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Tief unter einem Gletscher in den Alpen offenbart sich eine uralte Bedrohung: eine biologische Massenvernichtungswaffe aus der Zeit Hannibals. Durch Zufall gerät sie in die Hände von Terroristen, die damit Amerikas Untergang besiegeln wollen. Nur ein Mann kann das Unheil noch abwenden: Der Anti-Terror-Agent Scot Harvath. Zusammen mit der Molekularbiologin Jillian Alcott setzt Harvath alles daran, diese mit Viren geladene Waffe, mit der schon Hannibal das Römische Reich bezwingen wollte, außer Kraft zu setzen … Nelson DeMille: »Scot Harvath ist der perfekte amerikanische Held.« Dan Brown: »Brad Thor ist so brisant wie die Schlagzeilen von morgen!«
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Seitenzahl: 665
Veröffentlichungsjahr: 2024
Aus dem Amerikanischen von Alexander Amberg
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Blowback
erschien 2005 im Verlag Atria Books, Simon & Schuster
Copyright © 2005 by Brad Thor
Copyright © dieser Ausgabe 2024 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Titelbild: S-ASIM / 99designs
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-98676-175-2
www.Festa-Verlag.de
www.Festa-Action.de
Für Chase –
willkommen auf der Welt, Kleines.
Hannibal ad portas
Hannibal steht vor den Toren
Blowback \‘blo-‘bak\ n 1: Prozess, durch den leere Patronenhülsen aus einer automatischen Waffe ausgeworfen werden 2: unbeabsichtigte Konsequenzen einer verfehlten Außenpolitik beziehungsweise einer fehlgeschlagenen verdeckten Aktion 3: CIA-Codename für einen Agenten oder eine Operation, der beziehungsweise die sich gegen seinen/ihren Urheber richtet
PROLOG
Col de la Traversette
Französisch-italienische Alpen
Donald Ellyson versuchte zu schreien, brachte jedoch keinen Ton heraus. In seinen 55 Jahren hatte er schon einiges an Verwerflichem getan. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass er so sterben würde – mit aufgeschlitzter Kehle, während ihm das Blut heiß über den Parka lief. Eigentlich sollte dies die Entdeckung seines Lebens sein, seine endgültige Rechtfertigung, die ihn in der akademischen Welt nach ganz oben katapultierte. Doch mit einem Mal war der Moment seines größten Triumphs zum letzten Augenblick geworden, den er jemals erleben sollte. Und warum? Glaubten seine Geldgeber wirklich, dass er sie übers Ohr hauen wollte?
Klar, es war bekannt, dass er oft Risiken einging und alles auf eine Karte setzte. Und ja, er stahl Artefakte aus archäologischen Grabungen, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, aber das machten auch viele andere. So lief es nun mal. Darauf konnte doch auf keinen Fall der Tod stehen.
Erst vor drei Jahren hatte Ellyson sich einer Gruppe von Archäologen angeschlossen, die südwestlich von Istanbul Ausgrabungen vornahmen. Dabei waren sie auf eine verborgene Kammer gestoßen mit einem riesigen Schatz an Pergamenten. Bei näherer Betrachtung sah es so aus, als handelte es sich bei den Dokumenten um Überreste der berühmten Bibliothek von Alexandria, der wohl größten Büchersammlung der Antike.
Die Bibliothek wurde von den Römern nahezu vollkommen zerstört, die sie sowohl im 3. als auch im 4. Jahrhundert plünderten und niederbrannten. Es wurde allgemein angenommen, dass die restlichen Bestände im Jahr 640 vernichtet wurden, als die Muslime unter Kalif Umar I. die Stadt belagerten. Doch als Ellyson und seine Kollegen die Dokumente studierten, wurde ihnen klar, wie falsch diese Annahme war. Offensichtlich war es im Lauf der Geschichte irgendjemandem gelungen, einen Großteil dessen zu retten, was noch übrig geblieben war.
Ellyson war fasziniert von dem, was in den Schriftrollen stand. Insbesondere eine fand er absolut überraschend. Sie war in griechischer Sprache verfasst und schilderte aus erster Hand eine der großartigsten und tödlichsten Unternehmungen der Antike. Ellyson nahm das Manuskript in kein Verzeichnis auf und verwandte einige Mühe darauf, sicherzustellen, dass niemand in der Grabungsstätte überhaupt von dessen Existenz erfuhr.
Es handelte sich gewissermaßen um eine Schatzkarte. Zwar kennzeichnete kein großes, dickes X einen bestimmten Ort, dennoch versprach sie unermesslichen Lohn. Kaum hatte Ellyson Istanbul verlassen, wandte er sich schnurstracks an die wahrscheinlichste Quelle zur Finanzierung einer derartigen Expedition. Er war so lange im Geschäft, dass er genug Leute kannte, die sich um die Chance reißen würden, das in die Hände zu bekommen, was dem Manuskript zufolge da draußen wartete. Und in der Tat konnten seine einstigen Partner dem, was das Manuskript in Aussicht stellte, nicht widerstehen.
Wie Ellyson hatten auch jene Partner die klassischen Berichte von Livius und Polybius gelesen, ebenso die Werke angesehener Historiker wie Gibbon, Zanelli, Vanoyeke und eine Fülle weiterer, zu zahlreich, um sie alle aufzulisten. Je mehr diese Partner lasen, desto mehr erfuhren sie, und je mehr sie erfuhren, desto faszinierter waren sie von der potenziellen Macht, die Ellysons Entdeckung darstellte.
Weil der Archäologe darum ersuchte, gaben diese Partner Millionen für Luftaufnahmen aus. Per Flugzeug, Hubschrauber und sogar Satellit durchkämmten sie zahllose Alpenpässe zwischen Südfrankreich und Italien in der Hoffnung, eine besonders wertvolle Sache zu orten, die in der Schriftrolle erwähnt wurde.
Ellyson setzte sich über Konventionen hinweg und ließ die gängigen historischen Positionsbestimmungen links liegen, da sie nicht in das Bild passten, das er sich aus seinen antiken Schriften zusammengereimt hatte. Allerdings war seinem Unterfangen kein Glück beschieden. Aber obwohl es nicht voranging, war der Archäologe zuversichtlich, dass er letztlich doch Erfolg haben würde.
Mitunter fiel es zwar äußerst schwer, das Geld aufzutreiben. Aber die Hintermänner, die Ellysons Suche finanzierten, taten, was getan werden musste, um es zu beschaffen. Seit Jahrzehnten forschte ihre Organisation nach genau dieser Art von Fund und konnte nun nicht einfach aufhören. Die Macht, die er einem in die Hand zu geben versprach, war zu bedeutend, um wegen etwas so Trivialem wie Geld aufzugeben.
Erst in jüngster Zeit hatte der Schnee, unterstützt von drei Sommern mit Rekordhitze in ganz Europa, zu schmelzen begonnen. Gletscher zogen sich allmählich zurück, und in der Nähe des Col de la Traversette förderte Ellyson die ersten archäologischen Belege zutage, die bewiesen, dass er auf der richtigen Spur war – Lederriemen von einem antiken Harnisch, Tonscherben und eine kleine Ansammlung defekter Waffen. Ellyson hatte ein gigantisches Feld voller Heuhaufen auf einen einzigen Haufen reduziert. Allerdings einen Heuhaufen voll unermesslich tiefer Schluchten und Felsspalten, und in jeder davon konnte seine Nadel liegen.
Der Col de la Traversette war einer der höchstgelegenen und tückischsten Gebirgspässe in ganz Frankreich. Im Lauf der Jahrhunderte hatten sowohl die französischen als auch die italienischen Behörden versucht, Teile des Passes zu sabotieren, in der Hoffnung, den Schmuggel zwischen ihren Ländern einzudämmen. Doch der Pass bestand weiter. An seinem höchsten Punkt war er nur noch zehn Meter breit. Der entlegene Pfad war nur während einer kurzen Zeitspanne zugänglich, vom Hochsommer bis in den frühen Herbst – und selbst dann konnten die Bedingungen immer noch unerträglich sein. Wenn die Einheimischen vom Wetter in dieser Gegend sprachen, sagten sie, acht Monate lang herrsche Winter, gefolgt von vier Monaten reinster Hölle.
Diesen entmutigenden Hindernissen zum Trotz fand Ellyson zu guter Letzt seine Nadel. Er war ein wesentlich besserer Archäologe, als er sich selbst je eingestand. Und das Bemerkenswerte an der Sache war, dass die Gruppierung, die ihm das Projekt finanzierte, sich noch nicht einmal für den gesamten Fund interessierte, sondern lediglich für einen Teil davon – genau denjenigen Teil, mit dem er sie geködert hatte. Mehr war nicht nötig gewesen, um sie dazu zu bringen, Geld für die Operation lockerzumachen. Was sie sich von dem Fund versprachen, war eine bloße Geste für ihn, etwas, worauf er ohne Weiteres verzichten konnte. Seiner Meinung nach eine winzige Fußnote, die im Lauf der Geschichte verloren gegangen war. Wenn seine Geldgeber die Kosten für sein gesamtes Projekt übernehmen wollten, hatte er nicht vor, ihnen im Gegenzug eine solche Kleinigkeit zu verweigern.
Selbst jetzt, wo Ellyson bäuchlings auf dem Boden lag, konnte er den Gegenstand sehen, hinter dem sie her waren – eine lange, aufwendig mit Schnitzereien verzierte Holztruhe. Da war sie – sie konnten sie sich einfach nehmen. Er brauchte sie nicht, wollte sie auch gar nicht. Also weshalb mussten sie ihn umbringen? Niemand hätte je erfahren, dass die Truhe oder, wichtiger noch, was sich darin befand, vermisst wurde. Genau wie ich, dachte Ellyson, während er hörte, dass seine beiden Sherpas näher kamen und zusahen, wie sein Killer eine kleinkalibrige Automatik aus dem Parka zog.
