Blinde Augen - Anja König - E-Book

Blinde Augen E-Book

Anja König

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Beschreibung

Was, wenn du der einzige überlebende Mensch weit und breit bist? Was, wenn du doch nicht allein bist? Von einer Sekunde auf die andere wurde fast die komplette Menschheit ausgelöscht. Selen wandert allein durch die nun mehr ausgestorbene Zivilisation von Deutschland und Österreich. Auf den Weg in ihre Heimatstadt, um ihre Familie zu suchen, begegnen ihr unzählige Gefahren. Aber auch ein mysteriöser Mann und ein seltsamer schwarzer Hund, der viele Rätsel in sich birgt. Wird sie in dieser toten neuen und gefährlichen Welt überleben? Wird sie dem Rätsel der Apokalypse auf die Spur kommen? Um die Antworten zu bekommen muss sie eine Zweckgemeinschaft mit den beiden eingehen und lernen zu überleben. Dieses Buch ist der erste Teil einer Tetralogie. Die den Kampf von fünf Menschen auf fünf Kontinenten erzählt, welche nicht unterschiedlicher sein könnten. In einer verlassenen Welt, welche nun mehr von mythologischen Wesen jeglicher Art bewohnt wird. Jeder durch seine Vergangenheit gezeichnet und mit besonderen Begabungen ausgestattet, kämpft um das Überleben. Dabei müssen sie dem Rätsel auf der Spur kommen, weshalb die Menschheit sterben musste. Doch lernen sie auch sich gegenseitig zu vertrauen?

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Anja König

Blinde Augen

Rat der Fünf

© 2020 Anja König

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-09672-1

Hardcover:

978-3-347-09673-8

e-Book:

978-3-347-09674-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

1. Kapitel 10. Tag nach dem Verschwinden der Menschen

Und dann wurde es still!

Die junge Frau schlug die Augen auf. Wieder hatte sie einige wenige Stunden geschlafen, doch der Traum hatte sie geweckt. Die Nächte schlief sie schon seit Tagen nur noch sehr schlecht. Jedes Mal weckte sie dieser Traum auf und ließ sie dann nicht wieder einschlafen. Das Adrenalin überschwemmte ihren Körper und ihr Herz raste. Auch tagsüber konnte sie nicht in Ruhe schlummern. Der Traum verhinderte es. Jedes Mal musste sie die schlimmsten Augenblicke in ihrem Leben aufs Neue durchstehen.

Ächzend stütze sie sich auf. Jeder Knochen tat ihr weh. Die letzte Nacht war schrecklich und grauenhaft gewesen. Wieso konnte sie nicht ruhig schlafen? Der Traum war jedoch nur ein Problem, warum sie nicht schlafen konnte. Seit einigen Tagen sah sie immer wieder seltsame Kreaturen, die sich auf sie stürzten. Warum jagten diesen Kreaturen sie unaufhörlich? Der Stress ließ sie immer unruhiger werden. Dies verband sich nicht sehr gut mit ihrer Wanderung über die letzten zehn Tage. Seit dieser Zeit war sie unaufhörlich auf der Straße unterwegs und hatte mit niemanden mehr geredet. Keiner hatte ihren Namen mehr genannt – genauso gut konnte sie auch ihren Namen einfach vergessen, es würde eh niemanden interessieren - oder hatte sie umarmt. Die Einsamkeit umklammerte ihr Herz immer stärker. Sie war allein und nichts und niemand konnte es mehr ändern.

Während sie diesen Gedanken nachhing, stand sie auf. Die Muskeln waren schmerzhaft verkrampft. Seit zehn Tagen hatte diese junge Frau nicht mehr in einem richtigen Bett gelegen. Allerdings hatte sie die letzte Nacht von Salzburg verbracht und würde bald darauf in Wien sein. Dort konnte sie bestimmt in einem schönen, weichen Bett schlafen – in ihrem Zuhause. In der Nähe von ihrem Zuhause konnte sie auch ihre Eltern und ihre jüngere Schwester begraben. Ein Friedhof befand sich in der Nähe der Wohnung ihrer Eltern.

Stöhnend streckte sie sich und setzte sich in Bewegung. Nachdem sie aus der Höhle getreten war, in welcher sie die Nacht verbracht hatte, musste sie die Hand schützend an ihre Stirn legen. Die Sonne schien so grell, dass es in ihren Augen wehtat, während sie zugleich angenehm ihre Haut erwärmte. Es war jetzt Mitte Oktober, wahrscheinlich handelte es sich um einen der letzten warmen Tage. Sobald die Tage kälter werden würden, würde es auch schwerer werden in den Alpen vorwärts zu kommen. Schnee konnte ab jetzt jeden Tag kommen und leider war ihre momentane Kleidung nicht für diese Witterungsbedingungen ausgelegt.

Daher musste sie so schnell wie möglich nach Hause. Dort befand sich ihre gesamte Kleidung für den Winter, zusammen mit den Überresten ihrer Familie. Der Gedanke an ihre Familie stach ihr ins Herz. Wenn ihre Familie das gleiche zugestoßen war wie dem Rest der Menschheit, dann wusste die junge Frau, was sie zu tun hatte. Doch darüber wollte sie sich jetzt lieber keine Gedanken machen. Prüfend schaute die Frau in den Himmel. Es schien ein sonniger Tag zu werden.

Schnell verzog sie sich zurück in die Höhle. Sie musste jetzt unbedingt was essen. Ihr Magen grummelte laut. Sie ging zu ihrem Rucksack. Darin mussten sich etwas von dem Brot und der Wurst von gestern befinden. Nachdem sie sich gemütlich hingesetzt hatte – sofern das auf kargem Felsen möglich war –, begann sie zu essen. Mühsam zwang sie das altbackene Brot runter. Der trockene Klumpen ließ sich kaum runterschlucken. Ihr Mund war ausgetrocknet.

Nach einer Weile hatte sie alles runtergekaut. Doch quälte sie nun der Durst. Schnell nahm sie einen Schluck aus ihrer fast leeren Wasserflasche. Sie musste sich unbedingt was neuen Lebensmitteln und Wasser besorgen, am besten bevor die Sonne unterging. Ihr Rucksack gab kaum noch etwas her.

