Mit aller Härte - Brad Thor - E-Book

Mit aller Härte E-Book

Brad Thor

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Beschreibung

Geheimagent Scot Harvath muss die Zerstörung des Vatikans verhindern. Nach einem gewaltigen Sturm über dem Mittelmeer wird die Leiche eines Mannes an Land gespült. Der Tote wird als ein hochrangiger Terrorist identifiziert, was bei der CIA Panik auslöst: Könnte er etwas mit dem »spektakulären Anschlag« zu tun haben, den der Geheimdienst bereits den ganzen Sommer über befürchtet? Um so schnell wie möglich Antworten zu erhalten, nutzt die CIA eine ungewöhnliche Quelle: Scot Harvath, der Navy SEAL, der zum verdeckten Terrorismusbekämpfer wurde. Harvath wird angeheuert, um den Vereinigten Staaten die nötige Klarheit zu verschaffen, und bricht auf dem Weg dorthin alle Regeln. Vollgepackt mit pulsierender Action, faszinierenden Figuren und elektrisierenden Ideen beweist Brad Thor erneut, warum er weltweit bekannt ist als »Meister des Thrillers«.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 508

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Aus dem Amerikanischen von Michael Weh

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Use of Force

erschien 2017 im Verlag Atria Books, Simon & Schuster

Copyright © 2017 by Brad Thor

Copyright © dieser Ausgabe 2025 by Festa Verlag GmbH, Leipzig

Titelbild: Zahid Mehmood / 99designs

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-98676-188-2

www.Festa-Verlag.de

www.Festa-Action.de

Für Duane »Dewey« Clarridge

Mitternachtswächter

Gute Reise!

Citius venit malum quam revertitur.

Das Böse kommt schneller,

als es uns wieder verlässt.

Prolog

Hauptquartier der italienischen Küstenwache

Koordinationszentrum für Seerettung

Rom

Ein Donnerschlag ließ das Gebäude erbeben, als Leutnant Pietro Renzi, der seine weiße Marineuniform trug, an das Telefon ging, das sich vor ihm befand.

»Mayday, Mayday!«, sagte eine Stimme auf Englisch mit schwerem Akzent. »Mein Breitengrad ist Nord, drei, drei, vier, neun.«

Renzi schnippte mit den Fingern, um seine Kollegen auf sich aufmerksam zu machen. »Drei, drei Grad?«, fragte er.

»Vier, neun«, erwiderte der Anrufer.

Dies war genau die Sorte Anruf, die Renzi und sein Team heute Nacht befürchtet hatten. Nordafrikanische Menschenschmuggler waren Abschaum. Ihnen ging es nur ums Geld. Sobald sie bezahlt worden waren, schoben sie die Flüchtlinge auf seeuntüchtige Boote. Sie warfen ihnen einen Kompass und ein Satellitentelefon zu, auf dem die Notrufnummer der Guardia Costiera gespeichert war, und zeigten ihnen, in welcher Richtung Italien lag.

Nur selten gaben die Schlepper ihnen genügend Benzin für die Überfahrt. Noch seltener beachteten sie die Wettervorhersage. Heute Nacht waren bereits bis zu 15 Meter hohe Wellen gemeldet worden, und der Sturm sollte noch schlimmer werden.

»33 Grad 49 Minuten nördlicher Breite«, wiederholte Renzi und bestätigte die Position des Anrufers.

»Ja.«

»Und darunter? Ich brauche die Zahl darunter.«

»Bitte!«, flehte der Mann. »Mein Akku ist fast leer.«

»Beruhigen Sie sich, Sir! Ich brauche die Nummer darunter.«

Der Mann las die Zahlen auf dem Display ab: »Eins, drei. Punkt, vier, eins.«

Renzi gab die vollständigen Koordinaten in seinen Computer ein: 33°49‘N, 13°41‘O. Die Position des in Not geratenen Boots erschien auf dem riesigen Bildschirm an der vorderen Wand der Einsatzzentrale. Das Boot war 120 Seemeilen von der Insel Lampedusa entfernt, Italiens südlichstem Territorium.

»Bitte, Sie müssen uns helfen!«, flehte der Anrufer. »Im Boot ist viel Wasser. Wir gehen unter.«

»Sir, bitte! Wir werden Hilfe schicken, aber Sie müssen sich beruhigen. Wie viele Menschen befinden sich an Bord?«

»150. Viele Frauen. Viele Kinder. Bitte beeilen Sie sich. Wir sind in Gefahr. Wir sinken!«

Ein Helikopter der italienischen Küstenwache kam nicht infrage. Die Flüchtlinge waren zu weit entfernt, und es waren zu viele.

Leutnant Renzi studierte den Bildschirm am Kopfende des Raums. Darauf waren die Schiffe und Boote im zentralen Mittelmeer angezeigt. Renzi prüfte, ob sich eines davon nahe genug an dem Flüchtlingsboot befand, um eine Rettungsaktion durchführen zu können.

