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Es ist das dritte Jahr nach dem Ende der Menschheit. Niara will den Traditionen ihres Stammes gerecht werden und die Jagdprüfung der Erwachsenen absolvieren. Doch ein ihr unbekannter Feind nimmt sie ins Visier. Er würde alles tun um ihr Geheimnis des Überlebens herauszubekommen - selbst ihren Tod. Wird es Niara schaffen zu entkommen oder stirbt sie in den Fängen dieses Unbekannten? Die Jagd ist eröffnet.
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Seitenzahl: 282
Veröffentlichungsjahr: 2022
Mein Dank gilt meiner Familie für ihre gesamte Unterstützung und auch meiner Blacky, welche mich mit ihrem Schabernack immer versucht abzulenken
Anja König
Seele der Jagd
Rat der Fünf
© 2022 Anja König
Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer
ISBN Softcover: 978-3-347-71005-4
ISBN Hardcover: 978-3-347-71013-9
ISBN E-Book: 978-3-347-71019-1
ISBN Großschrift: 978-3-347-71020-7
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Prolog
Vor zwei Jahren
Vögel zwitscherten ihre morgendlichen Gesänge, während die Nacht sich in Dämmerung verwandelte. Vereinzelt hörte man ein wildes Tier brüllen. Die Temperaturen waren noch recht kühl, doch würde die Hitze des Tages trotz des fortgeschrittenen Jahres bald kommen. Es wäre ein wunderschöner, friedlicher Morgen. Nichts schien diese Reinheit zerstören zu wollen – bis auf die Leichen, welche überall am Fuße des Berges und in den dahinterliegenden Ebenen lagen.
Kein einziger der Toten hatte eine tödliche Wunde oder sichtbare Spuren, wodurch man hätte erkennen können, weshalb sie gestorben waren. Zwar hatten einige Abschürfungen und ein wenig getrocknetes Blut, jedoch nur durch den Aufschlag auf den Boden.
Auf einmal landete eine tiefschwarze Wolke auf dem Gipfel des Berges und nach dem Bruchteil einer Sekunde trat Kelaino heraus. Sie sah ausgezehrt aus und konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Mit bekümmertem Gesicht schaute sie sich um und schüttelte den Kopf. Noch immer konnte sie es nicht glauben, dass sechs Milliarden Menschen einfach so tot umgefallen waren. Niemand hatte überlebt. Was war geschehen? Wie würde es jetzt weitergehen? Wie würde sich die Welt ändern? So viele Fragen und sie wusste keine Antworten. Wie das Orakel früher einmal gesagt hatte: Es stand in den Sternen.
Aber vielleicht hatten die anderen eine Idee, also wartete sie. Nach einer Weile landeten vier weitere Gestalten und stellten sich neben Kelaino. Es waren vier Frauen, die einen ähnlichen Vogelkörper wie sie besaßen, nur der Kopf war menschlich. Sie waren genauso ausgezehrt und müde wie Kelaino.
Dies waren die einzigen Übereinstimmungen. Während Kelaino als absolute Dunkelheit nur schwarze Federn besaß, trugen die anderen schillernde Federn zur Schau, jede eine andere Farbe und keine einzige doppelt. Aber so unterschiedlich auch ihre Farben waren, so ähnelten die menschlichen Gesichter einander. Hohe Wangenknochen und ein voller Mund. In jedem Augenpaar blitzten eine hohe Intelligenz und Stärke. Ein unbeteiligter Beobachter konnte leicht erkennen, dass diese fünf Frauen Schwestern waren. Sie schauten gemeinsam auf das Tal und schwiegen. Ohne Absprache hielten sie eine Schweigeminute für die Menschheit, auch wenn es jetzt nur noch eine leere Geste war.
„Was ist passiert?“, fragte Kelaino ihre Schwestern traurig.
„Keine Ahnung. Es ist grauenvoll. So viel Tod auf einmal! Das konnte ich kaum verkraften“, sagte eine ihrer Schwestern, welche jede Nuance von Rot trug. „So was hätte niemals passieren dürfen.“
„Wer hat das nur getan? Das kann nur durch einen mächtigen Zauber hervorgerufen worden sein?“, fragte eine andere. Sie wirkte wie ein sich bewegender Wald, da sie alle Farben von Grün und Braun in ihrem Federkleid trug.
„Es ist unvorstellbar, was hier nur passiert war. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was es hervorgerufen haben könnte. Beim besten Willen nicht!“, sagte Kelaino und auch die anderen zuckten ahnungslos mit ihren Schultern. „Wir müssen unbedingt den oder die Schuldigen finden. So ein Massenmord darf nicht ungesühnt bleiben.“
Jetzt nickten ihre Schwestern entschlossen. Sie wollten und mussten die Hintergründe aufklären. Mit diesem bösartigen Zauber hatten die Verursacher der maßgeblichen Apokalypse ihr Todesurteil unterschrieben.
„Aber wo sollen wir nur anfangen?“, fragte eine andere Schwester, die so leuchtete wie die Sonne. Sie war so traurig, dass ihr Tränen über die Wangen flossen.
„Ich habe keine Ahnung. Vielleicht sollten wir alle in unterschiedliche Himmelsrichtungen fliegen und Hinweise suchen. Jede einzelne Spur muss auf das Genaueste untersucht werden!“, sagte ihre rote Schwester.
