Blinde Flecken - Chiara Valerio - E-Book

Blinde Flecken E-Book

Chiara Valerio

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Beschreibung

Vittorias Tod trifft die ehrgeizige und eigensinnige Anwältin Lea völlig unerwartet. Vittoria soll in ihrer Badewanne ertrunken sein. Doch wie konnte es dazu kommen? Lea glaubt nicht an einen Unfall, und so beginnt sie, Nachforschungen anzustellen. Von dem Tag an, als Vittoria in der italienischen Kleinstadt Scauri auftauchte und gemeinsam mit einer Frau namens Mara ein altes Haus bezog, war Lea von ihrer schillernden Persönlichkeit fasziniert. Nach und nach versucht sie, mehr über ihr Leben herauszufinden, spricht mit dem Apotheker, bei dem Vittoria als versierte Heilpflanzenkennerin arbeitete, mit dem Pfarrer, mit Vittorias Ex-Mann und natürlich mit Mara, der Frau, mit der Vittoria zusammenlebte. Je mehr Lea über Vittorias facettenreiche Vergangenheit in Erfahrung bringt, desto besser lernt sie sich selbst kennen und muss schließlich ihr eigenes geordnetes Leben mit ihrem Mann und den zwei Kindern infrage stellen.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

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Über die Autorin

Chiara Valerio wurde 1978 in Scauri geboren und lebt in Rom. Sie ist promovierte Mathematikerin, Dozentin, Journalistin und Autorin zahlreicher Essays, Romane und Kurzgeschichten. Blinde Flecken war in der Endauswahl des renommierten Premio Strega 2024, wurde in Italien gleich ein großer Erfolg und ist ihr erster Roman bei Kein & Aber.

Über das Buch

Die beliebte Vittoria stirbt völlig unerwartet, sie soll in ihrer Badewanne ertrunken sein. Die Anwältin Lea glaubt nicht an einen Unfall und beginnt Nachforschungen anzustellen. Denn von dem Tag an, als Vittoria in der italienischen Kleinstadt Scauri auftauchte und gemeinsam mit einer jungen Frau namens Mara ein altes Haus bezog, war Lea von ihrer schillernden Persönlichkeit fasziniert. Sie versucht, mehr über ihr Leben herauszufinden, spricht mit der Apothekerin, bei der Vittoria als versierte Heilpflanzenkennerin arbeitete, mit dem Pfarrer, mit Vittorias Ex-Mann und natürlich mit Mara. Je mehr Lea über Vittorias facettenreiche Vergangenheit in Erfahrung bringt, desto besser lernt sie auch sich selbst kennen und muss schließlich ihr eigenes geordnetes Leben mit Mann und Kindern infrage stellen.

Nein, es war schon so: durch vieles Zusammentragen – von Gegenständen, von Pflanzen, von allem möglichen – kam man am Ende darauf, nun auch Menschen sammeln zu wollen.

Micòl Finzi-Contini

Niemand kann sich vollkommen kontrollieren.

Teresa CrEmisi, La Triomphante

Kaum waren die Mädchen aus dem Auto gestiegen, eilten sie auch schon ohne ein Wort des Abschieds davon.

In der Tür wartete bereits meine Mutter und umarmte sie. Lächelnd sah sie mich an und hob das Kinn, so als wollte sie sagen, keine Sorge.

Luigi ließ den Motor an. Nicht, dass ich es mir noch anders überlegte, es bereute, die Einladung übers Wochenende nach Ponza angenommen zu haben – in ein Haus mit Blick auf den Hafen.

Die Überfahrt von Formia aus verlief angenehm, es war ein warmer, ja schwülwarmer Freitagnachmittag. Tatsächlich war die Luft am Samstag und Sonntagvormittag vor der Abreise drückend schwer, so als würde es gleich anfangen zu regnen, aber dann regnete es doch nicht. Wir gingen spazieren, aßen etwas und badeten – nur Luigi nicht, der fand das Meer zu kalt, obwohl das gar nicht stimmte. Er hörte lieber den Leuten an den Tischen der Hafenbar zu.

Als wir am Sonntagabend wieder nach Hause kamen, brachte ich die Mädchen ins Bett, blätterte in der Nachmittagsausgabe des Golfo, des hektografierten Pfarrblatts, und rauchte eine Zigarette.

Dass ich die Nachricht von Vittorias Tod übersah, lag daran, dass ich vor dem Schlafengehen prinzipiell weder Todes- noch Immobilienanzeigen lese.

Am Montagmorgen in der Kanzlei, als ich gerade versuchte, den Haushaltswarenhändler und seine Frau davon abzubringen, Anzeige zu erstatten, nachdem ihr minderjähriger Sohn bei einer Schlägerei den Kürzeren gezogen hatte, kam meine Sekretärin Cristina herein, um mir auszurichten, sie habe da eine Frau am Telefon, die mich dringend sprechen wolle. Ich entschuldigte mich und ging aus Diskretionsgründen hinaus. Es war Mara. »Vittoria ist gestern Vormittag gestorben«, sagte sie leise, gefasst – ein Höflichkeitsanruf. »Ich weiß, dass du ihr gefallen hast und dass sie dir gefallen hat.«

Sie benachrichtige gerade die Freunde.

Ich war nicht in der Lage, irgendwelche Fragen zu stellen, und dachte daran, wie ich es mir in Ponza hatte gutgehen lassen, während Vittoria in Scauri gestorben war.

