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Das Ende naht. Die Menschen und die Übernatürlichen stehen sich in einen finalen Kampf gegenüber. Doch die Menschen sind nicht vollständig. Der letzte von ihnen hatte sich noch nicht gezeigt. Würden sie sich rechtzeitig finden? Oder waren sie alle dem Untergang geweiht? Das konnte niemand sagen. Inklusive einer noch nicht veröffentlichten Kurzgeschichte: (Über-)leben in Pink
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Seitenzahl: 374
Veröffentlichungsjahr: 2023
Für meine Familie, dass sie bis zum Ende von dieser Serie tapfer durchgehalten haben.
Anja König
Stürmische Stille
Rat der Fünf
© 2021 Anja König
Druck und Distribution im Auftrag von Anja König:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback
978-3-384-03589-9
Hardcover
978-3-384-03590-5
e-Book
978-3-384-03591-2
Großschrift
978-3-384-03592-9
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor/die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine/ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors/der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Cover
Widmung
Titelblatt
Urheberrechte
Prolog
1. Kapitel - Acht Jahre vor dem Ende der Menschheit
2. Kapitel - September, ein Monat vor dem Ende der Menschheit
3. Kapitel, August, Jahr 4 nach dem Ende der Menschheit
4. Kapitel, August, Jahr 4 nach dem Ende der Menschheit
5. Kapitel, August, Jahr 4 nach der Menschheit
6. Kapitel, August Jahr 4 nach der Menschheit
7. Kapitel, August Jahr 4 nach der Menschheit
8. Kapitel, Oktober Jahr 4 nach der Menschheit
9. Kapitel, November Jahr 4 nach der Menschheit
10. Kapitel, Dezember Jahr 4 nach der Menschheit
11. Kapitel Dezember, Jahr 4 nach der Menschheit
12. Kapitel Wintersonnenwende, Jahr 4 nach der Menschheit
Epilog
(Über-)Leben in Pink
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Widmung
Titelblatt
Urheberrechte
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(Über-)Leben in Pink
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Prolog
Langsam kam der junge Mann wieder zu sich. Er wusste nicht, was vorgefallen war, und vor allem, wo er sich gerade befand. Wie war er an diesen Ort gekommen? Der Raum schaute aus wie das Innere eines alten Tempels. Überall waren Fresken von Menschen und Göttern zu sehen. Die Menschen beteten die Götter an und opferten ihre Kinder und Gefangenen. Jedoch konnten man nur noch einen Teil erkennen, da mächtige Wurzeln die Wände über die Jahrtausende hinweg zertrümmert hatten. Trotzdem wirkte der Tempel erhaben und herrschaftlich.
Erneut schaute er sich um. Er war in einem riesigen Käfig eingesperrt, zusammen mit etwa zwanzig anderen Menschen. Sie sahen teilweise ausgehungert und schmutzig aus. Wie lange befanden die sich denn schon hier?
Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war, dass er mit einer heißen Frau im Nachtclub geflirtet hatte. Sie schien angetan gewesen zu sein von seiner kleinen Lügengeschichte, dass er ein erfolgreicher Geschäftsführer war. Sie hatte sich ihm regelrecht an den Hals geworfen. In Wahrheit war er nur ein Postbeamter in einer Hinterwäldler-Poststelle.
Die Frau war mit ihm nach draußen gegangen. Er hätte es sogar fast geschafft, sie zu sich nach Hause und dort in sein Bett zu locken. Ihm waren schon die versautesten Fantasien durch den Kopf geschossen. Allerdings hatte sie sich dann zu ihm umgedreht und ihn angeschaut. Etwas war in ihren Augen aufgeblitzt, was ihn zurückschrecken lassen hatte, anschließend war es dunkel vor seinen Augen geworden.
Langsam stieg Panik in ihm auf. Würde er bis an sein Lebensende hier gefangen gehalten werden? Verdammt, niemand würde ihn vermissen. Schon seit Langem hatte er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie und eine Freundin hatte er nicht. Er wohnte allein in einer Einzimmerwohnung. Jetzt bereute er es, dass er nicht mehr seine Eltern und Geschwister sehen konnte und sich verabschieden.
Der Mann riss sich zusammen. Er befand sich an der Wand der Tempelhalle, in deren Mitte ein großer Kreis aufgemalt worden war. Er beinhaltete seltsam aussehende Schriftzeichen, die er nicht kannte. Sie sahen wie chinesische Schriftzeichen, kyrillische Buchstaben und noch ganz andere Symbole aus. Zusätzlich war um diesen Kreis eine ganze Reihe schwarze Kerzen aufgestellt. Sie brannten. Fast wie die satanischen Rituale aus dem Fernsehen.
War er hier in einen teuflischen oder archaischen Kult geraten? Er hoffte es nicht, denn da wollte er lieber nicht das Opfer sein. Wer wusste schon, woran diese Menschen glaubten und wozu sie bereit waren?
Sein Blick wanderte weiter. Jetzt konnte er sechs Menschen sehen, welche in pechschwarzen samtenen Kutten neben dem aufgemalten komplizierten Kreis standen. Einer von ihnen hatte zusätzlich weiße Zeichen aufgestickt. Anscheinend war das der Anführer der Gruppe.
Diese sechs Menschen standen zusammen über einen Zettel gebeugt, der einem Bauplan ähnelte, soweit er es erkennen konnte. Sie schienen sich zu beratschlagen, was sie machen wollten.
Dabei meinte einer, „Wird das uns auch wirklich genügend Macht geben? Schließlich rauben wir die Energien von den Menschen.“
Einer anderer merkte an, „Na ja, auch wenn sich bei einem Raub der größte Teil der Energie sich verflüchtigt, werden wir noch immer aufgrund der Menge einen enormen Machtgewinn haben. Und wenn es sich dann mit Menschen erledigt, dann kann es auch keine freiwillige Fusion mehr geben.“
„Was meinst du damit? Werden wir nicht die Mächtigsten der Welt sein?“
„Das auf jeden Fall. Aber sollte einer von uns sich mit einer menschlichen Seele freiwillig vereinen, dann steigt das Energielevel um einen Wert jenseits unserer Vorstellungskraft. Doch kein Mensch ist so dumm und gibt sich selbst auf. Somit sind wir zum Schluss immer die Gewinner“, lachte der Redeführer eiskalt.
Letztlich berieten sich die Kapuzengestalten noch ein paar Minuten, bevor sie sich zunickten und aufstellten. Auf einmal zückte einer der Menschen – er konnte nicht erkennen, ob sich unter den Kapuzen eine Frau oder ein Mann befand – einen Schlüssel und ging auf den Käfig zu.