Erschöpft trat sie aus der Höhle und schaute in das Tal hinab. Früher – sowie man zehn Tage als früher bezeichnen konnte - gehörte dieses Tal zu dem Land Österreich, doch jetzt war es ein riesiger Friedhof.

Langsam und tief in Gedanken versunken, zog sie ihre alten Wanderschuhe, welche sich direkt neben ihren Rucksack standen, an. Mist, die haben schon Löcher am Rand bekommen. Ich muss mir unbedingt neue suchen. Anscheinend werde ich heute also in eins der Kaufhäuser gehen – hoffentlich sind nicht so viele Menschen dort. Mit einer Hand nahm sie den Rucksack und schnallte die Riemen ihres Wanderrucksacks über ihre Schultern, bevor sie den Berg hinunterstieg.

Während sie wanderte, bemerkte sie Kühe, die friedlich auf der Alm grasten. Die junge Frau überlegte, ob sie vielleicht eines der Tiere melken sollte, aber das würde zu lange dauern, da ihr die nötige Erfahrung fehlte, außerdem würden die Kühe sie wahrscheinlich angreifen. Sie begannen unruhig zu werden, wenn die junge Frau an den Feldern nur vorbeiging.

Bisher hatte sie sich noch gut anhand ihrer Erinnerung vorwärtsbewegen können. Allerdings kam sie jetzt in etwas unbekanntere Gebiete. Daher brauchte sie neben Lebensmittel unbedingt noch eine Karte von Österreich. In der Ferne konnte sie eine kleine Stadt sehen. Da gab es bestimmt einen Supermarkt und eine Buchhandlung, wo sie schauen konnte, wie weit es bis nach Wien war, und vielleicht konnte sie ein paar Bücher mitnehmen. Um jetzt überleben zu können, brauchte sie Bücher über die Wildnis hier in Mitteleuropa. Zur Unterhaltung würde sie in den nächsten Jahren keine Zeit mehr haben und dann würde sie immer noch genügend Gelegenheiten haben Bücher dieser Art zu besorgen. Um das Geld dafür brauchte sie sich keine Gedanken mehr zu machen.

Nach fast zwei Stunden hatte sie die Stadt erreicht. Schon von weitem spürte sie die Stille, die wie ein unheilvolles Wesen in den Straßen lauerte. Die Vögel verstummten mit ihrem Zwitschern. Der Wind flaute ab und das Rascheln der toten Blätter legte sich. Die Stille drückte auf ihre Ohren.

Mit steigender Verzweiflung musste sich die Frau zwingen, einen Schritt nach den anderen zu machen. Selbst nach zehn Tagen kostete es sie Überwindung, Reste der menschlichen Zivilisation zu betreten. Die verwesenden Leichen der Menschen erzeugten einen immer stärkeren Brechreiz. Vor allem der Gestank hatte es ihr angetan.

Während sie durch die Stadt ging, schaute sich die junge Frau um. Überall standen Autos herum. Viele waren ineinander verkeilt. Über den meisten Lenkrädern hingen toten Menschen. Als wären alle im selben Moment eingeschlafen. Ihre Köpfe hingen zum Teil in einem unnatürlichen Winkel zur Seite. Die Haut sah durch die grünlichen Adern wie Marmor aus, nur machte der Verwesungsgeruch in der Luft klar, dass dem nicht so war. An der Unterseite der Leichen hatte sich das Blut durch die Schwerkraft angesammelt. Nach und nach würde sich der Zersetzungsprozess durch das gesamte Fleisch fressen bis nur noch Knochen übrig blieben.

In einigen Monaten würde die Frau sich wie in dem Vorspann zu Terminator vorkommen, wenn die Roboter über die unzähligen menschlichen Schädel fuhren. Jetzt jedoch hatten die Leichen erst damit begonnen zu verwesen.

Langsam ging sie weiter durch die Straßen und stieg dabei über eine Vielzahl von Leichen, die auf den Wegen lagen. Die tote Stadt verwilderte zusehends. Schon jetzt konnte die Frau das erste Anzeichen erkennen. So lagen Massen von Blättern auf der Straße herum. Viele Leichen waren sogar von ihnen vollständig bedeckt wurden.

Während die Frau die Straßen entlanglief, entdeckte sie auf einmal eine Buchhandlung. Vielleicht konnte sie hier eine Karte von der näheren Umgebung und einige Bücher für die Abende, wenn die Sonne noch nicht untergegangen war, finden.

Als sie in den Bücherladen trat, schlug ihr eine Wolke Verwesungsgeruch entgegen. Unter dem freien Himmel war der Gestank nicht so schlimm, durch den Wind wurde er davongetragen, doch hier musste die Luft die ganze Zeit gestanden haben.

Die Klimaanlage lief zweifellos seit Tagen nicht mehr. An der Theke befand sich die Leiche einer jungen Frau. Die Augäpfel quollen aus ihren Höhlen hervor. Ihr Gesicht sah aus, als würde sich ein grünes Spinnennetz darüber spannen, aber es waren nur die verfärbten Adern. Das schwarze Haar der jungen Frau war von hinten nach vorne geflossen und verdeckte nun einen Teil des Gesichtes. Von der Nase und dem Mund war Blut herausgeflossen, das nun getrocknet war. Eine Made kroch gerade aus der Nase in Richtung des erloschenen Auges. Durch die Bewegungen von diesen Insekten sah es so aus, als würde die Tote noch leben.

Der Buchladen an sich sah zum größten Teil noch vollständig intakt aus. Als konnte jeden Moment ein Mensch hereinkommen und sich ein weiteres Buch kaufen. Wahrscheinlich würde in ein paar Jahren dieser Laden durch die Witterungsbedingungen komplett verwüstet sein. Schnell wandte sich die junge Frau ab. Obwohl sie es jetzt so oft gesehen hatte, sie würde niemals über den Anblick einer Leiche hinwegkommen. Als sie sich dem Kartenständer zuwandte, bemerkte sie, dass überall Postkarten herumlagen. Auf diesen erkannte sie wunderschöne Motive von der Stadt. Eine Kirche aus den 17. Jahrhundert befand sich in einen grünen Park voller Blumen. Ein Schloss stand auf einen kleinen Hügel. Man konnte von hier aus, bequem das Tal überblicken.

