfältig in meinem Rachen aufgesammelt hatte, in Richtung Schulverderber.

Merke: Freund und Feind sind in der eigenen Mundhöhle auszumachen.

Dachs und Buresch duckten sich weg und bekamen nur ein paar Spritzer ab. Berger traf ich voll im Gesicht und an der Schläfe, Augustin sprang in Richtung Fachlehrer, der die Arme, die er vor der Brust verschränkt gehabt hatte, hochriss, als wollte er einen Ball fangen. Der Großteil des Blutes war dunkel, fast schwarz, dickflüssig und mit Rotz und Schleim vermischt. Der blutige Schlatz klebte Berger in den Haaren, auf seiner Schläfe, im rechten Auge und auf seinen zusammengepressten und somit weißen, blutleeren Lippen. Er stand zuerst nur da und bewegte sich nicht. Ich würgte, nach vorne gebeugt und auf meine Knie gestützt, den Rest, den ich in mir hatte, aus mir heraus. Das war uncharakteristisch für den schwarzen Werkstättenholzboden. Ich verdrehte die Augäpfel und ließ mich fallen. Mit geschlossenen Lidern hörte ich, zwischen all dem Geschrei, das ausgebrochen war, und den Kalmierungsversuchen des Fachlehrers, die jammernde Stimme des Berger und wie er sich mehrere Male ebenfalls werkstättenholzbodenuncharakteristisch auf diesen erbrach.

Die Schulverderber trugen mich, unter Aufsicht des Fachlehrers, dessen Gesichtsmuskeln jetzt nicht mehr zuckten, sondern von dem Tumult verkrampft waren und ihn wie eine halb grinsend, halb weinend dreinschauende Holzperchtenmaske ausschauen ließen, mit denen im Winter bei den Krampusläufen von meist völlig betrunkenen Perchtenvereinsmitgliedern und selbst ernannten Traditionsbewahrern vor allem kleinen Kindern mit viel Gebrüll, Kuhglockengeläute und der Androhung von Verschleppung in finstere Höhlen eine Todesangst eingejagt wird, in den Sanitätsraum. Der war kühl, ruhig, und weiß ausgemalt. Sie legten mich auf das frisch überzogene Klappbett und ließen mich alleine. Plötzlich musste ich lächeln. Ich wollte es mir verkneifen, sicherheitshalber, ich wollte nicht, dass der schöne Schreckenseffekt verloren geht, aber ich schaffte es nicht, ich lächelte. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich gelächelt habe und ob ich noch gelächelt habe, wie die Rettung eingetroffen ist. Nach einer kurzen und ergebnislosen Untersuchung durch den Notarzt wurde ich von dem Rettungswagen des Roten Kreuzes nach Hause gebracht. Ich ging in mein Zimmer und legte mich hin. Meine Mutter kochte mein Lieblingsessen – Germknödel mit Mohn, Staubzucker, dazu ein Suppenschöpfer flüssiger Butter – und brachte es mir ans Bett. Als ich am nächsten Morgen aufwachte und in die Küche ging, wo mir meine Mutter schon den Kakao und das Honigbrot hergerichtet gehabt hatte, sagte sie, an der Abwasch stehend und das Geschirr abwaschend: Warum lächelst du so?

Ein paar Tage blieb ich zu Hause, danach ging ich jeden Morgen außer Haus, schwänzte aber die Schule. Ich setzte mich auf eine Bank, beobachtete die Volksschulkinder und ihre sorglosen Gesichter, um die ich sie beneidete, und wünschte mich in ihre kleinen Körper hinein. Ich begann mich zurückzuentwickeln. Im Fernsehen sah ich mir Kinderzeichentrickserien an und ließ mir von meiner Mutter Grießkoch machen – sie streute mir sogar den Kakao auf den vor mir angerichteten Teller, legte kleine Stücke Butter darauf und ließ mich den Löffel ablecken. Ich aß sorgfältig die obere, mit Kakao bestreute Schicht vom Grießkoch herunter, bis die darunterliegende weiße Grießkochschicht vollständig zum Vorschein kam, und ließ mir gleich wieder diese Schicht von der Mutter vollständig mit Kakao bestreuen undsoweiter undsofort … Mein Vater drehte sich derweil zu Seite und bekam einen gekünstelten Hustenanfall oder versteckte sein Gesicht hinter der Kleinen Zeitung. Mama ordnete meine aus der Tageszeitung herausgeschnittenen und datierten Busenbilder chronologisch und legte mir frische Unterhosen auf die Lehne meines Schreibtischsessels. Die Vorladung kam mit der Post.