Nachdem der Mörder die Pistole in aller Seelenruhe wieder in die Tasche gesteckt hatte, starrte er die sargähnliche Holzkiste an. Über 2000 Jahre lang hatte die Waffe aus dem Altertum hier gelegen, für Menschen unerreichbar, eingefroren im Gletschereis dieser abgelegenen Alpenschlucht. Doch all dies sollte sich nun ändern. Der Killer holte ein Satellitentelefon aus seinem Parka und wählte die zehnstellige Nummer seines Auftraggebers – eines Mannes, den er nur unter dem Namen der Skorpion kannte.
1
Lahore, Pakistan
Ein Jahr später
Die engen Straßen der Altstadt bargen einen der schlimmsten Slums der Welt. Dreck, Elend und Verzweiflung waren die täglichen Begleiter im Leben der untersten Einwohnerschicht Pakistans – der bitterarmen Muslime des Pandschab. Sie waren kleiner und dunkelhäutiger als die übrige Bevölkerung Lahores. Die Glücklicheren unter ihnen waren zu einem Leben voller stupider Hilfsarbeiten verdammt, während der Rest die Reihen der Straßenjungen, Bettler und Obdachlosen füllte. Ihre elende Situation war eins der schmutzigen kleinen Geheimnisse des vorderindischen Islam. Der Gedanke daran drehte dem Mann den Magen um, der in dem gestohlenen Toyota Corolla saß, der draußen vor dem Grabmal Muhammad Iqbals stand, Dichter und ideologischer Taufpate des modernen Pakistan.
Als frommer Muslim empfand er es als Schmach, mitanzusehen, wie den Pandschabis jede Aussicht auf muslimische Brüderlichkeit verwehrt wurde. Pakistan war ein verlogener Filz aus Klasseneinteilungen, und nirgends zeigte sich dies deutlicher als bei der Rolle der Frau. Es gab die glücklichen Frauen der privilegierten Schichten, die an Thinktanks beteiligt waren, Wohltätigkeitsorganisationen leiteten, Romane und Dramen schrieben und sogar eine Handvoll Alibi-Positionen in General Musharrafs Kabinett innehatten. Daneben gab es aber auch die Frauen, die unter dem alltäglichen Grauen häuslicher Gewalt litten, Opfer von Gruppenvergewaltigungen wurden oder gar von kleingeistigen Männern ermordet wurden, die ihre Liebe zu Allah und ihre Hingabe zum muslimischen Glauben bekundeten. Wie oft hatte der Mann sich gewünscht, das ultimative Ziel seines Auftraggebers sei Pakistan. Doch das war es nicht. So schrecklich dieses Land auch sein mochte, es gab eins, das wesentlich schlimmer war und einen umfassenden, reinigenden Schlag noch viel nötiger hatte.
Pünktlich trat seine Zielperson aus dem Gebäude auf der anderen Straßenseite. Jeden Mittwoch suchte der zwergenhafte Professor der ältesten und größten Universität Pakistans – der Universität des Pandschab – die Altstadt auf, um dort zu Mittag zu essen. Man konnte die Uhr nach ihm stellen. Er hielt eine strenge Routine ein und legte Wert auf Beständigkeit – Eigenschaften, die ihm als Wissenschaftler gute Dienste geleistet hatten, die ihm nun allerdings zum Verhängnis werden sollten. Als der Professor sein kleines Motorrad loskettete und sich in den fließenden Verkehr einordnete, legte der Attentäter die Zeitung beiseite, die zu lesen er vorgegeben hatte, und ließ den Wagen an.
Zwei Blocks vor der Universität hatte der Professor immer noch nicht mitbekommen, dass ihm der gestohlene Corolla folgte. Das sollte sich gleich ändern. Als der Professor sich einer belebten Kreuzung direkt vor dem Campus näherte, warf er einen Blick in den Rückspiegel und sah, wie ein blauer Toyota Gas gab, als wollte er überholen, und dann urplötzlich wieder einen Schlenker nach rechts vollführte.
Die Umstehenden schrien entsetzt auf, als sie mitansahen, wie der Professor, der keinen Helm trug, auf den Asphalt geschleudert und anschließend mehr als einen halben Block weit unter dem Corolla mitgeschleift wurde, ehe das Fahrwerk des viel zu schnell fahrenden Wagens den verstümmelten, leblosen Körper wieder auf die Straße spie.
Knapp zweieinhalb Kilometer vor dem Lahore International Airport ließ der Attentäter den gestohlenen Wagen stehen und legte den Rest des Wegs zu Fuß zurück. Sobald er es sich in der Ersten-Klasse-Kabine seines internationalen Flugs bequem gemacht hatte und außer Gefahr war, zog er einen reichlich mitgenommenen Koran aus seiner Brusttasche. Nachdem der Attentäter im Flüsterton mehrere Gebete gesprochen hatte, wandte er sich der Rückseite seines Buchs zu und holte eine codierte Namensliste hervor, die unter dem zerfledderten Buchdeckel verborgen war. Nun, wo er sich um den Wissenschaftler von der Universität des Pandschab gekümmert hatte, blieben nur noch zwei weitere Namen übrig.
2
36°7‘N, 41°30‘O
Nordirak
Die Soldaten der 3rd »Arrowhead Brigade«, 2nd Infantry Division Stryker Brigade Combat Team (SBCT) der U. S. Army hatten genügend Zeit im Irak verbracht, dass sie sich an das Geräusch gewöhnt hatten, mit dem feindliche Geschosse von der Panzerung ihrer achträdrigen Infanterietruppentransportfahrzeuge, kurz: Schützenpanzer, abprallten. Doch seit sie in die kleine Ortschaft Asalaam gefahren waren, 150 Kilometer südwestlich von Mosul, herrschte Totenstille.
Es war eines von vielen Dörfern rings um die christliche Enklave Mosul, die für ihre religiöse und ethnische Toleranz bekannt war. Die Christen und Muslime der gesamten Region lebten zum größten Teil in relativer Eintracht zusammen. Tatsächlich kam der Name Asalaam ja vom arabischen Wort für Frieden. Allerdings waren es nicht die Einheimischen, die den SBCT-Soldaten Sorge bereiteten. Sie waren hier nur einen Steinwurf von der syrischen Grenze entfernt, darum stellten ausländische Aufständische eine der größten Bedrohungen für sie dar.
Die Männer hatten im Irak mehr als genug Hinterhalte erlebt, darunter einen verheerenden Selbstmordanschlag auf dem Gelände ihrer eigenen Basis, und keiner von ihnen hatte vor, in etwas Unbequemerem als einem Flugzeugsitz nach Hause zu kommen. Ein Leichensack kam für diese Soldaten nicht infrage.
Second Lieutenant Kurt Billings aus Kenosha, Wisconsin, fragte sich, warum zum Teufel sie bisher noch nichts gesehen hatten, als der Fahrzeugkommandant des vorderen Stryker sich über das Headset bei ihm meldete. »Lieutenant, bislang haben wir absolut null Kontakt. Nichts, und ich meine: Absolut gar nichts bewegt sich da draußen. Ich sehe noch nicht mal einen Hund.«
»Wahrscheinlich schmeißen die ’ne Grillparty in der örtlichen Madrassa«, witzelte der Bordfunker.
»Dann müsste jemand am Dorfgrillplatz sein«, erwiderte Billings. »Passt auf und haltet die Augen offen. Hier in der Gegend muss irgendwo jemand sein.«
»Ich sage Ihnen, Sir«, sagte der Fahrzeugkommandant, »da draußen ist keiner. Der Ort ist eine Geisterstadt.«
»Das Dorf ist nicht über Nacht verlassen worden.«
»Vielleicht doch! Wir sind hier mitten im Nirgendwo. Die Leute hier haben noch nicht mal Telefon. Außerdem, wen kümmert es schon, wenn sie sich aus dem Staub gemacht haben?«
»Ich bin sicher, dass es eine Erklärung dafür gibt, dass wir niemanden sehen. Gehen wir es langsam an«, sagte Billings. »Fahrt einmal durch den ganzen Ort, dann werden wir absitzen. Alles klar?«
»Roger, Lieutenant«, antwortete der Kommandant des Radpanzers, während sein Stryker eine Runde durch das Dorf begann.
Für diesen Einsatz hatte Billings seine Männer in zwei Trupps zu je acht Mann aufgeteilt. Der erste, das Alpha-Team, war bei ihm im gepanzerten Führungsfahrzeug, während Team Bravo unter dem Kommando von Staff Sergeant James Russo im zweiten Stryker folgte. Ihr Auftrag bestand darin, zu überprüfen, wie es drei amerikanischen, in Asalaam ansässigen Entwicklungshelfern von Christian Aid ging, von denen man seit über einer Woche nichts mehr gehört hatte.
Es war ein eintöniger Drecksjob, und Billings gefiel es ganz und gar nicht, mit seinen Männern auszurücken, um nach Leuten zu sehen, die im Irak überhaupt nichts zu suchen hatten – selbst wenn es Amerikaner waren. Nicht nur das, seiner Meinung nach war Christian-Aid-Entwicklungshelfer eine grobe Fehlbezeichnung. Er war noch keinem von diesen Leuten begegnet, der nicht aus dem einzigen Grund hier war, Seelen zu Christus zu bekehren. Sicher, sie leisteten gute Arbeit und füllten einige Lücken aus, die einige der größeren, etablierteren und erfahreneren Hilfsorganisationen unweigerlich hinterließen. Aber letzten Endes handelte es sich bei diesen Leuten schlicht und einfach um Missionare. Überdies verfügten sie über ein ziemlich überirdisches Talent, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Mitunter kam Billings sich eher wie ein Bademeister am Kinderplanschbecken vor und nicht wie ein Soldat. Die jungen Missionare mochten zwar die besten Absichten haben. Aber meistens fehlten ihnen das Geschick, die Rückendeckung und der fundamentale gesunde Menschenverstand, um in einer Gegend zu leben, die überwiegend noch immer Kriegsgebiet war.
