Blockchain Hühnerfarm - Xiaowei Wang - E-Book

Blockchain Hühnerfarm E-Book

Xiaowei Wang

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Beschreibung

In ihren klugen Reportagen untersucht Xiaowei Wang die politischen und sozialen Folgen des Einsatzes modernster Informationstechnologien im ländlichen China. Von Schweinezüchtern, die Künstliche Intelligenz einsetzen, um das perfekt gezüchtete, gemästete und geschlachtete Tier zu erzeugen, über Hühnerfarmen, die mit Hilfe der Blockchain die Qualität von Lieferketten sicherstellen wollen, bis hin zu den disruptiven Fälschungen von Luxuswaren in entlegenen E-Commerce-Dörfern: Auf Basis direkter Gespräche mit den Menschen vor Ort gibt Blockchain Hühnerfarm ebenso verstörende wie erhellende Einblicke in einen sich fern der bekannten Metropolen längst rasant digitalisierenden Raum. Zudem wird klar: Die Vorstellung von rückständiger Provinz und fortschrittlicher Stadt­bevölkerung entbehrt jeder Grundlage, vielmehr führen die Anpassungs­strategien auch kleinster Betriebe vor Augen, wie das Ineinanderwirken von Nahrungs­mittelproduktion und Informationstechnologie zu völlig neuen Umwelten führt.

 

Wangs kritisch reflektierte Feldforschungen werfen von den scheinbar hintersten ­Winkeln des globalen Dorfs aus einen weiten Blick auf die Zukunft auch unserer Lebensräume.

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Seitenzahl: 322

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Titel der Originalausgabe:Blockchain Chicken Farm and Other Stories of Tech in China’s Countryside

Copyright © 2020 by Xiaowei Wang Published by arrangement with FSG Originals x Logic, an imprint of Farrar, Straus and Giroux, New York.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© DIAPHANES, Zürich 2023 Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN 978-3-0358-0565-9

 

Satz und Layout: 2edit, Zürich Druck: Steinmeier, Deiningen

 

www.diaphanes.net

Inhalt

Vorbemerkung

Einleitung

Geister in der Maschine

Anleitung: Wie man eine künstliche Intelligenz füttert

Auf einer Blockchain-Hühnerfarm hinter den sieben Bergen

Wenn künstliche Intelligenz Schweine züchtet

Leben am Buffet

Anleitung: Wie man sich selbst isst

Made in China

»Niemand kann die Zukunft voraussagen«

Auf Shoppingtour in der Bergfestung

Anleitung: Wie man die Welt isst

Willkommen bei meiner Perlenparty

Anmerkungen

Vorbemerkung

Die Entstehung eines Buches folgt einer gemächlicheren Gangart als das Weltgeschehen. In diesem Buch geht es um Technologie in China, einem Land, in dem der Wandel mit geradezu rasendem Tempo voranschreitet. Wie nicht anders zu erwarten, haben sich zahlreiche ­Technologieunternehmen an staatlicher Gewalt, Verfolgung und strukturellem Rassismus mitschuldig gemacht und an der Unterdrückung jeden Abweichlertums in vielen Regionen Chinas beteiligt – darunter auch in Xinjiang, der Heimat des indigenen Volkes der Uiguren. Dass solche Unternehmen in diesem Buch auftauchen, bedeutet keineswegs, dass ich ihr Agieren gutheiße. Ich bekämpfe und verurteile jegliche Form staatlicher Gewalt auf das Schärfste und ermuntere zur eingehenden kritischen Auseinandersetzung mit der Arbeit von Forschenden und Journalisten, um der Frage auf den Grund zu gehen, welche Rolle Technologieunternehmen bei der Aufrechterhaltung eines weltumspannenden racial capitalism spielen.

Einleitung

Es ist Abend, und während ich mir die Zähne putze, ringeln und kringeln sich Dutzende kleiner schwarzer Würmer auf den weißen Fliesen um mich herum. Socken und Unterwäsche eines Kindes sind auf einem kleinen Gestell neben dem Waschbecken zum Trocknen aufgehängt. Es hat den ganzen Tag geregnet. Ich bin in einem kleinen Dorf im Süden Chinas an der Grenze zwischen Jiangzi und Guangdong. Ich bin hier, um herauszufinden, wie der E-Commerce das Leben hier im Dorf beeinflusst. Nach wie vor verkaufen die Bauern ihre Waren direkt an ihre Kunden, verwenden dafür aber das mobile Zahlungssystem WeChat. Den letzten Bus in die Stadt habe ich verpasst und bin nun wohl oder übel zur inneren Einkehr gezwungen.

Weil ich Amerikanerin bin, unterstellen mir meine Gastgeber, außerordentlich anspruchsvoll in puncto Komfort und Platzbedürfnis zu sein, weshalb ich nun ganz allein im modernsten Haus des Dorfes wohne, einem ­zweistöckigen Betonbau. In einem Nebengelass nur ein paar Schritte neben dem Hauseingang befindet sich eine Hocktoilette aus ­Keramik.

Im Haus ist es so kalt, dass ich meinen Atem sehen kann. Es gibt keine Heizkörper, nur ein kleines Heizgerät aus Plastik, das kraftlos ein lauwarmes Lüftchen ins Zimmer schickt. Sein jammerndes Heulen mischt sich mit einem leisen Plätscher­geräusch und dem Geklapper der zugigen Fenster, durch die der Wind pfeift.

Es herrscht tiefdunkle, undurchdringliche Nacht, es gibt keine Straßenbeleuchtung und nur wenige Häuser, die unheimliche Stille im Dorf tut ein Übriges. Ich bewege mich verlangsamt, wie durch Watte. Als eine, die die meiste Zeit ihres Lebens in Städten gelebt hat, bin ich solche Einsamkeit nicht gewöhnt. Furcht befällt mich – gefangen an einem fremden Ort, zum Reden nur die Würmer und das eine oder andere Gespenst, das mir gruselige Szenen aus Horrorfilmen vor meinem inneren Auge vorspielt. Ohne Licht, ohne Geräusche, von allen äußeren Reizen abgeschnitten beginnt in meinem Kopf das Gedankenkarussell zu laufen, spulen sich irgendwelche belanglosen Erinnerungsreste wieder und wieder ab: Hält Xinghai mich für eine blöde Schnepfe, weil ich vergaß mich zu bedanken, als er mich vorhin abgesetzt hat? Habe ich am Schluss meiner E-Mail an Gu einen falschen Ton angeschlagen? Wenn ich nun für immer in diesem Dorf festsitze? Wie ungeschickt ich mich wohl bei der Reisernte anstellen würde… Irgendwann habe ich mein eigenes Gegrübel satt, und ich lade mir eine Nachtlicht-App aufs Handy, nicht ohne zuvor seitenweise App Store Reviews studiert zu haben.