Aber da waren keine. Alle erfahrenen Kapitäne hatten sich bereits vor dem Sturm in Sicherheit gebracht. Es würde Stunden dauern, irgendein Schiff zu den Flüchtlingen zu bewegen.

»Hallo?«, sagte der Mann. »Können Sie mich noch hören?«

»Ja, ich höre Sie noch.«

»Die Wellen sind sehr hoch. Den Leuten ist schlecht. Wir brauchen Ihre Hilfe.«

»Sir«, wiederholte Renzi und versuchte, den Mann zu beruhigen, »wir schicken ein Schiff, um alle zu retten, aber Sie müssen die Ruhe bewahren.«

»In Ordnung, ja.«

»Gut. Wie viele Rettungswesten haben Sie?«

»Rettungswesten?«, fragte der Mann.

»Schwimmwesten«, sagte Renzi. »Wie viele Schwimmwesten haben Sie?«

Es entstand eine Pause, während der Mann den Menschen auf dem Boot etwas in seiner Sprache zurief. Als er sich wieder über das Telefon meldete, ließ seine Antwort Renzis Blut in den Adern gefrieren.

»Wir haben keine Schwimmwesten.«

1

Burning Man Festival

Black Rock Desert, Nevada

Zwei Tage später

Scot Harvath dürfte eigentlich nicht hier sein. Die CIA durfte keine Operationen innerhalb der Vereinigten Staaten durchführen – vor allem keine Operation von der Sorte, die er gleich in Gang setzen würde. Verzweifelte Zeiten erforderten jedoch verzweifelte Maßnahmen.

Das Burning Man war ein extremes, siebentägiges Festival, das zur Sommersonnenwende in einem flachen, prähistorischen Seebett stattfand. Das Gelände lag drei Stunden von Reno, Nevada, entfernt. Schrille Kostüme waren erwünscht – ebenso wie »geschmackvolle« Nacktheit. Die Kostümskala reichte von Mad Max bis zu Karneval in Rio de Janeiro.

So fit, wie er war, wäre Harvath auch damit durchgekommen, so gut wie nichts zu tragen. Aber das war nicht sein Stil. Und im Rahmen seines Auftrags wäre es auch wenig sinnvoll gewesen.

Stattdessen trug der knapp 1,80 Meter große Harvath, dessen Haare sandbraun und dessen Augen gletscherblau waren, einen Mantel der Kontinentalarmee. Sein Gesicht war mit Cherokee-Kriegsbemalung vollständig überzogen, die auch sein gutes Aussehen verbarg.

Als der Wind wieder stärker wurde, setzte er eine Steampunk-Brille auf und wickelte sich eine Kufija, ein Palästinensertuch, um den Kopf. Überall schwirrten Wolken aus dem feinen Alkalistaub umher, der den ausgetrockneten Salzsee überzog. Die Sichtweite nahm ab.

»50 Meter«, sagte eine körperlose Stimme aus dem Gerät, das tief in seinem linken Ohr steckte. Er ging weiter und suchte die Umgebung von links nach rechts ab.

Das Burning-Man-Festival fand in einer temporären Stadt in der Black-Rock-Wüste statt, die Black Rock City hieß. Mit mehr als 70.000 Besuchern war Black Rock City im Verhältnis zur Größe des Geländes doppelt so dicht bevölkert wie London.

Von oben gesehen sah das Festivalgelände aus wie ein riesiger Buchstabe C oder wie zwei Drittel eines Kreises. Es ähnelte dem Bauplan des Todessterns, von dem allerdings ein gutes Stück weggesprengt worden war.

Zweieinhalb Kilometer vom Rand entfernt und ziemlich genau im Mittelpunkt des C stand der »Mann«, eine riesige Holzstatue, die Samstagabend angezündet werden würde.

In Black Rock City gab es keine Unterkünfte, sondern nur das, was die Besucher mitbrachten (und wieder mitnahmen). Die »Burner«, wie die Besucher genannt wurden, verbrachten Monate im Voraus damit, Dörfer und Camps einem kunstvollen Thema entsprechend zu planen. Nur die Superreichen reisten schon am ersten Tag an, meistens mit dem Helikopter. Sie wohnten in bezugsfertigen Luxuscamps, die bereits für sie gebaut worden waren.

Fast genauso umstritten wie die Lager der Superreichen war das sogenannte Kidsville. Dabei handelte es sich um eines der größten Camps des Festivals. Es war für Familien mit Kindern bestimmt. Eher ungewöhnlich für ein Erwachsenenfestival dieser Art. Trotzdem gehörten in diesem Jahr rund 1000 Kinder zu den Besuchern.

Eine ganze Armee von Freiweilligen hatte mit Unterstützung einer privaten Sicherheitsfirma alle Fahrzeuge bei der Ankunft am Festivalort kontrolliert. Hin und wieder bekamen die Freiwilligen Unterstützung von undercover arbeitenden Polizisten.