Und das stand auf einem völlig anderen Blatt. Eigentlich war das US-Militär im Irak, um das irakische Militär und die irakischen Sicherheitskräfte zu unterstützen, nicht um irgendwelchen Twens, die sich verlaufen hatten, den Weg zu weisen. Wann immer sich eine solche Situation ergab, was mindestens ein-, zweimal im Monat der Fall war, übernahm das amerikanische Militär die Aufgabe loszuziehen, um diese Leute zu retten. Die Irakis wollten nichts damit zu tun haben. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, die Ordnung in ihrem Land wiederherzustellen, um ihre Zeit mit Rettungsversuchen für Leute zu vergeuden, die sie gar nicht eingeladen hatten. Und das konnte Billings ihnen, ehrlich gesagt, nicht verdenken. Er hatte seinen Vorgesetzten vorgeschlagen, dass Missionare vor der Einreise in den Irak eine Kaution hinterlegen oder zumindest die Kosten für ihre Rettung übernehmen sollten, so wie zu Hause in den Staaten in Not geratene Wanderer und Bergsteiger. Doch seine Vorgesetzten taten es lediglich mit einem Achselzucken ab und meinten, dies liege nicht in ihren Händen. Mussten junge Amerikaner gerettet werden, dann machte das US-Militär dies eben, selbst in der Wildnis des Irak. Dass dabei womöglich das Leben weiterer junger Amerikaner aufs Spiel gesetzt wurde, spielte keine Rolle.
Billings musterte die Gesichter der Männer seines Trupps und drückte die Sendetaste seines Funkgeräts. »Russo. Hören Sie mich?«
»Laut und deutlich, Lieutenant.« Mit seinen 25 Jahren war Russo ein alter Mann, verglichen mit den 18- und 19-Jährigen in seinem Trupp, allerdings nicht annähernd so alt wie Billings, der schon 28 war.
Billings hörte den Piepton, der meldete, dass Russo den Finger von seiner Sendetaste genommen hatte, und meinte: »Das ist nicht unbedingt eine Routine-Operation nach dem Motto ›Wir sehen mal schnell nach den Kindern‹. Lasst bei diesem Einsatz äußerste Vorsicht walten.«
»Wir sind bei jedem Einsatz vorsichtig.«
Billings lächelte. Russo hatte recht. Sie hatten eins der besten Platoons im Irak. Sie waren nun seit drei Monaten vor Ort und konnten einige eindrucksvolle Siege über die bösen Jungs verzeichnen, und niemand hatte sich auch nur den Fingernagel eingerissen. »Trotzdem, irgendetwas stimmt hier nicht. Sehen Sie zu, dass Ihre Leute wachsam bleiben.«
»Wird gemacht, Lieutenant! Falls das Alpha-Team lieber schön gemütlich in seinem Panzer bleiben möchte, bin ich mir sicher, dass wir vom Bravo-Team die Sache auch problemlos allein regeln können.« Im Hintergrund hörte man, wie die Männer in Russos Stryker in sich hineinlachten.
»Nie im Leben, Sergeant!« Billings musste lächeln. »Wenn wir da reingehen, stellen Sie sicher, dass Ihre Männer zusehen, um von uns noch etwas zu lernen.«
»Hooyah, Lieutenant!«
Billings wandte sich den Männern in seinem Stryker zu. »Gentlemen, wie es aussieht, ist Sergeant Russo der Meinung, dass wir heute nicht mehr gebraucht werden. Er meint, das Bravo-Team wird mit dem Auftrag allein fertig.«
»Scheiß aufs Bravo-Team!«, sagte ein junger Private, der Steve Schlesinger hieß.
Normalerweise duldete Billings eine solche Wortwahl nicht. Aber er peitschte seine Männer gern auf, bevor sie sich einer potenziell gefährlichen Situation aussetzten. Außerdem war der 18 Jahre alte Schlesinger ihr strahlendes Vorbild. Er hatte im letzten Monat mehr Sprengfallen entdeckt und zu ihrer Entschärfung beigetragen als irgendjemand sonst im Irak während des ganzen letzten Jahres. Der Junge hatte einen sechsten Sinn für Gefahr, und Billings mochte ihn, auch wenn er aus Chicago war und die Cubs für eine bessere Mannschaft hielt als die Milwaukee Brewers.
»Also gut«, meinte Billings. »Dann sind wir uns ja einig.«
Ein Chor von »Scheiß aufs Bravo-Team«-Rufen hallte durch den vorderen Stryker. Es handelte sich um eine harmlose Rivalität. Billings kannte seine Männer gut genug, um zu wissen, dass es, wenn es hart auf hart kam, keine Rolle spielte, wer in welchem Team war. Die Männer waren Waffenbrüder, vereint im Kampf gegen einen gemeinsamen Feind. Billings zweifelte nicht im Geringsten daran, dass Russo seine Männer ebenfalls aufpeitschte.
Als Billings merkte, wie der Stryker langsamer wurde, war ihm klar, dass es nur noch eine Frage von Augenblicken war, bis sie rausmussten, um zu versuchen herauszufinden, was zum Teufel hier los war.
3
Als die Strykers schließlich im Zentrum des Dorfs hielten, sprangen die Soldaten heraus und gingen sofort in Stellung. Obwohl niemand ein Wort sagte, dachten doch alle das Gleiche, nachdem sie Asalaam einmal komplett umrundet hatten. Nicht eine Menschenseele war zu sehen, das machte alle nervös.
Justin Stokes, ein junger, dürrer Private aus San Diego, der die schlechte Angewohnheit hatte, immer den Mund aufzumachen, bevor er das Gehirn einschaltete, meinte: »Vielleicht machen die ja alle Siesta.«
»Vormittags um 10:30 Uhr?«, entgegnete der 1,93 große Private Rodney Cooper aus Tampa. »Stokes, noch nicht mal meine Oma legt sich morgens um halb elf hin.«
»Was auch immer«, sagte Stokes, »mit diesem Ort stimmt etwas nicht.«
»Es ist ein beschissenes Kaff, das ist los«, gab Schlesinger seinen Senf dazu. »Wo zur Hölle stecken die ganzen Leute?«
»Um das herauszufinden, sind wir hier«, setzte Lieutenant Billings dem Wortgefecht ein Ende. »Wir sind in Gefechtsbereitschaft; Kommunikation nur noch, wenn unbedingt nötig.«
»Ja, Sir, Lieutenant«, antworteten die Männer, während Billings zu Russo hinüberging. Russo stand da und hielt durch das Leuchtpunktvisier seines M4 Ausschau danach, ob sich am anderen Ende der Straße etwas rührte.
»Was meinen Sie, Jimmy?«, fragte Billings.
Russo senkte seine Waffe. »Ich denke, es ist zu ruhig.«
»Vielleicht steht uns ein Überfall bevor.«
»Das glaube ich nicht. Wenn uns jemand angreifen wollte, wäre es schon passiert.«
»Was zur Hölle ist dann hier los? Wo sind die ganzen Dorfbewohner?«
Russo überprüfte noch einmal seinen Feuerwahlhebel. »Ich weiß es nicht. Und ein Gefühl sagt mir, dass ich es auch gar nicht wissen will. Dieses Dorf geht uns nichts an. Wir sind hier, um nach drei amerikanischen Entwicklungshelfern zu suchen. Also tun wir das, und dann machen wir, dass wir von hier verschwinden.«
Die schmale Straße rauf und runter musterte Billings die rissigen, von der Sonne ausgedörrten Fassaden der Lehmziegelhäuser. Bei manchen standen die Türen und Fenster weit offen. »In Ordnung!«, pflichtete er ihm bei. »Wir gehen folgendermaßen vor: Ich gehe mit dem Alpha-Team zu dem Gebäude, das die Missionare als medizinisches Versorgungszentrum nutzten. Sie durchsuchen mit dem Bravo-Team Haus für Haus, aber keine Türen eintreten. Sollten Sie eine finden, die schon offen ist, und keiner antwortet auf ein höfliches Anklopfen, können Sie mit Ihren Männern reingehen und sich umsehen. Aber sagen Sie ihnen, dass sie nichts anrühren sollen. Wir treffen uns in 15 Minuten wieder hier. Alles klar?«
»Ja, Sir! 15 Minuten.« Damit wandte Russo sich an seine Männer. »Es geht los. Vorwärts!«
Der eine Stryker gab dem Bravo-Team die Hauptstraße entlang Deckung, während der andere Billings und dessen Männern folgte, als sie einen Block weiter zu einem verwitterten Gebäude mit Flachdach marschierten, das aussah wie eine Schule oder ein Verwaltungsbau.
»Polizei des Provinzministeriums«, sagte Mike Rodriguez aus dem New Yorker Hinterland, als er ein verblasstes Schild über dem Eingang las. Neben Russo war er der Einzige im Trupp, der halbwegs Arabisch sprach.