»Warum sind Sie hier?« Einer meiner Gastgeber, ein alter Reisbauer, hatte mich das vorhin gefragt. Ich war mehrere Tage unterwegs gewesen, und erschöpft, wie ich war, traf mich seine Frage in einem existentielleren Sinne, als sie wohl gemeint war. Ich musste mich kurz sammeln, bevor ich hastig murmelte: »Ich bin hier, um Sie zu treffen.«

Die Anziehungskraft des ländlichen China empfand ich erstmals vor etwa drei Jahren, als ich einige Dörfer in Gui­zhou besuchte und dort eine Seite Chinas erlebte, die so ganz anders war, als es in den Medien zumeist dargestellt wird. Verstärkt wurde dieses Gefühl durch meinen Drang, meiner eigenen »Metronormativität« auf den Grund zu gehen – ein Kunstwort aus Metropole und normativ, das der Theoretiker Jack Halberstam geprägt hat.

Metronormativität ist ein allgegenwärtiges Phänomen. Zu­­meist wird standardmäßig vorausgesetzt, dass Kultur und Bevölkerung des ländlichen Raums per se rückständig, ­konservativ und intolerant seien und dass nur in hochvernetzten städtischen Oasen ein Leben in Freiheit überhaupt möglich ist. Metronormativität schürt die Vorstellung, Internet, Technologie und Medienkompetenz wären irgendwie in der Lage, die Landbevölkerung zu »retten« oder zu »bilden«, indem sie die große weite Welt erfahrbar machen, neue ­Lebensgrundlagen eröffnen und gegen die allgemeine Uninformiertheit vorgehen.

Diese Metronormativität zu hinterfragen ist für mich von ausschlaggebender Bedeutung. Die nicht enden wollende Abfolge von Krisen und der Aufstieg des autoritären Populismus in der ganzen Welt resultieren zu einem erheblichen Teil aus der Globalisierung. Eine ihrer Triebfedern ist die Stadt-Land-Dynamik, wobei den eigentlichen Motor dabei die ländlichen Gebiete darstellen, wo die gesamte Rohstoffindustrie angesiedelt ist – von der industrialisierten Landwirtschaft bis hin zum Abbau seltener Erden. Ich bin der Überzeugung, dass unsere Fähigkeit, der Metronormativität die Stirn zu bieten, über unsere gemeinsame Zukunft entscheiden wird. Denn wir sind aufeinander angewiesen und durch materielle Grundbedürfnisse aneinandergebunden: über Städte, Dörfer und Staatsgrenzen hinweg.

Meine Reisen führten mich zu Kupferminen und Lagerstätten seltener Erden bis in die Innere Mongolei, vorbei an endlosen Windparks und Rechenzentren, in Dörfer, in denen Trainingsdaten für Künstliche Intelligenz bereitgestellt werden oder die fast menschleer sind, weil die gesamte jüngere Bevölkerung abgewandert ist, um in den Elektronikfabriken der Städte zu arbeiten. Recht schnell verkehrte sich allerdings mein Blickwinkel. Lag mein Augenmerk zuerst darauf, welche Umwälzungen der Lebensbedingungen die Technologie im ländlichen China herbeigeführt hat, musste ich anerkennen, wie gerade dieses ländliche China die Technologie vorantreibt, die wir alle benutzen – jeden Tag, und auf dem gesamten Erdball. Die Metronormativität in Frage zu stellen heißt, etwas geltend zu machen, was sich dem Schematismus von Land versus Stadt, natürlich versus menschengemacht, digital versus physisch und entlegenem, sprich: entkoppeltem Nirgendwo versus vernetzter Metropole entzieht. Die Metronormativität in Frage zu stellen bedeutet, die Vision einer Lebensweise zu entwickeln, die dem Leben selbst dient – nicht nur dem Leben in den Städten. Diese kritische Herangehensweise forderte von mir, meine eigenen Grundüberzeugungen auf den Kopf zu ­stellen.

Die Dynamiken des ländlichen China sind kein Phänomen, das sich auf China isolieren ließe. Doch aufgrund ihrer geographischen Entlegenheit (zumal aus US-amerikanischer Perspektive) gelten die ländlichen Gebiete Chinas nach wie vor als eine Art Peripherie. Unseren Blicken verborgen, versetzen die ländlichen Peripherien »am Ende der Welt« unsere Stadtexistenzen allererst in die Lage zu existieren. Es wird in diesen Gebieten alles produziert – von der Baumwolle, aus der unsere Klamotten gemacht sind, bis zu Mineralien für die Produktion von Computern in Rechenzentren. Sie erzeugen auch die Lebensmittel, die wir essen. Es ist unmöglich, den ländlichen Raum losgelöst von unser aller Ernährung zu betrachten – Nahrung bildet den Kern der rural-globalen Dynamik. Wir sind Menschen, wir müssen essen, um zu leben, und unser Appetit hat die Erdoberfläche verändert und neue Technologien in die Welt gebracht. Insbesondere der Appetit der Stadtbewohner hat in den letzten Jahrzehnten zu einer Verschiebung in den ländlichen Ökonomien, Ökologien und Gesellschaften geführt.

Es fällt mir schwer, Phänomene wie den Klimawandel, der globale ökonomische und ökologische Zusammenhänge in schwindelerregendem Umfang verändert, in ihrer ganzen Dynamik zu erfassen. Doch die Landwirtschaft und das, was wir essen, sind greifbare Manifestationen dieser hochkomplexen globalen Probleme, die uns alle betreffen. Laut einem Bericht der Vereinten Nationen ist ein Drittel der menschlichen Treibhausgas-Emissionen auf die Praktiken der industriellen Landwirtschaft zurückzuführen. Ebendiese Praktiken der industriellen Landwirtschaft haben auch die Lebensweise ländlicher Gemeinschaften völlig umgestaltet und weltweit politische Veränderungen ­befeuert.

Dass ich meine Forschungen im ländlichen China betrieb, hieß für mich, nicht ganz uneigennützigerweise, dass ich immer wieder in Dörfer und Gegenden reisen konnte, in denen ich sehr gerne bin. Ich fühlte mich auf eigenartige Weise davon angezogen, in einem Tempo und mit einem Horizont zu leben, die mir überschaubar und damit begreifbar vorkamen, an Orten, die irgendwie geerdet wirkten. Es ist verführerisch, das chinesische Dorf als idyllisch, naturnah und weltabgeschieden zu romantisieren. Dabei sind diese Dörfer oft genug Schauplätze ökonomischer und landwirtschaftlicher Praktiken, die für unsere heutige Welt grundlegend sind. Und wie zahlreiche Historiker, darunter Robert Brenner und Sue Headlee, gezeigt haben, haben Veränderungen im Agrarsektor und in der Politik in den ländlichen Gebieten auf der ganzen Welt den Übergang zu Industrialisierung und Kapitalismus entscheidend geprägt, wenn nicht angestoßen.