»Ein Unfall«, erklärte Mara. »Ein Unfall in der Badewanne«, wiederholte sie mit einer Stimme, die mit jeder Silbe schwächer wurde. Ich versprach, bei ihr vorbeizuschauen, und sie sagte kurz vor dem Auflegen, ohne jedes Dankeschön: »Sie ist hier, zu Hause, übermorgen ist die Beerdigung.«

Wieder in meinem Büro, setzte ich das Gespräch mit dem Haushaltswarenhändler und seiner Frau fort und ließ dabei das Türschloss nicht aus den Augen, das hin und wieder zwischen ihren Köpfen auftauchte, die sie beim Reden heftig bewegten. Der Mann schrie förmlich, es setzte ihm offenbar zu, dass der Sohn Schläge hatte einstecken müssen.

»Der Kerl hat eine Bierflasche nach ihm geworfen, die ihn Gott sei Dank nicht am Kopf getroffen hat, denn dann wäre er tot gewesen, Lea, sie hat ihn bloß gestreift, okay? Riccardo ist kein Feigling, deswegen ist er hin und hat ihm eine reingehauen, und da hat der andere Anlauf genommen und ihm mit einem Kopfstoß die Nase gebrochen. Das war kein Unfall.«

»Das war kein Unfall«, wiederholte Anna, die Mutter. »So ein Verhalten muss in jedem Fall geahndet werden«, fügte sie hinzu, um dann genervt herumzufahren, vermutlich weil sie wissen wollte, was ich da hinter ihrem Kopf fixierte.

Ein Unfall in der Badewanne, dachte ich und sah Vittoria wieder vor mir, ihren beschwingten Schritt, ihre weder dunkle noch helle, aber intensive Augenfarbe, ihr ärmelloses blaues Leinenkleid. Ich sah, wie sie über den Gehsteig lief, vor den Schaufenstern stehen blieb und den Kopf schüttelte. Was sie von den ausgestellten Waren hielt, habe ich nie erfahren. Sie machte sich über Sachen lustig, die eigentlich nicht zum Lachen waren: über Leute, die sich gegenseitig Hörner aufsetzten oder oben auf dem Friedhof Zweifamilien-Grabhäuser errichten ließen, über Leute, die blöd stürzten, über Leute im Rollstuhl, die an architektonischen Barrieren scheiterten. »Stell dir vor, da ist so eine Barriere, und das wars!«

Ich war häufig bei Vittoria gewesen und kannte die Badewanne, in der sie gestorben war, sie war schlichtweg nicht zu übersehen, weil das Bad am Ende eines langen Flurs der Haustür direkt gegenüberlag. Dort befand sich unter einem gelbgrünen Buntglasfenster die Wanne. Die Scheiben bildeten ein unregelmäßiges Schachbrettmuster aus Vier- und Rechtecken, Boden und Wanne waren mit glänzenden schwarzen Kacheln gefliest.

Das Haus war Anfang der Siebzigerjahre, als Vittoria mit Mara nach Scauri gezogen war, renoviert worden. Wir alle kannten die Wanne, die uns besonders wegen dieser schwarzen Kacheln aufgefallen sein dürfte. Das hatte mir zumindest Enrico bestätigt, ich hatte ihn aus irgendeinem Grund danach gefragt, vielleicht als wir unser Haus sanieren ließen. Enrico vertrieb Sanitärzubehör und Fliesen im Süden der pontinischen Ebene bis nach Fondi und war ein Onkel meines Mannes. Soweit ich mich erinnern konnte, war das Haus bis dahin unbewohnt gewesen.

Aber seit Vittoria dort lebte, stand seine Tür immer offen, man betrat es vom Garten aus, und schon auf der Veranda herrschte eine heitere Atmosphäre, Leute plauderten, Hunde tollten umher, Katzen sprangen auf den Tisch und schärften ihre Krallen an den Bäumen. Es gab auch einen Pfau: Patrick.

Das war jedes Mal so, wenn ich hinging, vom ersten Tag an. Für mich und für alle anderen, denn schon als das Haus noch gar nicht fertig renoviert war, veranstalteten sie zu Maras Geburtstag ein Fest. Ich selbst war nicht dort, habe aber davon gehört. Alle sprachen darüber.

Es war ein kleines Haus, aber mit Stil, wenn auch heruntergekommen, zwei Stockwerke und ein schönes Eingangstor in der Via Romanelli, dazu ein kleiner Garten, der nach zwanzig Jahren richtig üppig war. Vittoria kannte sich mit Pflanzen aus, sie las Gartenbücher und ging viel spazieren, ja schaffte es zu Fuß bis zum »Erlöser«, wo die Christusstatue stand. Gartenbücher zu lesen, war laut der Buch- und Schreibwarenhandlung, in der Vittoria die Ratgeber bestellte, etwas ganz Besonderes. Besonders im Sinne von sonderbar. Wir anderen hatten Gemüse- und Blumenbeete – Gärten waren nur was für vornehme Leute. Oder aber sie gehörten der Gemeinde. Die Villa von General Nobile hatte einen richtigen Garten und das Gemeindehaus mit den Kinderkarussells hinter dem Eiskiosk Sayonara ebenfalls, aber der war ein öffentlicher Park.

Als sie hergezogen waren, hatte niemand groß Fragen gestellt – vielleicht weil niemand begriffen hatte, dass sie sich hier dauerhaft niederlassen würden. Vittoria nahm einen Job in der Apotheke an, und Mara eröffnete eine Hunde- und Katzenpension, als sich noch niemand Gedanken über so etwas machte. Keine Ahnung, ob sie ein Gewerbe angemeldet hatte oder Steuern zahlte, aber viele gingen hin, um sich dort neugierig umzuschauen, außerdem braucht jeder mal irgendwen, der sich für ein paar Tage um den Hund oder die Katze kümmern kann.

So war auch ich dorthin gekommen, im Dezember 1974.