Billings warf einen Blick auf das Instruktionsblatt, das sie ihm in Mosul gegeben hatten, und fluchte. »Gottverdammt, die haben die Scheißkarte falsch herum abgedruckt. Wir sollten einen Block weiter in der anderen Richtung sein.«
»Warum gucken wir nicht trotzdem mal rein?«, meinte Stokes. »Es ist ein öffentliches Gebäude. Vielleicht finden wir dadrin ja offizielle Informationen.«
»Wir sind weder dazu autorisiert, da reinzugehen, noch nach Informationen zu suchen«, erwiderte Billings. »Wir sind nur zum Aufklären hier. Finden wir eine offene Tür, dürfen wir reingehen. Aber wenn eine Tür nicht auf ist, können wir sie nicht einfach ein…«
Ehe Billings den Satz zu Ende zu führen vermochte, lehnte Cooper sich mit seiner wuchtigen Schulter gegen die nicht allzu stabile, verwitterte Tür und drückte sie aus den Angeln. Als das ganze Team ihn anblickte, meinte er lächelnd: »Da muss wohl jemand vergessen haben abzuschließen.«
»Den Teufel haben die«, erwiderte Billings. »Der Nächste, der auch nur etwas entfernt Ähnliches versucht …« Der überwältigende Gestank, der aus dem Gebäude strömte, ließ den Lieutenant verstummen.
»Mein Gott«, entfuhr es Schlesinger. »Wissen diese Kerle denn nicht, dass man den Müll zur Abholung rausstellt?«
Billings, nur allzu vertraut mit dem Geruch des Todes, war klar, dass sie keinen Abfall rochen.
»Cooper, Rodriguez, Schlesinger und Stokes, ihr geht mit mir da rein. Der Rest von euch steht hier draußen Wache. Und haltet die Augen offen. Hier könnte sehr bald die Kacke am Dampfen sein.«
»So, wie es riecht, ist sie das schon«, meinte ein rothaariger Private aus Utah, während er sein Gewehr in Anschlag brachte und den Beobachtungsposten bezog.
Die Nase in den taktischen Westen verborgen, betraten Billings und seine Männer das Gebäude. Nachdem sie die Eingangshalle gesichert hatten, trat Cooper die Tür des stockdunklen Hauptbüros ein. Der Rest des Teams stürmte vorwärts und verteilte sich nach rechts und links. »Gesichert – gesichert – gesichert«, erscholl es vielstimmig von den verschiedenen Teammitgliedern, während sie im Schein der auf die Picatinny-Schienen ihrer M4s montierten SureFire-Lampen den Raum durchkämmten.
Der Grund, weshalb man kaum die Hand vor Augen sah, wurde schnell klar. Die Fenster waren zur Gänze mit schweren Wolldecken verhängt.
Rodriguez warf Schlesinger einen verdutzten Blick zu. »Sollen das Verdunklungsvorhänge sein?«, flüsterte er.
Schlesinger fuhr mit dem Strahl seiner Lampe den Rand einer der Decken nach. Seine Antwort bestand in einem Achselzucken.
»Warum wollen diese Kerle hier, mitten im Nirgendwo, kein Licht reinlassen?«
»Vielleicht haben sie versucht, etwas zu verstecken.«
»Oder sie wollten sich vor etwas verstecken.«
Billings war egal, wozu die Decken dienten. »Reißt sie alle runter«, befahl er, »und lasst hier Licht rein.«
Stokes und Cooper traten an die Fenster und fingen an, die Decken herunterzuziehen. Licht durchflutete den Raum. Dabei blickte Schlesinger nach oben, und die Stimme wollte ihm versagen. »Heilige Scheiße!«
Wie ein Mann blickte auch der Rest des Teams nach oben, und die Männer sahen, was Schlesinger sah. An der Decke hingen mindestens 15 verwesende Leichen.
Cooper, der Kräftigste und bis dahin auch einer der Mutigsten im ganzen Trupp, zuckte entsetzt zusammen. Stokes bekreuzigte sich, während Rodriguez und Schlesinger instinktiv ihre Gewehre hoben und feuerbereit die Decke entlangschwenkten, vor und wieder zurück. »Was zum Teufel geht hier vor, Lieutenant?« Die Angst in Schlesingers Stimme war unüberhörbar.
Billings hatte keine Ahnung, was zum Teufel sie sich da ansahen. Die Leichen waren bündig an die Decke gefesselt, die starken Holzstreben hatten sie vollständig verborgen, als das Team den Raum betrat. Billings wollte gerade etwas sagen, da meldete sich knisternd eine Stimme über sein Funkgerät. Es war Russo.
»Alpha One. Hier Bravo One. Hören Sie mich? Over.«
Billings, den Blick nach wie vor starr auf die grauenhafte Szene über sich gerichtet, drückte seine Sendetaste. »Hier Alpha One. Ich höre Sie klar und deutlich, Jimmy. Was haben Sie?«
»Wir haben jemanden gefunden, Lieutenant. Er scheint einer der Dorfältesten zu sein. Wie es aussieht, hat er seit einer Woche nichts gegessen, aber er ist am Leben.«
»Wo haben Sie ihn gefunden?«
»Er hatte sich hinter einem der Häuser versteckt, die wir überprüften. Meine Jungs nehmen an, er war auf der Suche nach etwas zu essen.«
»Weiß er, was mit dem Rest der Dorfbewohner passiert ist?«
»Er sagt, die Überlebenden verstecken sich in der Moschee. Dorthin sind wir gerade unterwegs.«
»Moment mal! Überlebende?«, echote Billings. »Überlebende von was? Und was soll das heißen, sie verstecken sich in der Moschee? Wovor verstecken sie sich denn?«
»Das versuche ich noch rauszukriegen. Der Alte wiederholt in einer Tour ein Wort auf Arabisch, das ich nicht kenne.«
Billings gab Rodriguez ein Zeichen. »Wie lautet das Wort?«, sagte er ins Funkgerät. »Mal sehen, ob Rodriguez es kennt.«
Es entstand eine Pause, als Russo den alten Mann bat, direkt ins Mikro zu sprechen. Kurz darauf erscholl eine angestrengte Reibeisenstimme, die klang wie ein Paar rostiger Türangeln, die dringend geölt werden mussten. »Algul! Algul! Algul!«
»Haben Sie das verstanden?«, fragte Russo, während der Alte wieder Abstand vom Funkgerät nahm.
Billings blickte Rodriguez an und merkte, dass aus dem bereits ohnehin fahlen Gesicht des Soldaten jede Farbe gewichen war. Die an die Decke geschnürten Körper gingen allen an die Nieren, aber sie mussten sich zusammenreißen.
»Haben Sie je Xbox gespielt, Lieutenant?«, murmelte Rodriguez. Sein Blick haftete auf den grotesken Gestalten, die über ihnen schwebten.
»Nein!« Billings wollte nicht einleuchten, welche Verbindung zwischen einem Videospiel und ihrer gegenwärtigen Situation bestehen sollte.
»Algul war das erste arabische Wort überhaupt, das ich je gelernt habe. Ich lernte es bei einem Xbox-Spiel mit dem Titel Phantom Force.«
Der Lieutenant wartete ungeduldig auf eine Antwort. »Was zum Teufel heißt es?«, wollte er wissen.
»Frei übersetzt ist es ein Pferdeblutegel oder ein blutsaugender Dschinn. Aber normalerweise beschreibt es einen weiblichen Dämon, der auf dem Friedhof wohnt und sich an toten Babys gütlich tut. Wenn keine Babys mehr da sind, begnügt der Dämon sich mit jedem, der im Dorf noch übrig ist, und frisst weiter, bis niemand mehr am Leben ist. Außerdem habe ich gehört, dass es von einem arabischen Wort stammt, das so viel wie lebender Toter heißt und Frauen-und-Kinder-Fresser. Egal wie man es dreht und wendet, Algul ist Arabisch für Vampir.«
Billings war im Begriff, Rodriguez zu sagen, er solle keinen Scheiß labern. Da öffnete einer der an die Decke gefesselten Körper den Mund und hüllte die Soldaten in einen feinen Nebel aus blutigem Schaum.
4
Stadtrand von Bagdad
Zwei Wochen später
Scot Harvath vermochte zunächst nicht zu sagen, ob er nun getroffen war oder nicht. Nach dem grellen Aufblitzen sah er nur noch verschwommen, und alles, was er hörte, war das dröhnende Tosen, mit dem ihm das Blut in den Trommelfellen rauschte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Khalid Alomari auch noch eine dritte Pistole unter dem Gewand trug – ein Messer, ein Rasiermesser, vielleicht sogar eine Handgranate, aber doch keine Subcompact-Pistole. Das bewies nur einmal mehr, wie verzweifelt der Kerl war.
Von irgendwoher hinter dem Pochen in seinen Ohren vernahm Harvath die Stimme seines Chefs, Gary Lawlor, der ihm sagte, er solle abwarten und nicht ohne Rückendeckung da reingehen. Doch Harvath war schon zu weit gekommen, um Alomari noch einmal zu verlieren.
Dubai, Amman, Damaskus … Der Terrorist war ihm stets einen, wenn nicht zwei Schritte voraus gewesen. Seit zwei Monaten bemühte Harvath sich, aufzuholen und den Mann zu fassen, den westliche Geheimdienste als den Nachfolger Osama bin Ladens bezeichneten. Einige der flapsigeren Analysten und Agenten in der CIA-Zentrale in Langley und ebenfalls manche im Office of International Investigative Assistance (OIIA) – dem Amt zur Unterstützung internationaler Ermittlungen beim Department of Homeland Security, für das Harvath arbeitete – hatten sich angewöhnt, Alomari »Osama Junior« oder kurz »OJ« zu nennen.