Sofort begannen die Menschen hier zu wimmern, laut zu schreien und versuchten von der Käfigtür wegzukriechen. Sie hatten furchtbare Angst vor den Kuttenmenschen. Der Mann wusste, dass es nichts Gutes verhieß – für keinen von ihnen. Angespannt schaute er dem Menschen in der Kutte zu, wie er eine gefangene Frau an einer Seite des Käfigs ergriff und an den Haaren hinter sich herzog. Sie schrie und wimmerte angstvoll, doch zeigte der Mensch keine Gnade.
Während ein anderer der Kutten sie festhielt, befestigte er ein Stück Seil an den Knöcheln und zog die Frau schließlich kopfüber daran hoch. Als sie einen Meter in der Luft schwebte, bewegte sie sich panisch hin und her. Doch es half ihr nichts. Die Fesseln schnitten sich tiefer in die Haut, sodass das Blut die Arme herunterrann. Jedoch blieben die Kutten unbewegt und griffen nach einem scharfen Messer. Die Frau wimmerte und flehte um Gnade, aber es half ihr nichts. Erbarmungslos fuhr der Kuttenmensch mit seinem Messer über ihre Kehle.
Es ging so schnell, dass zuerst kein Blut aus dem Schnitt sichtbar wurde. Es dauerte über eine Sekunde, bis das Blut aus dem Schnitt herausquoll, doch dann floss es in Strömen. Die Frau röchelte noch ein paar Momente. Dann starb sie mit einem kompletten Erschlaffen der Muskeln, was zu einer letzten Entleerung ihres Körpers führte.
Das ausfließende Blut fing der Kuttenmensch in einer großen Wanne auf. Der Boden war mit den Fäkalien der Frau bedeckt, jedoch nicht einen Tropfen der roten Flüssigkeit. Als die tote Frau blutleer war, schnitt der Kuttenmensch sie ab und schleuderte sie achtlos in eine Ecke. Kurz schaute er zu den anderen Kutten. Die machten ein Zeichen zum Fortfahren, bevor er wieder zu den Käfigen ging. Innerhalb der nächsten Minuten zog er immer mehr Menschen heraus und leerte sie alle nacheinander auf dieselbe Weise aus. Die Wanne füllte sich stetig.
Schließlich war der Mann der Einzige, der übrig blieb. Die anderen waren alle tot. Er wusste, sein letztes Stündlein hatte nun geschlagen, doch wollte er nicht sterben. Seine Träume und seine Wünsche, endlich erfolgreich in seinem Social Media Account zu sein, waren nicht in Erfüllung gegangen. Er wollte doch noch so viel erleben, wie es ist reich zu sein, um einmal in der Karibik zu sein, oder mit mehreren Frauen ins Bett zu gehen. Warum hatte er nur mit dieser heißen Frau geflirtet?
Der Kuttenmensch kam jetzt auf ihn zu, als der Anführer die Hand hob. Sofort blieb die Kutte stehen und schaute sich um.
„Ich denke, wir haben jetzt genug. Wir benötigen noch jemanden Lebendiges hier, um zu sehen, ob das Ritual auch funktioniert. Wir dürfen jetzt keinen Fehler machen. Schließlich steht die Zukunft – unsere Zukunft auf dem Spiel“, hörte der letzte Gefangene den Anführer sagen.
Was hatte das zu bedeuten? Was wollte dieser Kult? Die Antwort würde er bald bekommen, da war sich der Mann sicher, denn inzwischen stellten sich die Kutten um den Kreis auf: fünf außen und der Anführer in der Mitte. Nach einem Augenblick begannen sie, Verse in seltsamen Sprachen aufzusagen. Sofort bildete sich ein schimmerndes Feld um diese Menschen, das sich stetig vergrößert. Im ersten Augenblick waren alle Farben der Welt zu sehen. Doch mit jeder Sekunde stieg in diesem Farbfeld schwarzer Rauch auf, der alles verschlang, was ihm im Weg stand. Im selben Moment spürte der Gefangene ein unangenehmes Gefühl in sich aufsteigen. Als würde eine Hitze und Kälte gleichzeitig aufsteigen. Zeitgleich krochen Millionen unsichtbarer Ameisen über seine Haut und in seinen Organen weiter. Zudem verkleinerte sich seine Sicht von Minute zu Minute.
Und dann ging alles rasant: Das Energiefeld zerfiel auf einmal oder es weitete sich explosionsartig aus. Er konnte es nicht erkennen. Aber er fühlte, wie etwas aus seiner Brust herausgerissen wurde – ein Teil von seinem Selbst.
Das Letzte, was er sah, war eine furchterregende Veränderung der Kuttenmenschen. Sie wurden größer und seltsame Auswüchse, die teilweise wie Tentakel aussahen. Da wusste er, dass die Menschen nicht allein auf dieser Welt waren. Es gab Wesen, die furchterregender als alle Horrorfilme der Welt zusammen waren. Dann wurde es schwarz um ihn.
1. Kapitel - Acht Jahre vor dem Ende der Menschheit
Auf dem Weg der Schwertkunst gibt es diejenigen, die, weil sie als Samurai die Samurai-Art nicht erfassen, vielerlei Täuschungen ausgesetzt sind und das ihnen nicht Begreifbare als die Leere bezeichnen.– Buch der Leere, Miyamoto Musashi
„Ayane, setz dich doch gerade hin. Lümmel dich nicht so in den Stuhl. Schlürfe nicht so und lächle“, hörte das zierliche Mädchen ihre Mutter streng sagen. Mein Gott, warum musste sie ihre Anweisungen wie Pistolenschüsse los feuern. Und das direkt am Esstisch, wo gerade die Bediensteten das Frühstück servierten.
Das Mädchen wollte schon mürrisch darauf reagieren, jedoch wusste sie, dass ihre Mutter umso strenger, sogar gemein werden würde. Immer wieder erklärte ihre Mutter ihr, dass sie einmal jemand Reiches und Machtvolles heiraten würde. Jemanden, der sehr viel Geld besaß und der sie in höhere Kreise bringen würde. Welche Kreise das sein sollten, wusste das kleine Mädchen nicht.
Doch insgeheim fand Ayane Jungs blöd. Die meisten Jungen in ihrer Schule wollten nichts mit Mädchen zu tun haben. Die spielten immer ihre doofen Piraten- oder Ritterspiele. Das war so öde. Ayane wollte jedoch auch nicht mit den Mädchen ihrer Schule spielen. Die wollten alle nur dümmliche Prinzessin oder reiche Erbinnen sein. Langweilig!