Auf einmal drehte sich die Harpyie mit dem blauen Federkleid um und schaute die anderen an. „Mir ist etwas Seltsames aufgefallen. Ich konnte nicht alle Seele einfangen und auf die andere Seite begleiten. Aber jetzt sind die Seelen nicht mehr da. Kommt euch das bekannt vor?“
Erstaunt schauten sie alle an und nickten nach einem kurzen Augenblick zögerlich. Erst jetzt schien jeder Einzelnen aufzufallen, dass das gleiche ihnen auch passiert war und das Schlimmste daran war, dass keiner eine Antwort darauf hatte. Sie waren ziemlich beschäftigt gewesen seit gestern, weswegen sie sich keine Gedanken darüber machen konnten. Sie hatten Unmengen von Seelen herüberbegleitet. Doch sobald sie Luft gesehen hatten, hatten sie sich hier zum Morgengrauen verabredet.
„Wie viele Seelen, denkst du, sind dir durch die Finger geflutscht?“, fragte ihre rote Schwester. „Wenn ich schätzen müsste, würde ich sagen, mir sind vielleicht ungefähr 200 Millionen Seelen verloren gegangen.“
„Bei mir war es eine ähnliche Menge“, meinte ihre blaue Schwester. Nach und nach bestätigten die anderen diese Zahlen. Es war folglich keine willkürliche Menge. Insgesamt ergab es eine Milliarde Seelen, die nicht den Weg ins Jenseits gefunden hatten. Das ließ nur eines als Schlussfolgerung zu: Etwas war immer noch im Gange – und keiner der hier anwesenden Übernatürlichen hatte eine Ahnung, was genau passiert war. Aber wenn eine Milliarde Seelen fehlten, dann würde dieser Massenmord der einzige bleiben.
„Haltet einfach Ausschau und seid vorsichtig! Jemand spielt ein mörderisches Spiel mit uns. Da wir nicht wissen, was noch auf uns zukommen wird, müssen wir alles tun, um zumindest die restlichen noch existierenden Seelen zu retten. Es ist die gesamte Rasse Homo sapiens bis zu dem kleinsten Baby ausgestorben. So etwas Brutales und Rücksichtsloses habe ich nie gesehen und hätte es mir nie vorstellen können, dass … dass so etwas passieren hätte können“, sagte Kelaino. Sie war so voller Wut, dass sie ihre Hände zu zittern begannen.
Die anderen murmelten bestätigend. Es passierte selten, dass sie alle fünf einer Meinung waren und Diskussionen endeten sehr häufig in Streitereien, doch diese außergewöhnliche Situation hatte sie zusammengeschweißt wie noch nie zuvor. So gefährlich wie die Menschen manchmal für die Übernatürlichen gewesen waren, so hatten sie es doch nicht verdient, einfach ausgerottet zu werden. Schließlich waren auch die Übernatürlichen allesamt hochgefährlich und unberechenbar. Keiner hatte eine reine, weiße Weste.
„Dann werden wir uns mal auf die Suche machen. Wenn jemand etwas weiß, gibt sie am besten Bescheid, damit wir alle auf dem gleichen Stand sind“, sagte ihre blaue Schwester. Die anderen stimmten ihr zu.
Nach und nach begannen sich alle zu verabschieden und flogen davon. Zum Schluss war Kelaino wieder allein auf dem Gipfel. Sie schaute noch einen kurzen traurigen Augenblick auf die Sonne, die gerade vollständig über den Horizont geklettert war, bevor sie selbst sich auch auf den Weg machte.
1. Kapitel – Dezember, Jahr 2 nach der Menschheit
Ohne Kenntnis der Schwertkunst sich nur auf die Länge des Schwertes zu verlassen, um aus der Distanz zu siegen, offenbart nur die Schwäche des Kampfgeistes. – Miyamoto Musashi, Buch des Windes
Das Wasser des Indischen Ozeans brauste mit riesigen Wellen wütend an die Küste der kleinen Insel und der Wind drückte gegen die alten Bäume in den Ruinen des Tempels. Die bröckelnden Wände ächzten laut und gelegentlich fiel ein lockerer Stein, die nicht durch die Wurzeln der Bäume festgehalten wurde, auf die Erde. Dieser Taifun war stärker, als der Rat der Unsterblichen es erwartet hatten.
In der Mitte des Haupttempels standen sechs Gestalten in Mönchskutten. Diese verhüllten Lebewesen waren unterschiedlich groß und trugen jeweils eine pechschwarze Kutte mit einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze. Es waren blutrote Symbole aufgenäht. Unter einigen leuchteten die Augen in unnatürlichen Farbtönen wie kleine Taschenlampen: strahlend gelb, blutrot und gletscherweiß.
Sie standen in einem Kreis zueinander und raunten Wörter in unterschiedlichen Sprachen, bevor schließlich eine Kreatur, wahrscheinlich der Anführer, einen Schritt in die Mitte trat.