Mein Versuch, den ländlich-agrarischen Raum im Zusam­menhang mit Zugehörigkeit und Verortung zu begreifen, verdankt sich in vielem den Arbeiten von bell hooks und Wendell Berry, deren Denken um »being« und »belonging«, Sein und Zugehörigkeit kreist. Im Hinblick auf ein politisches und wirtschaftliches System, das Menschen von ihrem angestammten Ort und ihrer Gemeinschaft entfremdet, erschien mir diese Herangehensweise besonders dringlich. Ein Leichtes wäre es gewesen, den Verlust der Zugehörigkeit und das Gefühl der Ortlosigkeit der Technologie als solcher zuzuschreiben, die uns alle unweigerlich in die ­Vereinzelung stürzt. Doch meine eigene Metronormativität zu hinterfragen, hieß gleichzeitig, diese Vorstellung eines Gegensatzes zwischen digitaler und physischer Welt in Frage zu stellen und von der fixen Idee loszukommen, dass Technikverweigerung und Rückzug der einzige Weg sind, wieder ein Gefühl der Zugehörigkeit zu erlangen.

»Warum sind Sie hier?« Ich bin hier, weil meine Beschäftigung mit dem Thema Technologie im ländlichen China – an Orten, wo die Technologie produziert wird, die wir nutzen, Orten, die zeigen, wie unverbrüchlich wir alle miteinander zusammenhängen – mich in die Lage versetzt, der beängstigenden Grundfrage der Technologie ins Auge zu blicken: Was bedeutet es, heute zu leben, heute Mensch zu sein? Der Blick auf die Technologie im ländlichen China zwang mich, jene Ideologien offenzulegen, auf deren Grundlage Unternehmen KI-basierte Systeme für die Landwirtschaft vorantreiben, die Blockchain-Technologie in die Lebensmittelproduktion implementieren, Shoppingplattformen und Bezahlsysteme entwickeln lassen. Denn ideologische Grundannahmen über das Wesen des Menschen und den angeblichen Lauf der Welt sind für die Entwicklung neuer Technologien und Kanäle ein weit mächtigerer Antrieb als bloße technische Neugier. Die Grundannahmen ihrer Entwickler und Hersteller, was menschliche Wesen brauchen und wie sie gefälligst interagieren sollten, sind diesen Werkzeugen eingebaut. Es reicht allerdings nicht, diese Grundannahmen zu kritisieren, denn dadurch verfangen wir uns im altbekannten Schwarz-Weiß-Denken: Technik ist entmenschlichend, Technik bringt die Befreiung. Die Technik hat die Welt in das Schlamassel geführt, in dem sie sich befindet, nur die Technik kann die Welt aus dem ganzen Schlamassel befreien. Technik schafft Isolation, die Technik vernetzt marginalisierte Gemeinschaften miteinander. Wir stehen vor der schwierigen Aufgabe, jenseits binärer Kategorien und Annahmen weiterzuleben und fortzubestehen – und andere dazu zu befähigen. Wie sollen wir diese Aufgabe angehen?

Mit fünfundneunzig Jahren, fünf Jahre vor ihrem Tod, schrieb die Aktivistin Grace Lee Boggs The Next American Revolution. Das Buch, 2010 erschienen, verstand sich als schrilles Alarmsignal in unserer gegenwärtigen Situation – einer Zeit, in der Politik nicht länger politics as usual war, herkömmliche Formen des Protests offenbar keine Veränderungen mehr bewirkten und sich drohend der ökologische Kollaps abzeichnete, herbeigeführt durch ­ungebremstes materielles und technologisches Wachstum. Bei all dem gebe es jedoch etwas, aus dem Hoffnung geschöpft ­werden könne: »der Große Wandel«. Der große Wandel, ein aus dem Buddhismus entlehnter Begriff, bezeichnet eine immer größer werdende Bewegung von Menschen, die hier und jetzt den ersten Schritt in Richtung einer Veränderung tun: durch spirituelle Entsagung. »In diesen Zeiten geht es darum, unsere Seelen wachsen zu lassen«, schreibt Boggs. Ein Weg aus der Dauerkrise sei praktiziertes Mitgefühl, um den Kreislauf des Leidens zu verändern. Wir alle sind in irgendeiner Weise in der Lage, aktiv Mitgefühl zu üben, ob wir im Gesundheitsbereich tätig sind, an einer Schule unterrichten oder im Management eines Unternehmens arbeiten. Auch Ingenieure, Entwickler und Technologieproduzenten haben diese Möglichkeit, und ich hoffe, dieses Buch stößt auch in ihnen etwas an. Schließlich ist Programmiercode nichts anderes als Sprache, ausführbar gemachter Text. Wir müssen bewusst Sorge tragen für das, was wir sagen. Und für jene, die im Code nichts als apokryphen Text sehen und aus deren Sicht die Technologie unseren Weg in eine ausweglose, streng kontrollierte Welt beschleunigt, hoffe ich, dass dieses Buch sie in ihrer Macht, die sie in ihrem Menschsein besitzen, bestärkt und Wege aufzeigt, wie bestimmte ­Technologien offenen Systemen sogar dienlich sein können. Um den großen Wandel in Gang zu bringen, müssen wir unsere mitfühlenden Fähigkeiten, unsere Vorstellungskraft und unsere Gesellschaft verändern – es reicht nicht, uns allein auf die Re-formation unserer Technologien zu fokussieren. Vor allem aber ist es mir ein Anliegen, dass dieses Buch Sie in Gegenden Chinas führt, die Sie womöglich nie besuchen werden, weit über die Grenzen einer Landkarte der Abstraktionen hinaus, jenseits eines flachen, metronormativ geprägten Bildes der Welt.

 

In meiner unfreiwilligen Meditationsklause stehe ich inzwischen kurz davor, in Panik zu geraten. Ich klammere mich an mein Handy, es gibt 4G-Empfang, und ich scrolle durch Twitter, lese Zeitung, checke immer wieder meinen WeChat-Feed, um der Finsternis etwas entgegenzusetzen. Ringsum herrscht undurchdringliche Nacht, unaufhaltsam kriecht mir die Kälte in die Glieder. Es ist bedrückend still. Beim Gedanken an die in den Ritzen des Plumpsklos lauernden Würmer wirken die Zeilen auf der Website der New York Times unendlich weit weg und kümmerlich. Meine eigenen Gedan­ken wirken kümmerlich.

Während mein Handy schwach leuchtet – ich habe es auf meine neue Nachtlicht-App eingestellt –, falle ich endlich in Schlummer.