Sie hatte in ihren Märchenbüchern über Prinzessinnen gelesen. Die ließen sich immer nur retten und machten nichts selbst. Immer warteten sie auf den Prinzen. Wieso konnten sie sich denn nicht selbst retten? Total blöde Geschichten.
Nein, Ayane hatte mal in einem Lexikon etwas über Wissenschaftlerinnen gelesen. Als sie über Marie Curie und Chien-Shiung Wu gestolpert war, hatte sie diese ganzen Erkenntnisse, welche die Frauen entdeckt hatten, beeindruckt. Diese Frauen hatten Großartiges, so etwas wie die Entdeckung von Radioaktivität oder irgendein Experiment zum Nachweis von Verletzungen bei schwachen Wechselwirkungen in der Physik, geleistet und Ayane wollte auch mal so klug werden. Ihre Frau stehen und gegen die Weltanschauung der anderen ankämpfen.
Allerdings hatten ihre Eltern etwas anderes mit ihr vor. Ihr Vater sah in Ayane nur einen Gegenstand für seinen Machtzuwachs, wie er es einmal in seinem Arbeitszimmer zu jemandem am Telefon gesagt hatte. Ayane hatte es zufällig beim Vorbeigehen gehört und daraufhin im Internet recherchiert, was diese Aussage von ihrem Vater bedeutete. Von diesem Tag an konnte sie ihrem Vater nicht mehr in die Augen schauen. Es hatte sie tief in ihrem Inneren getroffen, wie gefühllos ihr Vater über sie geredet hatte.
Ihre Mutter hingegen sah sie nur als Anziehpuppe, die nichts sagen durfte. Ständig nahm ihre Mutter sie zum Shoppen mit, um Kleidung anzuziehen. Ayane fand es anstrengend, weswegen sie nach einer Weile mürrisch wurde. Allerdings wollte ihre Mutter nichts davon wissen, weil sie am liebsten ganze Tage nur mit Shopping verbrachte. Wie konnte man den ganzen Tag damit vergeuden? Viel lieber wollte sie in ihrem Zimmer Bücher lesen und lernen. Am liebsten würde sie auch in ihrem Zimmer essen. Stattdessen musste sie jeden Tag mit ihren Eltern zusammensitzen.
Daher schaute sie jetzt auf ihren Teller. Vielleicht konnte sie etwas davon essen. Leider war da irgendwelches ekliges Zeug drauf – rote Kugeln, Kaviar, wie es ihre Mutter in diesem Moment erklärte, dicke gebratene kleine Scheiben, angeblich Jakobsmuscheln, und lila Würfel, so etwas wie Kartoffeln. So gerne hätte sie einfachen Reis auf dem Teller gehabt wie die anderen Menschen, aber ihre Eltern wollten ihren Reichtum zur Schau stellen – auch wenn es nur die Angestellten sahen. Nicht, dass sich Ayane wirklich beklagen wollte. Sie hatte alles an Spielzeug, was sich ein kleines Mädchen wünschen konnte, doch etwas fehlte. Nur was, konnte sie nicht benennen.
Nachdem sie mit dem Essen fertig war – ohne Schlürfen und gerade sitzend -, wartete sie, bis auch ihre Eltern ihr Essen beendet hatten.
„Mutter, darf ich in mein Zimmer gehen und meine Hausaufgaben für die Schule machen?“, fragte Ayane respektvoll.
„Aber in einer Stunde musst du fertig sein, dann beginnt dein Balletttraining. Männer mögen elegante, grazile Frauen“, entgegnete ihre Mutter und wedelte Ayane mit ihrer Hand weg.
Das Mädchen war entlassen. Schnell ging sie in ihr mit Spielzeug vollgestopftes Zimmer und setzte sich an ihren winzigen Schreibtisch. Die Hausaufgaben waren immer schnell gemacht, allerdings trödelte Ayane noch herum. Sie hatte so gar keine Lust auf Ballett. Ihre Lehrerin war so streng wie ein General. Sie war immer so gemein zu Ayane. Manchmal kniff sie Ayane sogar in die Arme. Sie hatte danach immer blaue Flecken. Daher zögerte sie das Unvermeidliche gerne noch raus.
Geistesabwesend rieb Ayane ihre Ohren. Schon den ganzen Tag über hatte sie immer wieder ein Stechen in ihren Ohren gespürt. Während sie ihren Gedanken nachhing, schaute Ayane auf ihre Finger und erschrak zutiefst. Daran klebte eine gelbe Flüssigkeit. Wo ist die denn her? War sie etwa aus ihren Ohren gekommen? Oder stammt es von einem Insekt, das sie aus Versehen zerquetscht hatte?
Schnell ging Ayane zu einem ihrer Spiegel und versuchte zu erkennen, woher sie stammte. Sie erkannte die Quelle nicht sofort, aber sie konnte sich nicht mehr genügend Zeit dafür nehmen, denn ihre Mutter klopfte in diesem Moment ungeduldig an ihre Zimmertür.
„Ayane, beeil dich. Deine Lehrerin ist hier und wartet schon auf dich!“, sagte sie durch die geschlossene Tür.
„Sehr wohl, Mutter! Ich bin gleich da. Ich muss mich nur noch schnell umziehen.“
„Mach doch endlich hin. Immer wieder dasselbe mit dir. Kannst du nicht einmal pünktlich sein? Was für ein ungezogenes Kind!“
Damit hörte Ayane, wie ihre Mutter wegging. Schnell zog sie sich um und wusch sich das Gesicht. Wahrscheinlich hatte diese Flüssigkeit gar nichts zu bedeuten. Nur irgendwelcher Kleber oder so ähnlich.
Sobald sie unten in ihrem Ballettraum angekommen war, begann auch schon der Unterricht los, doch heute war es anders. Ayane konnte sich nicht konzentrieren. Bei den Pirouetten gelang es ihr nicht auf den Zehenspitzen stehenzubleiben. Sie schien generell ein Problem mit ihrem Gleichgewicht zu haben: Sie schwankte schon im Stehen hin und her. Alles drehte sich, sodass ihr langsam, aber sicher schlecht wurde.