Doch jetzt fiel der Blick der Frau nur auf tote Menschen und Zerstörung. Leider konnte sie nicht jedem einzelnen ein ordentliches Begräbnis zukommen lassen, die Zeit reichte nicht aus. Doch in einigen Jahren würden nur noch Skelette übrigbleiben und es hätte sich somit erledigt. Wenigstens ihre Eltern und ihre Schwester wollte die Frau beerdigen. Das einzige was sie noch für ihre Familie tun konnte. Sie hoffte nur, dass sie sie gleich finden würde. Es würde verdammt schwierig werden, wenn ihre Familie in ganz Wien verteilt war. Wien war riesig und drei einzelne Menschen zu finden, war ein Ding der Unmöglichkeit.

Leider konnte sie keinen Plan von der Region in diesem Laden auftreiben. Wahrscheinlich musste sie sich erneut der Frau zuwenden.

Je näher sie der Leiche kam, desto schlimmer wurde der Gestank. Mehr als einmal musste Selen das Brot und die Wurst wieder runterschlucken, da sie meinten, aus ihrem Körper rauszuwollen.

Letztendlich stand sie neben der Leiche und schaute sich in ihrer Nähe um. Die Hände der Frau lagen noch auf der Tastatur ihres Laptops und das Gerät selbst befand sich im Standbymodus. Ganz langsam hob Selen die toten Hände von der Tastatur und fuhr den Computer hoch. Langsam tippte sie den Suchbegriff Österreich ein, doch als sie Enter drückte, zeigte der Laptop nichts an. Natürlich war das Internet ebenfalls gestorben. Also musste Selen sich was anderes einfallen lassen.

Vielleicht würden auch ein Atlas und eine Straßenkarte als Notlösung herhalten. Schnell schaute sie sich um. Ein trauriger Zufall kam ihr zu Hilfe. Der Blick der jungen Frau blieb an einem umgekippten Regal hängen. Hinter diesem Bücherregal lag ein etwa zwölfjähriges Mädchen. In der Hand hielt es eine Kinderversion von einem Atlas. Die junge Frau ging zu dem armen Mädchen hin, das keine Chance gehabt hatte, erwachsen zu werden, ebenso wie die Frau nie mehr die Möglichkeit haben wird, das Kinderlachen einer Tochter oder eines Sohns zu hören.

Sie war alleine auf der Welt – neben den unheimlichen Kreaturen, die nach dem Tod der Menschheit aus ihren Löchern krochen. Zum Glück waren ihr bisher nicht sehr viele über den Weg gelaufen und selbst diese Begegnungen waren unerfreulich gewesen.

Als sie sich neben das Mädchen kniete, betete sie stumm um die Seele der Toten. Mit einem schnellen Blick blätterte durch den Atlas. Dann nahm sie kurzentschlossen und ohne weiteres Nachdenken das Kinderbuch in die Hand und steckte es in ihren Rucksack. Nach einem weiteren Blick durch die Buchhandlung verließ sie das Geschäft. Nach diesem kleinen Erfolgserlebnis wollte sie nicht noch nach Unterhaltungsliteratur für die Abende stöbern. Sie hatte dazu keine Zeit und keine Lust.

Entschlossen für die nächste Etappe wollte sie aus dem Geschäft treten, doch da stand ein großer, knurrender Hund auf dem Absatz vor der Eingangstür des Buchladens. Das Fell war struppig und matt, doch musste es mal eine gesunde schwarze Farbe gehabt haben. Der schwarze Hund war vielleicht einmal ein schönes Tier gewesen – sofern man es bei dem ganzen Dreck überhaupt sagen konnte. Allerdings hatte sich das ehemals zahme Tier verändert, so wie sich der Rest der Welt verändert hatte. Die Lefzen nach hinten gezogen, schaute der Hund sie aus roten Augen böse an. Vorsichtig hob die junge Frau die Hände und wollte sich in den Buchladen zurückziehen, doch sobald sie einen Schritt nach hinten trat, kam der Hund einen Schritt nach vorne. Er roch wahrscheinlich ihre Furcht. Schon früher hatte sie immer Angst vor Hunden gehabt und jetzt wurden die Tiere noch aggressiver. Das würde ihre Angst zu einer Phobie werden lassen. Das konnte die junge Frau schon jetzt prophezeien.

Mit jedem Schritt, den Selen zurück in den Laden ging, kam der Hund ihr entgegen. Auf einmal spürte sie einen Bücherstapel neben sich. Im selben Moment sprang der Hund auf sie zu. Mit einer schnellen Bewegung warf sie den Bücherstapel um, in der Hoffnung das Tier damit zu treffen. Sie musste ihn irgendwie aufhalten, bevor sie verletzt wurde. Der Hund war jedoch schneller als gedacht. Seine Zähne schlossen sich um ihren Unterarm und gruben sich in ihr Fleisch. Kurz darauf wurde der Hund von den Büchern begraben und ließ sie los. Sofort begann er zu winseln. Wahrscheinlich hatte er nur Hunger gehabt. Seit zehn Tagen mussten alle Haustiere ums Überleben kämpfen und langsam kamen die Urinstinkte zu Tage.

Schnell flüchtete die Frau aus der Buchhandlung und machte sich auf die Suche nach einem Supermarkt. Das Adrenalin und die Angst vor dem Hund verhinderten, dass sie sich in diesem Moment beschäftigen wollte, wie stark ihr Arm verletzt war. Nach einem Augenblick blieb sie kurz stehen und schaute zurück. Auf der ganzen Straße war ihr Blut verteilt. Sie brauchte Verbandszeug. Sonst würden wilde Tiere auf sie aufmerksam werden.

Eine Straße weiter fand die Frau einen Supermarkt. Als sie eintrat, wehte ihr auch hier der Geruch von verwesenden Körpern entgegen.

