Blood and Steel - Helen Scheuerer - E-Book

Blood and Steel E-Book

Helen Scheuerer

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Beschreibung

Was opferst du für deinen größten Traum – wenn du weißt, dass du bald sterben wirst? Mit der spicy Romantasy »Blood and Steel« beginnt eine epische Fantasy-Reihe um eine Welt voller Magie und Monster: Eine kämpferische Heldin, die nichts zu verlieren hat, trifft auf einen legendären Krieger, der von seinen eigenen Dämonen heimgesucht wird. Nachdem ihr Tod geweissagt wurde, bleiben Althea Zoltaire nur noch drei Jahre, um zu werden, wovon sie immer geträumt hat: eine legendäre Kriegerin. Mit allen Mitteln kämpft Althea um ihren Platz in der Elitegilde, die die fünf Königreiche beschützt. Das brutale Training und die Schikanen der anderen Rekruten enden für Althea beinahe tödlich – aber noch gefährlicher sind ihre widerstreitenden Gefühle für den ruhmreichen Schwertmeister Wilder Hawthorne, der zähneknirschend ihren Aufpasser spielen muss. Während Althea sich auf die lebensgefährliche Aufnahmeprüfung vorbereitet, werden überall um sie herum Intrigen gesponnen. Gleichzeitig zieht über den Königreichen eine dunkle Bedrohung auf, die ihren Traum zerstören könnte, bevor er überhaupt beginnt … Endlich auf Deutsch: die TikTok-Sensation voller beliebter Tropes – von Enemies to Lovers bis Who did this to you? Lass dich von Helen Scheuerers vierbändiger Romantasy-Reihe »Die Legenden von Thezmarr« in eine epische Fantasy-Welt entführen: Actionreiche Kämpfe und die knisternde Spannung zwischen Althea und Wilder machen »Blood and Steel« zum Pageturner. Perfekt für alle, die »Blood and Ash«, »Throne of Glass« oder »The Witcher« geliebt haben! Diese Tropes erwarten dich: - Enemies to Lovers - Slowburn Spice - Found Family - Who did this to you? - Forbidden Love Die vierbändige Fantasy Romance »Die Legenden von Thezmarr« erscheint auf Deutsch in folgender Reihenfolge: - Blood and Steel - Vows and Ruins

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Seitenzahl: 670

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Helen Scheuerer

Blood and Steel

Die Legenden von Thezmarr 1

Aus dem Englischen von Marion Herbert und Jasmine Hofmann

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Mit der spicy Romantasy »Blood and Steel« beginnt eine epische Fantasy-Reihe um eine Welt voller Magie und Monster: Eine kämpferische Heldin, die nichts zu verlieren hat, trifft auf einen legendären Krieger, der von seinen eigenen Dämonen heimgesucht wird.

Nachdem ihr Tod geweissagt wurde, bleiben Althea Zoltaire nur noch drei Jahre, um zu werden, wovon sie immer geträumt hat: eine legendäre Kriegerin. Mit allen Mitteln kämpft Althea um ihren Platz in der Elitegilde, die die fünf Königreiche beschützt.

Das brutale Training und die Schikanen der anderen Rekruten enden für Althea beinahe tödlich – aber noch gefährlicher sind ihre widerstreitenden Gefühle für den ruhmreichen Schwertmeister Wilder Hawthorne, der zähneknirschend ihren Aufpasser spielen muss. Während Althea sich auf die lebensgefährliche Aufnahmeprüfung vorbereitet, werden überall um sie herum Intrigen gesponnen. Gleichzeitig zieht über den Königreichen eine dunkle Bedrohung auf, die ihren Traum zerstören könnte, bevor er überhaupt beginnt …

Endlich auf Deutsch: die TikTok-Sensation voller beliebter Tropes – von Enemies to Lovers bis Who did this to you?

Weitere Informationen finden Sie unter: www.bramblebooks.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Prophezeiung der Mittelreiche

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

Wilder Hawthorne

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

Wilder Hawthorne

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

Wilder Hawthorne

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

Wilder Hawthorne

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

Wilder Hawthorne

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

Wilder Hawthorne

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

Wilder Hawthorne

KAPITEL 34

Wilder Hawthorne

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

Wilder Hawthorne

KAPITEL 39

EPILOG

DANKSAGUNG

Für Gary, meinen Partner in Wine und Crime.

Mit dir ist jeder Tag ein Abenteuer.

Prophezeiung der Mittelreiche

Im Schatten eines gefallenen Königreichs, im Auge des Sturms

Wird eine Tochter der Finsternis mit der einen Hand die Klinge führen

Und mit der anderen über den Tod gebieten.

 

Wenn der Himmel sich verdüstert, am Ende der Tage,

Wird der Schleier fallen.

Wenn ihre Klinge gezogen ist, werden die Gezeiten wechseln.

 

Ein Morgen von Feuer und Blut.

KAPITEL 1

Althea Zoltaires Todesjahr war schon seit ihrer Kindheit in Stein gemeißelt. Darum wusste sie, als sie jetzt durch ein Reich am Rande der Finsternis schlich, dass die Welt nicht untergehen würde. Noch nicht.

Ein Blitz spaltete den Himmel, gefolgt von einem Donnerschlag. Thea bewegte sich vorsichtig am Felsufer entlang, atmete den schweren Duft des heraufziehenden Gewitters tief ein und genoss die Kraft, die es zu entfesseln drohte. Sie sollte nicht hier oben sein, aber sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Mit klopfendem Herzen suchte Thea die Felsen nach einem Versteck ab. Das Treffen würde jeden Moment stattfinden, hier auf den schwarzen Klippen, zwischen zerklüfteten Bergen und wütender See, wo riesige Wellen unter tief hängenden Wolken dahinrollten. Diese unwirtliche Gegend, die wilde Landschaft und die kalten, scharfen Umrisse von Thezmarr, war das einzige Zuhause, das sie kannte. Sie hatte kaum noch Erinnerungen an die Zeit, bevor sie und ihre Schwester Elwren vor der Festung unter dem klaffenden Maul des Fallgatters zurückgelassen worden waren.

Thea richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Treffpunkt. Weit und breit war niemand zu sehen, kein Flüstern im Wind zu hören. Mit einem ungeduldigen Seufzen spielte sie mit dem Schicksalsstein an ihrem Hals, strich mit dem Daumen über die eingravierte Zahl, die Zahl, durch die sie in diesem Leben gebunden war.

Siebenundzwanzig.

Das Alter, in dem sie sterben würde. Nur noch drei Jahre, bis der Tod für sie käme – was sie nicht ängstigte, sondern verärgerte. Denn drei kurze Jahre waren nichts für eine Frau, die etwas werden wollte.

Eine Legende.

Sie blinzelte in den Himmel, suchte den milchigen Kreis der Sonne zwischen all dem Grau. In einem Reich, das in Finsternis gehüllt war, erwies es sich oft als schwierig, die genaue Stunde zu bestimmen. Doch müsste sie wetten – und das tat sie gewöhnlich –, würde sie sagen, die Krieger waren spät dran. Sicherlich kein gutes Zeichen.

Der Himmel riss auf, und es begann zu schütten, sodass sich der Boden unter ihren Stiefeln in einen schlammigen Fluss verwandelte. Wieder zuckte ein Blitz über den Himmel und erhellte, was jenseits des aufgepeitschten Meeres lag: den Schleier. Eine gewaltige Wand aus undurchdringlichem weißem Nebel, die bis zu den Göttern reichte und die Mittelreiche in ihre schützende Umarmung einschloss. Jahrhundertelang hatte der Schleier das Reich vor den Bestien bewahrt. Bis er eines Tages versagte.

Dieser Gedanke ließ Thea prüfen, ob ihr kostbarster – und streng verbotener – Besitz, ihr Dolch, noch wie immer unter dem Hosensaum in ihrem Stiefel steckte.

Plötzlich klapperten Hufe über die Felsen. Thea warf sich hinter ein Dornengestrüpp, um sich zu verstecken, als zwei große Hengste in Sichtweite kamen.

Ihr Puls beschleunigte sich. Ihre Information war korrekt gewesen. Diese glänzenden schwarzen Pferde gehörten nur einer Art von Reitern.

Schwere Stiefel landeten mit einem Platschen auf dem matschigen Boden, und leise Stimmen drangen über die Klippe.

Sie waren da.

Die Schwertmeister von Thezmarr.

Thea spähte um die Felsen herum, wollte die legendären Krieger unbedingt aus der Nähe betrachten.

Zwei bis an die Zähne bewaffnete Männer in schwarzen Rüstungen traten auf die Lichtung. An den Armbinden prangte ihr stählernes Abzeichen: zwei gekreuzte Schwerter und eine dritte Klinge, die in der Mitte nach unten zeigte.

Theas Hand wanderte unwillkürlich zu ihrem eigenen Ärmel. Sie sehnte sich danach, dort ebenfalls ein Abzeichen zu tragen.

Schwertmeister legten niemandem Rechenschaft ab, außer dem Gildemeister.

Balladen handelten von ihrer Kraft, davon, wie sie nach dem Bestehen des großen Ritus stärker, schneller und wendiger wurden als die furchteinflößendsten Männer. Manche galten als unsterblich. Man sagte, sie würden nicht geboren, sondern aus Blut und Stahl geschmiedet. Mittlerweile gab es nur noch drei von ihnen.

Zwei davon standen nun wenige Fuß von Thea entfernt im Regen. Mehr als ein Jahr lang hatte sie versucht, so nah an sie heranzukommen, um zu erfahren, was die Mittelreiche erwartete – denn sie würde nicht unvorbereitet sein, wenn die Finsternis über alle hereinbrach.