Ich hatte mit meiner Mutter gestritten und wollte sie nicht darum bitten, Madama, meinen Hund, zu nehmen. Mama konnte einfach nicht akzeptieren, dass die Zeiten vorbei waren, in denen Tiere wie Hunde und Katzen entweder Streuner waren, denen man hin und wieder etwas zu fressen gab – aber bloß nicht zu viel, denn sie sollten nicht anhänglich werden – und die früher oder später unter die Räder eines Autos kommen würden, oder aber so was wie Schaufel und Besen, lebende Arbeitsgeräte. Hunde bewachten das Haus, Katzen fingen Mäuse, Hühner legten Eier, Kühe gaben Milch und Fleisch, einmal im Jahr wurde ein Schwein geschlachtet, und ich musste den Darm säubern, der anschließend gefüllt und zu Wurst und Salami verarbeitet wurde. Ein Tier als Begleiter? Das ging ihr einfach nicht in den Kopf. »Wenn es nicht sprechen kann, was ist es dann für ein Begleiter?«, wandte Mama mit finsterer Miene ein, während sie den Küchenfußboden kehrte. Selbst ich war für sie ein Arbeitsgerät, schließlich war ich ein Mädchen, ihre Stütze im Alter. Eine lebende Stütze. Sie wollte nicht mal, dass ich nach meinem Studium das Stipendium annehme. »Le’, fang an zu arbeiten, du musst heiraten.«

Mama hätte Madama drei Tage im Freien gelassen. Ich wollte nicht heiraten, ich wollte weiterstudieren und zwei Tage wegfahren, um Luigi zu besuchen, der beim Militär war. Ich wusste nur nicht, wo ich den Hund lassen sollte, und da schlug mir meine beste Freundin Alba Maras Pension vor. Sie selbst war noch nie dort gewesen, hatte aber auf einer Zugfahrt nach Rom davon gehört. »Dann kannst du beruhigt sein, sonst denkst du in der Zeit mit Luigi ständig an Madama.« Alba war seit jeher praktisch veranlagt.

Luigi gefiel mir, er bezeichnete Madama als »Hund im Wolfspelz« und war Reserveoffizier in einem abgelegenen Dorf der Provinz Salerno, genannt »Die Schlangengrube«.

Der Garten, der zu dem Haus gehörte, in dem Mara und Vittoria lebten, war damals noch nicht so schön wie heute, noch gab es keine Dachterrasse und auch keinen Zaun, aber man merkte, dass sich da jemand Gedanken machte und Tag für Tag darum kümmerte. Schon innerhalb weniger Monate gedieh er üppig. Tierpensionen waren noch nicht in Mode, Tierärzte kümmerten sich hauptsächlich um Hühner, Schafe, Kühe, Schweine und das ein oder andere Kaninchen. Kaninchen sind ganz besonders empfindlich.

»Der Erlöser« oder Monte Altino, auf dem Vittoria Pflanzen und Blumen sammelte, um sie anschließend auf Meereshöhe wieder einzusetzen, gehörte zu den Aurunker Bergen und wurde wegen der dortigen Christusstatue so genannt.

Dass sie sich dauerhaft niedergelassen hatten, wurde klar, als die Apothekenbesitzerin, eine sehr vornehme Frau aus Livorno, erfuhr, dass Vittoria das Haus in der Via Romanelli nicht gemietet, sondern gekauft hatte und dass Mara zwar als Miteigentümerin eingetragen, aber nicht ihre Tochter war. Das hatte der Notar eines Morgens in der Bar Italia zum Besten gegeben, während er eine weitere, ihm zufolge verrückte Erbschaft kommentierte. Dabei ging es um ein Haus bei Vindicio, für das man nur mit Mühe einen Erben hatte auftreiben können, ein schönes Haus. Und irgendwann hatte der Erbe zugunsten eines Freundes des Onkels, des einstigen Besitzers, darauf verzichtet. Doch wie der mit ihm befreundet gewesen war, konnte niemand sagen. Vielleicht lag es an dem Namen Vindicio, der einen sofort an den keine zehn Kilometer nördlich gelegenen Ort Formia denken ließ und der bei den lokalpatriotischen Leuten aus Scauri auf Anhieb Abneigung weckte, dass die eigentlich skandalöse Information, Mara sei gar nicht Vittorias Tochter, nicht für Klatsch sorgte. Sie fiel nicht auf fruchtbaren Boden, sondern war Wasser, das unter den Füßen der Leute aus Scauri dahinfloss wie der Rio Capo d’Acqua, der zugeschüttet worden war und auf der Strecke von den Forellenteichen bis zum Meer nur ganz kurz an die Oberfläche kam. Dort fingen die Kinder Kaulquappen und sperrten sie in Einmachgläser. Manchmal wurden die Kaulquappen wieder in dem kleinen Fluss ausgesetzt und wurden dann zu Fröschen, aber deutlich häufiger starben sie.

An dem Tag mit Madama, als sie mich mit einem alten Hund am Zaun stehen sah, kam mir eine Frau mit dunklem, knapp schulterlangem Haar lächelnd entgegen. Mit einer raschen energischen Kopfbewegung warf sie eine Strähne aus der Stirn, die ihr übers rechte Auge gefallen war. Sie hatte keine hellen, aber dennoch strahlende Augen, trug einen Strohhut, der auch schon bessere Tage gesehen hatte, dazu eine weich fallende Hose zu einem weißen Zopfpulli und hielt eine Gartenschere in der Hand. Auch meine Mutter bestellte mit einer gewissen Anmut den Boden, doch Vittoria sah aus, als wäre sie der Illustrierten Oggi entsprungen, in der ich hin und wieder Artikel über das Königshaus im Exil las. Sie sah aus wie eine arabische Prinzessin auf einem toskanischen Landsitz. Dabei lag hinter ihr bloß das heruntergekommene Haus samt verwildertem Garten und rissigem Putz. Es hatte einst den Nocella gehört, die vor der Sache mit dem Pferd das ganze Land von der Via Appia bis zu den Bahngleisen besessen hatten.