Normalerweise war Harvath der Erste, der zu Scherzen aufgelegt war. Doch der Spitzname, den sie Alomari gegeben hatten, gefiel ihm ganz und gar nicht. Der Name spielte herunter, was der Killer in seiner kurzen, allerdings beeindruckenden Laufbahn an Verheerungen angerichtet hatte. Außerdem nahm Harvath diesen Einsatz auch durchaus persönlich. In Kairo hätte der Terrorist ihn um ein Haar umgebracht. Die Jagd war ein nicht enden wollendes Katz-und-Maus-Spiel, und trotz aller Mittel, die Harvath zur Verfügung standen, hatte er seine Beute erst vor zwei Minuten zum ersten Mal zu Gesicht bekommen. Hätte der Präsident ihm einfach den Auftrag erteilt, Alomari zu töten, anstatt ihn festzunehmen, um ihn ausgiebig zu verhören, wäre diese kräftezehrende Mission schon längst vorüber. Aber eben weil Alomari ihnen ständig durch die Lappen ging und so gut war in dem, was er machte, wollte die US-Regierung ihn lebendig gefangen nehmen.
Alomari stammte aus Abha, derselben entlegenen Gebirgsstadt im Süden Saudi-Arabiens in der Provinz Asir, aus der vier der 15 Flugzeugentführer des 11. September kamen. Alomari war der Spross einer wohlhabenden saudischen Familie, sein Vater Saudi, die Mutter Französin, und verfügte über exzellente Beziehungen zur saudischen Königsfamilie. Er war zwar hoch gebildet und weit gereist, es hatte ihm nie an Geld gemangelt, und er hatte alles für sein leibliches Wohl. Dennoch war Khalid Alomari mit dem Gefühl aufgewachsen, dass ihm etwas in seinem Leben fehlte. Er trug ein Loch in sich, das nichts auszufüllen vermochte, ganz gleich wie viel er zwischen den griechischen Inseln herumsegelte. Er konnte sich an der französischen Riviera sonnen, so viel er wollte, oder von der dekadenten Astor-Suite des Plaza Hotels aus über den New Yorker Central Park blicken, sich mit Frauen vergnügen und in Champagner schwelgen. Nichts half. Ähnlich einem gewissen anderen berüchtigten Sprössling einer saudischen Familie, der mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurde, fand Alomari schließlich, wonach er suchte, im militanten Islamismus.
1999, Khalid Alomari war erst 21 Jahre alt, wurde er Osama bin Laden vorgestellt. Die beiden Männer verstanden sich auf Anhieb gut miteinander. Ihre Herkunft war vergleichbar und sie hatten vieles gemeinsam. Als bin Laden erwähnte, dass mehrere Männer aus Alomaris Heimatstadt Abha in den Augen Allahs zu Großem bestimmt waren, bat Alomari darum, sich beteiligen zu dürfen. Doch bin Laden hatte andere Pläne für den jungen Mann, der mittlerweile beinahe wie ein Sohn für ihn war. Auch Alomari war zu Großem bestimmt, aber nicht indem er ein Flugzeug in einen Wolkenkratzer steuerte. Er verfügte über Talente, die wesentlich beeindruckender waren als die der Brüder von 9/11.
Alomari hatte etwas, das bisher kein junger Dschihadist gehabt hatte, der je zu bin Laden gekommen war. Der Junge verfügte nicht nur über einen außergewöhnlichen Geschmack, Stil und Intelligenz, sondern dank seiner französischen Mutter auch über wunderbar europäische Gesichtszüge, mit denen er als Angehöriger fast jeder Nationalität durchging.
Nein, Khalid Alomari würde kein Flugzeug in ein Gebäude lenken. Dazu war er viel zu wertvoll. Er würde bin Ladens größte Waffe werden – eine neue Macht, auf die sich die westliche Welt gefasst machen musste.
Alomari wurde in bin Ladens Camps in Afghanistan ausgebildet, danach ging es zur weiteren Ausbildung zum berüchtigten pakistanischen Geheimdienst Inter-Services Intelligence in Islamabad. Dort erlernte der junge Mann die schönen Künste Gefangenenbefragung, Erpressung und Meuchelmord. Danach sah er bin Laden nur noch ein Mal, kurz bevor der Al-Qaida-Chef gezwungen war, in einer seiner vielen Bergfesten entlang der pakistanisch-afghanischen Grenze unterzutauchen. Alomari war im selben Raum mit bin Laden, um den Erfolg der Anschläge vom 11. September zu feiern, als das bekannte Video seines Mentors aufgenommen wurde. Doch im Gegensatz zu den übrigen Anwesenden war Alomari so schlau, sich hinter dem Kameramann zu halten, als die Aufnahme begann. Das Filmmaterial bewies nicht nur bin Ladens Mitschuld an 9/11, sondern wurde auch als Who’s who des inneren Zirkels von Al-Qaida verwendet. Kurz gefasst, es lieferte den Amerikanern mehr Informationen, als die Al-Qaida-Führung beabsichtigt hatte. Alomari war klug gewesen, außer Sicht hinter der Kamera zu bleiben. Wenn er während seiner Zeit in Amerika und dem Westen eines gelernt hatte, dann, dass man die Medien manipulieren musste, sonst wurde man von ihnen manipuliert.
Harvath versuchte krampfhaft, Alomari die Waffe zu entwinden. Doch der Kerl war erstaunlich stark. Der Terrorist setzte zu einem linken Haken an, und Harvath wich seitlich aus, sodass ihm der Schlag schmerzhaft über die Schulter glitt. Harvath reagierte schnell mit einem Kniestoß in Alomaris Unterleib, woraufhin der Kerl die Waffe fallen ließ und aus dem Gleichgewicht geriet. Alomari packte den amerikanischen Agenten an den Schultern und zog Harvath mit sich zu Boden.
Ehe Harvath sich wieder aufzurichten vermochte, holte Alomari mit dem Ellenbogen aus und erwischte ihn direkt am Mund. Während Harvath sich noch bemühte, zu sich zu kommen, merkte er, dass Alomari von ihm wegkrabbelte. Sein einziger Gedanke war, dass der Terrorist versuchte, seine Pistole zu erreichen.
Harvaths Gedanken überschlugen sich. Gleich zu Beginn des Handgemenges hatte er seine H&K MP76 verloren, und ihm war klar, dass er jetzt nicht mehr herankam. Er müsste seine Pistole ziehen. Aber konnte er sie ziehen und feuern, bevor Alomari seine Waffe erreichte und auf ihn schoss? Harvath blieb keine andere Wahl.
Harvath griff nach seiner Beretta PX4 Storm, zog sie aus dem Holster und wälzte sich nach links weg. Er hob die Waffe und zielte dorthin, wo er Alomari zuletzt gesehen hatte. Doch da war niemand mehr. Auf der Stelle wirbelte Harvath um 180 Grad herum. Er erhob sich auf ein Knie und schwenkte die Waffe durch den Rest des Raums, doch Alomari war verschwunden. Es gab nur eine Möglichkeit, wie er geflohen sein konnte, und Harvath blieb nichts anderes übrig, als ihn zu verfolgen.
Die irakische Mittagssonne war gleißend. Es dauerte mehrere Sekunden, bis Harvaths Augen sich daran gewöhnt hatten und er Khalid Alomaris Gestalt ausmachen konnte, der fast einen ganzen Block entfernt davonlief. Das schmutzig braune Gewand des Terroristen und die hell karierte Kufija waren unverkennbar. Harvath verlor keine Zeit.
In Kampfstiefeln und Wüstentarnuniform einen Sprint hinzulegen war nicht unbedingt eine Kleinigkeit. Harvath hätte die Shorts, T-Shirt und Nikes vorgezogen, mit denen er zu Hause am Potomac entlangrannte. Aber Kampfstiefel und Wüstentarnanzug waren nun mal das, was man beim US Special Operations Command (USSOCOM) Direct Action Team im Irak trug und was ihm für das koordinierte Ausschalten von Alomari ausgehändigt worden war. Doch die Koordination war in die Binsen gegangen.
Man konnte niemandem im Besonderen die Schuld daran geben. Harvath war gezwungen gewesen, eine Entscheidung zu treffen, und genau das hatte er getan. Als der Zeitplan sich änderte und das Team nicht schnell genug vor Ort eintreffen konnte, hatte Harvath, ob zum Guten oder Schlechten, entschieden, auf eigene Faust vorzugehen. Ihm war klar, dass er Khalid schon wieder verlieren würde, wenn er ihn nicht einholte, bevor er den ausgedehnten Freiluftbasar zwei Straßen weiter erreichte. Wenn das passierte, steckte Harvath in noch größeren Schwierigkeiten als jetzt. Hätten sie ihn doch bloß autorisiert, diese Bestie umzulegen. Auf diese Entfernung konnte er ihn wahrscheinlich mit der Beretta erwischen. Doch seine Befehle lauteten nun mal anders.
Harvath stand dicht davor, erneut Pech zu haben, und das wusste er. Bemüht, alles andere auszublenden, mobilisierte er seine letzten Reserven und rannte noch schneller. Weiter vorn sah er bereits die Zeltstände des riesigen Basars vor sich.
Als Alomari den Suk betrat, war Harvath keine fünf Meter mehr hinter ihm. Der Killer rannte einen der zahllosen engen Gänge entlang und warf hinter sich um, was er konnte, um Harvath bei seiner Verfolgung zu behindern. Doch was er auch versuchte, es funktionierte nicht. Harvath sprang über alles hinweg, und schon bald hatte sich der Abstand auf knapp drei Meter verringert.