Sie musste sich beeilen, ansonsten würde ihr das Essen hochkommen. Schnell packte sie einige Lebensmittel ein. Sie brauchte welche, die länger haltbar waren. Leider gab es keine genießbaren frischen Lebensmittel wie Gemüse oder Obst mehr. Auch das Fleisch von der Frischtheke hatte eine grüne Farbe angenommen. Jetzt musste sie nun auf das Gemüse und die Fleischpasteten aus den Konservendosen und Hartwurst zurückgreifen. Selbst die Brote waren zu hart, um sie noch zu essen. Es fühlte sie in diesem Moment wie Stehlen an. Doch Stehlen war nicht der richtige Begriff dafür. Sie konnte es sich jetzt einfach nehmen.

Während sie darüber nachdachte, ebbte die Aufregung vom Angriff des Hundes ab und sie bemerkte, wie stark ihr Arm blutete. Sie musste unbedingt in eine Apotheke, Desinfektionsmittel und Verbandszeug holen. Die konnte sie, gleich nachdem sie mit dem Supermarkt fertig war, suchen.

Umsichtig packte sie einige Lebensmittel und einfache Pflaster ein. Als sie bei der Getränkeabteilung vorbeiging, holte sie sich Wasserflaschen. Dann war ihr Rucksack auch so gut wie voll. Am Ende würde sie noch einen kleinen Wagen brauchen, mit dem sie ihre Nahrungsmittel hinter sich herziehen konnte. Außerdem musste sie noch einige Hygieneartikel mitnehmen, die für sie absolut notwendig werden würden. Ansonsten hätte sie in spätestens einem knappen Monat das unerfreuliche Problem für Frauen bekommen. Sie musste dafür gewappnet sein.

Zusätzlich nahm die Frau ein paar Rollenb von Küchenpapier und begann es vorsichtig auseinanderzurollen. Dann begann sie vorsichtig ihren Arm zu umwickeln. Das sollte sie Blutung etwas aufhalten bis sie zu einer Apotheke kam und richtiges Verbandszeug sich besorgen konnte.

Als sie schließlich bei der Tiernahrung vorbeiging, erwachte ihr Mitleid mit dem Hund. Würde der Hund überleben? Oder war er zu schwer verletzt? Sollte sie ihm vielleicht doch helfen? Nach diesen kurzen Überlegungen gewann es gegen ihre Angst. Zusätzlich legte die Frau zwei Portionen Hundefutter in der Dose in ihren Rucksack, der schon jetzt schwer war, und ging zurück zum Buchladen. Die Portionen sollten zumindest ein bisschen den Hunger des Hundes verringern. Vielleicht war der Hund kurz vor dem Verhungern gewesen, weswegen er sie angegriffen. Sobald sie das Hundefutter dem Hund gegeben hatte würde sie sich endgültig nach einer Apotheke umschauen. Dann war auch ihr Gewissen beruhigt und konnte sich nach ihrem Verarzten gleich weiter auf den Weg nach Wien machen.

Der Hund lag in der gleichen Position wie vorher unter den Büchern. Wahrscheinlich war er ausgehungert. Er konnte sich kaum noch regen. Doch als sie eintrat, schauten seine Augen sofort zu ihr und er begann zu knurren. Schnell öffnete sie ihren Rucksack und förderte die zwei Portionen Futter zutage. Die Dosen hatten zum Glück einen Ring, sodass man sie per Hand öffnen konnte. Die junge Frau schüttete ihren Inhalt vor dem Hund aus. Sofort schienen neue Lebensgeister in ihm geweckt zu werden und er stürzte sich auf das Fleisch.

Vollkommen ins Fressen vertieft, bemerkte der Hund nicht mal, wie sie leise aufstand und davon schlich.

Jetzt musste sie wirklich eine Apotheke finden, denn ihr Arm blutete immer stärker. Sie musste schon jetzt aufpassen, dass ihr Blut nicht auf ihre Kleidung tropfte. Sie würde das Blut nicht mehr herausbekommen und wäre für die wilden Tiere schon von weiten riechbar sein. Krampfhaft hielt sie den Unterarm gegen ihre Brust gepresst. Sich umherschauend ging die junge Frau die Straßen entlang. Warum fand man nie eine Apotheke, wenn man sie am dringendsten benötigte? Vielleicht, wenn sie in Richtung des Stadtkerns lief. Wenige Minuten später hatte sie ihn erreicht. Mit einem schnellen Blick schaute sie sich um und wurde tatsächlich fündig. Eine kleine Apotheke stand dort direkt vor ihren Augen.

Auch diesmal begrüßte sie der allgegenwärtige Geruch von toten Menschen. Nach und nach gewöhnte sie sich daran, wenn sie ihm längere Zeit ausgesetzt war, egal wie grausam und widerwärtig er ihr in die Nase kroch. Zügig ging sie in den Hinterraum der Apotheke.

Überall verstreut lagen Medikamente herum. Anscheinend waren diesen Kreaturen schon hier gewesen und hatten die Apotheke geplündert, doch es gab zum Glück noch Verbandszeug und Antibiotika. Durch einen einfachen Rundumblick entdeckte sie das Desinfektionsmittel.

Mit zusammengebissenen Zähnen reinigte sie ihre Wunde. Der Hund hatte einen beeindruckenden Zahnabdruck hinterlassen. Sie konnte ihm allerdings noch immer nicht böse sein, sie verstand ihn sogar. Jetzt, wo die gesamte Menschheit zugrunde gegangen war, sorgte sich niemand um ihm. Kein Wunder, dass er sie aus Verzweiflung angegriffen hatte.

Als sie die Wunde endlich nach einigen Minuten gereinigt hatte, betrachtete sie sie genauer. Sie kannte sich nicht mit Verletzungen aus, aber sie hoffte, dass es nicht genäht werden musste. Die Haut war aufgerissen, schlimmer als jede Schramme, die Selen zuvor erlitten hatte, aber das Fleisch klaffte nicht auseinander. Die Zähne hatten sich so kraftvoll in ihren Arm reingebohrt, dass sie sogar ab und zu etwas Weißes mitten im Blut aufblitzten sah. Der Hund war bis auf den Knochen vorgedrungen. Zusätzlich waren neben dem Wunden noch mehrere Blutergüsse zu sehe, welche schon jetzt dunkelrot waren. Vorsichtig verband sie sich den Arm. Als sie fertig war, musterte sie ihr Werk. Selbst wenn sie beide Augen zudrückte und es mit gutem Willen betrachtete, konnte sie das nicht als einen guten Verband ansehen, doch es musste reichen. In den Filmen waren die Verbände fein säuberlich und ineinander überlappen. Allerdings ging ihr Verband kreuz und quer. Weiterhin hingen einzelne Lagen lose herunter. Dieser Verband wird nicht lange halten. Heute abend musste sie diesen erneuern.