Aufgrund des enormen Verkehrsaufkommens und der entspannten Atmosphäre der Veranstaltung war es unmöglich, gründliche Kontrollen durchzuführen. Die Sicherheitsmaßnahmen waren mehr Schein als Sein.

Beamte der Bundespolizei und der örtlichen Polizei patrouillierten auf dem Festival, ebenso wie Park Ranger des Bureau of Land Management. Aber wer nicht ausgerechnet öffentlich Drogen nahm oder Minderjährigen Alkohol gab, konnte ihrer Aufmerksamkeit leicht entgehen. Die Beamten hatten mehr als genug zu tun. Insofern war es nicht verwunderlich, dass Terroristen auf das Burning-Man-Festival aufmerksam geworden waren.

Wieder sprach die Stimme in Harvaths Ohr. »Sie sollten es jetzt sehen können.«

Er blieb stehen, hob eine Flasche Wasser an den Mund und nutzte die Gelegenheit, sich umzuschauen.

Banner und die Eingangsplanen von Zelten wehten im Wind. Es gab eine behelfsmäßige Bar namens 7 Deadly Gins, ein Camp Woo Woo, ein Lokal, das sich No Bikini Atoll nannte, und einen Toxic Disco Clam betitelten Bereich. Gleich dahinter stand das blaue Wohnmobil.

»Jetzt kann ich’s sehen«, sagte Harvath und warf die Wasserflasche weg.

»Ey!«, beschwerte sich eine Frau hinter ihm, aber er ignorierte sie und ging weiter. Er hatte einen zu weiten Weg zurückgelegt, als dass er Hamza Rahim entkommen lassen würde.

In der Abendluft vermischte sich der Staub mit dem Rauch von Lagerfeuern und brennenden Tonnen. Aus allen Richtungen dröhnte Musik. Versteckte Dieselgeneratoren brummten und versorgten Plattenspieler, Soundsysteme und riesige Lichtershows mit Strom. Auf dem salzigen Wüstenboden wirbelten Tänzer brennende Kugeln an langen Ketten umher.

Hell beleuchtete Kunstinstallationen auf Rädern strahlten in den Nachthimmel hinauf.

Er drehte eine langsame Runde um das Lager, in dem das blaue Wohnmobil stand. Alle Besucher schienen sich in einem großen Zelt versammelt zu haben. Sie waren glücklich damit, einfach zu feiern und das Ende des Sandsturms abzuwarten.

Eine Gruppe Fahrradfahrer, die in aufeinander abgestimmte LED-Lichter gehüllt waren, fuhr an ihm vorbei. Dann ging Harvath auf das Wohnmobil zu.

Im Inneren war es dunkel. Er versuchte, durch mehrere Fenster etwas zu erkennen, aber die Rollos waren heruntergezogen. Ein Sonnenschutz bedeckte die Windschutzscheibe.

Er drückte sein Ohr gegen die Tür und lauschte. Nichts. Falls jemand in dem Campingwagen war, verhielt er sich sehr leise.

Harvath versuchte, die Tür zu öffnen, aber sie war verschlossen.

Er zog ein paar Dietriche hervor und warf einen Blick über seine Schulter, um sich zu vergewissern, dass er unbeobachtet war. War er. Innerhalb weniger Sekunden hatte er die Tür entriegelt, den Schalldämpfer auf seine Sig-Sauer-Pistole geschraubt und war in den Wohnwagen geschlüpft.

Selbst durch seinen Palästinenserschal hindurch roch es furchtbar in dem Wohnmobil – wie abgestandener Rauch und eine Toilette mit schlecht funktionierender Spülung. Er zog seine Schutzbrille ab. Er brauchte einen Augenblick, um sich an das Licht zu gewöhnen.

Halb leer gegessene Teller standen auf dem Tisch. In der Spüle stapelte sich das Geschirr. An einem der Schubladengriffe hing ein überquellender weißer Plastikmüllbeutel. Die Sitzbezüge waren zerschlissen, der Teppich war verschmutzt, und alles war von einer Sandschicht überzogen. Hamza Rahim lebte wie ein Tier.

Harvath bemerkte etwas, das auf dem Boden lag. Er bückte sich, um es aufzuheben. Ein paar Elektrokabel. Sein Puls schlug schneller.

Innerhalb der CIA war bekannt, dass Rahim geschickt worden war, um beim Burning Man die Lage im Vorfeld eines Anschlags auszukundschaften. Seine Aufgabe lautete, Informationen zu sammeln und sie an die höheren Stellen weiterzureichen. Harvath hatte den Auftrag, Rahim zu schnappen und sein Netzwerk zu zerschlagen – mit welchen Mitteln auch immer. Die Kabel legten jedoch nahe, dass die CIA mit ihren Informationen gefährlich weit danebenlag. Harvath hob seine Waffe und schlich in den hinteren Teil des Fahrzeugs.