Ihre Ballettlehrerin verlor schließlich die Geduld und beendete die Stunde früher als sonst. Sofort ging sie zu Ayanes Mutter, während Ayane selbst ermüdet zurückblieb. Sie würde sich definitiv über die schlechte Leistung von Ayane beschweren, doch das war derzeit ihre geringere Sorge. Ihr Kopf begann zu dröhnen und sie konnte sich nur noch mit Mühe und Not auf den Beinen halten. Doch sie durfte sich nicht hinsetzen, denn sonst würde die Bestrafung noch schlimmer werden. Wenige Minuten später kam ihre Mutter mit ihrer Ballettlehrerin wieder.
„Ayane, kannst du mir sagen, warum du heute so schlecht warst? Du könntest dich doch mal ein wenig zusammenreißen“, herrschte ihre Mutter sie an.
„Ich habe es versucht, Mutter. Aber …“, versuchte sie zu erklären.
„Nichts aber, du musst dich mehr anstrengen“, unterbrach ihrer Mutter sie.
„Mutter, bitte höre mich an. Ich glaube, ich bin krank.“
Sofort verengten sich die Augen ihrer Mutter zu Schlitzen. Sie schaute Ayane scharf ins Gesicht. Dann legte sie kurz ihre eiskalte Hand auf Ayanes Stirn.
„Hm, du wirst wahrscheinlich eine einfache Erkältung haben. Diesmal sei es dir noch erlaubt, dass deine Leistung wegen deiner Erkältung schlecht war. In der Zukunft will ich allerdings nicht mehr solche dümmlichen Ausreden hören. Allerdings darf es zukünftig kein Grund für schlechte Leistungen sein.“
„Ich verstehe, Mutter“, sagte Ayane resigniert.
Es hatte keinen Sinn mit ihrer Mutter zu diskutieren. Was hatte sie anderes erwartet? Sie war noch zu klein dafür.
„Jetzt geh hoch in dein Zimmer. Nimm ein paar Tabletten gegen das Fieber und Schmerzen und leg dich hin. Morgen musst du wieder fit für die Schule sein.“
Ayane senkte ihren Kopf und ging langsam hoch in ihr Zimmer. Sie konnte sich nur sehr langsam fortbewegen. Ihr Gleichgewicht war kaum noch existent. Torkelnd lief sie in ihr Bad und musste sich erbrechen. Das ganze Essen kam wieder zum Vorschein. Jetzt konnte sie in Ruhe ein paar von den Hausdienern bereit gelegte Tabletten zu sich nehmen, bevor sie sich in ihr Bett begab. Während sich das Haus weiterdrehte, schlief Ayane langsam ein.
Am nächsten Morgen wachte Ayane vor ihrem Wecker auf. Ihr Magen spielte verrückt, da es sich in ihrem Kopf alles drehte und ihre Ohren taten sogar noch schlimmer weh. Sie konnte sich nicht mal von einer Seite zur anderen wenden, bevor es ihr hochkam.
Anscheinend war die Erkältung noch weiter verschlimmert. Wie sollte sie es nur ihren Eltern erklären? Das erübrigte sich schnell, als ihre Mutter nach einer Weile hereinkam, um Ayane aufzuscheuchen.
Sobald sie sich umdrehte und aufzustehen versuchte, übergab sie sich direkt neben ihrem Bett. Angeekelt starrte ihre Mutter sie an und trat ein Stück zurück.
„Ich sehe, du machst es diesmal deutlich, dass du nicht in die Schule gehen möchtest. Ich werde dort anrufen und Bescheid geben, dass du nicht kommst. Allerdings musst du in den nächsten Tagen alles unverzüglich nachholen. Du darfst nichts verpassen. Männer mögen keine dummen Frauen.“
Damit drehte sich ihre Mutter um und ging naserümpfend aus dem Zimmer. Ayane lehnte sich zurück und schloss ihre Augen. Sofort drehte sich der Raum noch stärker, daher öffnete sie ihre Augen sogleich wieder. Jetzt ging es nur noch darum, dass sie sich auskurierte. Sie musste so schnell wie möglich die Erkältung überwinden, denn einen weiteren Krankentag würden ihre Eltern ihr nicht erlauben.
Wenige Minuten später kam einer der Bediensteten und wischte ihr Erbrochenes, ohne etwas zu sagen, weg. Ayane konnte nur ein leises „Danke“ flüstern. Er ließ sich jedoch nichts anmerken und ging aus dem Raum. Fast eine Stunde später kam er wieder und brachte ihr einen Teller heißer einfacher Kraftbrühe.
Dann setzte er sich neben Ayane und hob einen mit Suppe gefüllten Löffel zu ihrem Mund hoch. Erstaunt schaute sie ihn an, bevor er ihr mit einer Geste bedeutete, sie solle die Suppe essen. Sie war dankbar dafür. Vorsichtig begann er ihr die Suppe Löffel für Löffel einzuflößen.
Sobald sie alles verputzt hatte, verließ der Bedienstete sie. Für die nächsten Stunden war sie allein in ihrem Zimmer und hoffte, dass sie diese Erkältung endlich in den Griff bekam.
Nachdem der Bedienstete noch zweimal am Tag mit einer heißen Brühe vorbeigekommen war, schlief sie schließlich erschöpft ein. Die Erkältung war hartnäckig.
Am nächsten Morgen wachte Ayane abermals vor ihrem Wecker auf. Es ging ihr mittlerweile etwas besser. Das Schwindelgefühl von gestern war um einiges schwächer geworden und auch ihre Ohren taten nicht mehr so stark weh. Jedoch hörte sie alles dumpfer als gestern.
Die normalen morgendlichen Geräusche von singenden Vögeln waren nicht so klar wie sonst und als wenige Minuten später der Wecker ging, hörte sie auch ihn leiser als normalerweise. Verwundert stand sie auf und musste sich einen Augenblick festhalten. Das Schwindelgefühl war zwar weniger geworden, aber immer noch vorhanden. Daran musste sie sich erst mal gewöhnen, bevor sie ganz aufstand.
Nach einer Weile konnte sie schließlich in ihr Bad gehen und sich für den Tag fertig machen. Ayane wusste zwar nicht, wie sie den Tag überstehen sollte, aber lieber wäre sie in der Schule mit den anderen Kindern als zu Hause bei ihren Eltern. Da gab es wenigstens Leute, die sich normal mit ihr unterhielten.
Als sie zu ihren Eltern nach unten ging, versuchte sie noch einmal, ihre Ohren wieder klar zu bekommen. So hielt sie ihre Nase zu und schloss ihren Mund, bevor sie ihre Wangen mit Luft aufplusterte. Allerdings hatte sie das Gefühl, dass noch etwas mehr von der Flüssigkeit herauskam, aber sonst besserte sich nichts. Es wurde eher alles ein Stück leiser. Sie überlegte, noch woran es liegen könnte, konnte sich aber keinen Reim darauf machen.