Jetzt sollte sie sich überlegen, was sie noch gebrauchen konnte.

Am besten wäre es, wenn sie für alle Eventualitäten vorbereitet wäre. Mit diesem Gedanken packte sie einige Schachteln Grippe- und Magentabletten und Verbandszeug ein. Vielleicht waren noch Schmerztabletten gut eine gute Idee. Bestimmt würde sie von dem Leichengeruch noch eine heftige Migräne bekommen. Nachdem sie alles verstaut hatte, passte nichts mehr in ihrem Rucksack hinein. Er war kurz vor dem Platzen. Die Frau stemmte ihn hoch und ächzte dabei. So schwer er auch war, so konnte sie für einige Tage weiterwandern, ohne eine weitere Stadt aufsuchen zu müssen.

Die junge Frau kehrte nun wieder auf den Marktplatz zurück. Kurz blieb sie wie angewurzelt stehen. Vorhin war sie vollständig auf die Apotheke fixiert gewesen, aufgrund ihres Bedürfnisses Medikamente zu finden. Jetzt war ihr Blick auf die vielen Leichen liegen geblieben. Bei keinen einzigen Menschen waren sichtbare Verletzungen zu sehen. Ein ähnliches Bild sah sie seit zehn Tagen in jedem kleinen Dorf oder Stadt. Nur dass es da viel grauenhafter gewirkt hatte, weil die Menschen alle aussahen, als würden sie schlafen, obwohl sie tot waren. Selen war zu diesem Zeitpunkt mit einigen ihrer Studienfreunde auf dem Oktoberfest gewesen. Mit einem Mal übermannte sie die Erinnerung.

Gerade hatte die Band in dem Zelt begonnen, ein altes Lied von ACDC zu spielen. T.N.T war eines von ihren Lieblingssongs.

Zusammen mit den anderen Menschen grölte sie den Refrain mit. Viele Menschen tanzten auf den Tischen und Bänken.

Thomas, ihr Freund, schaute sie dabei mit glasigen Augen an. Er hatte mal wieder zu viel getrunken und würde morgen nicht mehr wissen, was er heute tat – was ihr die Galle hochtrieb. Doch wenn sie versuchte, jetzt abzuhauen, würde sie spätestens in den Vorlesungen auf ihn treffen und musste sich dafür zu rechtfertigen.

Auf einmal hörte die Band auf zu spielen und mit einem verwirrten Blick zum Podest, konnte Selen erkennen, dass alle Bandmitglieder über ihre Stühle und Instrumente zusammengesunken waren. Sie glaubte, die Schemen von fünf Personen zu erkennen, dann wurde es schwarz … und still.

Die Tränen stiegen ihr bei dieser Erinnerung in die Augen. Egal, was passiert war, die Menschheit hatte es nicht verdient. Mit dem Handrücken wischte sie sich über ihre Stirn. Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken. Entschlossen schulterte sie den Rucksack und begann mit einem Blick auf ihre Armbanduhr loszulaufen. Sie hatte nicht mehr viel Zeit. Bald würde die Sonne untergehen und dann musste sie außerhalb der Stadt und in einem Versteck sich befinden.

Nach einigen Metern meinte sie, das Tapsen von Pfoten zu hören, doch als sie stehen blieb, blieb es still. Sie ging weiter und wieder ertönte das Tapsen, sodass sie abermals stehen blieb. Langsam drehte Selen sich um. Hoffentlich war es nicht ein weiterer streunender Hund, der es auf sie abgesehen hatte. Ein Biss reichte ihr. Endlich konnte sie ihn sehen, doch es handelte sich nicht um irgendeinen Hund, sondern der aus dem Buchladen.

Jetzt stand er in einigen Schritt Abstand vor ihr und wedelte mit seinem Schwanz. Angstvoll ging sie einen Schritt zurück. Allerdings trat der Hund auch diesmal einen Schritt vorwärts und bellte sogar. Er spürte ihre Angst vor ihm und begann zu reagieren. Sein wedelnder Schwanz bekam die Form eines Propellers.

Als die Frau gegen eine Häuserwand stieß, konnte sie sich nicht mehr auf den Beinen halten und sank auf ihre Knie. Der Hund sah so furchterregend aus. Er würde sie bestimmt gleich anfallen. Seine Augen waren starr auf sie gerichtet. Ihre Angst wandelte sich langsam, aber sicher in Panik. Würde sie hier und jetzt sterben?

Auf einmal rannte der Hund auf sie zu und begann ihr Gesicht abzulecken. Wollte er etwa seine Dankbarkeit ausdrücken? Hatte sie sich so in ihm getäuscht? Er drückte seinen Kopf und Körper immer wieder gegen sie, als würde er sich freuen. Vorsichtig berührte sie mit der Hand sein Fell. Sofort rollte der Hund sich auf den Rücken, sodass sie seinen Bauch kraulen konnte. Mit zitternder Hand begann sie die Streicheleinheiten. So bemerkte sie, dass der Hund ein Rüde war.

„Feiner Junge“, murmelte sie unsicher, „Du bist ein feiner Junge!“

Eine kleine Weile kraulte sie ihn weiter. Beim Betrachten des Sonnenstands stand sie auf. Sie hatte kaum noch Zeit. Bald würde es dunkel werden. Sie drehte sich um und lief los. Den Hund ließ sie zurück. Als sie ein paar Schritte gelaufen war, bemerkte sie, dass der Hund ihr folgte. Brav ging er neben ihr her, so als wäre nie etwas passiert und Selen sein Frauchen.