„Ich grüße euch. Wir sind hier nun das erste Mal seit der erfolgreichen Säuberung zusammengekommen. Nachdem sich alle zwei Jahre lang austoben konnten, muss der Rat sich um die neue Ordnung kümmern und den Verlauf zur Errichtung dieser Ordnung genauer besprechen. Schon jetzt konnten wir einige positive Entwicklungen sehen, welche unserem Bestreben entgegenkommen.“
Der Anführer schaute sich um, bevor der Größte schließlich das Wort ergriff: „Wie geplant sind fast alle Menschen gestorben, allerdings haben mindestens drei überlebt. Ich habe dieses Gerücht von einigen Informanten bestätigen lassen, dabei wurde auch erwähnt, dass angeblich sogar bis zu fünf Menschen überlebt haben könnten.“
Der Anführer zuckte zusammen, bevor er energisch ausrief: „Was soll das heißen? Es sollte kein Mensch, absolut niemand dieser minderwertigen Wesen überlebt haben! Wir haben unsere Aktion darauf ausgelegt. Die einzigen, die überlebt haben sollten, sind die Übernatürlichen mit reinem Blut.“
„Da gibt es noch ein anderes Problem: Die kleine Anzahl von Bastardhybriden hat auch überlebt. Sie sammeln sich mittlerweile in Nordamerika“, meldete sich der Große wieder zu Wort.
„Bitte, was?“, zischte der Anführer ihn an. „Das kann doch nicht wahr sein. Unser Ritual und die damit verbundenen Schritten waren sonnenklar beschrieben und durchgeführt wurden, absolut eindeutig, und jetzt so ein Fehlschlag.“
„Immerhin haben wir enorm an Macht gewonnen“, warf der Große beschwichtigend ein.
Die anderen nickten verstört. Sie wollten lieber nicht den Zorn ihres Anführers heraufbeschwören. Er würde dann plötzlich unberechenbar werden und es endete im Blutvergießen. Einer musste immer leiden.
„Gut, dann lösen wir als Erstes das Problem mit diesen fünf Menschen. Ich will sie von der Erde getilgt haben. Hat jemand einen Vorschlag?“
Jetzt trat ein Anwesender mit blutroten Augen nach vorn. „Es gibt leider auch da ein kleines Problem. Die drei, von den wir wissen, sind irgendeine seltsame Verbindung mit Übernatürlichen eingegangen und wurden in die entsprechenden Verbände aufgenommen. Wir kommen jetzt nicht mehr so einfach an diese Menschen ran. Sie werden von diesen Verrätern und Ketzern beschützt. Die eingegangene Bindung schützt sie auf irgendeine mystische Art und Weise vor einem Angriff aus der Ferne. Einmal wurde es probiert, aber es nichts passiert.“
„Scheiße! Das kann doch nicht wahr sein. Ich glaube, ich spinne. Wie können diese Schwächlinge, die viel stärkeren Übernatürlichen dazu bringen, ihnen zu helfen?“
Ratloses Schweigen antwortete ihm, bis der Anführer seufzte.
„Lasst uns erst mal die zwei Menschen aus dem Weg räumen, die noch keine von diesen sogenannten Bindungen eingegangen sind. Wir müssen herausbekommen, wie sie überlebt haben, ohne beschützt zu werden, und wie wir sie am besten töten können, ohne die anderen Menschen auf unsere Fährte zu führen. Ich will keinen einzigen verdammten Menschen mehr lebend sehen.“
Die anderen nickten erleichtert. Zum Glück galt der Zorn ihres Anführers den überlebenden Menschen und nicht ihnen.
„Weiß jemand in welchem Gebiet, die zwei anderen möglichen Überlebenden sich aufhalten könnten? Als Erstes müssen wir sie finden, bevor wir sie auslöschen können.“
Jetzt antwortete der Rotäugige wieder: „Die drei Menschen, die beschützt werden, befinden sich in Europa, Nordamerika und Südamerika. Es kann gut sein, dass die beiden Letzten also in auf den übrigen drei Kontinenten – Afrika, Asien oder Australien – leben.“
„Dann wird einer von euch sich dorthin begeben und sich des Abschaums annehmen. Ihr müsst herausbekommen, wie diese Kakerlaken überleben konnten. Jemand Freiwilliges?“, fragte der Anführer ungeduldig in die Gruppe.
Diesmal trat der Größte wieder einen Schritt nach vorn. „Lasst mich es tun. Ich werde die Lösung aus ihnen herausbekommen. Ich hoffe, es ist für euch kein Problem, wenn der Mensch dabei stirbt“, meinte dieser mit süffiger Note in seiner Stimme.
Alle Anderen lachten gehässig auf. Der Anführer sprach: „Natürlich nicht! Schließlich müssen alle fünf sterben und die verräterischen Übernatürlichen dazu. Wir können keinen ketzerischen Abschaum in unserer neuen Ordnung gebrauchen. Der Rest von uns wird einen Plan für diese unreinen Übernatürlichen ausarbeiten, eine Möglichkeit, wie wir sie am besten vernichten können. Sie haben nichts in dieser Welt zu suchen. Der Plan wird sein, dass wir uns einmal pro Monat hier treffen. Ich will in zwei Jahren keine Schwächlinge oder Unreinen mehr auf dieser Erde sehen. Habt ihr das verstanden?“
Alle riefen ihre Zustimmung aus und damit drehte sich der Anführer um und verschwand in einer Rauchwolke. Die anderen verließen nach und nach, bis der Größte allein in dem Tempel stand. Er schien kurzzeitig nachzudenken, doch erst nach ein paar Sekunden später begannen die Schultern wild zu zucken und einige Minuten später lachte er hysterisch los. Er freute sich auf die Aufgabe, freute sich darauf, endlich wieder jemanden foltern zu dürfen. Schon seit Langem brannte es ihm unter den Fingernägeln, jemandem wehzutun.