Harvath hätte Khalid am liebsten eine Kugel verpasst, nichts wünschte er sich sehnlicher. Doch als er nur noch anderthalb Meter hinter ihm war, entschloss er sich zu einem brutalen Angriff. Mit einem Hechtsprung stürzte er sich auf den Terroristen und zog ihm die Beine unter dem Körper weg, sodass dieser mit dem Gesicht aufs Pflaster knallte. Mit diesem perfekt ausgeführten Manöver hätte Harvaths Alma Mater, die University of Southern California, ihn ohne Weiteres als Verteidiger aufgestellt.
Der Terrorist fing sofort an, Widerstand zu leisten. Genau darauf hatte Harvath gehofft. Er verpasste ihm ein paar schnelle, kurze Schläge in die Nieren, sodass der Kerl vor Schmerz aufschrie. Als Alomari aufzustehen versuchte, schlug Harvath ihm auf den Hinterkopf, packte ihn an der staubigen Kufija und knallte ihm das Gesicht noch dreimal aufs Pflaster.
Aus irgendeinem verrückten Grund hatte der Terrorist immer noch nicht genug. Abermals langte er in sein Gewand. Harvath wartete nicht ab, um zu erfahren, welchen Trick Alomari diesmal im Ärmel hatte. In einer fließenden Bewegung zog Harvath die Hand des Mannes aus den Falten seines Gewands heraus und brach ihm den Arm. Alomari fing noch lauter an zu schreien.
»Das war für Kairo, du Arschloch«, sagte Harvath, während er in die Gesäßtasche seines Kampfanzugs langte, um drei Paar Plastikhandschellen hervorzuholen. »Und das hier«, fuhr er fort, während er dem international gesuchten Attentäter erst die Hände auf den Rücken, dann die Füße fesselte und schließlich beides so schmerzhaft und erniedrigend wie nur möglich miteinander verband, »ist dafür, dass ich dir zwei Monate lang, 8000 Kilometer und drei verfluchte Blocks weit hinterherrennen musste, um dich zu kriegen.«
Nun, da alles vorüber war, rechnete Harvath mit einer Schimpftirade auf Arabisch, Englisch oder beidem. Doch stattdessen begann Khalid Alomari – Osama bin Ladens Auftragskiller Nummer eins – zu weinen.
Harvath wollte seinen Ohren nicht trauen. In der Regel waren diese Arschlöcher alle gleich – aufgebrachte, selbstgerechte Fanatiker. Sie verfluchten einen und das Land, aus dem man kam, bis zu dem Augenblick, in dem man ihnen eine Kugel verpasste oder die Zellentür sich hinter ihnen schloss. Nicht so Alomari. Hier stimmte etwas nicht. Erst als Harvath den Terroristen auf den Rücken wälzte, erkannte er, woran es lag. Der Mann, dem er drei Blocks weit nachgejagt war und den er fast bewusstlos geprügelt hatte, war überhaupt nicht Khalid Alomari. Irgendwie hatten sie ihn ausgetauscht.
Gerade als Harvath glaubte, dass es nicht mehr schlimmer kommen konnte, blickte er hoch, in die Gesichter der Menge, die sie umgab, und dann fiel ihm etwas wirklich Übles ins Auge – ein Kamerateam von Al-Dschasira, das das Ganze filmte.
5
Dhaka, Volksrepublik Bangladesch
Bis heute hatte Emir Tokay sich in Bangladesch immer sicher gefühlt. Während die meisten Außenstehenden Bangladesch als Land betrachteten, das ständig von Überschwemmungen und Wirbelstürmen heimgesucht wurde, sah er es als reich an Geschichte an, reich in seiner Hingabe zum Islam. Dhaka, die Hauptstadt, konnte allein innerhalb der Stadtgrenzen über 700 Moscheen vorweisen. Es war gewiss kein Zufall, dass das islamische Institute for Science and Technology hier angesiedelt war – gab es einen besseren Ort, um Allahs wichtigstes Werk zu vollbringen? Nun hegte Emir allerdings seine Zweifel, nicht allein wegen jenes Werks, sondern er fragte sich auch, ob er es überhaupt lebend aus der Stadt schaffen würde.
Der tödliche Herzinfarkt, den Dr. Abbas in Dubai erlitt, schien zunächst ein zwar unglückliches, aber nicht ungewöhnliches Vorkommnis. Der Mann war stark übergewichtig und hatte die Bitten seiner Familie und seiner Kollegen, besser auf sich zu achten, lange ignoriert. Der brillante Wissenschaftler hatte immer behauptet, seine Forschungen nähmen seine ganze Zeit in Anspruch und ließen ihm keine Gelegenheit zu sportlicher Betätigung. Dann war da Dr. Akbar in Amman. Er war das genaue Gegenteil von Abbas. Beim Sprung in den Pool, in dem er jeden Tag seine Runden schwamm, brach Akbar sich das Genick und ertrank. Nach Akbar kam Dr. Hafiz in Damaskus. Er war ein vergleichsweise robuster Mann in den Fünfzigern ohne Vorerkrankungen. Er starb ganz plötzlich an einem akuten Asthmaanfall.
Als Nächstes der Tod von Dr. Jafar in Kairo, Dr. Quasim in Teheran und Dr. Salim in Rabat. Dann der schreckliche Unfall mit Fahrerflucht, dem Dr. Ansari in Lahore zum Opfer fiel. Jeder dieser Todesfälle war für sich betrachtet nichts Ungewöhnliches, abgesehen davon, dass sie unglücklich und verfrüht waren. Doch wenn Emir Tokay sie insgesamt ins Auge fasste, jagte einem das große Ganze Angst ein. Angenommen, Dr. Bashir in Bagdad, den er schon seit Tagen nicht erreichte, war tot. Dann war Tokay der Letzte des Forschungsteams, der noch am Leben war.
Tokays erste Reaktion bestand darin, seine Vorgesetzten in Kenntnis zu setzen, doch ihm war klar, dass dies ein großer Fehler wäre. Eigentlich durfte ja keiner der Wissenschaftler eine Ahnung haben, mit wem er zusammenarbeitete. Das islamische Institute for Science and Technology hatte aus dem gesamten Projekt ein Geheimnis gemacht und alle Bereiche strikt voneinander getrennt. Den Wissenschaftlern war es nicht gestattet, sich einander zu erkennen zu geben, sie hatten ausschließlich über verschlüsselte, nicht zurückzuverfolgende E-Mail-Adressen kommuniziert. Sie durften lediglich Daten austauschen – nichts Persönliches und auch keine beruflichen Informationen. Das System hatte idiotensicher gewirkt, aber dabei übersah das Institut eine grundlegende Eigenschaft, die einen guten Wissenschaftler ausmachte – die Neugier.
Dr. Bashir war derjenige, der sich daranmachte, nicht nur aufzudecken, mit wem er arbeitete, sondern auch, was ihre Forschungen letztlich bewirken sollten. Abgesehen davon, dass es ein großer Triumph für die Muslime sein werde, hatte man dem Team nicht viel erklärt. Es war ein Rätsel, und insgeheim war jeder von ihnen darauf versessen, es zu lösen.
Bashir vermutete, dass das Institut ihre E-Mails zumindest durch einen Filter laufen ließ auf der Suche nach Schlüsselwörtern, die eine verbotene Konversation verrieten, und wahrscheinlich suchten sie auch E-Mails nach dem Zufallsprinzip aus, um sie zur Gänze zu lesen. So oder so, seine Lösung erforderte Diskretion.
Bashir hatte einer der weißen Laborratten in seiner Kontrollgruppe den Namen Stay-Go gegeben. Der Name, erklärte er in seinen E-Mails, rühre daher, wie sie in ihrem Käfig herumsprang.
Emir Tokay, der brillante, junge türkische Wissenschaftler, den sie ins Institut geholt hatten, um die Koordination der Bemühungen aller am Projekt Beteiligten zu unterstützen, war der Erste, der Dr. Bashirs cleveren Code durchschaute. Es war eher der Ton in Bashirs E-Mails, der ihn annehmen ließ, dass der leitende Wissenschaftler versuchte, dem Team etwas zwischen den Zeilen zu vermitteln. Tokay brauchte eine Weile, um herauszufinden, wie die Botschaft lautete. Doch durch Herumprobieren nach dem Trial-and-Error-Prinzip kam er schließlich darauf, dass der Schlüssel im Namen von Bashirs Laborratte lag. Der Name Stay-Go war in Wirklichkeit die phonetische Umschreibung des Wortes Stego, kurz für Steganografie. Steganografie stammte aus dem Griechischen und hieß wörtlich übersetzt »verborgenes Schreiben«. In der Kryptografie geht man davon aus, dass ein Feind eine Botschaft abfangen könnte, aber nicht in der Lage ist, sie zu entschlüsseln. In der Steganografie hingegen besteht das Ziel darin, eine Nachricht in einer ansonsten harmlosen Kommunikation zu verstecken, und zwar so, dass ein Feind, selbst wenn sie von ihm abgefangen würde, gar nicht mitbekommt, dass eine zweite, darunterliegende Nachricht darin enthalten ist. Wer sich in der heutigen digitalen Welt der Steganografie bediente, konnte seine Nachrichten in einem breiten Spektrum an Dateiformaten verbergen. Gängige Dateianhänge wie .wav, .mp3, .bmp, .doc, .txt, .gif und .jpeg waren perfekt, weil redundante beziehungsweise »verrauschte« Daten leicht entfernt und durch eine verborgene Nachricht ersetzt werden konnten. Tokay stellte fest, dass Dr. Bashir ebendies getan hatte.