Sie schluckte heftig. Sie, die schon immer Angst vor den unterschiedlichsten Haustieren hatte, als Frauchenersatz. Hunde waren für sie die bösen Wesen aus der Unterwelt und Katzen die Inkarnation des Teufels. Ihre Eltern und ihre Geschwister hatten sie deswegen immer belächelt. Da schien ihr dieser Hund wie ein zynischer Witz des Schicksals. Argwöhnisch schaute sie auf das Tier runter. Sie nahm einen Stock in die Hand und schaute auf den Hund herunter. Er sah sie ganz erwartungsvoll an. Vielleicht sollte sie ihn apportieren lassen und sich dann schnell verstecken. Abwegig wog sie den Stock kurz in der Hand, bevor sie ihn möglichst weit wegwarf. Der Hund sprintete hinterher. Schnell drehte sich die junge Frau weg und rannte in die nächste Seitenstraße hinein. Wenn der Hund sie nicht mehr sah, würde er vielleicht sie ihn Ruhe lassen. Nachdem es eine Weile still war, ging die junge Frau weiter. Allerdings kam sie nur bis zur nächsten Ecke. Plötzlich stand der Hund wieder vor ihr und hielt den Stock in seinem Maul. Sein Schwanz wedelte hin und her. So einfach wurde sie ihn doch nicht los. Anscheinend hatte er sie wirklich zu seinem Frauchen gemacht.

Wenn der Hund ihr jetzt überall hinfolgte, musste sie noch mehr Hundefutter besorgen, aber ihr Rucksack war schon randvoll. Sie wusste nicht, wie sie Platz schaffen sollte. Vielleicht musste sie einige andere Sachen zurücklassen. Noch hatte die Dämmerung nicht eingesetzt. Ihr blieb noch etwas Zeit.

Sie ging in den Supermarkt zurück und packte einige Packungen Hundefutter ein. Dafür ließ sie einige Magentabletten aus der Apotheke da. Sofort wedelte der Hund mit dem Schwanz und winselte. Anscheinend hatte er immer noch Hunger. Das passte gut, denn je mehr er jetzt fraß, umso weniger musste sie schleppen. So öffnete Selen drei weitere Dosen und schüttete sie auf den Fliesen aus. Der Hund stürzte sich auf der Stelle auf das Futter. Anscheinend war er wirklich knapp vor dem Verhungern gewesen.

Innerhalb weniger Minuten war das Futter vollständig verschwunden. Nicht ein Krümmel blieb zurück. Sofort wirkte der Hund lebendiger. Vorsichtig tastete Selen nach dem schwarzen Halsband, das sich kaum von dem Fell abhob und so bisher von ihr unentdeckt geblieben war. Sie schaute nach, was auf der Erkennungsmarke stand. Zuerst stutzte sie, doch dann musste sie lächeln, das erste Mal seit zehn Tagen. Anscheinend hatte das frühere Frauchen oder Herrchen einen schrägen Sinn für Humor gehabt. Der Hund, dessen Fell eine tiefschwarze Farbe trug, hieß Darkness.

„Hallo Darkness, mein Name ist Selen.“

2. Kapitel Nacht des 10. Tages nach Verschwinden der Menschen

„Man sagt, der Weg des Krieges sei ein doppelter Weg:

Weg des Schwertes und der des Schreibpinsels.“ - Miyamoto Musashi, Das Buch der Erde

Nachdem sie bereit waren, stand Selen auf und verließ den Supermarkt. Sofort folgte Darkness ihr. Anscheinend hatte sie jetzt einen Begleiter. Während sie kurz über Darkness‘ Kopf streichelte, schaute sie sich um. Sie musste anscheinend ihre Pläne ändern. Sie konnte heute nicht mehr in einer Höhle übernachten. Dafür blieb einfach keine Zeit mehr, bevor es dunkel wurde. Doch jetzt stand sie hier in einer Kleinstadt. Es gab unzählige Übernachtungsmöglichkeiten.

Wenn sie in einer der Wohnungen übernachtete, konnte sie wieder in einem richtigen Bett schlafen. Sie musste unbedingt mal wieder mit Wasser in Berührung kommen, indem sie ein paar Wasserflaschen über sich auskippen konnte, und vielleicht konnte sie versuchen, vorsichtig Freundschaft mit Darkness zu schließen. Wenn sie mit einem Hund unterwegs war, sollte die Verbindung zu ihm nicht nur auf dem Fressen fußen. In der jetzigen Welt brauchte sie keinen Hund, der zu jedem hinging und sich streicheln ließ. Wenn sie schon einen Begleiter hatte, mussten sie sich gegenseitig beschützen können. Also brauchte sie eine richtige Beziehung zu ihm aufbauen. Während Selen weiterging, schaute sie sich suchend um. Besser wäre es, wenn sie etwas am Stadtrand fände, dann konnte sie zur Not in den Wald flüchten. Man wusste nie, was über Nacht passieren würde. Sie musste vorsichtig sein. Einerseits konnte jetzt wilde Tiere hinter jeder Ecke sich verstecken. Und dann waren noch diese fremdartigen Kreaturen.

„Hast du Lust, mit mir mitzukommen?“, fragte Selen den Hund. Darkness bellte sie an, als würde er sie verstehen. „Na dann, los.“

Sobald Selen losmarschierte, folgte ihr der Hund auf den Fersen. Während sie zwischen den Häusern entlangging, sah sie überall die Tote. Es war ein trauriger Anblick. Selen blickte die Straße entlang. Sehr oft waren die Fenster der kleinen Läden kaputt. Meistens war ein Auto hineingekracht, teilweise waren daraufhin Brände ausgebrochen. Die verkohlten Überreste der Gebäude sahen aus wie die Skelette von Dinosaurier. Einzelne Stahlträger waren durch die verrußten Ziegel hindurchgebrochen. Ein wahres Trauerspiel.

Mit heftigem Kopfschütteln ging sie weiter. Sie durfte sich nicht ablenken lassen. Egal wie schrecklich die unterschiedlichsten Anblicke waren, sie brauchte jetzt eine Unterkunft. Auf einmal dachte sie an die ersten Tage nach dem Massensterben zurück. Am Anfang hatte sie noch die Hoffnung gehabt, einen lebenden Menschen zu treffen. Allerdings schwand sie von Tag zu Tag, während sie nichts als Tod fand. Sie musste sich mit einem Leben in Einsamkeit abfinden.