Die Sonne stieg langsam über den Rand des Horizonts und tauchte das Kalaharibecken in ihren feurigen Glanz. Der Himmel war eine einzige blaue Ebene, auf der langsam die Sterne verblassten. Die Tiere in dieser Trockensavanne erwachten und nach Wasser zu suchen. Ein neuer Tag begann.
Es war zwar Regenzeit, jedoch war schon seit mehreren Monaten kein Wasser mehr gefallen. Ein kleines Rinnsal versorgte das Becken nur noch unzureichend mit Wasser. So waren schon viele Herden weitergezogen. Nur die hart gesottenen und widerstandsfähigsten Tiere überlebten noch hier.
Auf einmal lief ein kleiner schwarzer Schatten geduckt durch das hohe Gras der Savanne. Es war Niara, eine zierliche Frau von dem Volk der Khoikhoi bekannt. Ihre Haut hatte einen gelblich-braunen Ton und ihre Haare waren wie kleine Kugeln auf ihren Schädeln gewachsen.
Der Blick von Niara glitt wachsam über die Savanne, während sie gespannt einen langen Speer in der Hand hielt. Sie war auf der Jagd. Plötzlich blieb ihr Blick an einer Herde von Kudu-Antilopen hängen. Die großen Tiere grasten friedlich, während ihre Köpfe mit den spitzen Hörnern hoch und runter wippten. Augenscheinlich zeigten die Antilopen keine Wachsamkeit. Das war jedoch nur der äußere Schein, denn das Alphatier schaute sich immer wieder aufmerksam um.
Die junge Frau schloss kurz die Augen und versuchte etwas zu fühlen und zu hören, so wie ihre Ahnen es gemacht hatten. Die unterschiedlichen Energien der Herde prasselten auf sie ein, sodass es schwerer war, die einzelnen herauszufiltern. Sie musste genau wählen, welches Tier sie für die Jagd nehmen würde. In dem Glauben ihres Volkes besaß jedes Lebewesen eine ganz eigene Energie. In ihr zeigte sich, ob es ein gesundes Tier oder kränkliches war. Allerdings war es eine schwierige Fähigkeit, die normalerweise jahrelang trainiert werden muss. Daher brauchte Niara eine ganze Weile, bis sie das passende Tier mit einer entsprechenden Energie herausfiltern konnte – regelrecht erfühlen, mit ihrer Haut und Haaren. Dann öffnete sie die Augen und schaute sich um. Schnell fand sie die eine Antilope, zu der diese Energie passte. Diese stand etwas abseits und graste vor sich hin. Sie würde das Opfer bringen müssen.
Ihr Fell war schon an einigen Stellen weiß geworden und auch ihre Bewegung wirkte schwach. Diese Antilope war alt und gebrechlich. In absehbarer Zeit würde sie auf natürlichem Weg sterben, daher nahm die Frau den Speer in die Hand und schlich sich so nah wie möglich an, ohne die Antilope zu verscheuchen.
Es würde eine zehrende Jagd werden, aber es musste sein, schließlich würde es der jungen Frau somit nach den Riten ihres Volkes leben würde. Es war ein edles Gefühl, die Traditionen der Khoikhoi weiterzuführen. Dabei schweiften ihre Gedanken ab zu ihrem Stamm und wie wenig sie von der Welt außerhalb ihrer Savanne kannte. Gelegentlich waren Männer mit seltsamer Kleidung zu ihrem Stamm. Sie brachten immer noch kurioser Dinge mit, aber die Ältesten wollten keinen Kontakt zu ihnen. Sie wollten die Traditionen ihres Volkes in Ehren halten. Das Moderne hatten sie regelrecht verteufelt. Manchmal hatte Niara es schade gefunden, aber sie wollte ihren Eltern keine Schande bereiten. Letztlich wollte sie gerne die gesamte Welt mal sehen, aber dafür war sie viel zu klein. Sie würde niemals die Chance darauf bekommen. Doch jetzt musste sie sich wieder auf ihr Ziel – das erfolgreiche Jagdritual – konzentrieren.
Diese Jagd würde ihr den Eintritt in das Erwachsenenalter der Khoikhoi gewähren. Sie hatte in den letzten sechsundzwanzig Monaten darauf hingearbeitet. Sie musste ihren verstorbenen Eltern die Ehre erweisen.
Letztlich war es besonders in diesen Zeiten umso schwieriger, solche Prüfungen zu unternehmen, da anscheinend das gesamte Volk der Khoikhoi mit einem Mal gestorben war. Trotzdem wollte sie diese wichtige Tradition weiterführen.