Ich fragte mich, ob ich den Hund auch für wenige Tage bei ihr lassen könnte und was das wohl kosten würde. Und genau das sagte ich auch, ohne mich lange mit Höflichkeitsfloskeln aufzuhalten.

Vittoria erwiderte weiterhin lächelnd: »Kommen Sie doch erst mal rein, und machen Sie es sich bequem, möchten Sie ein Glas Wasser, einen Kaffee? Tamarindensirup?«

Ohne meine Antwort abzuwarten, legte sie mir eine Hand auf den Arm, um sich dann der Haustür zuzuwenden. Die Gartenschere ließ sie auf einem kleinen Eisentisch liegen, setzte dann den Hut ab und betrat das Haus. Sie hatte eine aufregende Frisur. Auf der Veranda standen ein Tischchen und zwei Stühle. In der Tür drehte sie sich noch einmal um, als wollte sie mich genauer unter die Lupe nehmen. Sie neigte den Kopf, und ich wandte errötend den Blick ab und schaute, ob mein Pulli einen Fleck hatte.

Kurz darauf kam sie mit zwei jungen Frauen heraus, setzte den Hut wieder auf, nickte mir höflich zu, tippte sich, die Gartenschere in der Hand, an die Krempe und setzte ihre Arbeit fort. Sie hatte etwas Martialisches. Eine martialische Höflichkeit und etwas Wogendes, Stürmisches: ein Schiffskapitän.

Wenn mein Opa an seine Hutkrempe tippte, dann als Zeichen von Respekt oder zum Abschied. Nach seinem Treueschwur hatte mir Luigi ein Foto in Offiziersuniform samt Visierhelm geschickt, und obwohl es ein SchwarzWeiß-Foto war, sah man, dass er helle Augen hatte. Helle Augen haben mir schon immer gefallen. Mit das Erste, was ich an Luigi geliebt haben dürfte, sind seine blaugrünen Augen. Es sind Männer, die ihre Hüte lüften.

Eine der beiden jungen Frauen kannte ich, Filomena war mit mir in die Grundschule gegangen. Sie war die Tochter des Bestatters. Als sie mich sah, machte sie keinerlei höfliche Geste, andererseits hatten wir längst keinen Kontakt mehr. Die andere hatte ich noch nie zuvor gesehen, sie wirkte wie eine Puppe: blondes, zu Zöpfen geflochtenes Haar, so lang, dass sie es sich zweimal um den Kopf legen konnte. Sie trug eine ausgeblichene Schlagjeans, eine sehr bunte Bluse und eine rechteckige Hornbrille. Sie war schön. Und hielt Madama die Hand hin.

»Hallo, ich bin Mara, ist das eine Brave?«, fragte sie.

»Ja, sie ist brav, aber ein bisschen inkontinent«, sagte ich rasch, um mich dann zu Filomena zu drehen, die so tat, als würde sie mich gar nicht kennen – so kam es mir zumindest vor.

»Ich bin Lea, weißt du noch?«

»Jaja, wir waren zusammen auf der Grundschule, aber du warst ehrgeizig, Le’, ich hab dich nie mehr am Strand gesehen.« Sie brach in Gelächter aus.

»Ich war mit meinem großen Bruder am Felsenstrand.«

»Aber ich hab dich auch sonst nie mehr gesehen.«

»Vielleicht haben wir uns verpasst, ich war in Formia auf dem Gymnasium und hab dann in Neapel studiert, bin mit Bus und Zug hin- und hergependelt, ich hab gelernt, meiner Mutter im Haushalt geholfen und …«

»Sag ich doch, dass du ehrgeizig warst, Le’, und was machst du jetzt?«

»Das Juraexamen.«

»Meine Güte, du hast schon fertig studiert! Willst du nicht heiraten?«

Keine Ahnung, warum, doch ehe ich antwortete, sah ich zu Vittoria hinüber, die Blätter beiseiteschob und mich neugierig musterte. Sie hatte die Hände über den Kopf gehoben, mit der einen hielt sie einen Zweig, mit der anderen schnitt sie ihn zurück. »Kletterrosen«, sagte sie laut, »die sind zäh, aber man muss ihnen zeigen, wo es langgeht, sonst bleiben sie Gestrüpp.«

»Doch, Filomena, ich hab einen Freund, aber mit dem Heiraten lass ich mir noch Zeit, und bis es so weit ist, pendle ich zwischen Rom und Scauri hin und her, ich hab ein Stipendium an der Pro Deo bekommen.«

Ich schaute nach unten und fing Madamas Blick auf, die mich mit heraushängender Zunge anstarrte, um sich die Erlaubnis zum Rumschnüffeln abzuholen. Sie sah erst zu mir und dann zu einem unter einem Baum liegenden Hund, bestimmt drei oder vier Mal hintereinander.

»Das macht dreihundert Lire am Tag«, sagte Mara, »Kost und Logis sowie Fellpflege. Wenn du willst, kannst du sie gleich dalassen, sie sieht nicht so aus, als wollte sie abhauen.« Sie lachte, aber nicht so ordinär wie Filomena, sondern hell und klar. Wie der Wildbach bei den Forellenteichen, oben auf dem Monte d’Oro, wenn die Fische springen. Eine Süßwasserfischzucht in einem Ort am Meer. Dort gab es auch ein Schwimmbad mit Rutschen. Und ein Restaurant mit Bar.