Am nächsten Morgen um 7.00 Uhr weckt mich trübes Tageslicht. Die Welt um mich ist wie verändert, weniger furchteinflößend, weniger unheimlich, als mein Geist es mir vorgaukeln wollte, als es Nacht war und um mich herum alles schwieg. Ich höre die geschäftigen Geräusche von Enten und Hühnern, weit weg ein einzelnes Auto. Ich räume meine Sachen zusammen, bringe alles in Ordnung und mache mich auf den Weg, an Reisfeldern vorbei und einen kleinen Bach entlang bis zur Hauptstraße. Dort stehe ich nun und warte auf den Bus.

Geister in der Maschine

1.

Der Hunger hat sein eigenes Vokabular, das noch lange nachwirkt und sich kaum austreiben lässt. Mein ­Großonkel, neunundneunzig Jahre alt, spricht die Sprache des Hungers bis heute. Einmal, es war im Winter, besuchte ich ihn in ­Tianjin. Er führt mich in den Food Court im Kerry Center aus, in dessen Nähe er wohnt, um mich groß zum Essen einzuladen. Zwar verfügt er über eine hübsche kleine Rente, doch er lebt genügsam. Er isst sonst nie auswärts. Aber mein Besuch ist etwas Besonderes, meint er, und ich begreife, dass er aus seiner eigenen Erinnerung an den Hunger heraus seine Zuneigung durch Essen ausdrückt. In der Mall erwartet uns eine unübersehbare Fülle an Speisen.

Wir gehen zu Fuß von seiner Wohnung dorthin. Nach über siebzig Jahren Tai-Chi-Praxis ist sein Gang immer noch rüstig. Wir kommen am Skelett eines Wolkenkratzers im Bau vorbei, aus dem erstarrte Betongedärme hervorquellen.

»Gab es diese Baustelle nicht schon vor fünf Jahren, als ich das letzte Mal hier war?«, frage ich. Im heutigen China kommt es nur selten vor, dass so lange an etwas gebaut wird, vor allem in einer Riesenstadt wie Tianjin, die Teil der Megalopolenregion Peking ist.

Der Blick meines Großonkels wandert an dem Wolkenkratzer empor. »Dieses Gebäude wurde von einem Immobilienunternehmer hochgezogen. Er war der Sohn eines reichen Mannes. Während Xi Jinpings Antikorruptionskampagne wanderte er ins Gefängnis, der Bau wurde ­konfisziert. Die Regierung wollte das Projekt fortsetzen und das Gebäude fertigstellen. Irgendwann sahen sie sich die Pläne mal genauer an und stellten fest, dass die einzelnen Apartments nicht bewohnbar waren: Wohnräume kleiner als vier Quadratmeter, Fenster, die direkt auf Mauern hinausgingen … der Bauunternehmer hatte überhaupt nie die Absicht, Leute dort einziehen und wohnen zu lassen. Und jetzt steht das Ding da, als halbfertige Ruine.«

Es ist ein Dienstag, und die Fressmeile ist bis auf ein paar ältere Leute halbleer. Jeder isst für sich. Das Szenario ist von einer beiläufigen Würdelosigkeit, die einem das Herz zerreißt: grelles Neonlicht und in regelmäßigen Abständen das von einem offensichtlich gestörten Bewegungsmelder ausgelöste »Hallo, hereinspaziert« einer körperlosen Roboterstimme. An einem Plastiktischchen sitzt ein weißhaariger alter Mann, dem an einer Schnur ein Geldbeutel aus Stoff um den Hals hängt. In sich zusammengesunken schlürft er Nudelsuppe aus einer Schüssel und dämmert dem Tod entgegen. An einem anderen Tisch trinkt eine Frau Saft aus einem mit einer gefalteten Serviette umwickelten Becher, die greisenhaften Mundwinkel schlaff herabhängend. Am Wochenende ist die Fressmeile von jungen Familien aus den benachbarten Wohnanlagen bevölkert, aber unter der Woche regieren hier die Alten. Ebendies ist eine Heimsuchung, die im heutigen China immer mehr um sich greift – die allgegenwärtige Einsamkeit im Alter. Während die Jungen aus ihren Dörfern und Heimatstädten fortziehen, ja außer Landes gehen, um Jobs und Karrierechancen nachzujagen, während die Schlinge der Einkommensungleichheit noch das letzte bisschen Freizeit abwürgt, bleiben die Alten auf sich allein gestellt zurück. Das ist befremdlich für eine Kultur, die derart auf Familienbanden und kindlicher Frömmigkeit gründet wie die chinesische.

Ich spreche die Sprache des Hungers nicht, aber unter dem grellen Neonlicht an einem Tisch, auf dem sich Plastikteller mit betäubend scharfem Gemüse, Jiaozi und Nudeln häufen, wird klar, dass sie meinem Großonkel immer noch wohlvertraut ist. »Iss.« Er macht eine auffordernde Handbewegung. Und ich esse, auch wenn wir beide wissen, dass das, was wir da essen, im Grunde Junkfood ist, dass zuhause im Kühlschrank noch Essen auf uns wartet, dass wir viel zu viel bestellt haben. Aber darum geht es nicht, denn wenn man einmal gehungert hat, ist es der Inbegriff des Luxus, Nahrung wegwerfen zu können – und sei es auch nur einen kleinen Rest.

2.

Bei meinem Besuch in Tianjin wird mir bewusst, dass sich das Bild, welches das heutige urbane China abgibt, nur schwer mit dessen Vergangenheit in Einklang bringen lässt. Ebendiese Spannung, diese verführerische Widersprüchlichkeit ist es, die westliche Autoren und Medien so fesselt, wenn sie immer wieder auf das Nebeneinander von hypermodernen, gleißenden Wolkenkratzern und improvisierten Straßenküchen abheben, auf chaotische Menschenmassen im Visier allgegenwärtiger Überwachungskameras, auf die im bläulichen Licht eines iPhone-Displays gespiegelten Ausdünstungen eines zischenden Woks. Diese Darstellungen haben zwar ihren Wahrheitswert, aber sie missfallen mir genauso wie eine gewisse Art von Büchern über China, die Geschichte auf bloßen demographischen Wandel oder ökonomische Ursachen und Wirkungen reduzieren. Derlei Szenarien legen sich über das eigentliche Leben wie ein Schleier, sie bedienen genau die Formeln und Schablonen, die ohnehin schon in den Köpfen herumspuken. Es ­verfestigt sich das Bild einer nichtmenschlichen, nur in Zahlen auszudrückenden grauen Masse.