Plötzlich fiel ihr der Moment ein, in dem ihr gesamter Stamm gestorben war. Niara hatte es aus der Ferne beobachten können. Sie war gerade dabei gewesen, mit ihrem Vater von einer Jagd zurückzukehren, als sie plötzlich wie taub gewesen war. Alle möglichen Gefühle und seltsame nicht näher beschreibbare Kräfte waren auf sie eingestürmt und trotzdem fühlte sie sich auf einmal leer. Es war so viel gewesen, dass sie benommen dastand und geradeaus blickte.
Zuerst wusste sie nicht, was passiert war, doch als sie nach ihrer Familie schauen wollte, konnte sie sehen, wie die Menschen des gesamten Dorfes zusammensackten. Erschrocken von dem Anblick hatte sie sich zu ihrem Vater schnell umgedreht. Doch auch ihr Vater war neben ihr zu Boden gefallen. Überrascht war sie neben ihm auf die Knie gegangen und hatte ihn abgetastet. Irgendwo musste es doch eine Wunde geben oder einen Hinweis auf eine Krankheit, doch hatte sie nichts gefunden. Er war einfach so gestorben, wodurch Niara heftig schlucken musste. Das durfte doch nicht sein. Voller Trauer war Niara in die Siedlung gerannt und hatte zwischen den auf der Erde liegenden Menschen nach ihrer Mutter gesucht.
Es war schon zu spät gewesen. Sobald Niara ihre Mutter angefasst hatte, wusste sie, dass sie tot war. In dem Moment war für die junge Frau die Welt zusammengebrochen. Sie hatte sich stundenlang auf der Stelle gewiegt, während ihr ohne Pause Tränen über die Wangen liefen.
Erst am nächsten Morgen – als die Sonne ihr ins Gesicht schien – konnte sie sich wieder aufraffen. In diesem Moment erinnerte sich Niara an die Sachen, die ihr ihre Eltern beigebracht hatten: einen starken Willen und die Kunst, auch bei widrigen Umständen einen Weg des Überlebens zu finden – das waren die großen Gaben ihrer Eltern.
Immer wieder hatte ihre Mutter gesagt, dass sie zu etwas Großem bestimmt war. So eine Aussage kannte man zwar von jeder Mutter, aber in dem Volk der Khoikhoi wurde es als hochnäsig betrachtet, weswegen Niara darüber hinweggegangen war. Zwar hatte ihr die junge Frau es nicht geglaubt, aber sie hatte die restlichen Lektionen dankbar angenommen und die hatten ihr besonders in den letzten Monden den Weg geebnet.
Jetzt musste sie es aber erst mal schaffen, den Erwachsenenstatus zu erlangen. Also lenkte sie ihre Gedanken wieder auf die alte Kudu-Antilope vor ihr. Langsam richtete sich die junge Frau auf und hob den Speer. Sofort spannte sich die Herde allesamt an. Sie hatte die Gefahr, welche von Niara ausging, gespürt. Die Frau stand noch einen Augenblick ruhig da, bevor sie den Speer mit voller Wucht nach vorn schleuderte. Er traf das Tier in die Seite, doch fiel er sogleich wieder ab. Er hatte nicht den richtigen Halt gefunden.
Die Antilope stürmte auf der Stelle los und Niara nahm die Verfolgung auf. Jedoch rannte die junge Frau nicht Hals über Kopf hinterher, sondern trabte ausdauernd, wie es ihr Vater beigebracht hatte als die typische Khoikhoi-Jagd. Sobald sie an ihrem Speer vorbeilief, beugte sie sich schnell im Rennen runter und nahm ihn in die Hand. Jetzt begann der schwierige Teil der Jagd.
Sie musste einerseits die Antilope in die Enge treiben, andererseits durften ihr keine Raubtiere die Antilope vor der Nase wegschnappen. Als ihr Volk noch gelebt hatte, hatten die Männer in einem Verband gejagt, wo die Aufgaben klar verteilt waren. So konnten die Männer, wenn sie eng beieinander rannten, eine große Stärke simulieren. Raubtiere ließen sich davon beeindrucken. Doch jetzt war das Leben und die Jagd anders. Sie war allein und eine zierliche Frau. Das komplette Gegenteil zu dem, was die traditionelle Jagd bedeutete. Zusätzlich wusste sie, dass diese Jagd höchstwahrscheinlich länger als einen Tag dauern würde. Sie hatte die Antilope nicht stark genug an der richtigen Stelle getroffen, daher war sie nicht verletzt. Nicht die optimale Kombination.
Niara musste fast den ganzen Tag durchrennen und die Antilope vor sich hertreiben. Sie durfte nicht einmal stehen bleiben, ansonsten wäre ihre Beute, schneller als ihr lieb war, entfleucht. Schließlich begann die Antilope langsamer zu werden, sodass Niara ihr endlich näherkommen konnte. Während die Frau ihren Atem unter Kontrolle hielt, keuchte die Kudu-Antilope laut und ihre Muskeln zitterten sichtbar. Endlich war es so weit. Die Antilope war mit ihren Kräften am Ende.
Auf einmal blieb das Tier kraftlos stehen, bevor sie sich langsam auf den Boden kniete. Nicht mehr lange und Niara konnte die Jagd erfolgreich abschließen. Ihre Ahnen würden stolz auf sie sein. Sie ging vorsichtig näher zu der Antilope und hob ihren Speer hoch, um die Antilope zu töten. In weniger als einer Sekunde würde es so weit sein.