Sie hatte die beiden schon oft im großen Saal gesehen: Torj den Bärentöter, den hammerschwingenden Helden mit goldenem Haar, der in den Wäldern von Tver angeblich zwei verfluchte Bären abgewehrt hatte; und Vernich den Blutvergießer, den älteren Krieger, der als Anführer in zahllosen Schlachten Flüsse von Feindesblut vergossen hatte, vor allem beim Fall von Delmira.

Letzterer blickte sich mit tief gerunzelter Stirn auf der Klippe um. »Er hat gesagt, er würde hier sein.«

»Hat sich wohl verlaufen, weil er schon so lange nicht mehr zu Hause war«, bemerkte Torj amüsiert.

»Deine armseligen Witze kannst du dir sparen«, knurrte Vernich. »Ich habe Durst und will nur noch raus aus diesem verfluchten Regen. Seit einer Woche hatte ich keine trockenen Stiefel mehr an.«

»In seinem Brief stand, wir sollen hier warten …«

»Ich weiß, was drinstand«, schnauzte Vernich. »Sonst würde ich längst mit meinem dritten Bier am Feuer sitzen.«

»Bitte, geh doch und mach es dir gemütlich. Ich kann dir nachher eine Zusammenfassung geben«, erwiderte Torj, wobei er eine Hand auf den Kopf des Kriegshammers an seinem Gürtel legte.

Thea biss sich auf die Lippe. Ihr Herz schlug noch immer heftig.

Vernich ging auf und ab. »Wir haben den Bastard seit Jahren nicht gesehen. Als würde ich …«

Wieder donnerten Hufe über den Berg, und zusätzlich zum Regen spritzte schlammiges Wasser auf die Lichtung.

Ein tiefes Schweigen breitete sich aus, als sich ein dritter Reiter zu den anderen gesellte. Er stieg von seinem großen Hengst, und hinter ihm mischten sich subtile Noten von Rosenholz und Leder mit dem Geruch des Regens.

Als er in Theas Blickfeld kam, wusste sie gar nicht, welches Detail sie zuerst betrachten sollte. Seine hochgewachsene Gestalt glich einer Wand von Muskeln in schwarzer Rüstung, und hinter ihm ragten zwei riesige Klingen hervor. Sein nasses, dunkles Haar war am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden, ein gestutzter Bart umrahmte den kantigen Kiefer …

In Theas Nacken prickelte es. Natürlich wusste sie von ihm.

Obwohl er jahrelang fort gewesen war, gab es kaum jemanden, der noch nicht von Wilder Hawthorne, dem jüngsten Schwertmeister von Thezmarr, gehört hatte. Er war der Letzte seiner Art, der den großen Ritus bestanden hatte.

Derjenige, der »die Hand des Todes« genannt wurde.

Macht ging in Wellen von ihm aus.

Thea erstarrte, als sie bis zu ihr drang. Die Kraft war eigenartig, unerwartet … Nie zuvor war Thea wahrer Magie so nah gewesen; nicht viele einfache Leute konnten das von sich behaupten. Im Laufe der Jahrhunderte war die Magie in den Mittelreichen unberechenbar geworden. Sie hatte sich den Menschen entzogen und war nun eine Gabe, die nur Mitglieder der königlichen Familien besaßen und die Schwertmeistern beim großen Ritus verliehen wurde. Aber sie zeigte sich auf andere Weise, an Orten, in Zaubersprüchen, bei Ungeheuern.

Thea konnte nur davon träumen, wie es sein musste, über eine solche Stärke zu verfügen, eine solche Kraft zu genießen …

Die »Hand des Todes« strahlte eine Macht aus, die nach ihr rief.

Hawthorne drehte sich zu seinen Mitstreitern und musterte sie kritisch.

Keiner sagte etwas.

»Gut«, sprach er schließlich mit wohlklingender, tiefer Stimme. »Ihr seid da.«

»Nicht, dass ich mich über diese Einladung gefreut hätte«, bemerkte Vernich gereizt.

Hawthorne reagierte nicht darauf. »Wir haben einiges zu besprechen.«

Zum ersten Mal wanderte Theas Blick zu dem, was er in der rechten Hand hielt. Einen Jutesack. Einen Sack, aus dem es schwarz heraustropfte.

Torj bemerkte ihn ebenfalls. »Schlechte Nachrichten?«

Ein Muskel in Hawthornes Kiefer spannte sich an. »Es sind immer schlechte Nachrichten.«

»Dann raus damit.«

»Ich komme von den Splitter-Inseln«, sagte er leise. »Dort habe ich eine neue Schar Schattendämonen vernichtet. Eigentlich wollte ich sofort mit dem Bericht zur Festung zurückkehren, aber ein Riffkrake hat mein Schiff bis an unsere Küste verfolgt, also habe ich es weiter nach Westen gesteuert, in Richtung des Schleiers. Bis …«

Er hielt Torj den blutigen Sack entgegen. »… ich auf einen Schattendämon gestoßen bin, der verdammt nah an Thezmarr war.«

Angewidert zog Torj etwas Schwarzes, Tropfendes aus dem Beutel.

Thea musste beinahe würgen.

Ein Herz.

»Ich habe noch zwei davon in einem anderen Beutel. Wo ein Schattendämon ist, sind noch mehr«, warnte Hawthorne. »Der Schleier hat weitere Risse. Jeden Tag durchbrechen ihn diese widerlichen Kreaturen, und noch schlimmere.«

»Mögen die Furien uns retten«, murmelte Torj.

Hawthorne lachte bitter. »Die Furien retten niemanden.«

Bei diesen Worten schaute er auf – Thea jagte ein Schauer über den Rücken, ein lautloser Blitz durchzuckte ihre Adern.

Durch das Gestrüpp hindurch begegneten ihre jadegrünen Augen den silbernen des berühmten Schwertmeisters.

Ihr Herz setzte aus, ihr gesamter Körper erstarrte.

Sein Blick drang bis in ihre Seele.

Hawthorne blinzelte langsam und wandte sich dann wieder seinen Kameraden zu. »Ich habe noch mehr zu erzählen, aber nicht hier.«

»Was soll das heißen, nicht hier?«, blaffte Vernich. »Ich dachte, genau darum geht es bei diesem verdammten …«

»Nicht hier.« Hawthorne griff nach seinen Zügeln, und ohne einen weiteren Blick in Theas Richtung führte er die anderen fort zu den schwarzen Bergen.

Thea bekam ganz weiche Knie, und ihre Hände zitterten. Er hatte sie gesehen. Hawthorne hatte sie gesehen und nichts gesagt … Warum?

Noch während sie sich darüber den Kopf zerbrach, zwang sie sich aufzustehen. Als sie sicher war, dass die Schwertmeister fort waren, eilte sie zu dem schmalen, felsigen Pfad, der zur Festung zurückführte. Wie eine Kriegstrommel schlug der Schicksalsstein an ihre Brust, während sie über die Klippen und den schroffen Abhang hinunterlief, vorbei an den dicken Mauern und dem Torhaus zum Eingang am Nordturm. Dann huschte sie keuchend hinein, endlich vor Wind und Regen geschützt. Sie wrang das Wasser aus ihrem bronze- und goldgesträhnten Haar und hielt einen Augenblick inne, um zu verarbeiten, was gerade passiert war, was sie gesehen und gehört hatte.

Es stimmte.

Nach jahrelanger Abwesenheit war Wilder Hawthorne nach Thezmarr zurückgekehrt, und er hatte die Herzen von Bestien dabei.

KAPITEL 2

Du kannst es einfach nicht lassen, oder?«, zischte ihre Schwester Elwren, sobald Thea auf dem Gang im Obergeschoss vor ihr zum Stehen kam.

Sie begegnete Wrens finsterem Blick. Sie und ihre Schwester hatten dieselbe Augenfarbe, ein ungewöhnliches Jadegrün, und die gleichen dichten, dunklen Brauen. Wren setzte ihre für gewöhnlich ein, um Thea gegenüber ihren Missmut auszudrücken. Zudem hatten sie die gleichen bronzefarbenen, welligen Haare, jedoch waren Theas von mehr goldenen Strähnen durchzogen, da sie mehr Zeit im Freien verbrachte. Sie waren zwei Seiten derselben Medaille, doch während Thea sich durch ihre härteren Züge und Muskeln hervortat, war Wren die Weichere, Schönere der beiden. Ihre zwei Jahrzehnte in der Festung hatten es nur bestätigt: Das Schicksal war Frauen im Rock und mit einem hübschen Lächeln gewogen, nicht solchen mit abgebrochenen Fingernägeln und abgewetzten Hosen.

Doch in diesem Moment, als Wren Thea außer Hörweite der anderen zerrte, fehlte von ihrem sanften Wesen jegliche Spur. Sie zog Thea den triefenden Umhang aus und klopfte die gröbsten Schlammklumpen ab.

Gereizt schlug Thea ihre Hand weg. »Hör auf damit! Ich bin die Ältere von uns, ich sollte …«

Wren schnaubte. »Thea, du bist eins der wenigen Beispiele dafür, dass die Älteren nicht immer die Klügeren sind.«

»Dann hast du ja Glück, dass du neben mir glänzen kannst. Also hör auf, dich zu beschweren.«

Wren schüttelte bloß den Kopf, dass ihr zerzauster Haarknoten nur so wippte, und reichte Thea mehrere Seiten Pergament, die diese mit säuerlicher Miene entgegennahm. Noch mehr Frauenarbeit. Gifte und Arzneien statt Klingen und Blut. Ein Grund mehr, das Gesetz zu verfluchen, die Prophezeiung zu verabscheuen, die man sie zu fürchten gelehrt hatte:

 

Im Schatten eines gefallenen Königreichs, im Auge des Sturms

Wird eine Tochter der Finsternis mit der einen Hand die Klinge führen

Und mit der anderen über den Tod gebieten.

 

Wenn der Himmel sich verdüstert, am Ende der Tage,

Wird der Schleier fallen.

Wenn ihre Klinge gezogen ist, werden die Gezeiten wechseln.