„Guten Morgen, Vater. Guten Morgen, Mutter“, sagte sie, als sie in das Esszimmer kam.
Ihr Vater schaute kurz von der Zeitung auf, nur um wenige Sekunden später in dem Geschäftsteil weiterzulesen. Ihre Mutter hingegen schürzte ihre Lippen missbilligend.
„Ich sehe, es geht dir besser. Der Fahrer wartet schon auf dich. Beeil dich nach der Schule, dein Klavierlehrer beabsichtigt, dir ein neues Stück von Mozart beizubringen.“
Ayane hörte, was ihre Mutter sagte, doch wie auch schon bei den Vögeln und dem Wecker, klang es sehr gedämpft. Sie wollte noch fragen, ob ihre Mutter es wiederholen könnte, als sie etwas anderes hörte.
Wie lange muss ich das noch ertragen?
Ayane stutzte. Während sie anderes nur gedämpft gehört hatte, war dieser Satz umso klarer gewesen. Doch sie wusste nicht, woher oder von wem er stammte. Ratlos schaute sie sich um. Was war das gewesen?
„Ayane! Beeil dich.“
Sie zuckte zusammen. Schnell nahm sie ihren Rucksack und ging aus dem Haus. Dort stand der Fahrer und wartete vor dem großen schwarzen Auto. Sobald er sie sah, öffnete er die hintere Tür und ließ sie einsteigen. Wenige Sekunden später fuhren sie los. Keiner sprach ein Wort.
Die ganze Zeit versuchte Ayane das dumpfe Gefühl in ihren Ohren zu verringern und wieder besser zu hören zu können. Im Gegenteil, es wurde langsam schlechter und schlechter. Als sie schließlich an ihrer Schule angelangt war, hatte sich ihr Hörvermögen um über die Hälfte verringert. Sie konnte schon nicht mehr die Vögel zwitschern hören und auch der Straßenlärm – der sonst allgegenwärtig war und den sie am Anfang der Fahrt noch wahrgenommen hatte– hörte sie nicht mehr.
Mittlerweile wurde Ayane panisch. Begann sie etwa, taub zu werden? Das durfte nicht passieren. Ihre Eltern hielten ihr schon einige Schwächen vor, die sie nicht konnte. Wenn noch die Taubheit dazukam, würde es das Fass zum Überlaufen bringen. Sie durfte kein Mitleid von ihnen erwarten, Ayane war nur zur Vermehrung von Reichtum da, daher musste sie es irgendwie kaschieren.
Es gelang ihr über den Tag hinweg einigermaßen gut. Die anderen Schüler ließen sie in Ruhe und wenn die Lehrer etwas fragten, konnte sie es beantworten, wenngleich sie nicht immer alles auf Anhieb verstand.
Eine andere Sache beunruhigte sie über den Tag umso mehr. So wie am Morgen hörte sie in ihrem Kopf jetzt sporadisch einzelne Sätze ganz klar, welche aber von niemandem laut gesprochen wurden. Langsam aber sicher wurde Ayane klar, dass dies alles Gedanken sein mussten, welche sie auf eine seltsame Art und Weise wahrnahm. So hörte sie unterschiedliche Stimmen, aber konnte sie nicht einem Schüler oder Lehrer zuordnen. Vor allem waren diese Worte nicht immer nett. Sie enthielten Beschimpfungen und Beleidigungen, wie Schlampe, Hure oder deren Sohn. Das waren noch die nettesten Ausdrücke. Normalerweise würde niemals jemand in ihrer Klasse so etwas zu jemand anderes sagen, doch die Gedanken – wie konnte es anders sein? – waren bekanntlich frei und da ließ jeder seinem Hass freien Lauf. So war einer der Lehrer ein regelrechter Kinderhasser, während ein anderer nur auf die besonders reichen Erben achtgab, da er hoffte, dass dies später ihm zugutekam. Bei den Mitschülern war es sogar noch schlimmer. Jeder wollte mit seinem neuesten Smartphone und Smartwatch angeben. Zusätzlich erkannte Ayane, dass eine der nettesten Mädchen in Wahrheit eine absolute Intrigantin war, welche einfach nur zum Spaß Freundschaften zerstörte. Das verwirrte sie jedoch so sehr, dass sie nicht wusste, was sie von ihren Mitschülern eigentlich halten sollte. Woher kam auf einmal diese starke Feindseligkeit in ihrer Schule? Sie alle kamen gut miteinander aus. Was hatte sich verändert? Oder hatte sich nur jeder hinter einer Fassade versteckt? Wahrscheinlicher war der zweite Punkt. Das stimmte sie umso trauriger, da sie keinen Streit mochte.
Ayane wusste es nun mit absoluter Gewissheit, nachdem ihr diese ganzen negativen Sätze von Fremden in ihrem Kopf herumgespukt waren. Diese Stimmen über den Tag hinweg, angefangen von heute Morgen, waren die geheimsten Gedanken in den Köpfen der Menschen. Ihre ganze Klasse konnte sich nicht ausstehen und machte nur gute Miene zum bösen Spiel. Ihre Mutter konnte sie nicht ertragen und ihre Mitschüler waren anscheinend nur auf Geld aus. Jeder stellte sich die Frage, wer die neuesten Markenklamotten und die neueste Technologie besaß. Diese Falschheit war das Wahre in dem Innersten der Menschen. Durch diese neue irritierende Fähigkeit wusste Ayane nun genau, wem sie vertrauen konnte und wem nicht.
Es war der seltsamste Tag ihres Lebens. Zwar lernte Ayane noch ein oder zwei Informationen, dass jemand einen Schwarm hatte oder jemand anders sich über ein Geschenk freute, ansonsten fielen allerdings nur gemeine Sätze. Selbst die absolut besten Freundinnen schienen sich eigentlich zu hassen. So ging es immer nur um Geld und Status. Wie bei ihren Eltern. Hatten sie nicht irgendetwas anderes im Kopf?
Sobald die Schule aus war, rannte Ayane regelrecht aus dem Schulgebäude. Diese Bösartigkeit hatte ihr stark zugesetzt. Während die anderen Kinder noch miteinander redeten, konnte sie nur fliehen. So einen schlimmen Schultag hatte sie noch nie gehabt. Nichts hatte ihr Spaß gemacht.