Drei Monate lang hatte Bashir eine simple, sich stetig wiederholende Nachricht in die digitalen Bilder seiner Laborratte, Stay-Go, eingebettet: »Wer sind wir und was tun wir? Seien Sie vorsichtig mit Ihrer Antwort. Unsere E-Mails werden überwacht. Dr. M. Bashir.«
Sobald Emir Bashirs Code entdeckt hatte, arbeitete er fieberhaft daran, eine Möglichkeit zu finden, die elektronischen Filter des Instituts und die Überwachung der Team-Kommunikation zu umgehen. Wie andere Organisationen sorgte das Institut sich viel mehr um Angriffe von außerhalb seines Computersystems als von innen. Schon bald war Tokay zuversichtlich, dass er eine Möglichkeit gefunden hatte, wie das Team E-Mails senden und empfangen konnte, ohne dass das Institut es mitbekam. Mit der Zeit begannen die Wissenschaftler, im Schnitt einmal pro Woche heimlich Nachrichten auszutauschen. Soweit sie es beurteilen konnten, war das Projekt, an dem sie arbeiteten, eher ein Spiel als alles andere. Keiner begriff, welche praktische Anwendung es für ihre Forschungen wohl geben mochte.
Erst in der Endphase des Projekts brachte Dr. Bashir eine angsteinflößende Hypothese in Umlauf, woran sie da arbeiten könnten. Bevor sie diese Möglichkeit ausgiebig diskutieren konnten, wurde die Forschungsgruppe offiziell aufgelöst. Lediglich Emir behielt das Institut, um die Forschungen des Teams zusammenzustellen. Unmittelbar danach begannen die Teammitglieder zu sterben. Aber warum?
Allein in seinem Labor in Bagdad kam Dr. Bashir auf die richtige Antwort. Jedes der Teammitglieder war rekrutiert worden, um Geburtshilfe bei einer Abscheulichkeit zu leisten. Das war das Einzige, was Sinn ergab. Doch Emir Tokay hatte nicht vor, weiterhin ein Teil davon zu sein. Der Islam, an den er glaubte, würde nie gutheißen, was das Institut auf die Welt loszulassen plante. Es war das reine Böse, dabei war der Islam eine Religion des Friedens. Tokay würde nicht zulassen, dass noch mehr Fanatiker seinen Glauben für ihre widerwärtigen Zwecke vereinnahmten.
Das einzige Problem, vor dem er stand, war, dass er nichts mehr beweisen konnte, wenn er tot war. Er musste zurück in die Türkei, in die Sicherheit, die seine Familie bot. Der Flughafen kam nicht infrage, der Bahnhof ebenso wenig. Beides war zu gefährlich, zu offensichtlich. Wenn er einen Bus nach Süden erwischte, in die Hafenstadt Narayanganj, könnte er an Bord eines Schiffes gehen, und alles wäre okay. Aber vorher musste er noch eine letzte Sache im Institut erledigen.
Nachdem er eine letzte E-Mail verschickt und seine Akten aus dem Büro geholt hatte, schlängelte er sich durch die geschäftige Altstadt, bis er auf einer der belebten Straßen parallel zum Fluss Dhaleshwari herauskam. Als er seinen Bus kommen sah, gestattete er sich zu glauben, dass er es vielleicht schaffen könnte.
Sein Gedankengang wurde von einem Mercedes unterbrochen, der angerast kam und mit quietschenden Reifen neben ihm hielt. Der Geruch nach verbranntem Gummi erfüllte die Luft. Als drei Maskierte mit AK-47s aus dem Wagen sprangen und ihn umringten, war ihm klar, wie idiotisch es gewesen war zu glauben, er könnte Bangladesch lebendig verlassen.
6
Washington, D. C.
Helen Remington Carmichael, die demokratische Senatorin für Pennsylvania, sah sich zum hundertsten Mal das Filmmaterial an, und noch immer lief ihr ein Schauer über den Rücken. Nicht etwa weil sie Gewalt verabscheute. Im Gegenteil, sie betrachtete die kalkulierte Gewaltanwendung als genau das, was sie war – ein notwendiges Mittel, um die Freiheit zu bewahren. In diesem Fall allerdings war das, was die Bilder auf ihrem Fernsehschirm zeigten, die Aufnahmen, die Millionen von Amerikanern immer wieder auf Fox und CNN sahen und Muslime in aller Welt sich auf ihren jeweiligen Kanälen anschauten, der Anfang vom Untergang des US-Präsidenten Jack Rutledge.
Sie hatte gewusst, dass es nur eine Frage der Zeit war. Sein Beliebtheitsgrad in den Umfragen war lächerlich hoch. Es fing an mit dem Mitgefühl wegen des Verlusts seiner Frau in seinem ersten Wahlkampf. Sie war an Brustkrebs gestorben. Die Sympathien begleiteten ihn durch seine erste Amtszeit als Präsident. Es lag an seiner Entführung und daran, dass er mit mehreren bekannten Terrororganisationen aufräumte und sich in jüngster Zeit ein erfolgreiches Kräftemessen mit den Russen lieferte. Es hatte den Anschein gehabt, als könnte der Mann nichts falsch machen. Und dann das hier. Der Himmel hatte ein Einsehen und Gott hatte ihr die eine Sache in die Hand gegeben, um die sie betete, seit sie sich mit dem Gedanken trug, als Vizepräsidentin für die Demokraten zu kandidieren.
Eins nach dem anderen, sagte sie sich. Sie wusste, wie die Presse sie wahrnahm. Sie war das machthungrige Miststück, das seinen erfolgreichen Mann dazu benutzt hatte, sich auf einen Platz im Senat zu katapultieren. Pennsylvania gefiel ihr noch nicht mal. Doch als klar wurde, dass der alternde Senator Timothy Murphy nicht mehr antreten wollte, hatte sie ihren Ehemann bei den Eiern gepackt und war mit der ganzen Familie in den Osten gezogen, um ihren Wohnsitz nach Pennsylvania zu verlegen und für den Senat zu kandidieren.
Die Leute in diesem Staat mochten ihr Feuer, und Murphy sprach sich nicht nur für sie aus, sondern warf auch sein gesamtes politisches Gewicht in die Waagschale. Der junge Politiker, den die Republikaner gegen sie aufstellten, hatte nicht die geringste Chance.
Als ausgebuffter Profi arbeitete Carmichael hart daran, ein softeres Image zu bekommen. Doch was sie auch anstellte, alles an ihr schrie trotzdem noch Miststück. Während manche ihrer Referenten insgeheim darüber diskutierten, ob sie ihre Hosenanzüge wegwerfen und sich das Haar wachsen lassen sollte oder nicht, meinten andere, das spiele ohnehin keine Rolle. Wie man sie auch anzog oder frisierte, die Frau führte sich nicht nur auf wie ein Miststück, sie sah auch schlicht und einfach so aus.
Unter ihren Mitarbeitern hieß es, vielleicht brauche sie ja bloß ein bisschen Sex, um etwas weicher zu erscheinen, aber ihr Mann sei zu sehr damit beschäftigt, anderen Frauen hinterherzujagen.
Tatsache war: Carmichaels einzige Möglichkeit, je zur Präsidentin der Vereinigten Staaten gewählt zu werden, bestand darin, zunächst einmal ihren Dienst als verdammt gute Vizepräsidentin zu leisten.
Aber selbst wenn sie so weit kommen wollte, stand ihr ein ernsthaftes Hindernis im Weg – Jack Rutledge. Die Demokraten hatten nicht einen Kandidaten, den sie gegen ihn aufstellen konnten in der Hoffnung zu gewinnen. Die einzige Möglichkeit zu siegen bestand darin, den amtierenden Präsidenten politisch in Bedrängnis zu bringen, bis seine Umfragewerte so niedrig waren, dass man nur noch hineinspazieren und ihm das Amt wegnehmen musste.
7
Weißes Haus
Präsident Jack Rutledge winkte Charles Anderson, seinen Stabschef, ins Oval Office und gab ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass seine Telefonkonferenz fast beendet war.