 

Ein Morgen von Feuer und Blut.

 

Vor zwanzig Jahren, nachdem diese tödliche Prophezeiung ausgesprochen worden war, hatte man Frauen gezwungen, ihre Klingen niederzulegen. Thea, die damals erst vier Jahre alt gewesen war, hatte das durch ein Gitter aus dem Keller heraus beobachtet, hatte den Zorn der Frauen gesehen, denen das Recht entrissen worden war, die Mittelreiche zu beschützen.

Doch das hatte Thea nicht davon abgehalten, ihren Dolch zu tragen.

Nichts konnte sie davon abhalten.

Ihre Aufmerksamkeit schweifte den Gang hinunter zur Trophäenkammer. Auch als Erwachsene sehnte sie sich noch danach, diesen Raum zu besuchen und die Namen der Sieger zu lesen. Da wäre zum einen Talemir Starling, der Schwertmeister, den man den Prinzen der Herzen nannte und der im Kampf mit zwei Schwertern ungeschlagen war. Erzählungen zufolge hatte er unzählige Herzen aus Ungeheuern herausgeschnitten.

Und noch ein weiterer Name hatte Thea immer fasziniert: Vor sechs Jahren hatte sie dort ihren Vormund Audra entdeckt, unter Thezmarrs Sieger im Messerwerfen. Die Bibliothekarin mit dem strengen Blick war die einzige Kriegerin gewesen, die ihre Waffen abgegeben hatte und dennoch in der Festung geblieben war.

»Ich hab Farissa gesagt, dass du wieder Nasenbluten hast«, sagte Wren gerade.

Thea grinste. »Danke.«

»Aber wenn du noch öfter Nasenbluten hast, stellen die Meister irgendwann unangenehme Fragen.«

»Dann ist es ja gut, dass du immer alle Antworten parat hast.« Thea schlang ihrer Schwester den Arm um den Hals. Wren war in Thezmarr eine hochgeschätzte Alchemistin, während Thea selbst eher eine Herumtreiberin war. Zwar arbeitete sie Seite an Seite mit ihrer Schwester in der Werkstatt und der Bibliothek, um sich Kost und Logis hier zu verdienen, doch in Gedanken war sie immer woanders. Ihr blieben nur noch so wenige Jahre, und sie träumte davon, alle Regeln in den Wind zu schlagen und selbst eine Klinge gegen die Finsternis zu schwingen.

Wren gab einen missbilligenden Laut von sich und schüttelte Theas Arm ab. »Ich würde dir gerade lieber eine scheuern, als dich zu umarmen.«

»Aber nur, weil ich dir gezeigt habe, wie man richtig zuschlägt.«

»Halt einfach die Klappe, Thea.«

Der Geduldsfaden ihrer Schwester drohte tatsächlich zu reißen, und so schluckte Thea eine weitere bissige Bemerkung herunter.

Aus dem Hof drang das Klirren von Stahl auf Stahl zu ihnen herauf, und Thea ging zum Fenster, grub die Nägel ins feuchte Sims und blickte nach unten.

Eine neue Einheit von Schildträgern machte sich gerade auf den Weg zum Torhaus, ihr Alter schwankte zwischen Heranwachsenden und Mittzwanzigern. Einige aus der Gruppe von ihnen lieferten sich bereits Übungskämpfe.

Die Gilde bildete ihre Krieger von Anfang an sorgfältig aus, trainierte die Schildträger in der Kriegskunst, bis sie ihre Eignungsprüfung bestanden und zu Wächtern der Mittelreiche wurden, die das Abzeichen zweier gekreuzter Schwerter trugen. Danach konnten sie entweder treue mittelrangige Krieger Thezmarrs bleiben oder sich zu Kommandanten und Meistern einer bestimmten Disziplin hocharbeiten. Und dann gab es da noch die Schwertmeister.

Ein Schwertmeister zu sein … Das bedeutete, zu einer lebenden Legende zu werden.

Doch unten im Hof war keine Spur von den Elitekriegern, und auch Esyllt, den Waffenmeister, konnte Thea nicht entdecken. Ihre Brust wurde eng, als sie zusah, wie die Schildträger mit ihren Schilden auf dem Rücken davongingen, zweifelsohne unterwegs zu einer weiteren Übungseinheit, wie Thea sie schon Hunderte von Malen von einem versteckten Platz im Blutwald aus beobachtet hatte.

Es juckte ihr in den Fingern, den Dolch aus ihrem Stiefel zu ziehen.

»Thea …«, mahnte Wren.

Kurz entschlossen entriss Thea ihrer Schwester den Umhang und drückte ihr die Pergamentseiten in die Hand. »Ich glaube, ich bekomme schon wieder Nasenbluten.«

»Thea, nein …«

Doch Thea schritt bereits davon. »Das wird diesmal ganz schlimm, das merke ich. So faszinierend Audras staubige Bücher auch sind, das Transkribieren und Einräumen muss wohl noch warten. Wir wollen ja nicht, dass Flecken auf die Seiten kommen …«

Wren versuchte, sich ihr in den Weg zu stellen, und ihre Augen, die Theas so ähnlich sahen, blitzten frustriert auf. »Götter, du bist doch keine sechzehn mehr.« Sie sah zurück zu ihren Freundinnen.

»Außerdem habe ich rasende Kopfschmerzen, Wren.«

Verzweifelt warf ihre Schwester die Hände in die Luft und schüttelte abermals ungläubig den Kopf. »Dir ist wirklich nicht zu helfen, Althea.«

Thea grinste – da mochte Wren nicht unrecht haben. Doch sie würde lieber hundert Leben in drei Jahren leben, als die wenige Zeit zu verschwenden, die ihr in dieser Welt noch blieb. Sie winkte Wren über die Schulter hinweg zu, stieg dann die Treppe wieder hinunter und stürzte abermals hinaus in den Regen.

 

Draußen hatte sich tiefe Dunkelheit über die Festung gelegt, und Thea gelangte wie gewöhnlich unbemerkt durch das Tor. Sie folgte der Einheit Schildträger mit etwas Abstand, denn sie wusste genau, wo sie hingingen. Der Blutwald umgab das Gebiet von Thezmarr zu großen Teilen und hieß so, weil die dichten Bäume das Blut längst gefallener Krieger vergossen und die raschelnden Blätter uralte Geheimnisse flüsterten.

Weiter südlich lag die Lichtung, die Waffenmeister Esyllt für die ersten Übungseinheiten in kleineren Gruppen bevorzugte. Sicherlich wartete er bereits dort, doch Thea blieb dem Hauptpfad dennoch fern, falls noch Nachzügler kamen – obwohl sie bezweifelte, dass selbst die beschränktesten Schildträger so dumm waren. Esyllts Zorn sollte man sich besser nicht zuziehen.

Wer wohl als Sieger hervorgehen würde, wenn er sich jemals mit Audra anlegte … Thea lachte auf. Audra könnte ihm mühelos eines ihrer Bücher über den Kopf ziehen, und außerdem war sie ja immerhin vor langer Zeit eine Meisterin im Messerwerfen gewesen.

Noch immer belustigt über diese Vorstellung tauchte Thea weiter in die dunklen Tiefen des Blutwaldes ein und genoss den Geruch der feuchten Erde und des rutschigen Laubs unter ihren Stiefeln. Sie war nah genug dran, dass sie hören konnte, wie die Einheit sich durch die Bäume schlug, einige Nachzügler konnte sie sogar sehen. Unauffällig geht auf jeden Fall anders, dachte sie spöttisch. Dennoch kam sie nicht umhin, die Waffen, die an ihren Gürteln baumelten, neidvoll zu beäugen.

In der Nacht, in der die Prophezeiung ausgelöst worden war, hatte Farissa, die Meisteralchemistin, sämtliche Kinder von Thezmarr in einem versteckten Keller in Sicherheit gebracht. Doch nachdem die anderen eingeschlafen waren, hatte Thea sich ein Gitter in der Steinmauer gesucht, durch das sie auf den versengten Hof über ihr spähen konnte. Den Anblick der Frauen, die in tiefster Nacht ihre Waffen abgaben, würde sie niemals vergessen. Ihr Zorn war geradezu greifbar gewesen, als sie die Schwerter klirrend auf einen Haufen geworfen hatten.

»Die Prophezeiung hat begonnen«, hatte der Gildemeister über die wütenden Rufe und vereinzelten Handgreiflichkeiten hinweg gerufen. »Wir können nicht länger zulassen, dass Frauen Waffen führen. Ihr müsst euch andere Beschäftigungen suchen oder die Gilde verlassen.«

»Ihr seid ein Bastard, Osiris«, hatte jemand geschrien. »Wie könnt Ihr Thezmarr derart schwächen? Wie könnt Ihr all jene vor den Kopf stoßen, die treu gedient haben …«

»Ich wollte auch nicht, dass es so weit kommt. Doch das ist der Wille der Götter«, hatte er erwidert. »Legt eure Waffen nieder, oder sie werden euch gewaltsam abgenommen!«

Damals war Thea zu jung gewesen, um es zu verstehen, doch die Erinnerung hatte sie seither verfolgt. Abgesehen von Audra waren sämtliche Kriegerinnen noch in derselben Nacht gegangen. Wohin, wusste niemand, denn das Gesetz galt nicht nur für Thezmarr, sondern für die gesamten Mittelreiche. Keine Frau sollte je wieder eine Waffe führen.

Jahrelang hatte Thea versucht, mit ihrem Vormund darüber zu sprechen, doch die Bibliothekarin weigerte sich. Zahllose Unterrichtsstunden und Bücher hatten Thea gelehrt, dass es ein kleines Mädchen gewesen war, das mit einer Klinge in der Hand die Weissagung ausgelöst hatte, und dass das nachfolgende Gesetz der Versuch des Gildemeisters war, die Mittelreiche vor weiteren Töchtern der Finsternis zu schützen.