Doch auf einmal änderte sich etwas. Die junge Frau richtete sich auf, wie die Antilope am Tag zuvor. Sie konnte zuerst nicht benennen, was genau sie spürte – was sich verändert hatte. Jedoch wusste sie, dass es nichts Gutes verhieß. Dafür war diese unbekannte Veränderung zu schnell und unerwartet gekommen. Die junge Frau schaute sich um. Aufgrund ihrer Körpergröße von 1,70 m war sie größer als der durchschnittliche Mensch in ihrem Stamm, was ihr nun half, ein wenig weiter über die Savanne zu schauen.
Daher entdeckte sie den Mann in der Ferne sofort. Er war um einiges größer und stämmiger als jeder Mensch, den sie von früher kannte. Das konnte sie schon daran erkennen, dass er genauso groß war wie der Baum neben ihm. Er war angsteinflößend – sehr sogar. Enorme Zähne schauten aus seinem Mund heraus und aus seinen Händen wuchsen riesige Krallen.
Und das war nicht einmal das Schlimmste. Dieser Mann schaute genau in ihre Richtung. Seine Augen fixierten ihre wie ein Jäger seine Beute. War dieser Riese ihretwegen hier? Oder bildete sie es sich ein? Sie konnte es aus dieser Entfernung nicht sagen.
Auf einmal war er verschwunden, einfach in Luft aufgelöst, und die junge Frau wusste, dass sich die Situation grundlegend geändert hatte. Sie war nicht mehr die starke Jägerin, welche vor einigen Augenblicken fast eine Antilope getötet hatte. Jetzt war sie die Gejagte.
Schnell bückte sie sich nach ihrem Speer und rannte los, so schnell sie konnte. Dieser Mann durfte sie nicht in die Hände bekommen, also lief sie um ihr Leben. Niara versuchte ihre letzten Kräfte zu mobilisieren und so schnell wie möglich ein Versteck in der Trockensavanne zu finden, wo kaum ein Baum geschweige, den eine Höhle oder Stein zu finden waren.
Schon nach wenigen Minuten begannen ihre Beine zu brennen. Bisher war sie in ihrem normalen Ausdauerlauf gerannt, jetzt musste sie jedoch einen Sprint hinlegen, den sie nicht gewohnt war. Ihr Atem ging keuchend und der Schweiß stach ihr in den Augen.
Sie rannte vielleicht zwei Kilometer, bevor sie letztlich vor Erschöpfung zusammenbrach. Heftig keuchend blieb Niara liegen.
Plötzlich spürte sie jemanden direkt neben sich stehen. Es war die gleiche grausame Energie, wie sie sie einige Minuten vorher gespürt hatte. Da wusste sie, ohne sich umzuschauen, dass dieser Mann sie problemlos verfolgt und sie nun gefunden hatte.
Somit war diese ganze Flucht sinnlos gewesen. Als sie versuchte, aufzuschauen, konnte sie das Gesicht des Mannes nicht erkennen. Die Sonne stach sie in den Augen. Er sagte irgendetwas zu ihr, was sie nicht verstand, und beugte sich dann zu ihr runter und berührte sie. Sofort brannte ein Schmerz durch ihren Körper, wie sie ihn noch nie gekannt hatte. Es fühlte sich an, als würde sie bei lebendigem Leib gehäutet werden. Der Schmerz war so groß, dass sie schon nach wenigen Sekunden in eine wohltuende Ohnmacht fiel.
Er hatte es geschafft. Er hatte einen der letzten Menschen gefunden. Es war eine kleine, dünne Menschenfrau. Wie sie überhaupt bis jetzt überleben konnte, in der tiefsten Wildnis und mitten im Nirgendwo, wusste er nicht. Aber er würde es aus ihr herausbekommen. Schließlich hatte er schon vor Jahrhunderten begonnen, Wissen aus den Menschen heraus zu foltern.
Es war ein Hobby von ihm, Menschen zu brechen. Besonders, wenn er sie danach leer trinken konnte. Das Blut schmeckte nach der Todesqual umso köstlicher. Er lächelte voller Vorfreude, noch einmal diesen Geschmack auf seiner Zunge zu haben. Er musste jedoch vorsichtig sein, dass dieser lebendige Blutsack auch ja lange hielt. So einfach war es nicht mehr, an Menschenblut zu kommen.
Er beugte sich runter und hob die Frau mit einer Hand am Genick an. Während er ging, zog er sie hinter sich her. Er würde seinen Spaß haben und zudem das benötigte Wissen von ihr bekommen. Sein Anführer würde so stolz auf ihn sein und ihn endlich zu seiner rechten Hand machen, wie es ihm zustand. Sein Mund verzog sich zu einem grausamen Lächeln, während dem seine spitzen Zähne zum Vorschein kamen.
Die anderen würden schon sehen, was sie verpassten, und auch die restliche Welt der Übernatürlichen würde sehen, wem sie in Zukunft dienen würden. Er würde zu einem Herrscher ohne Gleichen werden. Er würde nicht mehr das unbedeutende Dasein fristen, wie in den letzten Jahrhunderten. Auch wenn er es genossen hatte, Menschen damals zu quälen und zu foltern. Er war zu etwas viel Größerem geboren worden.