»Ja, Eure Majestät, das sehe ich ein, und wir wissen die Anstrengungen zu würdigen, die Sie auf sich nehmen, um die militanten Kräfte in Ihrem Land in Schach zu halten. Ihre Hilfe im Krieg gegen den Terror ist unschätzbar. Seien Sie versichert, dass dies eine meiner obersten Prioritäten ist. Wir werden der Sache auf den Grund gehen.« Der Präsident wartete einen Moment. »Dieses Gerücht habe ich auch gehört, und ich kann verstehen, weshalb Ihr Volk aufgebracht ist. Aber lassen Sie mich noch einmal darlegen, dass jede Medaille zwei Seiten hat. Wir werden der Sache auf den Grund gehen, und sobald wir das getan haben, unterrichten wir Sie über unsere Untersuchungsergebnisse. Ich garantiere Ihnen, dass wir das Ganze äußerst ernst nehmen.«
Der Präsident hielt erneut inne und antwortete dann: »Auch ich danke Ihnen für Ihre Zeit. Auf Wiederhören, Eure Majestät.«
Nachdem der Präsident aufgelegt hatte, wandte er sich Anderson zu. »Das ist ein absoluter Albtraum. Das ist heute schon der sechste Anruf eines arabischen Staatsoberhaupts. Wissen Sie, wie die das da drüben nennen? Den Showdown im Al-Karim Corral.«
»Ja, das habe ich gehört«, erwiderte Anderson. »Nicht sehr originell, wenn Sie mich fragen.«
»Originell oder nicht, das ist ein dickes blaues Auge für uns. Die Muslime betrachten Geschichte extrem langfristig, Chuck. Wesentlich langfristiger als wir. Viele von denen haben die Kreuzzüge so frisch in Erinnerung, als hätten sie erst letzte Woche stattgefunden. Und das Ganze auch noch so kurz nach dem Fiasko in Abu Ghraib. Was die Muslime betrifft, könnte es ebenso gut erst zehn Minuten her sein.«
»Abu Ghraib war übel, keine Frage. Und diese Al-Dschasira-Geschichte hat das Potenzial, noch viel schlimmer …«
»Das Potenzial? Chuck, ich habe keine Ahnung, wie es von Ihrer Warte aus aussieht. Aber das hier ist schon weit darüber hinaus, das Potenzial zum Schlimmeren zu haben. Es ist schlimmer. Und zwar gewaltig schlimmer.«
»Zugegeben, es sieht nicht gut aus. Aber darf ich Sie daran erinnern, wie Sie ja selbst gerade sagten, dass wir noch nicht alle Fakten haben?«
»Dieser Soldat ist Amerikaner. Das ist alles, was zählt«, sagte der Präsident. »Wir führen den Krieg gegen den Terror nicht im luftleeren Raum. Jeder einzelne Schritt, den wir unternehmen, wird von der ganzen Welt beobachtet. Alles, was wir tun, hat unzählige Konsequenzen. Es dauert Jahre, um in dieser Region auch nur eine Handbreit an Glaubwürdigkeit zu gewinnen, und bloß Sekunden, sie wieder zu verlieren.«
»Das stimmt«, sagte Anderson. »Aber ungeachtet des ewig langen Blicks, den die Muslime auf die Geschichte haben, sollten die USA sich nicht vom Gewicht der Kreuzzüge niederdrücken lassen. Im 11. Jahrhundert hat unser Land ja noch nicht einmal existiert. Es waren die Europäer, die die Kreuzzüge führten.«
Der Präsident lehnte sich auf seinem Sessel zurück und blickte an die Decke. »Das spielt keine Rolle. In deren Köpfen sind wir eine Erweiterung Europas. Alles, was der Westen tut, sei es nun Europa oder Amerika, steht in einem Zusammenhang. Ob etwas vor sieben Minuten oder vor sieben Jahrhunderten passiert ist, macht für die keinen Unterschied. Die scheren uns alle über einen Kamm. Es ist verteufelt frustrierend, aber diese Leute denken einfach nicht so wie wir.«
»Niemand denkt so wie wir. Wir haben eine einzigartige Einstellung, und dieser Geist ist, was Amerika ausmacht. Freizügigkeit, Demokratie, Freiheit und die Bereitschaft, wenn nötig Gewalt einzusetzen, um diese Ideale zu bewahren – dafür stehen wir. Gehen Sie doch mal in den Nahen Osten, nehmen Sie den Mann oder die Frau auf der Straße und bieten Sie ihnen die Möglichkeit, entweder zu bleiben, wo sie sind, oder nach Amerika zu kommen, um ein neues Leben zu beginnen mit den Rechten und Freiheiten, mit denen wir uns identifizieren. Jedes Mal werden die sich für die guten alten USA entscheiden. Für die Kameras verbrennen sie vielleicht unsere Fahne, aber wirft man ihnen eine Handvoll Greencards hin, würden sie sich gegenseitig die Hälse durchschneiden, um sie in die Finger zu kriegen.«
Der Präsident wandte den Blick von der Decke und richtete ihn auf seinen Stabschef. »Ich frage mich, was Al-Dschasira mit solchen Aufnahmen wohl anfangen würde.«
»Kommen Sie mir bloß nicht mit Al-Dschasira! Wir könnten da drüben Decken, Medikamente und vergoldete Ausgaben des Korans verteilen, und die würden immer noch eine Möglichkeit finden, uns schlecht dastehen zu lassen.«
»Stimmt leider«, erwiderte Rutledge. »Aber ich bin es leid, über die mangelnde journalistische Integrität von Al-Dschasira zu reden. Weshalb wollten Sie mich sprechen?«
»Ich nehme an, das war König Abdullah, mit dem Sie gerade gesprochen haben?«, sagte Anderson.
Der Präsident nickte.
»Und bei dem Gerücht, das Sie erwähnten, ging es darum, dass der Mann, den unser Soldat zusammengeschlagen hat, ein bloßer Niemand sein soll, ein Verkäufer an einem Obststand, richtig?«
Abermals nickte der Präsident.
»Nun, es handelt sich nicht länger um ein Gerücht. Der Mann ist Obstverkäufer.«
»Großartig!« Der Präsident warf die Hände in die Höhe und erhob sich von seinem Schreibtisch. »Konnte es nicht jemand von unserer Liste der meistgesuchten Terroristen sein? Das wäre natürlich viel zu einfach. Gott bewahre, dass wir eine Möglichkeit bekommen, unsere Glaubwürdigkeit in der Region zu stärken, indem wir einen aktenkundigen Mörder aus dem Verkehr ziehen.«
»Selbst wenn der Kerl als Terrorist bekannt wäre, denke ich nach wie vor, dass es vom Standpunkt der Public Relations aus vor den Kameras nicht so hätte ablaufen dürfen«, erwiderte Anderson, während er dem Präsidenten zusah, wie er auf und ab tigerte.
»Sie wissen, was ich sagen möchte. Unsere Glaubwürdigkeit da drüben ist so hauchdünn, man müsste sie bloß vor eine Glühbirne halten, dann könnte man hindurchsehen. Wir reden davon, eine gerechte Nation zu sein – von Rechtsstaatlichkeit, davon, dass man so lange unschuldig ist, bis die Schuld erwiesen ist. Aber das sind bloß Worte, oder? Und was ist so viel wert wie tausend Worte? Ein Bild. Und was für Bilder sieht jeder auf der ganzen Welt, der innerhalb der letzten acht Stunden seinen Fernseher einschaltete? Er sieht, wie ein gesichtsloser amerikanischer Soldat einen irakischen Obstverkäufer krankenhausreif prügelt. Was für ein Licht wirft das auf uns? Besser kann man es sich nicht ausdenken. Ein amerikanischer GI in Uniform und ein typischer Einheimischer, komplett mit Turban.«
»Eigentlich handelt es sich um eine Kufija, Sir, nicht um einen Turban. Das ist ein Unterschied.«
»Ich weiß, dass es einen Unterschied gibt. Das brauchen Sie mir nicht zu sagen«, fuhr Rutledge ihn an. »Ich habe die Aufnahmen gesehen.«
»Selbstverständlich! Tut mir leid, Sir.«
»Ich will damit sagen, dass wir nicht einfach reden können. Wir müssen auch vorleben, was wir predigen – jeder Einzelne von uns. Vom rangniedrigsten Soldaten bis ganz oben hin zu den Leuten, die in diesem Gebäude hier arbeiten. Verflucht noch mal! Gerade als es so aussah, als würde unsere Öffentlichkeitsarbeit in jenem Teil der Welt greifen, passiert so etwas.«
Anderson wartete einen Moment, bis der Präsident sich wieder beruhigte. »Es gibt da eine Information, die sich trotz alledem zu unseren Gunsten auswirken könnte.«
Rutledge hielt einen Moment in seinem Auf-und-ab-Tigern inne und hob die Augenbrauen. »Tatsächlich? Und das wäre? Wollen Sie mir erzählen, dass dieser Übergriff zur Selbstverteidigung geschah? Vielleicht hat der Obsthändler ja verdorbene Datteln verkauft. Denn falls er das getan hat, dann wäre die ganze Sache ja okay, oder? Ich meine, wenn dieser Kerl den Nerv hat, einem verdorbene Datteln zu verkaufen, dann holt man eben die harten Bandagen raus. Das ist doch verständlich. Gott weiß, dass wir eine Nation sind, die nichts von verdorbene Datteln hält. Der Himmel helfe jedem Obstverkäufer, der uns verdorbene Datteln andrehen will.«
Dem Stabschef war klar, dass der Präsident kurz davorstand, einen Tobsuchtsanfall zu bekommen, und er beschloss, mit äußerster Vorsicht vorzugehen. »Der Stand des Obstverkäufers war noch nicht einmal in der Nähe der Stelle, an der sich der Vorfall ereignete. Tatsächlich steht er auf der völlig entgegengesetzten Seite Bagdads. Eigentlich hätte der Mann an seinem Stand sein müssen. Aber wie sich herausstellte, bezahlte er einem seiner Cousins eine nicht geringe Summe, damit er ihn vertrat.«
»Und warum hat er das getan?«
»Weil jemand anders ihm eine noch größere Summe dafür zahlte, dass er einen Tag freinahm und ein paar Blocks vom Al-Karim-Basar entfernt herumlungerte.«
»Wer? Und weshalb?«
»Die irakischen Sicherheitskräfte haben versucht, das aus ihm herauszuholen. Aber der Mann behauptet, er wisse es nicht«, sagte Anderson. »Und bevor Sie jetzt Bemerkungen über die Effektivität der irakischen Sicherheitskräfte machen, bedenken Sie, dass sie in Al-Karim beinahe sofort vor Ort waren und das Al-Dschasira-Team daran hinderten, weitere Aufnahmen zu machen, sodass sie das Gesicht unseres Soldaten nicht auf Band bekamen. Wir haben Glück, dass alles nur von hinten gefilmt wurde.«
»Wen interessiert, ob sie sein Gesicht filmten? Die haben diesen kleinen, fünf mal sieben Komma fünf Zentimeter großen Stars-and-Stripes-Aufnäher an seinem Oberarm.« Der Präsident war kein bisschen überzeugt, dass an dieser Katastrophe irgendetwas Positives sein sollte. »Mehr brauchen die doch nicht.«
»Das ist wahr«, meinte Anderson. »Aber die Tatsache, dass sein Gesicht nicht gezeigt wurde, verschafft uns bestimmt noch ein bisschen Zeit.«