Wegen eines Kindes mit einer kleinen Sichel hatte er Gift und Galle gespuckt. Wenn er wüsste, dass Thea eine Waffe besaß … Aber das würde er niemals erfahren.

Schließlich kam sie wie so oft auf der Lichtung an, die vom Trainingsgelände den Hang hinunter nicht zu sehen war, ihr allerdings eine wunderbare Sicht bot. Sie hockte sich ins Laub und spitzte die Ohren, um Esyllts Rede zu lauschen, die sie schon hundertmal zuvor gehört hatte, die Rede, die ihr Blut in Wallung brachte.

Der drahtige Waffenmeister ging mit gereckter Brust und der Hand auf dem Knauf seines Langschwerts vor den Rekruten auf und ab, die ihn mit leuchtenden Augen ansahen, während er sie mit strenger Miene musterte.

Voller Autorität hallte seine Stimme über die Lichtung: »Vor einem Monat noch wart ihr bloß Schüler, Jungen, deren Bestimmung nichts weiter als gewöhnlich war … Doch heute seid ihr Schildträger von Thezmarr, und ihr seid hierher in den Blutwald gekommen, weil ihr auf etwas weit Größeres hofft.«

Gänsehaut breitete sich auf Theas Armen aus, und sie nahm jedes Wort in sich auf, als wären sie ein Heiltrank, den sie dringend brauchte.

»Die kommenden Monate werden die besten und die schlimmsten eures Lebens werden«, fuhr Esyllt fort und ließ die Worte auf sein völlig in seinem Bann stehendes Publikum wirken. »Vorausgesetzt, ihr schafft es so weit. Einige von euch werden aufgeben, nach einem Tag, einer Woche oder auch einem Monat. Der Rest von euch wird herausfinden, was Schmerz und Angst bedeuten, was es heißt, mit allen Mitteln um seinen Platz zu kämpfen. Ihr werdet herausfinden, wem ihr vertrauen könnt und wann ihr besser mit einer Klinge unter dem Kissen schlaft. Wer unsere Prüfungen nicht besteht, wird aus unseren Reihen ausgeschlossen werden. Wer sich besonders hervortut, wird vielleicht bei einem Kommandanten in die Lehre gehen. Manche von euch werden sich verletzen. Manche von euch werden sterben.«

Esyllt hielt abermals inne und begutachtete die Gesichter vor sich, als könnte er bereits an Ort und Stelle bestimmen, wer es schaffen und wer scheitern würde. Dann räusperte er sich. »Und ein paar wenige von euch«, er warf seinen auserwählten Schildträgern vielsagende Blicke zu, »werden zu etwas geformt, von dem viele nur träumen können: Wächtern der Mittelreiche, Kriegern von Thezmarr.«

Thea hielt den Atem an. Götter … Es spielte keine Rolle, wie oft sie Esyllts Einweisung schon gehört hatte, sie traf sie jedes Mal direkt ins Herz. Wie angewurzelt hockte sie da, lauschte ebenso fasziniert wie die Schildträger und wünschte sich, sie könnte das hier mit jemandem teilen, irgendjemandem. Doch wie immer verharrte sie in ihrem Versteck.

Esyllt räusperte sich abermals. »Also, geht in eure Gruppen. Ich will sehen, was ihr bisher gelernt habt.«

Die Schildträger zögerten.

»Trainieren!«, bellte Esyllt. »Jetzt.«

Schlagartig setzten sich die Rekruten in Bewegung, teilten sich in mehrere Kleingruppen auf, zogen ihre Waffen und hoben ihre Schilde in Verteidigungshaltung.

Thea beobachtete sie, bemerkte, welche von ihnen den Schild zu tief hielten, wessen Beinarbeit zu schwerfällig war und wen sie als Gegner vielleicht interessant fände. Die Theorie hatte sie über Jahre verinnerlicht, sie hatte für sich geübt, doch es juckte ihr in den Fingern, wie die Rekruten ein Schwert zu halten, und sie erwischte sich selbst dabei, wie ihre Hand langsam zu dem Dolch in ihrem Stiefel wanderte.

Vorsichtig trat sie zurück, weit außer Sicht, und begann damit, ihre eigenen Übungen durchzugehen. Wie alle Kinder Thezmarrs hatte sie einige Jahre grundlegenden Verteidigungstrainings durchlaufen, doch das hatte ihr nie gereicht. Seit ihrer Kindheit hatte sie bei so vielen Trainingseinheiten wie möglich zugesehen, hatte jedes Häppchen Information in sich aufgenommen, jede Technik aus der Ferne gelernt. Ohne ein eigenes Schwert war das nicht gerade einfach. Aber ihr Dolch war ihr ganzer Stolz. Vor sechs Jahren hatte sie beobachtet, wie er einem verletzten Schwertmeister aus der Hand gerutscht war, der in einem Wagen zurück zur Festung gebracht worden war. Damals hatte sie den Fehler gemacht, ihrer Schwester ihren Fund zu zeigen. Wren hatte ihr erklärt, dass der Dolch aus naarvischem Stahl war, und anschließend darauf bestanden, dass Thea ihn zurückbrachte. Naarvischer Stahl war ausschließlich für Schwertmeister bestimmt, ein Geschenk, das man ihnen nach Abschluss des großen Ritus überreichte.

Das Erz aus Naarva, aus dem der Stahl hergestellt wurde, war von den Furien selbst geschaffen worden, als sie einen Sternenregen über dem Land hatten niedergehen lassen. Das seltene Eisenerz war das härteste in den gesamten Mittelreichen und trug die Macht der Götter in sich. Männern war es verboten, solch eine Waffe zu tragen, ohne in den Kreis der Schwertmeister aufgenommen worden zu sein – alles andere kam einer regelrechten Beleidigung der Elitekrieger gleich. Doch wenn eine Frau eine Klinge führte, und dann auch noch aus naarvischem Stahl? Das war Hochverrat.

Zunächst hatte Thea sich natürlich geweigert, den Dolch zurückzugeben. Aber ihre Schwester hatte sie bearbeitet, indem sie ihr eine lange Liste übler Konsequenzen vorbetete. Wren war ihr mit dem Thema ziemlich auf den Geist gegangen, weshalb Thea kurz darauf widerwillig zur Krankenstation gestapft war, um den Dolch seinem verletzten Besitzer zurückzugeben.

Sie hatte gewartet, bis die Heiler sich anderen Patienten zuwandten, und war dann an sein Krankenbett getreten. Er war der größte Mann, den sie je gesehen hatte, beinahe ein Riese. Seine Beine hingen am Fußende über die Bettkante, und die Matratze bog sich unter seinem Gewicht durch. Sein Kopf war mit Dutzenden blutigen Verbänden umwickelt gewesen, sein Gesicht geschwollen und zerbeult, und sogar das Weiß seiner Augen war rot.

Er lag im Sterben.

Wie Thea ihn so betrachtete, spürte sie mit jeder Faser ihres Seins, dass sie nicht hier sein sollte. Doch ganz tief in sich fand sie einen Funken des Muts, den dieser Krieger auf dem Schlachtfeld gehabt haben musste, und streckte ihm den Dolch entgegen.

»Den habt Ihr fallen lassen«, sagte sie zu ihm. »Ich dachte, Ihr wollt ihn vielleicht zurückhaben.«

Der Mann hatte ein Keuchen von sich gegeben, das klang, als würde ein Wagen voller Ziegelsteine auf seiner Brust stehen, und seine Augen waren vor Anstrengung ganz groß geworden. Er hatte etwas gemurmelt, das für Thea keinen Sinn ergeben hatte, und dann hatte er eine zitternde Hand gehoben und den Dolch zurück in ihre Richtung geschoben.

Kein Wort war über seine Lippen gedrungen, als er sie geöffnet und wieder geschlossen hatte.

Doch eines hatte sie verstanden: Er wollte, dass sie den Dolch behielt.

Also hatte sie ihn an ihre Brust gedrückt und gesagt: »Ich werde ihn gut nutzen.«

Jetzt führte sie eine Reihe von Schrittabfolgen aus und hielt dabei ihren Dolch, als wäre er ein Schwert. Sie wusste, dass ihre Bewegungen gut waren, doch sie lechzte danach, sich mit einem würdigen Gegner zu duellieren, mit jemandem, der sie herausforderte. Manchmal konnte sie die eine oder andere Alchemistin oder eine der Küchenhilfen überreden, ihr den Gefallen zu tun, aber das war nicht dasselbe …

Eine sanfte Brise raschelte durch das Blattwerk um Thea herum, und ein leichter Hauch von Leder und Rosenholz stieg ihr in die Nase, was eine seltsame Sehnsucht in ihr auslöste. Sie seufzte und lauschte wieder den Rufen und dem Klirren von Stahl, das von unten zu ihr hochhallte. Ihren Dolch noch immer umklammert, spähte sie abermals den Abhang hinunter.

Da pfiff etwas durch die Luft. Thea warf sich zur Seite, als sich auch schon ein brennender Schmerz auf ihrer Wange ausbreitete.

Mit einem dumpfen Geräusch schlug ein Pfeil in dem knorrigen Baumstamm neben ihr ein. Die Federn erzitterten im Wind.

Mit großen Augen starrte Thea den noch immer bebenden Pfeil an und trat erst einen, dann zwei wacklige Schritte zurück.

Und dann rannte sie los.

KAPITEL 3

Ihr blieb keine Zeit, sich unauffällig zu verhalten. Thea war nur noch ein verschwommener Schatten, ihre Stiefel hämmerten über die feuchte Erde, während sie durch den Wald rannte und ein schmales Rinnsal Blut ihre Wange hinunterlief. Zweige kratzten über ihre Haut und rissen an ihren Kleidern, als sie sich durch die Bäume schlängelte und der Wind ihren Zopf peitschen ließ.