Als Erstes überprüfte er einen kleinen Schrank. Doch darin befand sich nur Müll. Gegenüber stand ein Etagenbett. Beide Betten sahen so aus, als hätte jemand darin geschlafen. Ein schlechtes Zeichen. Rahim sollte angeblich allein sein.

Hinter dem Etagenbett befand sich das eigentliche Schlafzimmer. Auch in diesem Bett hatte jemand geschlafen.

Damit blieb nur ein Bereich, den er noch nicht abgesucht hatte: das Badezimmer.

Die Tür zum Bad war geschlossen. Harvath brachte sich neben der Tür in Stellung und drehte langsam den Knauf. Verschlossen.

Er lauschte, konnte aber nur das Wummern der elektronischen Musik hören, die draußen gespielt wurde.

Er stellte sich vor die Tür und trat mit seinem Stiefel direkt gegen den Knauf. Das gesamte Schloss brach aus der Tür und hinterließ nur ein Loch an der Stelle, wo sich der Mechanismus befunden hatte.

Da sich die Scharniere an der Außenseite befanden, müsste sich die Tür in den Wohnraum öffnen, nicht ins Bad.

Harvath nahm eine Hand von der Pistole und griff nach der Tür. In diesem Moment krachte sie ihm entgegen.

2

Ein arabisch aussehender Mann befand sich in dem Badezimmer und trat die Tür auf. Er schleuderte den Inhalt eines großen Plastikbechers in die Richtung, in der er Harvath vermutete.

Der hochgradig ätzende Cocktail aus Abflussreiniger und Haushaltsbleichmittel verfehlte Harvath und spritzte gegen die Wand und die Rollos links von ihm.

Harvath erwiderte den Angriff, indem er seine Pistole gegen das Nasenbein des Mannes rammte.

Sein Gegner bekam weiche Knie und sank langsam auf den Boden. Harvath schwang sich hinter ihn und nahm ihn mit dem linken Arm in den Würgegriff. »Wo ist Hamza Rahim?«

Der Mann musste gesehen haben, wie Harvath durch die Fenster des Wohnmobils gespäht hatte, oder er hatte ihn beim Betreten gehört. Er versuchte, sich aus Harvaths Griff zu befreien.

Harvath schlug ihn erneut mit seiner Waffe, dieses Mal seitlich gegen den Kopf. »Wo ist er? Wo ist Rahim?«

Der Angreifer wehrte sich immer noch. Deswegen richtete Harvath seine Pistole auf dessen linken Fuß und drückte ab.

Der darauf folgende Schrei war so laut, dass Harvath dem Mann den Mund zuhalten musste. Ansonsten würden die Schreie vielleicht ungewollte Aufmerksamkeit auf sich ziehen. »Sag mir, wo Rahim ist, oder ich schieße auch in den anderen Fuß!«

Der Mann versuchte, Harvath zu kratzen. Dabei fiel Harvath auf, dass ihm zwei Finger der linken Hand fehlten. Damit waren Harvaths schlimmste Befürchtungen bestätigt. Der Typ ist ein Bombenbauer.

Jetzt hatte er noch mehr Fragen. Aber Augen, Nase und Hals brannten ihm von der giftigen Gaswolke, die der Mann mit seiner Reinigungsmittelbombe freigesetzt hatte. Sie mussten schnellstmöglich raus aus dem Wohnmobil!

Mit dem linken Arm hielt Harvath immer noch den Hals des Mannes umklammert. Er drückte ihm den Schalldämpfer der Pistole in den Rücken und schob ihn so in den vorderen Teil des Wagens. Auf halbem Weg erschien jemand an der Tür.

Die Gestalt trug etwas, das wie eine Mönchskutte aussah, sowie eine gesichtslose Maske aus Chrom. Zudem hatte der Mann eine Waffe, und bevor Harvath reagieren konnte, begann er zu schießen.

Harvath benutzte den Bombenbauer als Schutzschild, bis er den leblosen Körper fallen lassen musste und in Deckung ging. Die Schüsse des Angreifers mit der Chrommaske bohrten sich in die Wände des Campingwagens.

Harvath wollte das Feuer erwidern, aber wegen der Giftwolke konnte er nichts sehen. Er konnte noch nicht mal atmen.

Er schoss auf eines der Rückfenster. Mit seiner Waffe brach er das zerborstene Glas aus dem Rahmen und hechtete nach draußen. Er fiel hart auf den Boden.

Sein Instinkt riet ihm, sich zum Schutz unter das Wohnmobil zu rollen, aber er wusste, dass Chlorgas schwerer als Sauerstoff war. Falls der Dampf aus dem Wagen dringen sollte, würde er sich darunter sammeln. Harvath musste sich schleunigst von dem Wohnmobil entfernen.