Als Querulant war ich ein Fremdkörper in der Klassengemeinschaft, der, was am besten für alle Beteiligten sei, wie der Klassenvorstand mit dem einen Glasauge – der auch mein Geografielehrer war, mit Spezial- und Lieblingsgebiet Schottland, weil er sich in Schottland aufgrund einer Interrail-Reise, die er als Jugendlicher nach Schottland gemacht hatte, er alleine nach Schottland getrampt war, was er in jeder Geografiestunde zu betonen nicht müde wurde, verliebt hatte – bei der Vorladung meiner Erziehungsberechtigten sagte, nach diesem bedauerlichen Zwischenfall entfernt gehörte. Ich möge das verbleibende Schuljahr in der Parallelklasse beenden, sagte der Klassenvorstand. Sein echtes Auge zuckte während des Redens zwischen mir, meinem Vater und meiner Mutter, die in die hinter dem Klassenvorstand hängende Weltkarte gerade, wie ich spekulierte, auf Höhe der Anden vertieft war, hin und her. Das Lid über dem starr in die Luft schielenden Glasauge blinzelte nervös auf den faltigen Lidsack. So können wir eine hoffentlich konfliktfreie Ausscheidung aus der Schule ermöglichen, sagte der Klassenvorstand. Bei dem Wort Ausscheidung musste ich mir den Klassenvorstand vorstellen, wie er am Lehrerklo sitzend versuchte, stöhnend seinen eingeklemmten Stuhl herauszudrücken. Mein Vater schüttelte energisch den Kopf. Diese Anstalt ist nichts für meinen Buben. Hier machte mein Vater eine Pause, in der er den Klassenvorstand und Geografielehrer in Personalunion in einer Mischung aus Mitleid und Abscheu musterte wie eine Katze, die man in Jauche getunkt hatte, beugte sich nach vor und klopfte dreimal auf den Tisch. Er wurde lauter. Über die Normschrift zum Normmenschen!, sagte er, nicht wahr? Die Worte Entbildungsstation, Geistesnivellierung und Lebenszeiturasserei fielen laut und dem Klassenvorstand auf den Kopf. Dem war es peinlich, wie mein Vater mit seinem Kelomat-Charakter in meiner Anwesenheit mit ihm redete, und mir war es peinlich, dass es dem Klassenvorstand in meiner Anwesenheit peinlich war. Der Kelomat-Charakter des Vaters hatte oft zu Peinlichkeiten geführt, für mich, dem Vater waren Peinlichkeiten fremd, er sagte immer nur: Das ist typbedingt. Trotzdem, seine Überzeugung war, egal was man tut, Hauptsache man tut was, und was man einmal zu tun angefangen hat, ist fertigzutun, Ende der Diskussion. Darum sagte der Vater, seine Rede abschließend: Mein Sohn bleibt bis zum Schluss, schlug mir mit der rechten Hand auf den Oberschenkel, was zu bedeuten hatte, dass wir hier fertig waren, und stand auf. Ich spürte, wie sich der Prankenabdruck meines Vaters auf meinem Oberschenkel abzuzeichnen begann. Meine Mutter und ich standen auch auf. Sie schaute immer noch konzentriert auf die Weltkarte, jetzt in der Höhe des Nordpols. Mein Vater nickte, drehte sich um, ging zur Tür raus und ließ den mit dem einen gesunden Auge doppelt verdattert dreinschauenden Klassenvorstand und Geografielehrer sitzen. Wir sind im Gänsemarsch hinter ihm her. Beim Hinübergehen zu den Gästeparkplätzen fragte mich meine Mutter, die die ganze Zeit kein Wort gesagt hatte: Was ist dir heute zu Mittag lieber: Krautfleckerl oder Wurstnudeln oder was Süßes? Ich zuckte mit den Schultern. Wir stiegen in den weißen Opel Kadett und fuhren los. Durch das Seitenfenster sah ich Schülertrauben in mehreren Gruppen vor dem Schulgebäude mit der giftgrünen Plattenfassade in ihren Birkenstockschlapfen herumstehen, die Hände wegen der feuchten Herbstkälte in die Hosentaschen gesteckt und die Arme an den Oberkörper gepresst, die nur zum kurzen Nuckeln an der Zigarette davon gelöst wurden. Bei diesem Anblick befiel mich ein Rest-Ekel, wie wenn man an ein vor Jahren verspeistes Backhendl denkt, bei dem der Koch vergessen hat, die Haut wegzuschneiden, und die einem nach dem genüsslichen Hineinbeißen in den knusprigen Haxen wie ein genoppter Gummi am Gaumen picken geblieben ist.