Jemand hatte einen Pfeil auf sie abgeschossen. Und sie wusste, dass gerade keine Bogenschießübungen stattfanden – das war kein verirrter Schuss gewesen. Wäre sie eine halbe Sekunde langsamer gewesen, hätte er sie zwischen den Augen getroffen. Doch das Schicksal hatte etwas anderes für sie vorgesehen. Der vertraute Rhythmus ihres Schicksalssteins, der gegen ihre Brust schlug, beruhigte ihren schnellen, flachen Atem.

Der an einem schwarzen Lederband befestigte Jadestein war ihr als Kleinkind von einer Seherin überreicht worden. Damals hatten Seher noch Vorhersagen in Steine graviert, mal einen Namen, mal ein Symbol oder auch eine Zahl. Sie alle verhießen eine Zukunft, die ganz gewiss eintreten würde. So selten Schicksalssteine auch waren, begehrt waren sie nicht. Zumindest nicht von denen, die ihr Leben in Frieden leben wollten.

Siebenundzwanzig. Die schwarze Zahl war ein Versprechen vom Gott des Todes höchstselbst. Wenn Thea siebenundzwanzig Jahre alt war, würde Enovius sie holen kommen, allerdings erst, nachdem er seinen Spaß gehabt hatte. Denn der Tod konnte sie in dem Augenblick ereilen, in dem die Uhr ihren Namenstag einläutete, oder er konnte noch das ganze Jahr warten, bis zu dem Moment, in dem sie achtundzwanzig wurde. Theas Schicksalsstein gab ihr ein Zeitfenster, keine Details – ein Fluch, den sie niemandem wünschen würde.

Sie rannte weiter, sodass der Schlamm an ihre Waden spritzte, die Angst trieb sie voran. Sie fürchtete nicht um ihr Leben, nein, heute würde sie nicht sterben. Viel eher fürchtete sie um ihren Platz in Thezmarr, um ihr Zuhause. Sie hatte um die Risiken gewusst, als sie den Dolch angenommen und damit immer und immer wieder geübt hatte, doch die Konsequenzen hatten sich noch nie so real angefühlt wie dieser Pfeil.

Ein Blitz zuckte auf und erhellte für den Bruchteil einer Sekunde den Blutwald vor ihr. Nichts als knorrige Bäume und unheimliche Leere waren zu sehen.

Bald darauf leuchtete das Licht der Fackeln vor ihr auf. Völlig außer Atem steuerte Thea auf den Bediensteteneingang zu, immer dicht an den Steinmauern entlang.

Den Göttern sei Dank, dachte sie, als der Türknauf sich herumdrehen ließ. Vor der Vorratskammer hielt sie inne und führte den Jadestein an ihre Lippen.

»Und so stellen wir das Schicksal wieder einmal auf die Probe«, murmelte sie und trat dann mit eingezogenem Kopf in den schwach beleuchteten Raum. Die Luft war kühl, und Fleisch hing an riesigen Haken von der Decke. Als Thea daran vorbeiging, bemerkte sie, dass die Falltür zum Keller unter ihr offen stand.

Die Küchentür knarzte, als Thea sie aufschob, um hineinzuspähen, und sie verzog das Gesicht. Die Hitze mehrerer Öfen und der köstliche Duft des Abendessens, das wohl gleich serviert würde, schlugen ihr entgegen. Da keine Bediensteten in Sicht waren, schlich sie sich an den Arbeitsflächen und den dampfenden Töpfen vorbei und unterdrückte den Drang, sich ein frisch gebackenes Brötchen aus einem Korb zu schnappen. Die Köchin hatte vermutlich jedes einzelne davon gezählt.

Gerade als Thea sich der Tür näherte, erstarrte sie.

Vor dem lodernden Herd saß eine riesige Gestalt, ein großer Hund döste zu ihren Füßen.

Theas Blick wanderte von dem Tier über den halb geflochtenen Ledergürtel in den großen Händen und schließlich zu den grauen Augen. Sie sahen sich an.

»Malik.«

Der riesige Mann, der sie jetzt aus einem ramponierten Sessel angrinste, war derselbe, der ihr auf dem Sterbebett seinen Dolch geschenkt hatte. Nur, dass er gar nicht gestorben war. Den freundlichen Ausdruck auf dem einst grimmigen, mit Narben übersäten Gesicht hatte sie mit der Zeit sehr lieb gewonnen.

Malik war ein Schwertmeister im Ruhestand. Er hatte auf dem Schlachtfeld einen beinahe tödlichen Hieb gegen den Kopf eingesteckt und seitdem kein Wort gesprochen. Thea hatte die Wächter ebenso wie die Schildträger lästern hören, wie sehr der einst berüchtigte Krieger abgestürzt und nur noch ein Trottel sei, doch sie wusste es besser. Kurz nach der Sache mit dem Dolch hatte sich Thea in einer Ecke der Bibliothek eine schwierige Passage selbst laut vorgelesen, um sie besser zu verstehen. Dort hatte sie Malik zum zweiten Mal getroffen. Seine massige Gestalt war plötzlich hinter einem Regal aufgetaucht und hatte sie zu Tode erschreckt.

Doch er hatte sich ihr mit einem breiten Lächeln genähert und sich auf einen Stuhl gesetzt, als würde er ihr zuhören wollen. Das hatte ihr gezeigt, dass er Worte liebte, sie aber vielleicht niedergeschrieben nicht mehr verstand. Seitdem las sie ihm immer wieder vor.

Jetzt funkelten seine Augen vor Belustigung, als er ihre nasse, zerzauste Gestalt und den Kratzer in ihrem Gesicht musterte.

»Ich kann nicht bleiben«, sagte sie zu ihm. »Du verrätst nichts, ja?«

Malik lächelte nur und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Gürtel zu, den er gerade flocht.

»Danke.« Sie drückte dem sanften Riesen noch die Schulter und machte sich dann auf den Weg zum Südwestturm.

 

Bis Thea sich eine trockene Tunika angezogen und vorzeigbar gemacht hatte, war die Abendmahlzeit bereits in vollem Gange. Knisterndes Feuer brannte in den großzügigen Herden an beiden Enden des Raums, während Fackeln und Wandleuchter ihr flackerndes Licht auf die dicken Steine warfen.

Im Zentrum des Saals ragte das Symbol der Furien in die Höhe – riesige Skulpturen dreier mächtiger Schwerter. Die allerersten Schwertmeisterinnen – die Göttinnen – hatten sie geführt. Die Steinschwerter reichten vom Boden bis zur Saaldecke, wo ihre Hefte die Dachsparren durchbrachen und sich in den Nachthimmel erstreckten.

In ihrem Schatten stand ein Tisch, der die anderen überblickte und an dem Osiris, der Gildemeister, auf einem Stuhl mit hoher Lehne saß wie ein König. Ihm gegenüber hatten die Schwertmeister von Thezmarr Platz genommen sowie einige Kommandanten und führende Bedienstete, darunter Audra, mit ernster Miene und scharfem Blick wie ein Adler.

Ein paar Stufen weiter unten erstreckten sich zwei lange Eichenholztafeln durch den Saal, an denen Krieger jeden Rangs und Bedienstete der Festung bereits Eintopf löffelten und sich von den Bratkartoffeln auftaten.

Thea achtete darauf, mit niemandem an der Haupttafel Blickkontakt aufzunehmen, als sie zum Tisch der Alchemistinnen eilte.

Elwren machte ihr widerwillig Platz auf der Bank und bedachte sie mit einem wutentbrannten Blick.

»Soll ich überhaupt fragen?«, knurrte sie mit zusammengebissenen Zähnen, während sie den Schnitt auf Theas Wange beäugte.

»Vermutlich nicht.« Thea nahm sich einen leeren Teller und die Schale mit den Kartoffeln.

»Du hättest den Kratzer wenigstens mit der Schminke abdecken können, die ich dir angerührt habe. Das sieht nicht gerade aus, als hättest du mit Nasenbluten und Kopfschmerzen im Bett gelegen.«

Thea ignorierte ihre Schwester und schob sich einen Bissen von ihrem Abendessen in den Mund, wobei sie ein wohliges Stöhnen unterdrückte.

»Du hast eine faszinierende Transkriptionsschicht verpasst, Althea«, sagte Ida, eine ihrer Freundinnen, vom anderen Ende des Tischs aus und strich sich eine kurze dunkle Haarsträhne hinters Ohr.

»›Faszinierend‹ und ›Transkription‹ sind eigentlich keine Begriffe, die ich in einem Atemzug nennen würde«, entgegnete Thea um einen Bissen in Bratensoße getränktes Brot herum.

»Sei still.« Mit dem Kinn deutete Wren zu Osiris, der sich gerade erhob.

Thea setzte sich aufrechter hin. Osiris sprach nicht oft zum gesamten Saal.

Der Gildemeister war nur durchschnittlich groß, wodurch er von den Kriegern, mit denen er sich umgab, regelrecht überragt wurde. Sein Kopf war rasiert, und er trug die Lederrüstung und Stiefel der thezmarrischen Kommandanten; die Uniform stand ihm trotz seiner schlanken Gestalt. Sein scharfer Blick glitt über die Tische vor ihm, und irgendwie schaffte er es, jeden in der Menge damit zu durchbohren, bevor er sprach.

»Heute Abend heißen wir einen unserer verehrten Schwertmeister willkommen …«, begann er.

Getuschel breitete sich im Saal aus wie ein Lauffeuer, viele reckten die Hälse, um einen Blick auf den berühmten Krieger zu erhaschen, der zu Osiris’ Rechten saß.

Theas Haut kribbelte, als sie sich an die silbernen Augen erinnerte, deren Blick sie oben auf der Klippe getroffen hatte.