Er überzog die Front des Wohnmobils mit schallgedämpften Schüssen aus seiner Sig Sauer und rannte hinter einen Pick-up, der in der Nähe stand. Dabei hoffte er, dass der Sandsturm ihn dabei tarnen würde.

Hinter dem Geländewagen zog er die Schutzbrille wieder auf, straffte sein Palästinensertuch und versuchte, zu Atem zu kommen. Seine Lungen brannten. Er hatte keine Ahnung, ob seine Atemnot mehr vom Wüstensand oder dem Chlorgas herrührte. Er wusste nur, dass seine Brust höllisch schmerzte.

»Rahim ist nicht allein«, keuchte Harvath in sein Funkgerät. »Da war jemand anderes in dem Campingwagen.«

»Wer?«, fragte die Stimme.

»Ein Bombenbauer. Die sind nicht zum Auskundschaften hier, sondern für einen Anschlag!«

»Verdammt! Hast du sie erwischt?«

»Der Bombenbauer ist tot«, sagte Harvath, »aber Rahim ist geflüchtet. Er trägt eine braune Kutte und eine Maske aus Chrom. Lass die Drohne steigen!«

»Sie wird den Sturm nicht überleben.«

»Mir egal. Bring sie hoch! Sofort!«

»Verstanden«, antwortete die Stimme.

Harvath steckte ein neues Magazin in seine Waffe und gab einen letzten Befehl, bevor er hinter dem Pick-up hervortrat: »Das Evakuierungsteam soll sich aufteilen. Wir müssen Rahim finden.«

»Und dann?«

»Schalten wir ihn aus.«

Damit beendete Harvath seine Funknachricht und setzte sich in Bewegung.

Mike Haney war ein schlauer Kerl. Die CIA hatte ihn vor zwei Jahren angeheuert. Bevor er ihrer verschwiegenen paramilitärischen Abteilung Special Operations Group beigetreten war, hatte er als Force Recon Marine gedient. Harvath wusste, dass er sich auf ihn verlassen konnte.

Das Evakuierungsteam bestand aus vier weiteren, äußerst erfahrenen früheren Militärangehörigen: dem Navy SEAL Tim Barton, dem Delta-Force-Agenten Tyler Staelin, dem Green Beret Jack Gage und Matt Morrison, der wie Haney früher ein Force Recon Marine gewesen war.

Haney leitete den Einsatz von einem großen Tourbus aus, den sie als Einsatzzentrale verwendeten. Das Evakuierungsteam befand sich mehrere Blocks entfernt in einem umgebauten Golfwagen für sechs Personen.

Black Rock City war zwar für Fußgänger und Fahrradfahrer angelegt. Aber das Team hatte den Golfwagen auf das Gelände bringen dürfen, weil sie eine gefälschte Bescheinigung über einen körperbehinderten Mitfahrer vorgelegt hatten.

Unter einer Sitzreihe befand sich ein Stauraum, der gerade groß genug war, um Rahim darin zu verstecken und vom Festival zu schmuggeln. In dem Zwischenraum unter einer anderen Sitzreihe hatten sie ihre Waffen versteckt.

Den Wagen hatten sie mit Sprayfarbe, Lichterketten und Schwimmnudeln »dekoriert«, die sie auf dem Weg zum Festival gekauft hatten. Das Ganze sah bescheuert aus, aber das kümmerte sie nicht. Solange die Tarnung ihren Zweck erfüllte, war alles in Ordnung.

Rahim konnte nicht weit gekommen sein. Harvath schraubte den Schalldämpfer ab, verbarg die Waffe wieder unter seinem Mantel und lief von Zelt zu Zelt.

Neben einer Kunstinstallation, die aus Münztelefonen und der Aufforderung »Sprich mit Gott!« bestand, beschrieb Harvath mehreren Leuten Rahims Kostüm und fragte, ob sie seinen »Freund« gesehen hätten.

Eine Frau, die einen Motorradhelm trug und ansonsten herzlich wenig, zeigte auf eine Straße links von ihnen. Harvath dankte ihr und eilte davon.

Immer noch wehten Staubwolken durch Black Rock City, doch die Sichtverhältnisse besserten sich. Harvath gab Haney seine Position durch und wies ihn an, das Evakuierungsteam anrücken zu lassen. Unmittelbar nachdem er seine Befehle mitgeteilt hatte, sah er vor sich eine Gestalt in einer Kutte, die eine Chrommaske trug.

Harvath ging schneller und versuchte, den Abstand zu dem Mann zu verringern. Dieser schlängelte sich durch die Camps und quetschte sich an geparkten Autos, Zelten und Vorratskisten vorbei. Er vermied freie Plätze. Jemand hatte ihm sein Handwerk gut beigebracht.

»Wo ist meine Drohne, Haney?«, verlangte Harvath, als er über eine Palette mit Wasserflaschen sprang und die Verfolgung fortsetzte.