Auf einmal schoss ihr eine Idee durch den Kopf: Vielleicht konnte sie irgendwo in den Alpen in einer kleinen Almhütte wohnen, sich einige Tiere halten und versuchen, so zu überleben. Stimmt, das konnte sie machen. Da konnte sie frühzeitig sehen, wenn irgendjemand sich nähern würde. Je nachdem ob der Besucher Freund oder Feind war, konnte sie sich rechtzeitig bereit machen. Sie musste nur noch lernen, wie man kämpfte.

Zügig ging Selen mit Darkness weiter. Nach einer halben Stunde erreichte sie endlich den Rand der Stadt. Dort entdeckte sie weitere Häuser ohne Beschädigungen. Auf den Boden vor einem Hause befand sich eine Frau, die anscheinend gerade einkaufen gewesen war, als sie gestorben war. Sie war kurz vor ihrem Ziel – die Eingangstür – ihrem Ende begegnet, da sie die Stufen vor einer Tür heruntergestürzt war.

Wie immer - ein Bild der Trauer. Zügig ging sie zu der Frau, konnte sie sehen, dass ihre Hand noch den Schlüssel vom Haus umfasste. Sie nahm ihn und trat zur Tür. Sich im Geiste entschuldigend, schloss sie auf und huschte ins Innere. Das Haus sah aus, wie aus einem Immobilienkatalog: unpersönlich, aber stilvoll und sauber. Anscheinend war die Frau erst kurz vor ihrem Tod eingezogen.

Es gab ein riesiges Wohnzimmer, in dem ein großer Fernseher stand, doch den brauchte Selen nicht, da es keine Sender mehr gab. Anscheinend war Darkness es gewohnt, sich vor einen Fernseher zu hocken, egal, ob der an war oder nicht, denn der Hund sprang sofort auf das Sofa davor und legte sich bequem hin. Selen musste schmunzeln. Darkness schien sich nicht daran zu stören, dass nur eine schwarze Fläche zu sehen war.

Behutsam stellte Selen ihren Rucksack neben Darkness auf den Boden und begann sich im restlichen Haus umzuschauen. Es war zweistöckig, wobei sich die Schlaf- und das Badezimmer auf der zweiten Etage befanden. Letzteres benutzte sie gleich. Endlich konnte sie sich richtig duschen – hoffte Selen zumindest. Obwohl das Wasser eiskalt war, freute sie sich darauf und würde sich vielleicht sogar die Haare waschen. Sie konnte es regelrecht vor ihrem inneren Auge sehen. Doch zuerst musste sie probieren, ob überhaupt Wasser aus dem Duschkopf kam. Zuerst passierte nichts, aber nach wenigen Sekunden rüttelte der Kopf und kaltes klares Wasser kam heraus. Ein kleiner Seufzer entfuhr ihr. Schnell zog Selen sich ihre verdreckte Kleidung aus und sprang unter die Dusche. Als sie das Wasser anstellte, verschlug es ihr den Atem: Es war schmerzhaft kalt. Selen musste sich nur beeilen, bevor sie blau anlief. Doch sie biss die Zähne zusammen und begann sich zu waschen. Anscheinend befand sich noch ein Restdruck in der Wasserleitung, weswegen das Wasser herausfloß. Schon jetzt konnte sie das Nachlassen von dem Wasserdruck spüren. Sollte sich Selen eine Hütte in den Bergen suchen, brauchte sie einen großen Wasserspeicher, um ab und zu ein Bad nehmen konnte.

Nach nicht einmal zehn Minuten stieg Selen aus der Dusche und zog sich an. Zum Glück hatte sie sich noch saubere Wäsche hingelegt. Sie war erfrischt und fühlte sich wieder wie ein Mensch – wenn sie vielleicht die letzte Überlebende war. Ein bisschen Galgenhumor konnte nie schaden.

Als sich die Frau nach unten begab, sah sie, dass sich Darkness nicht einen Zentimeter bewegt hatte. Er hechelte laut und schaute sie erwartungsvoll an. Fast so, als würde er darum flehen, in diesem Haus bleiben zu können. Während sie auf Darkness runterschaute, ging ihr durch den Kopf, dass sie vielleicht die Nacht verbringen mussten. Darkness würde sich nicht ein Stück mehr bewegen.

Sie ging in die Küche und schaute sich um. Der Kühlschrank war nicht gefüllt, nicht mal mit verschimmelten Lebensmitteln, sondern leer und blitzblank. Anscheinend hatte die Frau gerade den ersten Einkauf für ihr neues Haus getätigt. Also musste Selen etwas von ihren Lebensmitteln opfern oder sie musste Diät machen. Selen konnte sich nicht die Zeit nehmen, nochmal in die Stadt zu gehen. Sie musste so zügig wie möglich weiterziehen, um nach Wien zu gelangen. Daher war es vielleicht besser, wenn sie vorsichtiger mit ihren Vorräten umging. Doch wenn die Frau keine Lebensmittel in ihrer Küche besaß, waren vielleicht andere Gegenstände in den Regalen und Schränke, die ihr weiterhelfen würden. Teller, Dosenöffner oder auch Messer. Selen stöberte durch die Küche.

Plötzlich stieß sie auf Messer – viele Messer. Anscheinend hatte Frau ein Faible für scharfe Klingen gehabt. Es handelte sich um japanische Messer und sie waren so scharf, dass man Knochen mit einem Schnitt zerteilen konnte. Schon ein leichter Druck auf die Kuppe ihres kleinen Fingers ließ ihr Blut hervorquellen. Solche Messer fand man nicht so häufig in deutschen Küchen. Sie fielen vielleicht sogar unters Waffengesetz – nicht, dass es noch jemanden gäbe, der das Gesetz durchsetzen würde.

Ich glaube, ich werde diese Messer noch mal benötigen. Ich könnte sie als Waffen verwenden. Entschlossen nahm Selen alle zehn Klingen in ihre Hände und ging damit in das Wohnzimmer, wo Darkness nach wie vor dem Sofa saß. Sie legte die Messer auf dem Esstisch ab und machte sich auf die Suche nach Garn und anderen Utensilien.