Osiris räusperte sich. »Wilder Hawthorne ist jahrelang außer Landes gewesen, um die Mittelreiche zu verteidigen. Geschichten über seine Siege und seinen Heldenmut folgen ihm, wo immer er hingeht …«

Das Bild des blutigen Jutesacks blitzte in Theas Gedächtnis auf.

»Aber vor allem hat er all jene, die Thezmarr zu Fall bringen wollten, zur Rechenschaft gezogen.«

Theas Blick richtete sich auf besagten Krieger.

Hawthorne hatte seine Kapuze zurückgeschoben, und im flackernden Kerzenlicht nahm sie seinen kantigen Kiefer, die leicht schiefe Nase, die dunklen Brauen und die zahlreichen blassen Narben auf seiner sonnengebräunten Haut in sich auf. Seine Miene war ebenso grimmig und unerbittlich wie schon zuvor.

Angeblich wählten die Furien selbst die Schwertmeister aus und verliehen ihnen ihre Kraft. Wenn die Krieger den großen Ritus hinter sich gebracht hatten, erhielten sie Geschenke aus den verschiedenen Königreichen: Stahl aus Naarva, einen Hengst aus Tver, eine Phiole heilendes Quellwasser aus Aveum, eine Rüstung aus Delmira und Gift aus Harenth.

Thea wusste aus den Geschichten, dass Hawthorne der Jüngste gewesen war, der je den großen Ritus bestritten hatte, der Jüngste aller Zeiten, der ein Schwertmeister geworden war, und auch, dass er der Letzte gewesen war.

Bis jetzt, schwor sie stumm.

Doch Hawthorne hatte nichts Jugendliches an sich, sondern strahlte nur die kalte, unbarmherzige Brutalität eines Kriegers aus. Er stand weder auf, noch sprach er, stattdessen lehnte er sich bloß zurück und ließ seinen durchdringenden Blick durch den Saal schweifen. Trotz seiner scheinbaren Grausamkeit sandte das kühne Funkeln in seinen silbernen Augen knisternde Energie durch Theas Adern und wärmte sie von innen heraus. Sie wandte sich ihm zu, und ein federleichter Schauer überlief sie.

Osiris hob seinen Becher. »Auf Hawthornes Rückkehr!«

Hastig beeilte sich der Rest der Versammlung, seinen Trinkspruch zu erwidern.

Währenddessen sah die »Hand des Todes« einfach nur zu, noch immer mit Feindesblut an den Stiefeln.

»Was meint ihr, wie viele Bestien hat er erlegt?« Thea wandte den Blick nicht von dem Krieger ab, und vor ihrem inneren Auge sah sie noch immer das widerliche Herz des Schattendämons.

»Wie kannst du denn da an Bestien denken?«, schnaubte Samra. »Die Frage ist nicht, wie viele Bestien er erlegt hat, sondern wie viele Frauen. Sieh dir bloß diesen Kiefer an, diese Schultern … und wie groß er einfach ist … Also mich kann er jederzeit erlegen.«

Ida lachte. »Ach Sam, behalt bitte die Hose an.«

»Warum sollte ich? Machen Männer doch auch nicht. Mich wundert, dass Hawthorne seine Hose überhaupt zukriegt, ich wette, der hat einen Schwanz wie ein …«

»Sam!«, fuhr Thea sie an. »Jetzt ist gut. Er ist ein Schwertmeister von Thezmarr, zeig ein wenig Respekt.«

Samra verdrehte die Augen. »Nur weil du so einen lächerlichen Enthaltsamkeitsschwur geleistet hast, heißt das ja nicht, dass wir anderen diesen Leckerbissen vor uns ignorieren müssen.«

»Ich habe überhaupt keinen Schwur geleistet«, erwiderte Thea säuerlich, und ihre Muskeln verspannten sich. »Ich bin einfach nur …«

Wren drückte sie am Arm. »Du kannst nichts dafür, dass Evander sich letztendlich als Arschloch herausgestellt hat.«

»Als absoluter Volltrottel«, pflichtete Ida ihr bei.

Sam schwieg einen Moment, nickte dann aber zerknirscht. »Ein unfassbarer Kackstiefel.«

Thea wurde warm ums Herz angesichts dieser vereinten Front gegenüber dem Stallknecht, doch sie winkte ab. »Das ist jetzt Jahre her.«

Sam zuckte mit den Schultern. »Er ist immer noch ein Kackstiefel.«

Thea rang sich zu einem Lächeln durch, bei der Erinnerung wurde ihr jedoch das Herz schwer.

»Ich habe kein Interesse an Kriegerinnen. Allein schon, wie du deine Schönheit unter Männerkleidung und Schlamm verbirgst … Ich mochte dich als Alchemistin. Aber wenn du jetzt mit Waffen rumfuchteln und wie ein Junge herumrennen willst … Ganz zu schweigen von der Prophezeiung …« Das hatte Evander zu ihr gesagt, als sie ihm ihre Träume anvertraut hatte, und ihr damit den Boden unter den Füßen weggezogen.

Ihre Beziehung hatte in einem Schleier aus Wut und Verwirrung geendet. Sie hatte sich auf den Klippen bei ihrer Schwester ausgeweint und die Sache dann hinter sich gelassen. Der einzige Schwur, den sie je geleistet hatte, war sich selbst gegenüber gewesen: dass sie sich so gut sie konnte dem Lebensstil der Schwertmeister verschreiben würde. Was Liebeleien anging, so hatte es seitdem durchaus andere gegeben, flüchtige Momente in der Dunkelheit, doch sie waren alle gleich gewesen. Evander und die anderen waren nichts als verängstigte Festungsknaben, keine Männer, und wie Wren zu ihr gesagt hatte: »Ein richtiger Mann wird dich nicht kleinhalten, wenn du deine Kämpfe austrägst, und er wird sie dir auch nicht abnehmen. Ein richtiger Mann wird dir helfen, dein Schwert zu schärfen, dir den Rücken freihalten und an deiner Seite kämpfen, im Angesicht welcher Dunkelheit auch immer.«

Dem war bisher niemand gerecht geworden.

Um Thea herum herrschte ein aufgeregtes Stimmengewirr. Hawthornes Rückkehr war dabei allerdings nicht das einzige Thema: Eine beliebte Kriegereinheit, die sich südlich des Winterkönigreichs Aveum einer Bedrohung angenommen hatte, war zurückgekehrt und saß nur einen Tisch weiter, was die Frauen zu eifrigen Kommentaren veranlasste.

»Raynors Brust ist definitiv breiter geworden.« Samra grinste und wackelte mit den Augenbrauen.

»Das war ja auch nicht schwer«, versetzte Ida. »So schmächtig, wie der vorher war.«

Wren lachte. »Sei nicht so gemein. Er ist doch gerade mal zwanzig. Und damit sowieso ein wenig jung für Sams Geschmack«, bemerkte sie und schenkte sich noch einen Becher Bier ein.

Sam warf ihre kirschroten Haare über die Schulter und drückte sich gespielt verletzt die Hand auf die Brust. »Der tat weh, Wren.«

»Was ist mit dir, Althea Neun-Leben? Irgendwas auf der Speisekarte, das dir zusagt?«

Thea kniff die Augen zusammen, sodass das getrocknete Blut auf ihrer Wange juckte. Diesen Spitznamen hatten ihre Freundinnen ihr nach Jahren der Leichtsinnigkeit und unzähliger Ausreizungen der Gildegesetze gegeben. Heute war da keine Ausnahme.

Althea Neun-Leben. Sie hatte den Namen immer gehasst. Zum einen erweckte er den Anschein, sie wäre ein törichtes Kind. Und zum anderen … stellte sie sich gern vor, dass sie mehr als neun Leben hatte.

Sie tat sich eine weitere Portion Eintopf auf und wagte es dabei nicht, noch einen Blick auf den Schwertmeister am Haupttisch zu werfen. »Nein«, sagte sie und hob das Kinn. »Und außerdem: Warum sollte ich an irgendwas anderem interessiert sein als an kurzzeitigem körperlichem Vergnügen?«

Sam schnaubte belustigt. »Wenn es nur kurzzeitig ist, dann machst du was falsch.«

»Es ist doch einfach nur dämliche Ablenkung. Zusätzlich zu der ganzen Arbeit für Farissa und Audra, dem Training und allem anderen habe ich gar keine Zeit für irgendeinen liebestollen Kerl, nicht mal nebenher. Ich habe viel zu viel zu tun, viel zu viel, was ich erreichen will …«

Und viel zu wenig Zeit dafür, dachte Thea. Während die anderen noch ihr ganzes Leben vor sich hatten, blieben ihr nur drei Jahre – und bei allen Göttern der Reiche, sie würde sie sicherlich nicht vergeuden.

»Meine Bestimmung ist einzig und allein …«

»Ach ja, deine Bestimmung …«, unterbrach Wren sie kopfschüttelnd und kniff sich in die Nasenwurzel, als wäre sie eine leidgeprüfte alte Frau. »Sie werden nie zulassen, dass du eine von ihnen wirst, Thea. Nicht in einer Million Jahren. Wird es nicht langsam Zeit, dass du es gut sein lässt und wie wir alle dein Schicksal akzeptierst? Du bringst dich nur in Schwierigkeiten. Wir tragen doch trotzdem zum Schutz der Reiche bei. Die Arbeit, die wir tun, ist auch ehrbar.«

Thea verkniff sich eine Erwiderung über Alchemistinnen und Schreiberlinge, nahm ihrer Schwester ihren Becher ab und leerte ihn. »Ihr könnt euch jetzt weiter über Jungs unterhalten«, sagte sie. »Oder über Mädchen«, fügte sie mit einem entschuldigenden Nicken in Idas Richtung hinzu.

»Wie gütig von dir«, entgegnete diese trocken.

Wren schnappte sich ihren Becher zurück und schenkte sich nach.