»Kommt! 30 Sekunden.«

»In 30 Sekunden ist der Typ weg. Beeil dich!«

»Ich seh ihn«, sagte eine andere Stimme über Harvaths Ohrenstöpsel. Er erkannte die Stimme. Es war Staelin, der Delta-Agent, der mit dem SEAL Barton ein Zweierteam bildete.

»Wo bist du?«

Staelin nannte ihm seine Position.

»Du bist noch zwei Blocks entfernt«, entgegnete Harvath. »Du hast den falschen Typen!«

»Quatsch. Ich seh ihn direkt vor mir. Braune Mönchskutte, Maske aus Chrom.«

3

»Bleib an ihm dran!«, befahl Harvath, der sich nicht sicher war, womit er es hier zu tun hatte oder wen er überhaupt verfolgte. »Aber er darf dich nicht sehen.«

»Verstanden!«, antwortete Staelin.

»Haney …«, setzte Harvath an, aber er wurde unterbrochen.

»Die Drohne ist jetzt über dir.«

Er zog einen kleinen Infrarotsender aus seiner Manteltasche und klemmte ihn an sein Revers, während er in Bewegung blieb.

»Hast du mich?«

»Warte«, antwortete Haney. Mit der Infrarotkamera der Drohne suchte er nach Harvaths blinkendem Signal. Dann meldete er sich wieder über Funk: »Ich hab dich.«

»Vor mir ist ein Typ, der eine Kutte trägt«, erklärte Harvath. »Selbe Richtung wie ich. Bewegt sich, als wäre er zu spät dran für ein Bewerbungsgespräch. Siehst du ihn?«

Haney machte eine Pause, bevor er sagte: »Negativ. Ich sehe nichts.«

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, dass ich ihn nicht sehe. Die Drohne kann ihn nicht finden.«

Plötzlich mischte sich eine weitere Stimme ein. Es war Morrison, der andere Marine, der mit dem Green Beret Gage unterwegs war. »Ich bin hinter ihm her.«

»Was ist deine Position?«, fragte Harvath.

Als Morrison durchgab, wo er sich auf dem Gelände befand, sagte Haney: »Du bist weit weg von Harvath oder Staelin. Ihr verfolgt drei verschiedene Ziele!«

Scheiße, dachte Harvath. Wie viele von diesen Typen gibt es hier?

»Schaltet eure Sender an!«, befahl er.

Ein mehrstimmiges »Verstanden!« erklang über den Funk, als die Männer ihre Infrarotgeräte einschalteten, die nur mithilfe der Drohnen-Infrarotkamera zu sehen waren. »Sender eingeschaltet.«

Die Kabelstücke und die Anwesenheit des Bombenbauers ließen vermuten, dass sich etwas Ungutes anbahnte. Aber ist der Anschlag für heute Abend geplant? Oder haben sie sich nur einen Überblick verschafft und warten noch zwei Tage, bis die meisten Burner hier versammelt sind? Schwer zu sagen. Er wusste nur, dass mindestens einer der Männer bewaffnet war. Und wenn einer bewaffnet war, dann waren es die anderen wahrscheinlich auch.

Über Funk gab Harvath Haney Anweisung, die beiden anderen Gestalten auf der Karte zu verorten. Er versuchte, sich den Aufbau von Black Rock City vor seinem geistigen Auge vorzustellen. Wo zum Teufel wollen die hin? Und, was noch wichtiger war: Hat Rahim da draußen noch weitere Unterstützer?

Die wichtigste Frage lautete jedoch: Wobei habe ich sie gestört? Wollten diese Männer gerade eine Bombe platzieren? Oder hatten sie das bereits getan? Oder hatten sie etwas komplett anderes vor?

Als kurz darauf Haneys Stimme in seinem Ohr zu hören war, hatte der keine guten Nachrichten. »Ich kann sie nicht sehen.«

»Liegt es am Wetter?«, fragte Harvath, aber sein Bauchgefühl verriet ihm, dass dies nicht der Grund war.

»Negativ. Was auch immer sie anhaben – es verbirgt ihre Wärmesignatur.«

Verdammt! Die kennen sich wirklich aus. Diese Typen wussten, wie sie einer Infrarot-Überwachung entgehen konnten. Harvaths schlimmste Befürchtungen bewahrheiteten sich.

»Angesichts der Richtung, in die sie sich bewegen – was glaubst du, wohin sie wollen?«, fragte er.

Haney studierte die Festivalkarte auf der Anzeige vor ihm. »Könnte alles Mögliche sein.«

»Denk wie diese Typen!«

»Das mache ich!«, entgegnete Haney. »Aber jedes einzelne dieser Camps symbolisiert irgendwas.«

Sie wurden von Staelins Stimme unterbrochen. »Unser Kerl hat gerade die Richtung geändert und ist scharf nach links abgebogen. Er geht jetzt Richtung Westen.«

Ein paar Augenblicke später gab Morrison durch: »Unsere Zielperson hat eine Abkürzung durch zwei Camps genommen und ist Richtung Osten unterwegs.«

Die verhüllte Gestalt, der Harvath folgte, hielt inne und sah sich um, als ob sie sich orientieren würde. Dann bewegte sie sich nach Norden. Sie wechseln alle ihre Richtung.