Durch das Ritual für das Massensterben der Menschen war er zu mehr Macht gekommen – wie genau konnte er nicht sagen, das hatte sein Anführer ihm nicht exakt geschildert. Doch tat es gut, so viel Macht zu besitzen. Und jetzt würde er alles tun, um seine Macht zu erhalten und sogar ins Unermessliche zu steigern. Die anderen würden schon noch sehe, was sie davon hatten, ihn ständig zu unterschätzen.
Als sie wieder aufwachte, war es um Niara herum finster. Ihr Körper schmerzte noch immer von der Erinnerung an das Gefühl, als dieser Mann sie berührt hatte. Besonders ihr Hals und auch ihre Beine taten weh, als wäre dort keine Haut mehr vorhanden, als wäre jemand mit scharfkantiger Rinde über ihre Haut gefahren.
Mit ihren Augen begann sie, sich in dem Raum, in dem sie sich befand, umzuschauen. Es gab ein paar Luken, die einen Blick nach außen gewährten. Sie konnte einen schwachen Lichtschein, dass einen orangen Ton aufwies. Es musste abends oder morgens sein. So genau konnte sie es in diesem Moment nicht sagen.
Zumindest war es ihr möglich, somit einen besseren Blick auf den Raum ihres Gefängnisses zu werfen. Die Wände bestanden aus einer rauen Lehmschicht und der Boden war festgetretene Erde. Es war fast wie eine Hütte aus ihrem Stamm, aber das konnte nicht sein. Denn es fehlten die Malereien ihres Stammes. Typische Tiergestalten und Bäume. Der Raum war zu kahl. Diese Hütte musste irgendwo anders stehen.
Doch waren sie zu hoch, als dass sie, selbst im Stehen, nach draußen blicken konnte. Sonst befand sich nichts in diesem Raum außer dem Käfig, in dem sie eingesperrt war. Nur eine weitere Tür befand sich noch hier. Hier lebte definitiv niemand.
Sie richtete sich auf und versuchte, dabei möglichst keinen Laut von sich zu geben. Trotzdem entfuhr ihr vor Schmerz ein leises, gequältes Stöhnen. Sofort ging die Tür auf und der riesige Mann trat ein. Endlich konnte die junge Frau auch sein Gesicht erkennen.
Etwas wurde ihr sofort klar: Dieser Mann war kein Mensch. Dafür leuchteten seine Augen zu sehr. Sie waren wie Sonnen, die sich in die Frau hineinbohrten. Doch auch etwas anderes war falsch an ihm, allerdings konnte sie nicht sagen, was es war.
Auf einmal begann der Mann zu sprechen und lachte dann laut und bösartig. Obwohl sie seine Sprache nicht verstand, wusste die junge Frau, sie würde leiden müssen. Sie war gefangen und niemand wusste es. Sie war allein auf dieser weiten Welt und der Gnade ihres Entführers hilflos ausgeliefert.
2. Kapitel – Oktober, Jahr 3 nach der Menschheit
Ohne die richtigen Prinzipien kann ein Kampf nicht gewonnen werden. – Miyamoto Musashi, Buch des Windes
„Niara! Niara!“, rief ihre Mutter. „Komm her! Ich muss dir etwas erzählen! Es ist wichtig, dass du es weißt.“
Niara stand verwundert von ihrer Aufgabe – dem Zuschneiden von Lederstücken – auf und ging zu ihrer Mutter hin. Sie fragte sich ratlos, was ihre Mutter ihr gerade jetzt unbedingt erzählen musste. Sie hatte ihr doch alles Mögliche erzählt – von Handarbeit bis Mythen -, weswegen es eigentlich nichts mehr Neues geben sollte. Allerdings war sich Niara nie sicher, wie viel sie von dem erzählten behalten würde. Doch ihre Eltern und auch der Stamm hatte kein Erbarmen gezeigt und ständig weiter Geschichten erzählt. Wahrscheinlich würde sie in einigen Jahren nichts mehr davon wissen, doch jetzt musste sie gute Miene machen.
Sie setzte sich neben ihre Mutter auf den Boden und begann ihr, ohne weitere Worte zu verschwenden, bei dem Korbflechten zu helfen. Sie war nicht gut darin, aber es freute ihre Mutter immer, wenn Niara es zumindest für ein paar Minuten probierte. Niara wartete schweigend ab, bis ihre Mutter etwas sagte. Es dauerte eine geraume Zeit, denn ihre Mutter beobachtete die anderen Kinder, welche um sie herumspielten.
Erst jetzt fiel Niara auf, wie alt dieser Blick in ihren Augen war. Älter als jede andere Frau in ihrer Gemeinschaft und auch älter als die der Dorfältesten. Was hatte diesen Blick nur so werden lassen?