Dreihundert Lire waren nicht gerade wenig, aber das konnte ich mir leisten, außerdem wollte ich meiner Mutter beweisen, dass ich unabhängig war, zumindest finanziell, sie vielleicht auch ein wenig ärgern.

Auch Zuchtfische springen, das hatte mir Luigi erzählt, am Tag, bevor er zum Militär ging. Dann küsste er mich. Und sein Schnurrbart hatte mich kein bisschen gestört. Im Schwimmbad bei den Forellenteichen hatte es einen Unfall gegeben. Ein Junge war anschließend querschnittgelähmt. Im Winter sind die Schwimmbäder leer. Sind Sträucher eigentlich hässlich?

Daran, dass die Nocella ihr Land und die Häuser verloren hatten, war ebenfalls ein Unfall schuld. Das Pferd hatte ausgeschlagen und seinen Herrn getötet. Der hinterließ eine Frau und sieben Kinder, die nach und nach alles hatten verkaufen müssen. »Zum Glück haben sie was, das sie verkaufen konnten, anderen ist nicht einmal das vergönnt«, hieß es unten bei den Klippen in den Häusern der Fischer. »Manche Leute können nur sich selbst verkaufen, und trotzdem reicht es nicht zum Leben.«

»Ein Unfall in der Badewanne«, hörte ich immer wieder, als ich bei Lu Rusticone auf meine Pizza wartete, so als hätte jemand vergessen, das Radio auszumachen. Montags gab es bei uns immer Pizza zum Abendessen. »Ein Unfall in der Badewanne«, hieß es auch unterwegs immer wieder.

»Frau Anwältin, haben Sie das mit Vittoria gehört? Ein Unfall in der Badewanne.«

Carmela, die bei Ernesto Bruno, dem Wäschegeschäft gegenüber von Lu Rusticone, arbeitete, musterte mich neugierig, doch ich konnte ihr nur von meinem Telefonat am Vormittag berichten. »Ja, ein Unfall in der Badewanne«, hörte ich mich ebenfalls sagen, um dann fortzufahren: »Mara hat mich heute Morgen angerufen, um mir Bescheid zu geben, ich war gestern nicht zu Hause, die Beerdigung findet am Mittwoch statt.«

»Stellen Sie sich vor, ausgerechnet gestern Morgen hab ich sie noch bei den Klippen getroffen, und wie immer ist Vittoria kopfüber ins Wasser gesprungen, um eine gute halbe Stunde zu schwimmen, es dürfte so gegen sieben oder Viertel nach sieben gewesen sein. Stellen Sie sich vor, Frau Anwältin, irgendwann dachte ich schon, sie ist ertrunken, denn sie kam einfach nicht mehr zurück, doch dann hab ich sie hinter der Boje entdeckt, sie hat sogar den Arm gehoben, und als sie wieder rauskam, meinte sie, dass sie bei der Madonnenstatue Rast gemacht hat, um sich Ischia anzusehen.«

»Am Sonntagmorgen konnte man Ischia sehen?«

»Sogar Mondragone und Ponza, der Himmel war klar, das reinste Vergrößerungsglas.«

»Und dann?«

»Nichts dann, Frau Anwältin, wir haben bei Allo Scoglio einen Kaffee getrunken und gewartet, bis unsere Haare wieder etwas trocken waren, sie war gut drauf, zu Scherzen aufgelegt wie immer und meinte: ›Weißt du, Carmela, eigentlich müsste jeder Tag sein wie heute.‹ – ›Und das heißt?‹, hab ich gefragt, weil wir nur über den Streit mit den Flaschen von neulich Abend gesprochen hatten, doch sie hat mir nicht darauf geantwortet, sich bloß die Schuhe ausgezogen, vermutlich weil noch ein bisschen Sand drin war, sie am Fuß des Tischchens ausgeklopft und das Geld für den Kaffee dagelassen. Und statt im Meer zu ertrinken, ist sie in ihrer eigenen Badewanne ertrunken. Sie wissen nicht zufällig, wer sich da geprügelt hat?«

»Doch, Riccardos Eltern waren bei mir, um Anzeige zu erstatten, Riccardo hat eine gebrochene Nase.«

»Die wollen bloß Geld, Frau Anwältin, dieser Riccardo ist ein Nichtsnutz.«

»Entschuldigen Sie, Carmela, aber ich komme jetzt dran, und zu Hause warten die Mädchen.«

»Ich entschuldige mich, noch einen schönen Abend, und grüßen Sie den Herrn Lehrer von mir. Der Sohn vom Haushaltswarenhändler wird schnell handgreiflich, denken Sie nur an diese grässliche Sache an Ostern, Frau Anwältin.«

Eigentlich müsste jeder Tag sein wie heute, wiederholte ich im Stillen, doch wie war das gemeint? Was wollte Vittoria damit sagen? Luigi, der sich nicht für das Leben hier im Ort zu interessieren schien, aber immer alles wusste, meinte, Mara sei nicht daheim gewesen, als Vittoria am Sonntag nach Hause kam, sie war die beiden Doggen vom Landrat Comi ausführen. Mara ist über Santa Maria bis nach Spigno gelaufen, dann war sie müde und fuhr per Anhalter mit einem vom Gaskartuschenladen hinter der Steigung mit. Als sie ins Bad ging, um sich die Hände zu waschen, sah sie Vittoria unter der Wasseroberfläche liegen, vom Flur aus konnte man das nämlich nicht erkennen, aber sie hat nicht geschrien. Sie hat sie rausgezogen und geküsst.«

»Entschuldige, aber woher weißt du das alles?«

Wir drehten uns um, um zu gucken, ob die Kinder, die alles mitkriegen und alles weitererzählen, von der Pizza auch wirklich abgelenkt wurden.