»Wo wollen sie hin, Mike?«, fragte Harvath und setzte seine Verfolgung fort. »Komm schon, was verbirgt sich dahinter?«

»Ich sagte doch schon, es könnte alles Mögliche sein.«

In diesem Moment mischte sich Morrison ein. »Ich weiß, wohin meine Zielperson unterwegs ist. Wir müssen ihn sofort außer Gefecht setzen.«

»Langsam!«, mahnte Harvath. »Wohin will er?«

»Kidsville. Das Familien-Camp.«

Mit einem Mal war die Lage noch wesentlich dringlicher geworden. Sie mussten etwas unternehmen.

Harvath durchquerte ein weiteres Lager und sah eine Rolle Gewebeklebeband an einer Zeltstange hängen. Er schnappte sich das Klebeband und setzte seinen Weg fort. Jetzt ging er schneller.

»Ist jemand nah genug dran, um sehen zu können, ob sie einen Schalter haben?«, fragte er.

Selbstmordattentäter waren oft mit einem sogenannten Totmannschalter ausgestattet. Dabei handelte es sich um einen Knopf, der die Bombe scharf machte, wenn er gedrückt wurde. Wenn ein Attentäter erschossen oder auf sonstige Weise ausgeschaltet wurde, führte das Loslassen des Knopfes dazu, dass die Bombe explodierte.

Möglicherweise verfügte der Attentäter auch über einen »Feiglingsschalter« – eine Ausfallsicherung, die den Bombengürtel mit einem Mobiltelefon verband. Wenn die Bombe nicht am vorgesehenen Ort zur richtigen Zeit losging, konnte jemand anderes sie aus der Ferne zünden.

Das Risiko, dass eines dieser Verfahren – oder beide – hier zum Einsatz kommen würde, machte die Lage nur umso gefährlicher.

»Negativ«, antwortete Staelin. »Ich kann nichts erkennen. Unsere Zielperson hat die Hände unter der Kutte.«

»Unsere ebenfalls«, sagte Morrison.

Auch Harvath hatte die Hände des Mannes, den er verfolgte, nicht gesehen – außer in dem kurzen Moment, als der Mann seine Waffe auf ihn gerichtet hatte.

Potenzielle Selbstmordattentäter zu überwältigen war nicht Teil dieses Auftrags gewesen. Harvath und sein Team sollten jemanden überwachen, der einen Terroranschlag plante, und ihn anschließend festnehmen. Sobald sie ihn aus Black Rock City rausgebracht hätten, sollten sie ihn zum Verhör an einen vorher vereinbarten Ort bringen. Die Schwerstarbeit blieb Harvath überlassen. Alle anderen waren zur Unterstützung hier.

Er wusste nicht viel über die Männer, mit denen er zusammenarbeitete. Aber er wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte. Sie würden auf jeden Fall das Richtige tun.

»Wie ist die Stimmung?«, fragte Harvath über die Funkverbindung. »Wenn jemand aussteigen will, dann jetzt!«

»Negativ«, lauteten sämtliche Antworten.

Harvath erklärte seinen Plan. »Gehen wir davon aus, dass sie bewaffnet sind und eine Sprengstoffweste tragen. Gehen wir auch davon aus, dass sie einen Schalter haben. Wenn sie den Knopf loslassen, ist es vorbei. Wenn ihr zuschlagt, konzentriert sich jeder von euch auf eine Hand. Verstanden?«

»Verstanden«, antworteten die Männer.

Haney wusste, dass Harvath kein Partner zur Seite stand. Seine Aufgabe war also noch schwieriger. Er musste ohne Hilfe die Hände der Zielperson in den Griff bekommen. »Ich kann in weniger als fünf Minuten bei dir sein«, bot Haney an.

Harvath sah in die Richtung, in die sein Ziel lief, und verstand, wohin der Attentäter unterwegs war: zum größten der Luxuscamps. Von beinharten Burnern wurde es am meisten abgelehnt. Es nannte sich Crystal Sky.

Dort wimmelte es von reichen und mächtigen Silicon-Valley-Managern. Ein erfolgreicher Anschlag auf Crystal Sky würde sich auf die ganze Tech-Industrie auswirken und weltweit Schlagzeilen machen.

»Kümmer dich um die Drohne«, befahl Harvath. »Und sorg dafür, dass Langley die Polizei informiert. Wenn hier noch mehr von den Typen sind, müssen wir sie schnell aufspüren.«

Sobald Haney dies bestätigt hatte, funkte Harvath Morrison und Staelin an. »Eure Teams können zuschlagen. Macht sie unschädlich.«

Von der Crystal-Sky-Bühne konnte er eine Hochgeschwindigkeitsversion von Rick James’ »Super Freak« hören. Die verhüllte Gestalt vor ihm bog in die dicht gedrängte Straße ab und bewegte sich auf den Eingang des Camps zu. Noch gut 180 Meter, und er würde das Camp betreten haben.