Zum Glück stand ihr Fahrer wie immer direkt vor dem Gebäude und hielt schon die Tür auf, sobald er sie sah. Sie schlüpfte schnell ins Auto und schon fuhr er los. Endlich, nur weg von hier.
Während sie im Auto saß und geistesabwesend nach draußen schaute, überlegte sie, was heute so anders gewesen war. Zudem zeigte es sich, dass Ayane von jedem ihrer Mitschüler gehasst und absichtlich links liegen gelassen wurde. Warum das so war, konnte sie nicht erfahren, nur dass sie so seltsam anders war. Vielleicht lag es daran, dass sich Ayane nicht wirklich etwas aus diesen ganzen Sachen wie Geld oder Mode etwas machte, sondern lieber in der Schulbibliothek saß und las.
Schließlich schaute sie nach vorn und den Fahrer an. Er hatte noch nie ein Wort zu ihr gesagt, war jedoch immer da gewesen. Meist war sie froh, wenn er so schweigsam war, da konnte sie entspannen.
Wie viel sie wohl wert ist?
Erschrocken fuhr Ayane auf. Woher kam dieser Satz? Er hatte so gemein und gefährlich geklungen. Warum wollte der Fahrer wissen, wie viel sie wert war?
Leise begann Ayane nun zu weinen. Was sie bisher gesehen hatte, schien auf einmal so falsch und oberflächlich zu sein. Keiner sagte die Wahrheit zu dem anderen. Sie hatte nicht mal geahnt, wie hinterhältig und fies die Menschen sein konnten. Jeder war auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Wie konnte man nur so egoistisch und gemein sein? War es das, was alle Menschen ausmachte?
Ayane schaute runter auf ihren Schoß. Sie musste sich etwas überlegen. Von dieser Fähigkeit, die sich anscheinend langsam in ihr entwickelte, durfte niemand wissen. Man würde sie sonst für einen Freak halten und ihre Eltern würden sie wegsperren. Interessanterweise wurde diese Fähigkeit in dem Maße stärker, wie ihr Gehört abnahm. Während sie kaum noch etwas hörte, war diese neue Fähigkeit erschreckend ehrlich und direkt und vor allem deutlich hörbar. Damit konnte sie erkennen, was die Menschen wirklich von anderen wollten und dachten. Das könnte sich als gefährlich in der Zukunft entpuppen, wenn sie mit noch schlimmeren Personen es zu tun bekam.
Durch seinen Gedanken wusste Ayane, dass ihr Fahrer es nicht gut mit ihr meinte. Sie schaute ihn wieder an und versuchte, angestrengt zuzuhören.
Sie würde mir ein angenehmes Sümmchen Geld einbringen. Ich muss mir einen Plan überlegen, wie ich dazu komme, dass mir diese arroganten Nichtskönner ihr Geld geben, vielleicht durch eine Entführung.
Ayane wurde kalkweiß. Ihr Fahrer wollte ihre Eltern erpressen. Am Ende würde er sie vielleicht auch töten, denn sie kannte ihren möglichen Entführer und konnte ihn identifizieren. Sie konnte nur hoffen, dass er es nicht heute durchführen wollte. Sobald sie zu Hause war, musste sie ihren Eltern Bescheid geben. Ihre Mutter und ihr Vater würden etwas dagegen tun, denn sie brauchten Ayane ja selbst für diese seltsamen Kreise. Schließlich, so dachte sie mit schwerem Herzen, war sie die größte Investition ihrer Eltern. Ihre Eltern wollten sich durch nichts die eigene Zukunft verbauen lassen. Das musste sich Ayane eingestehen. In dieser Hinsicht hatte das egoistische Denken ihrer Eltern etwas Gutes, etwas, das sie nutzen konnte.
Sobald sie zu Hause ankamen, ging Ayane schnell ins Haus, ohne einen weiteren Blick auf den Fahrer zu werfen. Sie wollte lieber keinen weiteren seiner Gedanken hören. Es würde sie innerlich zerreißen.
Im Haus wartete ihre Mutter auf sie.
„Ayane, dein Klavierlehrer ist hier“, sagte ihre Mutter, bevor sie sich ihrer Modezeitschrift widmete. Für Ayane war es jedoch nur ein leises Flüstern, weswegen sie es eher aus der Lippenbewegung ihrer Mutter herausbekam.
Was Ayane zusätzlich hörte, war jedoch was ganz anderes: Jetzt ist das Balg wieder da. Hat lang genug gedauert. Zum Glück habe ich den Klavierlehrer eher bestellt, sodass sie gleich wieder weg ist. Wieso muss ich mich auch um sie kümmern? Kann das nicht endlich mal mein Mann machen?
Zusammenzuckend ging sie schnell zu ihrer Mutter.
„Mama, ich glaube, der Fahrer hat etwas Böses im Sinn.“
„Was meinst du damit?“ Wieder war es nur ein leises Flüstern. Auf welche hirnrissigen Ideen kommt dieses Kind nur wieder?
„Ich glaube, er plant, mir etwas Böses anzutun. Er hat im Auto irgendetwas über Geld gemurmelt und auch wie viel ich wert sein würde“, versuchte Ayane es ihrer Mutter verständlicher zu machen.
Sie konnte schlecht sagen, sie hatte seine Gedanken gehört.
Sobald ihre Mutter jedoch mitbekam, was Ayane sagte, schaute ihre Mutter sie ernst an.
„Ist das die Wahrheit?“ Da plant jemand unseren Reichtum zunichtemachen. Das darf nicht sein. Niemand darf sich uns in den Weg stellen.
Als Ayane nickte, sagte ihre Mutter: „Okay, mach dich fertig für deinen Klavierunterricht. Ich kläre die Sache mit deinem Vater.“ Das darf nicht wahr sein. Der Fahrer muss weg.
Ayane ging leise und langsam die Treppen hinauf. Sie war noch nicht oben angelangt, da kam auch schon ihr Vater mit ihrer Mutter aus seinem Arbeitszimmer. Beide gingen schnell hinaus, in die Richtung der Garage mit den Autos.
Als Ayane am nächsten Tag in die Schule gefahren wurde, war es ein anderer Fahrer. Er schien nichts zu denken, stoisch konzentrierte er sich auf den Verkehr, aber das würde sich vielleicht in der nächsten Zeit ändern. Sie musste in Zukunft vorsichtiger sein. Sie musste auf ihre Fähigkeit vertrauen und nicht mehr auf das hören, was die Leute zu ihr sagten.