Im Laufe der Geschichte war das politische Handeln des Westens gegenüber dem Osten stets von Klischees bestimmt. »Wann wird der Westen anfangen, den Osten zu verstehen oder es zumindest zu versuchen? Es ist für uns Asiaten immer wieder erschütternd, was für ein absonderliches Gestrüpp aus Tatsachen und ­Phantasievorstellungen uns betreffend dort vorherrscht. Man bildet sich ein, wir würden uns vom Duft der Lotosblume ernähren, oder wahlweise von Mäusen und Kakerlaken«, schrieb Kakuzo Okakura im Jahr 1906.1 Oberflächenbilder und -geschichten fügen sich bruchlos in die allgegenwärtigen Ängste vor der »Gelben Gefahr«, die ich in den Vereinigten Staaten am Werk erkenne und die die politische Linie der Regierung ebenso infiltrieren wie den Alltag.

Unverwandt aus dem Fenster seines Apartments nach draußen starrend, kramt mein Großonkel in seinen Erinnerungen, und mir entrollt sich eine ganz andere Art von Geschichte. Heute lebt er ein ruhiges Leben im Takt seiner täglichen Routinen, praktiziert jeden Morgen Tai Chi und telefoniert gelegentlich mit einem alten Freund. Er erzählt, wie er sich in seine spätere Frau verliebte, als er mit Tuberkulose in einem Pekinger Krankenhaus lag – sie war dort Ärztin. Er lässt das turbulente Leben seiner Frau Revue passieren; ihr Vater, von den Kommunisten als Klassenfeind gebrandmarkt, floh nach Taiwan, ihre beiden Brüder begingen Selbstmord, nachdem sie ins Visier von Maos Anti-Rechts-Kampagne geraten waren und ihnen die Umerziehung drohte. Er dreht sich zu mir, scharf heben sich seine Gesichtszüge vor der tiefstehenden Wintersonne ab, und sagt: »Ich weiß, du bist hier, weil du ein Buch über Technologie in China schreibst, aber der einzige Weg, um Chinas Zukunft zu verstehen, geht über die Vergangenheit.« Ich glaube, er meint, dass die Last der gelebten Geschichte unverrückbar ist, dass sie einen heimsuchen wird, egal ob man Normalbürger ist oder zu den oberen Kadern der Macht gehört. In seinem Alter kann es vorkommen, dass mitten im Gespräch über das jetzige Geschehen unvermittelt Geschichten aus der Vergangenheit an die Oberfläche drängen. Nicht selten sind das Geschichten über jiu ­shehui, die alte Gesellschaft, wie die gängige Bezeichnung der Kommunistischen Partei für das China vor 1949 lautet, ein schwaches China, das unfähig war, sich eine Zukunft zu definieren.

Meine Großmutter hatte ihre eigenen Geschichten von jiu shehui. Sie pflegte zu erzählen, wie sie als Kind in einem kleinen Dorf außerhalb von Tianjin lebte, wie sie in harter Arbeit Riedgras am Fluss schnitt und Körbe daraus flocht, die sie auf dem Markt in der Stadt verkaufte. Sie erzählte von den winzigen gebundenen Füßen ihrer Mutter, davon, wie ihr Vater und die anderen Männer im Dorf stets fort waren, als Zwangsverpflichtete mal in diesem, mal in jenem Krieg. Davon, wie der Hunger einen schwindelig machte, bei helllichtem Tag die Sterne sehen ließ. Die nackte Existenz trieb ihre Familie in die Stadt Tianjin, um dort eine Stabilität zu finden, die nicht von Jahreszeiten und Ernteerfolgen abhing. Tianjin war damals noch in die sogenannten Konzessionsgebiete eingeteilt, die verschiedenen Westmächten unterstanden. Mein Großonkel war Türsteher am Eingang eines westlichen Restaurants. Bleiche weiße Männer und Frauen stolzierten an ihm vorbei, ihre Aufmachung, ihr Gebaren troff nur so von Macht. Im Gegensatz zu so vielen anderen Kindern jener Zeit überlebte er nicht nur die Hungersnot, indem er übriggebliebenes Essen aus dem Restaurant verschlang, sondern konnte dank des Geldes, das meine Großmutter als Fabrikmädchen heimbrachte, irgendwann sogar zur Schule gehen.

Die Vergangenheit stand meiner Großmutter stets und ständig im Weg, so dass sie nicht imstande war, ihre persönliche Geschichte zu erzählen, ohne auf politische Ereignisse zu sprechen zu kommen. Diese politischen Ereignisse hatten sie selbst physisch geformt: Den größten Teil ihres Lebens ging sie auf Krücken, nachdem ihr während der Kulturrevolution auf den falschen ärztlichen Rat eines jungen Studenten hin ein Bein amputiert worden war (die Ärzte und Intellektuellen des Landes saßen seinerzeit gerade im Lager, wo sie »umerzogen« wurden). Als Kind hörte ich meine Großmutter, die im Zimmer neben dem meinen schlief, im Schlaf reden. Oft durchlebte sie nachts die Vergangenheit noch einmal. Im Dunkeln kamen die Geister, und ihr Wimmern ließ mich hochfahren – »Lass mich in Frieden, du fremder Teufel!« Morgens fragte ich sie dann, was sie geträumt hatte, und sie sah mich groß an und entgegnete, sie könne sich an nichts erinnern.

3.

Am dritten Tag meines Besuches steht stundenlanges Fernsehen mit meinem Großonkel auf dem Plan. Auf einem Kanal läuft ein auf Tatsachen beruhendes Drama über einen Jungen vom Dorf, der bei seiner Großmutter aufwächst. Er zieht mit seinem großen Bruder in die Stadt, wird verschleppt und zu schwerster Arbeit gezwungen. Zwanzig Jahre später ist live im Fernsehen zu verfolgen, wie er endlich wieder seine Großmutter in die Arme schließen kann. Neben mir sitzt schniefend mein Großonkel und vergießt Tränen der Rührung über die Darbietung.

Auch sonst ist das Fernsehprogramm meist auf ein älteres Publikum zugeschnitten, das tagsüber fernsieht. In einer Talkshow über Gesundheitsthemen wird ein alter Mann vorgestellt, der seine Methode gegen Verstopfung vorführt, die darin besteht, sich in einen Regenmantel gekleidet den Bauch zu föhnen, bis der Schweiß aus allen Poren dringt. Zwei Ärzte, ein Spezialist westlicher Schulmedizin und ein Arzt für chinesische Medizin, sitzen vor einer riesigen gemalten Landschaft und debattieren die Wirksamkeit dieser Methode. Eine Werbeanzeige wird eingeblendet und erinnert das Publikum an »unsere sozialistischen Grundwerte«. Stunden später sehe ich die Abendnachrichten, eine weitgehend oberflächliche Angelegenheit, angereichert um ein paar Welt­­ereignisse und garniert mit Parteipropaganda. In einem Beitrag begibt sich der Fernsehmoderator zu einem Busbahnhof und interviewt Arbeitsmigranten, die für Fahrkarten in die Heimat anstehen. Ein Arbeiter äußert sich wenig optimistisch, während des bevorstehenden chinesischen Neujahrsfestes Chunyun ein Busticket ergattern zu können.