Doch Theas Aufmerksamkeit hatte sich bereits etwas anderem zugewandt … Und zwar dem Schwertmeister mit den silbernen Augen am Haupttisch.

 

Thea fluchte über die Kälte, als die jungen Frauen in ihr Schlafquartier zurückkehrten. Die Feuerstelle war erkaltet. Da die anderen mit jeder vergehenden Minute ungehaltener wurden, machten sich Wren und Thea daran, das Anmachholz zu entzünden und zu einem prasselnden Feuer anzufachen. Thea seufzte auf, als die Wärme zurück in ihre Finger kroch. Sie streckte die Hände aus und zog sie sofort ruckartig wieder zurück, als etwas durch die Luft auf sie zuschoss.

Eine kleine Klinge, die zum Flaschenöffnen verwendet wurde, bohrte sich in den Holzboden zu ihren Füßen.

»Was um alles in den Reichen …«

Eine weitere Klinge flog auf sie zu.

Thea wich aus. »Sam!«, kreischte sie. »Das reicht!«

Doch sie hütete sich, untätig sitzen zu bleiben. Stattdessen sprang sie auf die Füße und hüpfte von einem Bein aufs andere, während noch mehr scharfe Geschosse auf sie niederregneten und in einem trommelnden Rhythmus in Wand und Boden einschlugen. Dieses Spiel hatten sie sich als Kinder bei den Jungs im Hof abgeschaut und es abgewandelt. Es handelte sich um einen thezmarrischen Wettstreit, um schnelle Reflexe zu entwickeln. Natürlich war Mädchen dieses Spiel verboten, doch Samra hatte immer behauptet, dass sie keinerlei Regeln brachen, weil sie Alchemiewerkzeuge anstelle der traditionellen Wurfsterne oder Dolche verwendeten.

»Außerdem werfe ich einfach gerne Dinge nach Althea«, hatte sie immer wieder gesagt.

Als die Mädchen allmählich heranwuchsen, hatten sie dem Spiel ein Tanzelement hinzugefügt. Ida hatte darauf beharrt, dass sie eines Tages vielleicht zu einem Ball oder einer Hochzeit eingeladen würden und keine von ihnen wusste, wie man sich leichtfüßig bewegte. Thea hatte es nie übers Herz gebracht, ihr zu sagen, wie unwahrscheinlich eine solche Einladung war, und so war das Spiel »Alchemistinnentanz« geboren worden.

Ihr Schlafquartier und auch die Mädchen selbst trugen die Narben dieses jahrelangen Wettstreits, doch es war schon eine Weile her, seit sie zuletzt gespielt hatten. Die Arbeit und ihr harter Alltag kamen diesen einfachen Freuden des Lebens leider viel zu oft in die Quere.

»Mist!« Nur knapp entging Thea einem abgetrennten Zeh. »Was soll das, Sam?«

Samra zuckte mit den Achseln und warf ein weiteres spitzes Werkzeug in ihre Richtung. »Du hast schon mit den Hufen gescharrt vor Langeweile, Althea Neun-Leben … Da dachte ich, ich verhelfe dir zu etwas Bewegung.«

»Fordere mich nicht heraus … Du weißt, was dann passiert. Du wirst es noch bereuen.«

»Ach, komm schon … Drei hab ich noch«, entgegnete ihre Freundin und fuchtelte mit ihren Messern herum.

Mit einem frustrierten Grummeln versuchte Wren, Sam die übrigen Geschosse abzunehmen. »Farissa hat die gesucht!«

Doch Samra beachtete sie gar nicht, sondern schleuderte die Klingen rasch eine nach der anderen in Theas Richtung.

Thea durchfuhr ein aufgeregtes Kribbeln, und sie tanzte. Es war das natürlichste Gefühl der Welt. Anmutig wirbelte sie herum, duckte und wand sich, bewegte sich, als bestünde sie aus Wasser, während sie zugleich flink die Waffen wieder einsammelte. Diese Fähigkeit hatte sie ganz bewusst verfeinert, denn sie wusste, dass sie sich gegen größere, stärkere Gegner ihre Schnelligkeit und Agilität zunutze machen musste.

Als die letzte Klinge Sams Hand verlassen hatte, warf Thea ihr ein wildes Grinsen zu.

»Jetzt bin ich dran.« Mit meisterhafter Präzision ließ sie ihr Handgelenk nach vorn schnellen, und die kleine Klinge wurde zu einem verschwommenen Fleck, der durch die Luft schoss, bevor er –

»Thea!«, kreischte Sam, als das Messer durch die untere Hälfte ihres kirschroten Pferdeschwanzes sauste und sich samt Haarbüschel in die Wand hinter ihr bohrte.

»Mögen die Furien uns retten«, murmelte Ida, die das Gesicht in den Händen vergraben hatte.

»Was denn?«, fragte Thea unschuldig. »Du hast doch gesagt, du bräuchtest mal wieder einen Haarschnitt.«

»Ich bring dich um …«, stieß Sam zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und zog die Klinge mit dem Haarbüschel aus der Mauer.

»Versuch’s doch.«

Aber Sam starrte nur kopfschüttelnd auf die abgetrennten Strähnen und betastete das Ende ihres nun kurzen Zopfs. »Du bist doch irre.«

»Oder unfassbar geschickt.«

»Oder beides«, schlug Ida vor.

»Definitiv beides«, schloss Wren und nahm ihr Farissas Werkzeuge ab.

»Du hättest wissen müssen, was passiert, wenn du mich zum Alchemistinnentanz herausforderst«, sagte Thea bloß.

Sam schüttelte noch immer den Kopf, doch ihre Wut schien verflogen. »Typisch Thea«, murmelte sie. »Will keine Frau sein, tanzt aber besser als wir alle.«

Nachdem die Aufregung sich langsam gelegt hatte, strich Thea über den dünnen, bereits verschorften Schnitt auf ihrer Wange. Das Zischen des durch die Luft schnellenden Pfeils hallte noch immer in ihrem Kopf wider. Vermutlich hatte ihr der Alchemistinnentanz vorhin das Leben gerettet.

Mit fragender Miene fing Wren ihren Blick auf.

Doch Thea zuckte nur mit den Schultern und dachte: Was Wren nicht weiß, macht sie nicht heiß. Außerdem war es alles in allem kein furchtbarer Tag gewesen.

Erst nachdem sie ihr Nachthemd hervorgeholt und sich die Stiefel von den Füßen gestreift hatte, fiel es Thea auf. Ihre Hände erstarrten über den Knöpfen ihrer Tunika, das Abendessen in ihrem Magen verwandelte sich in Blei, und trotz des glimmenden Feuers überkam sie eine plötzliche Kälte.

Ihr Dolch war weg.

Und sie wusste genau, wo sie ihn zurückgelassen hatte.

KAPITEL 4

Wieder träumte Althea von der Seherin.

»Vergiss mich nicht«, flüsterte die Magierin in die Nacht, während sie das Versprechen des Todes in den Jadestein schnitzte. Sie hatte kein Gesicht, keine erkennbaren Züge. Doch ihre Stimme war melodisch, wie der Ruf einer Cyrene. Wie viele hatte es vor Thea gegeben? Wie viele hatte sie Enovius ausgeliefert?

Der kühle Schicksalsstein drückte sich in Theas Hand, und mit einem erstickten Keuchen schreckte sie aus dem Schlaf hoch.

Wren beobachtete sie vom Bett neben ihr.

»Was ist los?«, fragte sie mit besorgt zusammengezogenen Brauen.

Schwer atmend nahm Thea sich einen Moment, um sich an das durch die Fenster dringende Dämmerlicht und die frische Morgenluft auf ihrer erhitzten Haut zu gewöhnen. Die anderen schliefen noch tief und fest.

»Ach, nichts«, murmelte sie, während ihr Herz noch immer hämmerte, und steckte den Schicksalsstein in den Kragen ihres Nachthemds.

Doch Wren hatte ihn bemerkt. »Du hattest wieder einen Albtraum.«

Es hatte keinen Sinn, es abzustreiten. Also nickte Thea steif und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.

»Ich denke wirklich, dass du mit Farissa darüber sprechen solltest. Sie könnte dir etwas dagegen geben …«

»Ich schlucke nicht irgendeine Arznei, um meinen Kopf zum Schlafen freizubekommen«, fuhr Thea sie an. »Ich muss wachsam sein.«

»Wie du meinst«, erwiderte Wren seufzend. »Ich wünschte nur, du würdest mit jemandem darüber sprechen.«

»Du weißt doch davon. Das reicht.«

»Bist du dir sicher? Einen Schicksalsstein zu tragen … Das ist eine schwere Bürde.«

Doch Thea hatte genug. »Das ist keine Bürde, sondern ein Geschenk«, beharrte sie, schwang die Beine aus dem Bett und verzog wegen des eiskalten Bodens das Gesicht. »Zu wissen, wann man stirbt, bedeutet zu wissen, wie man lebt, Schwester.«

»Aber vergiss nicht, dass es erst dein Schicksal ist, wenn du tatsächlich stirbst.«

Thea zog sich ihre Hose und die Tunika an. »Ist notiert.«

Vom anderen Ende des Zimmers erklang ein Stöhnen. »Sagt nicht, dass ihr zwei euch schon wieder in den Haaren liegt?«, murmelte Ida unter ihrem Kissen.

»Reine Geschwisterliebe«, murrte Wren, während auch sie sich mühsam aus dem Bett quälte.

»Große Götter, dann wird die Welt wohl wirklich untergehen.«

Thea zwinkerte Wren zu und tippte auf ihren versteckten Schicksalsstein. »Aber nicht heute.«

 

Wenn es einen Ort gab, an dem Thea an diesem Morgen nicht sein wollte, dann war es die Alchemiewerkstatt. Die Aufgaben waren ermüdend, und für gewöhnlich zog sie sich dabei eine frische Verbrennung oder einen weiteren Schnitt an der Hand zu. Ohne den Dolch in ihrem Stiefel fühlte sie sich nackt. Sie war rastlos und konnte es kaum erwarten, den Blutwald danach abzusuchen, bevor er unter dem feuchten Laub noch Rost ansetzte oder irgendein neugieriger Schildträger ihn entdeckte.