Als sie ins Schlafzimmer der Frau kam, überraschte sie der Anblick. Die Besitzerin war anscheinend eine Japanliebhaberin gewesen. Auf der Fensterbank stand ein echtes Samuraischwert – ein Katana, soweit Selen das beurteilen konnte. Umherschauend ging sie zur Fensterbank und nahm es in die Hand. Als sie das Schwert aufgeregt aus der Scheide zog, wurde sie enttäuscht, da das Schwert nicht geschärft war.

Tja, immer wieder eine Freude mit den Einfuhrgesetzen. Nie konnte man irgendwelche gefährliche Sachen aus dem Ausland importieren dürfen. Tja, jetzt ging das ja ohnehin nicht mehr. So ein Mist. Trotzdem würde sich Selen diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Vielleicht konnte sie es auf irgendeine Art schärfen. Sie hatte die ganze Nacht Zeit, es auf die eine oder andere Art zu schärfen.

Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, schaute sie ihr neues Waffenarsenal an. Die Messer konnte sie an ihrer Kleidung anbringen. Sie holte sich einige von den Klamotten von der Frau aus einem Schrank und schnitt sie in Streifen, denn sie brauchte Schutzvorrichtungen, sonst schnitt sie sich am Ende noch die eigene Haut von ihrem Körper. Nachdem Selen die Messer umhüllt hatte, befestigte sie sie mit Nadel und Faden an der Kleidung an ihrem Körper. Eins an ihrem Oberarm und eins an ihrem Oberschenkel. Sie sah aus wie Lara Croft, fand sie nach einem Blick in den Spiegel.

Jetzt hatte sie noch vier Messer übrig. Zwei befestigte sie an ihrem Rücken und eins jeweils an ihrem anderen Oberarm beziehungsweise Oberschenkel. Langsam verwandelte sie sich in einem einzigen Messer.

Nachdem sie sich einen Messerschärfer aus der Küche geholt hatte, setzte sie sich mit dem Katana neben Darkness und begann, die stumpfe Klinge zu bearbeiten. Sie wusste nicht, wie lange sie dasaß und das Schwert schärfte. Immer wieder führte sie den Schärfer auf der Klinge entlang. Das laute metallreibende Geräusch stieg ihr mit der Zeit in die Ohren. Wenn Selen jetzt so genau darüber nachdachte, fühlte es sich an, als wären Tage vergangen, doch es waren nur Stunden, bis das Schwert scharf war. Zumindest so, dass sie damit problemlos die Haut anritzen konnte. Leider erreichte es nicht die Schärfe der Messer, doch sie konnte das Gerät mitnehmen und an den kommenden Abenden ihrer Reise das Schwert weiterbearbeiten. Sie musste jetzt nur lernen, wie man mit dem Katana umging, damit es nicht nur ein elendes Rumgefuchtel wie in diesen amerikanischen Filmen wurde.

Mittlerweile war es dunkel geworden und Selen wollte das Katana in der Nacht weiterschärfen. Darkness hatte sich an ihr Bein gekuschelt und schien zu schlafen. Plötzlich begann der Hund zu zucken und richtete sich auf. Irgendwas hatte ihn aufgeschreckt. Schnell erhob sich die junge Frau auf ihre Füße und auch der Hund sprang vom Sofa und begann zu knurren. Irgendwas kam auf sie zu und es war ihnen nicht freundlich gesonnen.

Verdammt, warum bin ich nur hierhergekommen?! Jetzt haben sie mich gefunden. Ich muss aus diesem Raum raus, hier sitze ich sonst in der Falle, aber wenn ich raus renne, können sie sich von allen Seiten auf mich stürzen. Verdammt, verdammt, verdammt.

Voller Angst blickte sie sich um und da kam ihr eine Idee. Sie musste in die zweite Etage, wo man sie nur von einer Seite angreifen konnte, nämlich von der Treppe aus. Die Fenster wären zuweit oben, als das jemand einfach so hochspringen konnte. Trotzdem müsste sie die Fenster gegen Eindringlinge sichern. Daraus folgend wäre der Angriff nur von einer Seite aus möglich. Mit dem gezückten Katana in der Hand lief sie nach oben. Darkness folgte ihr auf dem Fuß. Als sie oben ankam ging sie in das Schlafzimmer und räumte die Möbel in dem Zimmer so gut es ging zur Seite.

Nach fast fünf Minuten erhielt sie eine kleine freie Fläche und hatte das Fenster mit der Matratze vom Bett abgedeckt. Allerdings wurde es dadurch stockdunkel im Zimmer. Sie brauchte Licht – und das dringend. Sie tastete sich vorwärts und fand den Lichtschalter. Aus der Macht der Gewohnheit betätigte sie ihn. Aber es passierte nichts. Klar, der Strom war schon seit fast sieben Tage nicht mehr vorhanden. Sie hatte die lauten Explosionen von nicht kontrollierten Kraftwerken in der Ferne gehört. Sie benötigte eine andere Lichtquelle. Da lief ihr ein kalter Schauer den Rücken runter. Wie zur Bestätigung begann auch Darkness zu knurren. Es war hier und es wollte ihr Blut.

Der Mann, das Tier, war dem Duft seit fünf Tagen auf der Spur. Das erste Mal, als er den Duft wahrgenommen hatte, hatte er noch geglaubt, dass es sich um eine Fata Morgana handeln würde.

Es war ein Schock gewesen, als alle Menschen um ihn herum auf einmal Tod umgefallen waren. Nachdem der Mann sich mit seinem Oberhaupt besprochen hatte, wurde ihm das ganze Ausmaß der Katastrophe bewusst. Die gesamte Menschheit war innerhalb von einer Sekunde ausgestorben. Was war geschehen? Niemand wusste es.

Nachdem er einige Tage durch den südlichen Teil von Deutschland gestrichen war, war ihm dieser Duft in die Nase gestiegen und hätte ihn fast umgehauen. Neben dem stärker werdenden Verwesungsgeruch der toten Menschen, war dieser frische Geruch besonders ungewöhnlich. Als er seinem Oberhaupt davon berichtet hatte, befahl der ihm, diesen letzten Menschen einzufangen und zum Hauptsitz zu bringen. Er wollte diesen Menschen unter seinen Schutz stellen.