Nach diesem ganzen Trubel bemerkte sie erst jetzt, dass es ihr körperlich besser ging. Das Schwindelgefühl war fast weg und auch ihre Ohren taten nicht mehr so weh. Doch was ihr wirklich Angst machte, war ihr Hörvermögen. Während ihre Fähigkeit, Gedanken zu hören, immer stärker wurde, war ihr Hören von Stimmen und Umgebungsgeräuschen schon am selben Abend nicht mehr vorhanden. Sie war jetzt komplett taub geworden.
2. Kapitel - September, ein Monat vor dem Ende der Menschheit
Die Leere ist das Nichts. - Buch der Leere, Miyamoto Musashi
Ayane war mittlerweile achtzehn Jahre alt. Ihr Haar fiel glatt und lang bis auf die Schultern herunter. Es hatte eine pechschwarze Farbe wie die tiefdunkle Nacht. Ihre Augen waren dunkelbraun. Sie selbst würde behaupten, schlammbraun, doch Menschen in ihrer Umgebung sagten und dachten auch manchmal, dass ihre Augen wie warmes Ebenholz aussahen. Jedoch hatten viele den Gedanken, dass sie leere Augen hatte und sich keine Seele darin wiederfand. Als wüsste die junge Frau zu viel und dass sie daran zerbrochen wäre.
Jedes Mal, wenn Ayane so etwas in den Köpfen der Anderen hörte, betrübte es sie, doch ließ sie sich davon nicht unterkriegen. Über die letzten acht Jahre hatte sie neben ihrer Fähigkeit, Gedanken von anderen Menschen zu hören, auch das Lippenlesen erlernt. Somit konnte sie sich gut in ihrer Umgebung zurechtfinden, ohne dass irgendjemand wusste, dass sie taub war.
Zusätzlich war sie in die Höhe geschossen und war jetzt genauso groß wie ihr Vater. Somit war sie um einiges größer als die typischen Frauen aus China und Japan, was sie froh machte. Sie hatte es immer gehasst, wenn sie nach oben starren musste, um in das Gesicht ihres Gesprächspartners zu schauen. Es hatte ihr das Gefühl gegeben, klein und unwichtig zu sein. Vielleicht würde sie irgendwann in Zukunft anders darüber denken, jetzt jedoch nicht. Als sie vor zwei Jahren einen weiteren Wachstumsschub bekommen hatte, hatte sie innerlich Freudentänze durchgeführt. Jetzt konnte sie den Männern endlich direkt in die Augen sehen und sie hatten keinen Grund mehr, auf sie herunterzuschauen.
Diese Größe konnte sie gut in Gesprächen einbringen, so auch heute, denn ihr Vater veranstaltete wieder einmal einen Ball für eine getätigte Investition, was in den vergangenen Monaten immer öfter vorkam. Dabei mussten ihre Eltern mit ihrem Reichtum angeben. Bei solchen Veranstaltungen kam sich Ayane immer fehl am Platz vor. Meist war sie mit Abstand die Jüngste im Raum. Keine Kinder, nur alte, überwiegend grauhaarige Männer und aufgestylten arroganten Frauen, daher stand Ayane nun am Rande des riesigen prunkvollen Raumes und schaute geistesabwesend vor sich hin. Man könnte meinen, Ayane blickte nur stumpfsinnig und dümmlich herum. Ihr Blick war unstet und wechselte ständig hin und her. Wenn Ayane mit einer Person reden musste, dann wunderte sich diese, warum Ayane nie in die Augen schaute, sondern immer auf den Mund. Doch keiner hatte bisher bemerkt, dass sie taub war. Sie lauschte hingegen auf das Genaueste, allerdings den Stimmen in ihrem Kopf.
Über die letzten Jahre hatte sich ihre besondere Fähigkeit des Hörens vollständig verfestigt und war sogar noch stärker geworden. Jetzt musste sie sich nicht mehr auf einen einzelnen Menschen konzentrieren und ihn ansehen, um seine Gedanken zu hören. Es reichte, wenn sie in einem Raum mit Menschen war. Normalerweise wäre sie an einem Abend wie heute daran kaputtgegangen, denn wenn sie zu viele Stimmen hörte, hatte sie das Gefühl zu zerspringen wie dünnes Glas. Es war das reinste Chaos, wo jede Stimme versuchte sich Gehör zu verschaffen. Man könnte meinen, dass diese Menschen alle in ihrem Kopf saßen und sich um ihre Aufmerksamkeit stritten. Aber nach einigem Üben hatte Ayane vor einiger Zeit einen Weg gefunden, nicht daran zu zerbrechen.
Die Lösung war, dass sie sich auf eine oder maximal zwei Stimmen konzentrieren musste. Dann wurden automatisch die anderen Stimmen zu leiseren Hintergrundgeräuschen. Jedoch passierte es gelegentlich, dass sie auf ein oder zwei Wörter von diesen Hintergrundgeräuschen aufmerksam wurde, die das normale Rauschen durchbrach. In diesem Fall wechselte sie schnell die Frequenz – wie sie es nannte –zu dieser speziellen Person, um ihr zuzuhören.
Heute war es auch nicht anders. Seit dem schockierenden ersten Tag ihres neuen Lebensabschnittes hatte sie in eine Welt voller Misstrauen und Missgunst gelebt. Nur selten gab es gute Menschen. So auch jetzt. Die Grundessenz der Menschen in diesem Saal war ein bösartiger, intriganter Strom von Gedanken, der sich faulig in Ayanes Magen grub. Wie konnte man nur so fies sein?
Dabei war es immer wieder besonders einschneidend, wenn ihre Eltern sie als eine reine Geldmaschine für die eigene machtbesessene Zukunft sahen. Über die letzten Jahre hatte sie sich das immer wieder aufs Neue anhören müssen. Egal wie sehr sie versuchte passive sich zu widersetzen, hatte es nie geholfen. Meist hatte es nur dazu geführt, dass ihre Eltern sie noch mehr unter Druck setzten. Denn das Ziel von ihrer Mutter und ihrem Vater war noch immer die Heirat mit einem wohlhabenden Geschäftsmann. Was jedoch Ayane noch immer nicht wollte.
Selbst ihre mittlerweile ehemaligen Mitschüler waren durch das Geld von ihren Eltern ebenfalls stark kompromittiert worden. Mit der Zeit hatten sie sich einen noch hinterhältigeren Charakterzug angeeignet. Je netter sie äußerlich waren, desto fiesere Gedanken gaben sie von sich. Größtenteils endete es, dass Ayane durch die Intrigen der Mitschüler noch isolierter war.