»Verflucht.« Sie zog ihre Hand von dem Bündel wilden Lavendels zurück, das sie gehackt hatte, bis ihr das Messer weggerutscht war. Ihre Haut brannte.

»Du bist schon wieder unaufmerksam.« Wren warf ihr ein sauberes Tuch zu, damit sie die Blutung an ihrem Zeigefinger stoppen konnte.

»Weil diese Arbeit undankbar ist«, gab Thea zurück.

Wren stemmte die Hände in die Hüften. »Weißt du überhaupt, was wir hier gerade machen?«

»Irgendeine Arznei?« Doch Thea sprach leise, denn allem Anschein nach stand ihre Schwester kurz davor zu platzen.

»Eine Tinktur gegen Migräne …«

Thea öffnete den Mund, aber Wren hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen.

»Migräne, wie dein Bibliotheksfreund sie oftmals hat.«

Malik.

Doch Wren war noch nicht fertig. »Und du behauptest allen Ernstes, dass diese Arbeit undankbar ist, dass du dir zu gut dafür bist, obwohl sie das Leid derer lindert, die unvorstellbare Opfer gebracht haben, um unsere Reiche zu schützen?«

Thea wurde rot. »Nein.«

»Gut. Und jetzt halt die Klappe, und schneid dir nicht die Finger ab.«

Hinter ihnen erklang ein leises Lachen, und beschämt stellte Thea fest, dass Farissa, die Meisteralchemistin, ihnen mit verschränkten Armen über die Schultern guckte.

»Das hätte ich nicht besser ausdrücken können.« Sie lächelte freundlich. »Du solltest auf deine Schwester hören, Thea.«

Die biss die Zähne zusammen. »Ja, Farissa.«

»Wie ich sehe, hast du dich von deinem neuerlichen Nasenbluten erholt … Das ist ja wirklich erfreulich.«

Thea trat von einem Fuß auf den anderen und richtete ihren Blick abermals auf den Lavendel. »Ja, sehr erfreulich.«

Kopfschüttelnd wandte sich die Meisteralchemistin ihrer Schwester zu. »Elwren, ich würde deine Entwürfe gerne noch einmal sehen, wenn du einen Moment Zeit hast. Du hast sie doch dabei, oder?«

Wren nickte. »Natürlich.«

»Ich würde ja vorschlagen, dass deine Schwester die Tinktur allein fertigstellt, aber wir wollen ja niemanden vergiften, was?«

Wren lachte. »Auf keinen Fall. Ich komme nachher zu Euch.«

»Götter, du bist so eine Schleimerin«, murmelte Thea, nachdem Farissa zu einem der anderen Arbeitsplätze weitergezogen war.

»Und du benimmst dich wie ein verwöhntes Gör«, gab Wren zurück. Dann seufzte sie. »Wenn du nicht so eine Nervensäge wärst, würde ich dir zeigen, was ich entworfen habe. Es ist etwas … na ja, etwas, was dir gefallen würde.«

Thea erkannte den durchtriebenen Tonfall in ihrer Stimme – und wenn ihre Schwester so drauf war, dann mochten die Furien ihnen zu Hilfe kommen. Zwar gab sie es nur ungern zu, aber Wrens Verstand war nichts weniger als brillant. Sie war die geborene Erfinderin, und das Funkeln in ihren Augen verriet Thea, dass ihr neuster Einfall etwas war, was irgendwo auf der Welt Schicksale verändern würde.

»Na gut.« Thea verschränkte die Arme. »Dann lass mal sehen.«

Daraufhin grinste Wren schelmisch. Der Zank war vergessen, und sie wühlte durch ihre Umhängetasche, förderte mehrere Seiten Pergament zutage und strich sie vor ihnen auf der Arbeitsfläche glatt.

»Hier«, sagte sie stolz.

Thea betrachtete die Skizzen und runzelte die Stirn. »Eine Teekanne?« Sie war kunstvoll gezeichnet, vollkommen symmetrisch, doch im Grunde war ihre jüngere Schwester in beinahe allem, was sie tat, so außerordentlich gut, dass es einen wahnsinnig machte.

»Das ist keine gewöhnliche Teekanne«, sagte Wren grinsend. »Ich nenne sie das ›trügerische Teekännchen‹.«

»Verstehe«, antwortete Thea, obwohl sie absolut gar nichts verstand. Sie hatte keinerlei Interesse an Teekränzchen.

Wren ließ sich nicht beirren und blätterte auf die nächste Seite, auf der eine detailliertere Zeichnung des Inneren zu sehen war.

Thea kniff die Augen zusammen. »Zwei Kammern … Wozu?«

»Die eine ist für Tee«, erklärte Wren mit leuchtenden jadegrünen Augen. »Und die andere für Gift.«

»Wie bitte?«, entfuhr es Thea. Von allen Worten, die sie aus dem Mund ihrer Schwester erwartet hatte, war »Gift« so ziemlich das letzte.

»Ich habe mit Farissa an mehreren kleineren Projekten gearbeitet, während du immer wegen Nasenbluten gefehlt hast«, sagte Wren. »Das hier war eine meiner Ideen. Jede Kammer hat ein verstecktes Loch in der Nähe des Griffs der Kanne.« Wren zeigte es ihr auf der Zeichnung. »Um ein bestimmtes Getränk auszuschenken, muss man das Loch der anderen Kammer zuhalten.«

»Aber …«

»Thea, denk doch mal nach. Wenn du deinem Gastgeber gegenüber misstrauisch wärst, würdest du dann nicht sehen wollen, dass er dasselbe trinkt wie du, bevor du selbst das Risiko eingehst?«

»Doch, schon …«

»Die beiden Getränke müssen natürlich identisch aussehen. Und wenn man sie serviert, muss man sich merken, welche Kammer welche ist. Dann muss man nur noch einen Finger auf das Loch des harmlosen Tees legen, um seinen Feind zu vergiften, oder eben das Loch des Gifts abdecken, wenn man sich selbst einschenken will. Aber für den Gast … sieht beides genau gleich aus, immerhin kommt es ja aus ein und derselben Kanne. Verstehst du es jetzt?«

Ungläubig starrte Thea auf das Pergament. »Wie geht das?«

»Ich fange heute Nachmittag mit einem Arbeitsmodell an, um die Theorie zu verdeutlichen. Es ist eigentlich ganz einfach: Die Oberflächenspannung und der Druck sorgen dafür, dass die Flüssigkeiten nicht herausströmen. Wenn man das Loch abdeckt, verhindert man, dass Luft in die Kammer strömt.« Erneut tippte Wren auf die Zeichnung. »Das sollte die Oberflächenspannung der Flüssigkeit verringern und verhindern, dass sie durch den Ausguss fließt. Denn wenn man den Finger so auf das Loch legt, hält der Luftdruck die Flüssigkeit an Ort und Stelle.«

Langsam und ungläubig schüttelte Thea den Kopf.

»Das ist beeindruckend, Wren«, brachte sie hervor, während sie weiter auf die Abbildungen starrte.

»Danke.«

»Weißt du … Das ist eine ganz schön teuflische Falle.«

»Tja, du kannst eben nicht alle Boshaftigkeit in der Familie für dich beanspruchen.«

Thea lachte. Die Leidenschaft ihrer Schwester wirkte ansteckend. »Das freut mich zu hören.«

Den Rest der Stunde arbeiteten sie in einträchtigem Schweigen, stellten eine Reihe Tinkturen für die Heiler und noch einige weniger harmlose Elixiere her, bei denen sie nicht zu fragen wagten, für wen sie bestimmt waren. Das war eben die Arbeit von Thezmarrs Frauen. Die meiste Zeit über folgte Thea den Anweisungen ihrer Schwester, wobei sie immer noch über deren Raffinesse staunte und sich ausmalte, für welche geheimen Missionen das »trügerische Teekännchen« wohl gebraucht werden könnte.

Doch während sie die Zutaten hackte und zermahlte, vermisste sie den Druck des Dolchs an ihrem Knöchel. Sie konnte nicht glauben, dass sie so unachtsam gewesen war. Im Verlauf ihrer Schicht versuchte sie immer wieder eine Gelegenheit zu finden, um sich hinauszuschleichen, doch Farissa beobachtete sie mit Argusaugen, ganz ähnlich wie Audra sonst. Als wüsste sie, dass Thea bereits mit einem Fuß aus der Tür war.

 

Zu Theas Leidwesen war die Mittagsmahlzeit kurz und bot ihr ebenfalls keine Fluchtgelegenheit, um sich in den Blutwald davonzumachen. Missmutig stapfte sie neben Wren durch die Korridore des Erdgeschosses und konnte ihre Niedergeschlagenheit nicht abschütteln. Farissa war bezüglich ihrer Fehlzeiten am vergangenen Tag nachsichtig mit ihr gewesen, doch Thea bezweifelte, dass Audra so viel Milde walten lassen würde. Sie betastete die Kruste an ihrer Wange und wünschte sich, sie hätte die Weitsicht besessen, sie mit Wrens Schminke abzudecken.

Gerade als sie die Treppe zum Ostturm erreichten, hallte raues Gelächter zu ihnen herüber. Thea erkannte schnell, zu wem es gehörte, und ballte die Fäuste. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Sie machte einen Schritt in die Richtung des Lachens.

»Lass es bleiben, Thea.« Wren war schon im Begriff, Thea am Arm festzuhalten.

Doch trotz der aufkommenden Wut in ihrem Bauch gab Thea nach. »Na schön«, murmelte sie und trat auf die Stufen zu.