Zur Zeit des chinesischen Neujahrsfestes im Frühling, das mehrere Wochen dauert, bricht im ganzen Land das Reisefieber aus. Im Jahr 2018 zählte man binnen eines Monats beinahe drei Milliarden Reisen – Menschen, die in die Dörfer ihrer Ahnen reisten, und Wanderarbeiter auf dem Weg nach Hause. Die Reise in die angestammte Heimat ist nicht nur eine Rückkehr zur Muttererde, sondern auch zu Eltern und Großeltern, es ist die Zeit des Wiedersehens mit der gesamten Verwandtschaft. Die Heimat der Ahnen ist oftmals auch der Ort, wo man seinen hukou hat, seinen behördlich registrierten Wohnsitz – der Kern eines Systems der Bevölkerungssteuerung, das mit allen Mitteln versucht, die Menschen in bestimmten geographischen Regionen zu halten.

Wer das Glück hat, in Peking geboren zu sein, hat automatisch einen Pekinger hukou und erfreut sich etlicher Vergünstigungen, unter anderem des Zugangs zu nahezu ­kostenfreier medizinischer Versorgung an den besten Kliniken im ganzen Land. Für die schulische Laufbahn der ­Kinder stehen hervorragende Bildungseinrichtungen bereit, und bei den standardisierten Aufnahmeverfahren zu einer der Top-Universitäten Tsinghua und Beida (Universität Peking) sind für sie die Hürden gesenkt. Hat man andererseits seinen hukou in einer ländlichen Region, erhält man Anspruch auf ein Stück Land, das man technisch gesehen für die Regierung verwaltet. Wer es auf sich nimmt, in die Stadt abzuwandern, dessen Kinder haben nur eingeschränkt Zugang zu Pekings ausgezeichneten Schulen. Die Erstattungssumme für einen Krankenhausaufenthalt in Peking ist lächerlich gering, und wer vom Aufstieg durch ein Studium an der Tsinghua- oder Beida-Universität träumt, muss im Aufnahmetest erst einmal die gebürtigen Pekinger ausstechen und sich an die Hoffnung klammern, als einer der wenigen Glückspilze unter die hukou-basierten Zulassungsquoten zu fallen. All diesen negativen Anreizen zum Trotz verließen mehr als dreihundert Millionen Menschen ihre ländlichen Heimatregionen, um Arbeit in den Städten zu finden, und legten damit den Grundstock für Chinas Wirtschaftswunder der letzten dreißig Jahre. Die Migranten aus dem ländlichen Raum arbeiten in Jobs, die Städter nicht annehmen wollen – ob sie nun iPhones in einer Foxconn-­Fabrik zusammensetzen oder beim Bau der ehrfurchteinflößenden Olympia-Architektur Pekings eingesetzt werden. Durch sämtliche Bereiche des modernen China geistert der zum Arbeitsnomaden gewordene Kleinbauer, der überall mit Hand anlegte: in Wolkenkratzern, Mobiltelefonen und den Schweißnähten der Gleise, über die Hochgeschwindigkeitszüge hinwegsausen. Ohne seine Landbevölkerung wäre China heute nicht das, was es ist.

Im hukou-System offenbart sich die nackte Geradlinigkeit sozialistischer Planwirtschaft. Es gibt kein magisches Denken wie den American Dream, jene überzuckerte Verheißung imaginärer Freiheiten, wo doch in Wirklichkeit die Art und Weise, wie das kapitalistische Wirtschaftssystem in den Vereinigten Staaten strukturiert ist, ebenfalls auf schwerer körperlicher Arbeit und auf Klassendistinktion gründet. In einer Planwirtschaft müssen Landarbeiter und Bauern möglichst effizient Lebensmittel produzieren, um die Nation zu ernähren und die »Wissensarbeiter« in den Städten zu versorgen.

Der Kleinbauer aus dem ländlichen Raum war immer schon eine grundlegende und zentrale Figur im Selbstverständnis Chinas als Nation. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand Mao Zedongs siegreiche Strategie im chinesischen Bürgerkrieg gegen die Kuomintang darin, dass er Chinas Bauern ins Spiel brachte. Sie sollten die Revolution zum Sieg führen. Die Parole lautete: »das Land einsetzen, um die Städte zu umzingeln« Unter dem Motto des »Großen Sprungs nach vorn« verordnete Mao die Kollektivierung der landwirtschaftlichen Produktion, was kata­strophale Folgen nach sich zog. Das gesamte Land versuchte sich an der Industrialisierung – mit nahezu lächerlichen Mitteln, wie zum Beispiel den in jedem Dorf errichteten »Hinterhof-Stahlöfen«, in denen die Bauern ihre landwirtschaftlichen Geräte zu Roheisen minderer Qualität einschmolzen. Mao und seine Führungskader vertraten eine antielitäre, intellektuellenfeindliche Haltung. Die Technik sei ein Werkzeug für die Bauern und für das Volk, lautete die Parole, und es wurden Programme mit klangvollen Titeln à la »Wissenschaftliche Forschung für die Massen in den Dörfern« lanciert. Für die junge Nation war die Technologie eine Ideologie auf dem Weg in eine imaginierte Zukunft, wie sie im Westen bereits existierte.

Maos ökonomischer Plan bestand darin, mit der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion des Westens durch schiere Masse gleichzuziehen, ob in der Stahlindustrie oder im Getreideanbau. In seiner Frühphase bedurfte das Projekt der Errichtung einer sozialistischen Nation der leidenschaftlichen Begeisterung der Massen, um den westlichen Imperialismus zu bekämpfen, und es bedurfte, was noch wichtiger war, der Neuschreibung einer ­nationalen Geschichte zur Schaffung eines neuen Bewusstseins. Gleichwohl ließ der Westen China nicht los und diente als fortwährende Projektionsfläche sämtlicher Ambitionen und ­Rivalitätsvorstellungen der jungen Nation.

Doch die Aufholbemühungen gerieten rasch aus dem Tritt. Der Große Sprung nach vorn mündete in einer verheerenden Hungersnot mit Abermillionen Todesopfern insbesondere auf dem Land. Nach dem Großen Sprung wurden Lebensmittelkarten eingeführt und die Menge der Nahrungsmittel pro Familie – Reis, Getreide, Eier und Fleisch – rationiert. Dieses System diente als staatliches Kontroll­instrument für den städtischen Konsum, die Agrarpreise und die Ernteerträge und blieb bis in die 1990er Jahre in Kraft.