»Entschuldige, Luigi, aber woher weißt du das?«

»Von Franca, du weißt schon, die ist jeden Sonntag nach der Elfuhrmesse zum Putzen dort. Sie hat ihre Tasche im Eingang abgestellt und alles mit angesehen, als sie näher kam und begriff, was passiert ist, hat sie angefangen zu schreien. Dann haben sie den Krankenwagen gerufen, aber da war offensichtlich nichts mehr zu machen.«

»Aber wie ist das bloß passiert?«

»Sie ist in der Badewanne ertrunken.«

»Wurde eine Obduktion gemacht?«

»Natürlich, Tommaso hat sie vorgenommen und Wasser in der Lunge gefunden.«

»Wie ist das nur möglich?«

»Keine Ahnung, ein Unglück halt, Lea. Franca schwor Stein und Bein, dass es bei offener Badezimmertür, die die ganze Szene förmlich umrahmt hat, vom Eingang aus aussah wie der Kuss zwischen Schneewittchen und dem Prinzen. Du weißt ja, dass sie kleine Enkelkinder hat und bloß noch Zeichentrickfilme schaut.«

Die Mädchen hatten die ganze Pizza aufgegessen und Die tollkühne Hexe in ihrem fliegenden Bett geschaut. Sie hatten sich nicht die Hände gewaschen. Die kleinen, fettigen Fingerabdrücke auf dem Kunstledersofa dufteten nach einer Pizza, die ich nicht gegessen hatte. Seit der Videorekorder bei uns eingezogen war, hatten Spielzeugwünsche Videokassettenwünschen Platz gemacht. Luigi schaffte es immer, sich Sachen zu kaufen, die die Mädchen dann als ihr Spielzeug betrachteten. Wissenschaftler sind wie kleine Kinder. Wir sammelten die Videokassetten, die den Zeitungen L’Unità und La Repubblica beilagen. Filmklassiker. Western. Als ich mich später im Bad entschloss, eine zu rauchen, starrte ich auf die Badewanne. Von ihrem Rand aus musterte ich den Wannenboden, als könnte der mir Aufschluss geben, was Vittoria zugestoßen war. Wie schafft es eine erfahrene Schwimmerin, eine die sommers wie winters ins Meer springt, zu Hause in ihrer eigenen Badewanne zu ertrinken? Ein Unfall, Frau Anwältin. Ein Unglück halt, Lea. Eigentlich sollte jeder Tag sein wie heute.

Als ich das Pfarrblatt vom Vorabend aufschlug und nach dem Artikel suchte, der mir eigentlich hätte auffallen müssen, mir aber nicht aufgefallen war, las ich: »Unsere Freundin Vittoria hatte zu Hause einen Unfall. Ein Unglück – vielleicht ist sie gestürzt, vielleicht wurde ihr schlecht. Gemeinsam trauern wir um sie – jetzt und für immer.« Ein Unglück. Schon wieder.

Würden die gelben Antirutsch-Fische die Mädchen davor bewahren?

Am nächsten Tag wartete Angelo, der Haushaltswarenhändler, schon in der Kanzlei auf mich: Er mache sich Sorgen um Riccardo, der unten auf der Piazza schon ironisch »Widder« genannt würde. Andererseits: Wenn man den Kopfstoß nicht austeilt, sondern einsteckt, was will man da erwarten? Angelo gab mir ein unscharfes, verwackeltes Polaroid. Darauf war zu sehen, wie jemand am Strand mit etwas warf, tatsächlich sah es wie eine Flasche aus. Ich erkannte die blauen Sonnenschirme vom Lido Oriente, die diskret geschlossen waren wie Knospen, sowie die Flutbrecher am öffentlichen Strand. Jemanden mit blond gelocktem kurzem Haar, T-Shirt und kurzer Hose, wahrscheinlich ein junger Mann, höchstwahrscheinlich Riccardo.

Das Foto war von jemandem gemacht worden, der hinter ihm stand, der Flaschenwerfer war von vorn zu sehen. Ein nicht zu identifizierendes Gesicht, aber mit regelmäßigen Zügen, ein helles Polohemd und ein blauer Pulli um die Schultern, dazu eine lange Hose und vermutlich Mokassins, die man allerdings nicht sehen konnte, die Füße waren abgeschnitten.

»Der andere hat eindeutig angefangen.« Angelo redete, aber ich hörte gar nicht zu. Am Spülsaum in der Ferne erkannte ich Vittoria als abendlichen Schatten, aber nicht so verschwommen wie der Rest, das Foto zeigte sie im Gehen, ihren beschwingten Schritt, in einem ärmellosen Kleid, die Bluse fast wie eine Schärpe um die Taille gebunden, mit ihrem seit einigen Jahren weißen Haar, was ihr gut stand, hocherhobenem Kopf und etwas vorm Gesicht, eine Sonnenbrille vermutlich, sie setzte sie gerne ab, nahm einen Bügel in den Mund und ließ sie so zwischen den Zähnen baumeln. Sie hatte sich nie die Haare gefärbt, und wenn ich sie so ansah, nahm ich mir vor, das auch so zu halten.

»Wie spät war es da?«, fragte ich den Vater des »Widders«.