Ich ging also wieder hin. Das Ablaufdatum meiner Schulpflicht vor Augen verlieh mir aber eine Gelassenheit, die meine Schulverderber abschreckte, oder vielleicht war ich durch meinen fingierten Blutsturz in der Werkstätte unantastbar geworden – quasi mit einem Ekelschutzschild ausgestattet? Egal, auf jeden Fall ließen sie mich in Ruhe und beäugten mich nur argwöhnisch. Das weckte leider das Interesse der anderen, mit denen keiner etwas zu tun haben wollte, an mir. Sehen die anderen Getretenen und Ausgemusterten, wie du selbst getreten und ausgemustert wirst, suchen sie in ihrem Solidarisierungszwang deine Nähe, um dich in ihren Club der Getretenen und Ausgemusterten einzugemeinden. Sieht man sich die Zwangsmitglieder dieses Vereins genauer an, muss man leider sagen, dass sie aufgrund ihrer Marotten und ihrer sozialen Inkompatibilität im Allgemeinen mit gutem Grund getreten und ausgemustert werden, und ist es deshalb nur natürlich, dass sich die Mitglieder untereinander noch viel schlimmer treten, als sie vorher getreten wurden. Einer von ihnen, der Arme hieß Julius – man hieß nicht Julius, man hieß Martin, Andreas, Pauli oder Karli, aber sicher nicht Julius –, vier Jahre älter als ich, wohnte in der Nachbarschaft, kannte mich also vom Sehen, weshalb er mich auf dem Weg von der Siedlung, in der wir wohnten, zum Bahnhof, vom Bahnhof zur Schule, in den Pausen und auf dem Weg von der Schule zum Bahnhof und retour zur Siedlung in einem Abstand von fünf Metern auf Schritt und Tritt verfolgte, wie man so schön sagt. Er redete nicht, sprach mich auch nie an. Wartete nur, bis ich vorbeikam und schlurfte dann mit Sicherheitsabstand hinter mir her. Er stand an der Kreuzung vor dem Verkehrsspiegel neben dem Schülerlotsen, der, in leuchtgelbe Regenmontur gekleidet und eine Plastikhaube auf dem Kopf, die Volksschulkinder vor dem Überrollen durch den Ort durchfahrende Sattelschlepper bewahren sollte. In einer Hand hielt Julius eine Aktentasche, die sonst nur sogenannte mittelalterliche Bürohengste in ihrer Hand tragen, in der anderen einen dicken Block Kantwurst, an dem er mit den wegen seines Überbisses dick gelb belegten Schneidezähnen herumkiefelte. Seine Lippen waren immer mit Speichel benetzt, an der herunterhängenden Unterlippe zog sich meist ein dünner Speichelfaden zu seinem geflüchteten Kinn, wo er sich nach und nach zu einem Tropfen formte, der ihm über den Truthahnhals hinunterlief, um endlich von seinem Hemdkragen, der wie die Flügel eines Papierfliegers aus dem V-Ausschnitt seines beigen Pullunders herausschaute, aufgesaugt zu werden. Einmal, warum auch immer, überkam es ihn auf dem Schulhof, lachen zu müssen. Die für ihn völlig ungewohnte körperliche Reaktion des Lachens schien ihn zu erschrecken. Er zuckte zusammen, die ausgestoßene Luft blähte die Spucke auf seinen glasig schimmernden Lippen auf wie eine Seifenblase. Gleich nach dem Zerplatzen der Speichelblase brachen sowohl die nebenstehenden Schulverderber als auch der Club der Getretenen und Ausgemusterten gleichzeitig in ein Gelächter aus, ein schallendes