In den 1980er Jahren jedoch begann das Blatt sich zu wenden. Die Technik war nicht länger bloße Überlebensnotwendigkeit, sondern eröffnete die Aussicht auf eine ei­gene chinesische Zukunft. Die Politik des Landes wandelte sich drastisch, als Deng Xiaoping die Vereinbarkeit von marktwirtschaftlichen Strategien und Sozialismus ausrief: als Sozialismus mit chinesischem Antlitz. Chinas Wirtschaft boomte und schuf die Grundlagen für Konzerne wie Huawei und Alibaba.

In diesem ehrgeizigen Experiment fungierten die ländlichen Gebiete als Brutstätten des Aufschwungs. Besondere Bedeutung kam in den 1980er Jahren den sogenannten Town and Village Enterprises (TVEs) zu,2 kollektivistischen Unternehmen, die als die »ländlichen Wurzeln von Chinas Kapitalismus«3 gelten können. Ausgerechnet Landbewohner aus den ärmsten Provinzen Chinas legten ein kühnes Unternehmertum an den Tag, das in den Städten noch undenkbar war. Das von ihnen entwickelte Unternehmensmodell, die TVE, unterschied sich radikal von den staatseigenen Unternehmen. Die Town and Village Enterprises waren eine dezidiert lokale Innovation auf der Ebene der Dorfgemeinschaft und unter lokaler Federführung – eine Art agiles Umfeld. Bereits 1995 »zeichneten TVEs für ungefähr ein Viertel des chinesischen Bruttoinlandsproduktes, zwei Drittel der gesamten landwirtschaftlichen Produktion und mehr als ein Drittel von Chinas Exporteinnahmen verantwortlich«.4 Und während die Wirtschaft boomte, bildete sich im Zuge der sozialistischen Marktwirtschaft nach und nach ein anderes Nationalbewusstsein heraus. Statt von den schwankenden politischen Entwicklungen anderer Länder, globalen Umwälzungen und irgendwelchen in Europa ausgehandelten Verträgen abhängig zu sein, würde China womöglich die Freiheit erlangen, seine Zukunft nach eigenen Bedingungen zu gestalten – ein Privileg, das lange Zeit von den westlichen Ländern gepachtet zu sein schien.

Das Streben nach dieser Art von nationaler Autonomie be­­feuert nicht nur den chinesischen Sozialismus, sondern macht es für China auch zur Schicksalsfrage, technologische Kompetenz und wirtschaftliche Stärke zu demonstrieren. Der Nationalismus hat eine kleine Gruppe Führungs­kader an die Macht gebracht, die das Land fest im Griff haben und behaupten, eine starke Führung sei unabdingbar, wolle man Chinas Freiheit auf der globalen Bühne gewährleisten. Die Ironie der Geschichte aber ist, dass die Freiheit sich verflüchtigt, wenn sie zu fest an der Kandare gehalten wird.

4.

Die Volksrepublik China wurde am 1. Oktober 1949 gegründet und ist damit zwanzig Jahre jünger als mein Großonkel. Das verhältnismäßig jugendliche Alter der Nation gemahnt die Machthaber daran, dass der Umsturz potentiell immer möglich ist und dass jeder Hauch von Fragilität umgehend weggefegt gehört.

Ebendiese drohende Fragilität bringt nationalistisch grundierte Strategien zur technologischen Autarkie hervor, wie zum Beispiel den strategischen Plan »Made in China 2025«, mit dem Chinas Wissensindustrien gestärkt und China als führende Technologiemacht etabliert werden soll. Zwar scheint der ländlich-agrarische Raum einen Gegensatz zum Projekt der Industrialisierung und Hochtechnologisierung zu bilden, doch zeigt der Balanceakt, den China derzeit vollführt, wie urbaner und ländlicher Raum durch den allgegenwärtigen technologischen Wandel miteinander verflochten sind. Dem heutigen China steht eine potentielle »agrarische Transition« bevor. Dieser Begriff aus der Ökonomie bezeichnet den Prozess, in dem Bauern vom Land verdrängt werden und die Landwirtschaft im kleinen Maßstab durch industrialisierte Landwirtschaft ersetzt wird, zu der deutlich weniger körperliche Arbeitskraft benötigt wird. In der Folge kommt es zu einem Überangebot an Arbeitskräften, wenn Bauern versuchen, neue Qualifikationen zu erwerben oder sich auf Arbeitssuche begeben.

Genau das geschah während der industriellen Revolution im Westen. Wie der Agrarökonom Eric Holt-Giménez beschreibt, waren technologische Innovationen wie Dampflokomotive, Fabriken und Telegraphie nur zum Teil für die Industrialisierung und die Entwicklung des Kapitalismus verantwortlich. Ein mindestens ebenso bedeutender Faktor war die Arbeiterschaft und dabei insbesondere die Fabrikarbeit. Die industrielle Revolution »wäre ohne die agrarische Transition nicht denkbar gewesen. Die industrielle Revolution drängte die Menschen vom Land in die Städte und schuf eine gewaltige Reservearmee an Arbeitskräften«.5 Die Transition mag zwar einfach und logisch klingen, doch sind die sozialen, umweltlichen und politischen Auswirkungen einer agrarischen Transition gewaltig. Und nach einem solchen Übergang, wenn die Entwicklung in den Städten in neue Höhen schießt, bahnt die Arbeitskraft sich Wege, um sich weiterzuentwickeln und unter freien Marktbedingungen zu transformieren.

Obwohl Chinas wirtschaftliche Entwicklung die der Vereinigten Staaten in den Schatten zu stellen droht, ist Chinas Zukunft im Spannungsfeld der Stadt-Land-Dynamiken und des unersättlichen Materialismus des urbanen Alltagslebens doch so prekär wie eh und je. Ein chinesischer Politikberater vertraute mir einmal an: »Im Moment möchte ich um keinen Preis an der Macht sein. Es gibt so viele kaskadenartige Probleme, da ist das eine alles andere als angenehme Position. Und die Machthaber wissen sehr genau, was die Probleme sind.«

Es besteht eine gewisse Dringlichkeit, als Reaktion auf diese Probleme den sozialistischen ländlichen Raum neu aufzubauen. Während der Begriff des »neuen sozialistischen Dorfes« schon seit 2006 kursiert (geprägt wurde er durch Präsident Hu Jintao, den Vorgänger Xi Jinpings), gibt sich Xi Jinpings jüngst ausgerufene Politik der »Revitalisierung des ländlichen Raums« deutlich zupackender, um gegen verwaiste Dörfer und den ländlichen Niedergang vorzugehen. Die Maßnahmen dieser Politik betreffen rund 40 Prozent der Bevölkerung Chinas (und damit 8 Prozent der Weltbevölkerung), die auf dem Land leben.