»Vor dem Abendessen, so gegen acht, halb neun, brauchen Sie das Foto?«

»Wer hat es aufgenommen?«

»Ein Freund von meinem Sohn, der hat eine Polaroid zum Geburtstag bekommen, macht aber immer bloß verwackelte Bilder, der Depp.«

»Ich glaube nicht, dass ich etwas damit anfangen kann, aber lassen Sie es ruhig hier. Sind Sie sich sicher, dass Sie Anzeige erstatten wollen? Die beiden sind doch noch minderjährig.«

»Frau Anwältin, als Vater möchte ich nicht, dass Riccardo mit der Vorstellung aufwächst, dass man einfach so prügeln oder verprügelt werden kann.«

»Angelo, ich möchte Sie nur darauf hinweisen, dass wir dann einen Weg einschlagen, der einen Minderjährigen zum Straftäter macht, vielleicht sogar mehrere Minderjährige.«

»Lea, der Typ, der die Flasche geworfen hat, ist aus Rom. Die können nicht einfach in ihren Mokassins hierherkommen und sich aufführen. Welcher junge Mann trägt schon Mokassins? Genauso gut könnten sie rosa Erdbeereis mit Sahne essen. Die glauben, sie kommen ungestraft davon, obwohl das in einer Tragödie hätte enden können, und dann wäre es nicht nur um eine gebrochene Nase gegangen. Trotzdem, ich bespreche das erst noch mit meiner Frau. Aber sind Sie jemals auf die Idee gekommen, eine Flasche nach jemandem zu werfen, Frau Anwältin?«

Nachdem Angelo gegangen war, rief ich bei Luigi in der Schule an, dienstags hatte er immer nur zwei Stunden, danach blieb er noch im Labor, bestimmt wusste er von dieser grässlichen Sache an Ostern, auf die Carmela, als wir am Vorabend für Pizza angestanden hatten, angespielt hatte. Und wie immer wusste mein Mann, der Schlaukopf, Bescheid.

Die grässliche Sache an Ostern waren gleich zwei grässliche Sachen.

Riccardo war mit seinem sechsjährigen Cousin Andrea und seiner acht Jahre alten Cousine Alessandra zur Sakristei gegangen, da Padre Michele gerade seine Messweinvorräte wieder aufgefüllt hatte. Mit dem Plan, ein paar Flaschen zu klauen und sich mit Freunden beim Sieci-Areal, unweit der Schornsteine, zu betrinken. Da sich die Möglichkeit auftat, auch noch ungeweihte Hostien mitgehen zu lassen, suchte er nach einer Tüte, Tasche oder Kissenhülle, ließ die Kleinen stehen und betrat die kleine Abstellkammer des Pfarrhauses voller Wein, der in Coca-Cola-Flaschen abgefüllt war. Die beiden Kinder hatten irgendwann zwar nicht so viel Alkohol intus, dass Riccardo alarmiert gewesen wäre, aber dennoch genug, um später im Kaninchenstall dabei erwischt zu werden, wie sie den Tieren in die Ohren bissen. Diese machten Lärm, die Kleinen plauderten alles aus, und Riccardo musste den Wein ersetzen und den ganzen Sommer als Messdiener arbeiten. Die zweite grässliche Sache war schon schwerwiegender, weil rausgekommen war, dass das mit den Kleinen nicht der erste Wein-, geschweige denn Hostiendiebstahl gewesen war. Es gab Leute, die sagten, Riccardo und seine Freunde würden Wein und angeblich geweihte Hostien an satanische Sekten bis hinter Garigliano verkaufen. Andere sagten, sie würden sich sogar in den Bergen von Spigno versammeln. Riccardo gestand, dass ihn die Immacolata-Kirche auf die Idee gebracht hatte, weil man vom dortigen Bolzplatz direkt in den Weinkeller konnte.

Scauri hatte zwei Kirchen, Sant’Albina und Immacolata, eine auf dem Platz am Ende der abschüssigen Straße, wenn man von Formia kommt, die andere auf dem eigentlichen Hauptplatz, gleich bei der Ampel an der Kreuzung, die wie alle Kreuzungen in Scauri entweder zur Seepromenade oder zum Bahnhof führt.

Vittoria hätte eine von diesen Heilerinnen werden können, die es in kleinen Dörfern gibt und die scheinbar von nichts eine Ahnung haben, aber im Einklang mit der Natur leben, und nicht nur im Einklang mit der menschlichen Natur. Aber das wollte sie nicht, obwohl sie ein gutes diagnostisches Gespür hatte und von allen zu allem Möglichen befragt wurde. Sie schien ein ruhiges Leben zu führen, blieb genau so lange in der Apotheke, wie sie musste, und verbrachte den Rest der Zeit mit Spazierengehen, der Lektüre von Botanik-Ratgebern und Gartenarbeit. Sie hatte gerne Gäste und spielte gerne Karten. Ich interessiere mich für irdische und himmlische Gewächse, sagte sie lachend.

Meine Mutter und mein Vater pendelten körperliche Krankheiten schon seit Jahren aus, sie waren keine Betrüger, sondern nur sehr religiös und glaubten, Religiosität sei so was wie ein Fluss, so was wie eine geruch- und farblose Flüssigkeit, die sie auffangen, anzapfen, zum Fließen bringen könnten.

Das Pendel war schwarz und glatt, vermutlich aus Bakelit. Es hatte eine komische Form, eine Mischung aus Herz und spitz zulaufender Eiswaffel, eine Eichelform. Auch meine Töchter spielten über dem Bauch der Katze mit dem Pendel, und einmal benutzten sie es auch als Kreisel wie einen dieser Holzkreisel, die immer mal wieder in Mode kommen. Meine Mutter klopfte drei Mal auf Holz und schaute gen Himmel.