Zum Beispiel waren ihre sogenannten Freundinnen gelegentlich Hilfe suchend zu Ayane gekommen – wenn sie Hausaufgaben von ihr wollten oder sie Beziehungen spielen lassen sollte, aber aufgrund ihrer Fähigkeit, wusste sie immer sofort, woran sie war. Das hatte ihr schon öfter geholfen. Hinter den lächelnden Gesichtern verbarg sich das abgrundtief Böses, aber es brachte auch sehr viel Einsamkeit mit sich.
Daher machte Ayane lieber gute Miene zum bösen Spiel und blieb erst mal bei ihren Eltern. Weglaufen brachte nichts. Hier wusste sie schließlich, woran sie war. Ihre Eltern waren in dieser Hinsicht einfach und klar. Das Einzige, was Ayane momentan stärker störte, war die Ungeduld ihrer Eltern, dass sie endlich achtzehn wurde.
Dann würden sie Ayane endlich an irgendeinen wichtigen alten Mann verheiraten. Jemanden, der mindestens dreißig Jahre älter war als sie und dem sie viele Kinder schenken musste. Doch das wollte Ayane nicht. Sie wollte niemanden aus Pflichtgefühl heiraten, wenn dann aus Liebe. Ihr geheimster Wunsch war, Wissenschaftlerin zu werden und etwas Bedeutendes zu entdecken oder zu erfinden. Biologie oder Chemie waren ihre Lieblingsfächer. Welches Fachgebiet sie genau behandeln wollte, wusste sie nicht. Mit einem Mann, der noch in den traditionellen Rollen dachte, wollte sie nichts zu tun haben. Sie war kein Heimchen und würde auch nie eins sein.
Sie würde durch diesen Mann nur zu Hause herumsitzen, shoppen wie ihre Mutter und das konnte und wollte Ayane nicht. Lieber studierte sie von zu Hause aus. Das Internet gab ihr alle Informationen, die sie benötigte. Ein Leben in Einfältigkeit, wo nur die aktuelle Mode und das eigene Aussehen zählte, war absolut nichts für sie. Daher hatte sie sich schon einen Plan überlegt. Doch dafür musste sie genauso wie ihre Eltern warten, dass sie achtzehn wurde. Sobald sie volljährig war, würde sie in einem unbeobachteten Moment von ihren Eltern fliehen und sich außerhalb von China niederlassen. Das Geld für einen Neuanfang legte sie schon seit einigen Jahren zur Seite.
Während sie sich wieder auf diesen seltsamen Ball konzentrierte, sah sie ihren Vater auf sie zukommen. Jetzt ging das Spiel also aufs Neue los.
„Ayane, bitte geh doch herum und frag die Gäste, ob es ihnen gut geht. Du darfst hier nicht nur teilnahmslos in der Ecke herumstehen. Das machen doch keine guten Gastgeber.“ Sie soll sich bei den Sponsoren herumzeigen, damit diese sich ein Bild von ihrem Körper machen können. Wir haben nicht umsonst so viel Geld da hineingesteckt.
Innerlich krümmte sich Ayane zusammen. Jedoch ließ sie sich nichts anmerken. Er durfte nicht wissen, dass sie es wusste.
„Ja, Vater. Das werde ich machen“, entgegnete Ayane höflich.
„Und tanz vielleicht mal mit jemandem. Ich habe dich nicht umsonst zum Tanzunterricht geschickt.“ Das Geld, das ich in deinen Unterricht gegeben habe, soll sich mal endlich bezahlt machen.
„Ja, Vater. Wenn mich einer der Herren auffordert, werde ich das Angebot annehmen.“
Damit ging Ayane von ihrem Vater weg. Elegant, wie man es ihr beigebracht hatte, schwebte sie an den Leuten vorbei und lächelte gelegentlich zu jemandem oder wechselte einige Worte.
Meist versuchte sie, sich mit den Frauen zu unterhalten, die mit ihren Ehemännern da waren. Die wollten meist auch nicht irgendwelche anderen Menschen an die Wäsche gehen. Mätressen waren in dieser Gesellschaft nicht gern gesehen, obwohl fast jeder Mann eine irgendwo versteckt hatte. Trotzdem hatten die meisten Männer anzügliche Gedanken, fast pornografische mit allen möglichen Fetischen ihr gegenüber.
Manchmal wurde ihr regelrecht schlecht von diesen Abscheulichkeiten. Sie wünschte sich so etwas, wie es in einigen Büchern stand, die sie gelesen hatte: eine felsenfeste, über jede Widrigkeit erhabene Liebe. Das konnte sie sich aber in dieser verkorksten gehobenen Gesellschaft abschminken.
Schließlich kam sie zu einer Gruppe von älteren Männern, in der jeder schon komplett weiße Haare hatte. Diese waren die Geschäftsführer von international tätigen Unternehmen mit Hunderttausenden von Mitarbeitern.
Ayane wusste, dass sie sich mit diesen Männern besonders lange unterhalten musste, da es ihre Eltern so wollten. Ihr Vater hatte ihr schon mehrfach erzählt, wie wichtig diese für sie waren.
„Guten Abend, die Herren. Ich hoffe, es gefällt Ihnen bei uns“, sagte Ayane mit weicher, ergebener Stimme. Oh Gott, wie sehr sie diese Scheinheiligkeit hasste.
„Guten Abend, Ayane. Ich muss sagen, Ihr Vater hat sich wieder mal selbst übertroffen“, sagte einer der Männer. Ich hoffe, dass ich noch vor Ende des Abends den Deal abschließen kann.
Konsterniert schaute Ayane ihn an.
„Stimmt, ich habe mich schon die ganze Woche über auf diesen Abend gefreut“, sagte einer von den Geschäftsführern. Gott, ist dieser Abend langweilig. Wann kann ich nur endlich zu meiner Geliebten, Xin Xin, gehen für ein bisschen Spaß?
„Das freut mich. Schließlich haben sich meine Eltern sehr viel Mühe gegeben“, entgegnete Ayane. Jedoch wusste sie, dass ihre Eltern immer eine Eventmanagerin beauftragten, die sogar manchmal mit ihrem Vater ins Bett ging.
Hoffentlich kommt ihr Vater endlich in die Puschen. Er hat sie mir schon vor Jahren versprochen. Das Mädel ist schon viel zu lange ohne jemanden, der ihr mal ein bisschen Respekt einbläut und ihr ihre Rolle in dieser Welt klarmacht. Für die ersten Jahre werde ich sie noch richtig herannehmen, dann kann sie mir gestohlen bleiben, solange sie mir nur einen männlichen Erben schenkt.