Auf einmal begann ihre Mutter mit erstickter Stimme zu reden: „Ich habe es dir noch nie gesagt, aber du bist das einzige meiner Kinder, welches lebend von mir geboren wurde. Ich bin dafür auf ewig den über uns wachenden Geistern der Natur dankbar. Du warst mein letzter Versuch. Ich hatte so viel Angst, dass ich dich auch noch verlieren würde, dass ich jeden Abend und Morgen stundenlang zu den Naturgeistern gebetet habe. Meine Knie waren blutig aufgerissen und dein Vater hat sich Sorgen um mich gemacht. Ich konnte diese ganzen Verluste einfach nicht mehr ertragen. Der Schmerz wurde zu groß.“
Ihre Mutter schwieg und Niara wartete – zu entsetzt, um etwas zu sagen. Das hatte sie nicht gewusst. Doch wenn Niara ehrlich zu sich war, hatte sie tief in ihrem Unterbewusstsein geahnt, dass es einen Grund gegeben haben musste, dass sie ein Einzelkind war. Sie dachte über all die toten Seelen ihrer Geschwister nach und trauerte ihnen nach. Sie vermisste die Möglichkeit, ihre Geschwister kennenzulernen.
„Kurz vor der Geburt habe ich mich unserer Tradition entsprechend an einen einsamen Ort außerhalb des Dorfes zurückgezogen. Dein Vater blieb zurück, er konnte mir bei dieser schwierigen Zeit nicht beistehen, so gerne er es auch wollte. Sobald die Geburtsschmerzen einsetzten, habe ich begonnen, auf das Innigste zu beten, dass du überleben wirst. Ich wollte dich so gerne lebend in meinen Armen halten, das kannst du dir gar nicht vorstellen.“
Jetzt kämpfte ihre Mutter sichtlich mit den Tränen, denn sie schluckte kräftig mehrere Male.
„Schließlich habe ich dich nach Stunden der Qual zur Welt gebracht. Aber du hattest keinen Lebensfunken in dir – kein Schreien, kein Atmen. Ich habe mir vor Verzweiflung die Seele rausgeschrien. Meine Kehle fühlte sich blutig an. Stunden später bemerkte ich, dass ich nicht mehr allein war.
Als ich aufschaute, stand vor mir das seltsamste und wunderschönste Wesen, was ich je gesehen habe – es fühlte sich irgendwie so fehl am Platz an. So etwas Atemberaubendes gab es in dieser Savanne nicht. Es war ein großer Vogel, der so prächtig war, dass es mir den Atem verschlug. Er hatte lange Beine und sehr lange Schwanzfedern, wie ich sie bisher noch nie gesehen habe und auch danach nicht wieder. Sein Hals war so lang dass dieser Vogel um einiges größer war als ich.
Er hatte zwei längliche Augen und einen spitzen, leicht gekrümmten Schnabel. Sein Federkleid war wunderschön. Sein Kopf war so grün wie die Bäume in der Regenzeit. Der Hals war weiß, regelrecht rein. Der Rücken hatte eine blutrote Farbe und die Brust war so schwarz wie die dunkelste Nacht. Seine Beine hatten die gelbe Farbe der Sonne.“
Niara schaute ihre Mutter erstaunt an. So ein Vogel war zu außergewöhnlich, als dass er wirklich hätte existieren können. Das Tier würde nicht einen Tag in der Savanne überleben können. Jedes Raubtier würde Jagd auf dieses auffallende Tier machen, sobald sie es sahen.
„Er hatte etwas Gütiges an sich. Er hat mich angeschaut und danach dich, wie du tot auf meinem Schoß gelegen hast. Auf einmal hat er begonnen zu reden, allerdings in meinem Kopf.
‚Ich habe deinen Schmerz gehört. Es tut mir so unfassbar leid, was dir in den letzten Jahren widerfahren ist, aber ich möchte dir etwas geben. Dieses Kind ist von den mystischen Energien dazu bestimmt, zu leben. Es hat eine große Zukunft vor sich, doch befindet sich noch ein harter und schwerer Weg vor ihr, der sie an die Grenzen ihres Selbst und weit darüber hinaustragen wird. Du und dein Mann müssen sie das Überleben in der Wildnis allein lehren. Nur so kann sie ihre Zukunft erreichen. Werdet ihr es tun? Versprecht ihr mir das?‘
Ich konnte in diesem Moment nur nicken. Es war mir egal, was ich machen musste, damit du leben konntest. Das war das Einzige, was ich wollte. Ich hätte auch meine Seele weggegeben, wenn es nötig gewesen wäre.
Danach hat der Vogel seinen Kopf auf dich gesenkt und dich mit dem Schnabel berührt. Sofort hast du einen Atemzug genommen und begonnen zu schreien. Es war das lieblichste Geräusch, was ich mein ganzes Leben lang hören wollte.“
Ihre Mutter wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln, bevor sie weitersprach: „Ich konnte es nur deinem Vater erzählen, niemandem sonst, und gemeinsam haben wir dich, so gut es uns möglich war, aufgezogen und auf den ständigen Überlebenskampf vorbereitet. Die anderen hätten mir niemals geglaubt. Doch jetzt weiß ich nicht, ob das genug gewesen ist.“
Ihre Mutter drehte sich auf einmal zu Niara um und schaute sie nun direkt an. „Versprich mir, dass du immer kämpfen und unbeirrt deinen Weg gehen wirst. Niemand darf dich je brechen. Du bist eine Kämpferin mit einem unzerstörbaren Willen. Denk daran, dass dein Vater, das gesamte Volk der Khoikhoi und ich immer hinter dir stehen werden.“
Niara konnte nur nicken. Sie war überrumpelt von dieser Offenbarung. In dem Moment wusste sie, dass sie ihre Eltern nicht enttäuschen wollte.