Ich wollte zu Vittorias Haus gehen, wusste aber nicht, was ich zu Mara sagen sollte. Wegen meines Wochenendtrips hatte ich ein schlechtes Gewissen. Wäre ich nicht nach Ponza gefahren, hätte ich Vittoria vermutlich wie jeden Samstagmorgen bei Vezza oder Morelli getroffen, wo wir immer unser Gebäck kauften. Über unsere Angewohnheit, samstags Gebäck zu kaufen, mussten wir regelmäßig lachen. Am Sonntag muss der Magen ruhen, sagte sie immer. Franca zufolge, die dann putzte, weil sie sonst keine Zeit hatte, war Vittoria sonntags, wenn sie vom Meer zurückkam, im Garten. Wenn es regnete, saß sie auf der überdachten Veranda, und wenn die Sonne schien, unter der Akazie und las. Sie konnte den ganzen Nachmittag dort verbringen, zumindest erzählten das die Nocella, die ihr das Haus verkauft hatten und in dem einzigen Eigentum, das sie hatten halten können, auf der anderen Straßenseite lebten. Sonntags erhob sich Vittoria gegen achtzehn Uhr und öffnete das Tor, damit diejenigen, die einen Hund oder eine Katze dalassen wollten, wussten, dass sie reindurften. Um diese Zeit herum bildeten sich auch normalerweise Grüppchen aus Leuten, die ein Glas Wein oder Bier tranken. Pfefferminz- und Tamarindensirup durften ebenfalls nie fehlen. Vittoria trank tagsüber gerne Bier, abends sah ich sie Wein trinken, aber nie viel, ich glaube nicht, dass sie sich betrank. Bevor es in der Via Romanelli die Hunde- und Katzenpension gab, hatten Frauen nur dann mit Alkohol zu tun, wenn es Ethylalkohol oder reiner Alkohol war, der zum Fensterputzen und zum Desinfizieren aufgeschürfter Kinderknie diente. Oder zum Ansetzen von Zitronen- oder Walnusslikör, den man für besondere Anlässe im Haus hatte, für Hochzeiten und Todesfälle oder wenn Verwandtschaft von außerhalb zu Besuch kam.

Die Konstantinopel-Akazie war der Baum, unter dem Madama ihren ersten Aufenthalt bei Mara und Vittoria verbrachte. Bis dahin hatte ich den Namen des Baums nicht gekannt, und als ich ihn dann kannte, staunte ich, dass ein Baum den Namen einer Stadt oder Madonna tragen kann. Andere nannten ihn Schlafbaum, denn wenn man über seine rosa Blüten strich, schlossen sie sich, andere Seidenbaum wegen seiner rosa Staubblätter. Mit der Zeit gab der Baum dem Haus seinen Namen. Und am Ende der ganzen Straße. Wir verabredeten uns in Konstantinopel. Wenn dann im Sommer neue Touristen kamen, sorgte diese Angewohnheit bei Ortsangaben oder bei Verabredungen unter jungen Leuten für Verwirrung. »Das Kino befindet sich in der Parallelstraße von Konstantinopel.« – »Wenn du über die Konstantinopel gehst, ist das schneller.« – »Nach sechs parkt man nicht mehr in Konstantinopel.« So was in der Art. Vittoria amüsierte das, sie meinte, sie lebe gern in Konstantinopel, und bei dem Wenigen, was wir über sie wussten, kam sie vielleicht tatsächlich aus Konstantinopel.

Als Mara und Vittoria herzogen, dachten wir, sie kämen aus einer Kommune. Selbst in Scauri hatte man ein paar Jahre zuvor versucht, eine zu gründen, hinter dem Monte d’Argento, doch dann war das Projekt gescheitert. In erster Linie wegen der Knochen, die beim Ausheben des Brunnens gefunden wurden. Anfangs hieß es, sie würden aus römischer Zeit stammen. Stattdessen stammten sie aus dem Krieg, aus dem Zweiten Weltkrieg. Angeblich scheiterte das Kommunenprojekt daran, dass einer der Gründer seine Großmutter in dem Knochenmikado wiedererkannte.

»Da lag der Schädel meiner Oma«, erzählte er immer wieder in der Bar.

Es hieß, er hätte den Schädel seiner Oma gesehen, und der Schädel hätte zu ihm gesprochen.

»Die Oma mütter- oder die Oma väterlicherseits?«, hakte man nach.

»Und was hat der Schädel gesagt?«

Jemand schlug vor, Unterschriften zu sammeln, damit die Kirchen keine Theateraufführungen mehr veranstalteten. Alle kamen sich vor wie Hamlet mit dem Schädel in der Hand.

Es hieß, Vittoria hätte Mara adoptiert. Verführt wie Kinder, die mit dem Zirkus durchbrennen, oder entführt wie Katzen, die plötzlich verschwinden, wenn der Zirkus seine Zelte und Käfige abbaut.

Es wurde so einiges geredet und noch mehr verschwiegen. Es hieß, mit ihrem deutschen Teint sei Mara die Tochter von Nazis, die anders als Herbert Kappler und Walter Reder nicht in Gaeta im Gefängnis saßen, sondern nach Südamerika geflohen waren. (Dagegen sprach ihr lebhaftes Gestikulieren.) Es hieß, Maras Eltern seien gestorben, weshalb Vittoria sich um sie kümmere.

Doch wenn man die beiden von der Seepromenade aus spazieren gehen sah, umgeben von den Hunden, die Mara ausführte, und wenn Mara dann ihre Zöpfe löste und ein paar Schritte vor Vittoria hertänzelte, sich hin- und herdrehte, war dieses Sich-Kümmern, diese Adoption nicht mehr so eindeutig. Das blonde Haar, die Hüften, die sich zu einer Musik wiegten, die keiner von uns hören konnte … Eine Entführung also. Oder eine Verführung? Vittoria ließ die Brille am Bügel baumeln, den sie zwischen den Zähnen hielt.