Der neue sozialistische ländliche Raum wird von Bauern bewohnt sein, die E-Commerce-Unternehmen und kleine Produktionsbetriebe betreiben, überall werden neue Rechen­zentren aus dem Boden schießen, junge Arbeiter werden in ihre Heimatdörfer zurückströmen und ­unternehmerisch tätig werden. Die Revitalisierung der Landgebiete ­impliziert den Einsatz von Blockchain-Technologie und ­mobilen Zahlungsverfahren, um die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle zu fördern, und will mittels Big Data die ­Armutsbekämpfung und die Zuteilung von Sozialleistungen in Schwung ­bringen.

Etliche staatliche Maßnahmenpakete sollen zur Revitalisierung des ländlichen Raums beitragen. Eine Priorität ist die Ernährungssicherung, weshalb geplant ist, mindestens 124 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche zu erhalten – die Regierung nennt dies die Einhaltung der »roten Linie«. Der Plan »Made in China 2025« sieht außerdem vor, im Zuge industriepolitischer Maßnahmen die Landmaschinenherstellung ins eigene Land zu verlagern und die Nahrungsmittelproduktion zu stabilisieren. Im Zusammenhang mit der Armutsbekämpfung ist beabsichtigt, durch ein »Konsum-Upgrade« eine neue Schicht von Konsumenten (und Internetnutzern) heranzuziehen und Internetnutzer vom Dorf zu versierten Online-Shoppern zu machen. China Mobile und China Unicom haben infrastrukturelle Kraftakte vollbracht, indem sie die entlegensten Gebiete in geradezu irrem Tempo mit 4G- und 5G-Standard versorgten. Kleine ländliche Unternehmen werden von Tech-­Monopolisten wie den E-Commerce-Plattformen Alibaba und JD.com umgarnt.

Wenn ich Dokumente zur Revitalisierung der Landgebiete las oder mit politischen Beratern darüber sprach, drängte sich mir oft der Vergleich mit der amerikanischen Politik im ländlichen Raum auf. Bei einer Autofahrt auf der California I-5 quer durch das landwirtschaftlich geprägte Central Valley zum Beispiel kam mir San Francisco jedes Mal wie eine urbane Fata Morgana vor. Entlang der I-5 reihen sich Amazon-Lagerhäuser, Ölbohranlagen, industrielle Agrarlandschaften, von der Farmkrise 1980 gezeichnete ­Gemeinden und Gefängnisse aneinander – letztere bilden übrigens einen der wichtigsten und immer noch wachsenden Industriezweige im ländlichen Raum der USA. In einem Artikel aus der New York Times von 2001 über den Wiederaufschwung im ländlichen Amerika war zu lesen, dass der Bau neuer Gefängnisse die Wirtschaft effektiver ankurbelt als der Bau eines Walmart oder einer Fleischfabrik. In ihrem Buch ­Golden Gulag: Prisons, Surplus, Crisis, and Opposition in Globalizing California schildert die Abolitionistin und Geographin Ruth Wilson Gilmore, dass der Bau von Gefängnissen im ländlichen Kalifornien der 1990er Jahre vor dem Hintergrund einer dezidiert ökonomischen Agenda betrieben wur­­de. Die Gefängnisindustrie im ländlichen Raum wurde von politischen Entscheidungsträgern unterstützt, die damit die Wirtschaftskrise lindern wollten, denn während die Kriminalitätsrate in ganz Amerika zurückging, stieg die Zahl der Gefängnisinsassen. Mit dem Bau von Gefängnissen im Nirgendwo ließ sich aus dem im Übermaß vorhandenen enteigneten Land, das seit der Farmkrise brachlag, gleich mehrfach Kapital schlagen: Vulnerable Bevölkerungsgruppen wie Communities of Color aus den Städten konnte man in ländliche Gefängnisse transferieren und gleichzeitig Sozialleistungen für Bildungseinrichtungen, Gesundheitsdienst und Staatshilfen gesundschrumpfen. Eine Studie des Vera Institute of Justice von 2017 hat gezeigt, wie der Trend zur Inhaftierung auf dem Land weiter zunimmt. Der Studie zufolge wird der Bau weiterer ländlicher Gefängnisse durch finanzielle Anreize gefördert, und tausende bereits bestehender Gefängnisse erweitern ihre Aufnahmekapazitäten – trotz teils drastisch fallender Kriminalitätszahlen und trotz zunehmender Belege dafür, dass die ländliche Gefängnisindustrie gesellschaftliche und politische Verwerfungen auf nationaler Ebene schürt.

Der gesellschaftliche und politische Umbruch in China nach dem Großen Sprung und die erhebliche ­Unsicherheit des momentanen politischen Klimas in den USA dienen den derzeitigen chinesischen Entscheidungsträgern als lehr­­reiches Anschauungsmaterial: Eine agrarische Transformation ist eine enorm heikle Angelegenheit und hat unabsehbare Konsequenzen, insbesondere im Zeitalter des globalen Agrar­handels. Mag China noch so sehr davon träumen, demnächst zur KI-Supermacht aufzusteigen, so wird doch die Landfrage geklärt werden müssen, damit China genügend Wissensarbeiter heranziehen kann.

Die Einkommensungleichheit in China zählt wegen des Stadt-Land-Gefälles zu den weltweit höchsten Arbeitsmigran­ten aus dem ländlichen Raum arbeiten für einen geringen Lohn in den Städten, ohne sich in den urbanen Regionen ansiedeln zu dürfen. Zwar hat eine Reform des hukou-Systems begonnen, doch gibt es neuerdings Anzeichen, dass die Besitzer eines hukou vom Land gar nicht mehr so erpicht darauf sind, ihn für einen hukou in der Stadt einzutauschen.6 Im Zuge der fortgesetzten Landreform erhielten chinesische Bauern die Erlaubnis, ihr Land zu verpachten oder Landrechte an andere zu übertragen, was eine zusätzliche Einkommensquelle eröffnete. Und da China als Ganzes auf Experimenten aufgebaut ist, spricht nichts dagegen, dass die Revitalisierung der Landgebiete tatsächlich zu einem nachhaltigen Wachstum im ländlichen Raum führt. Im Gesetz zur Organisation der dörflichen Selbstverwaltung ist geregelt, dass die Dorfbewohner ihre Dorfkomitees in demokratischer Wahl selbst bestimmen, was mancherorts dazu geführt hat, dass die Bewohner die jeweiligen Machthabenden dann auch zur Rechenschaft ziehen, wenn es um das wirtschaftliche und soziale Wohl geht. Die Landwirtschaftssteuer für Bauern wurde 2006 abgeschafft, was neue Investitionen ermöglichte, und der langsame, aber stetige Rückstrom von Migranten in ihre Heimatdörfer brachte auch einen Zustrom an Wissen und Technologie mit sich.7