Harvath hatte keine Wahl. Es war Zeit zu handeln.

4

Die größte Herausforderung bestand für Harvath darin, dass ihn der verhüllte Mann nicht sehen durfte. Andernfalls hieße das: Game over. Aber sein Vorteil war, dass er das Ziel des Terroristen kannte.

Der Sandsturm flaute langsam ab. Dadurch wurde die Sicht zunehmend besser. Harvath bewegte sich durch die Menschenmenge und achtete darauf, dass der Mann nicht auf ihn aufmerksam wurde.

Die Menschen drängten sich dichter aneinander, während sie auf den Eingang zugingen. Das Innere des Lagers sah aus wie ein mit Leuchtstäben und LED-Springseilen durchsetzter Moshpit. Über den Köpfen der tanzenden Menge pulsierten phosphoreszierende Quallen.

Harvaths Blick blieb auf den Mann gerichtet. Er versuchte, ihm seinen Willen aufzudrängen: Zeig mir deine Hände, du Mistkerl. Mach schon. Ich will sie sehen.

Wie zur Antwort auf Harvaths stilles Gebet bewegte sich die Menge plötzlich vorwärts, wobei ein betrunkener Burner gegen den verhüllten Mann stieß. Der Terrorist stolperte nach vorn.

Er zog nur seine linke Hand aus der Robe. Nachdem er sich an der Person vor ihm abgestützt hatte, versteckte er seine Hand schnell wieder. Er hielt also nichts in der Linken. Mehr musste Harvath nicht sehen.

Harvath drängte sich zwischen den Festivalbesuchern hindurch und brachte sich in Fünf-Uhr-Position hinter dem Terroristen in Stellung. Er holte tief Luft, ignorierte seine schmerzende Lunge und sprang auf den Mann zu. Harvath schlug ihm direkt hinters Ohr und packte gleichzeitig seine rechte Hand. Mit der hielt der Vermummte einen Schalter umklammert.

Die Knie des Terroristen gaben nach, und er ging zu Boden. Harvath landete auf ihm. Leute begannen zu schreien.

»Totmannschalter!«, rief Harvath in sein Mikrofon, damit Haney und der Rest seines Teams Bescheid wussten.

Auf dem sandigen Boden begann Harvath, dem Terroristen seinen Ellbogen ins Gesicht zu rammen. Als die Chrommaske zerbrach, konnte er das Gesicht des Mannes sehen. Es war Rahim. Harvath verabreichte ihm zwei weitere Schläge und zerschmetterte Rahims Nase.

Ein paar Burner, denen nicht klar war, worum es hier ging, wollten Harvath von dem Terroristen wegziehen. Harvath trat einem von ihnen in den Magen und brachte einen weiteren mit dem nächsten Tritt zu Fall.

Anstatt Abstand zu nehmen, versuchten die Burner umso entschlossener, die beiden Gegner auseinanderzubringen. Die Schwachköpfe hatten keine Ahnung, was sie anrichteten.

Sie bildeten eine Gruppe, wappneten sich für den Kampf und bewegten sich auf Harvath zu. Harvath hatte keine Alternative.

Er zog seine Sig Sauer und schoss dreimal in die Luft. Sofort verzog sich die Gruppe.

Rahim bewegte sich, und Harvath versetzte ihm erneut einen Stoß mit dem Ellbogen. Da er nicht wusste, wie viel Zeit ihm blieb, ließ er seine Pistole fallen und griff nach dem Klebeband, das er hatte mitgehen lassen.

Mit den Zähnen hielt er das Ende des Klebebands fest. So stramm, wie er konnte, wickelte er das Band um Rahims Hand mit dem Totmannschalter. Selbst wenn der Terrorist den Zünder hätte loslassen wollen, wäre es nicht möglich gewesen.

Sobald Harvath mit dem Ergebnis zufrieden war, wickelte er das Klebeband noch ein paarmal um die Hand. Über seinem Ohrenstöpsel hörte er, dass Staelin und Morrison ebenfalls ihre Zielpersonen neutralisiert hatten.

Harvath zog sein Messer und schnitt Rahims Mönchskutte auf. Sie war mit einem Material gefüttert, das wie eine Rettungsdecke aussah. Wahrscheinlich hatte es seine Wärmesignatur gedämpft. So etwas wie diese Sprengstoffweste hatte Harvath jedoch noch nie gesehen. Der Terrorist trug genug Sprengstoff mit sich, um ein ganzes Gebäude einstürzen zu lassen.

Harvath suchte nach einem Feiglingsschalter, aber den schien es nicht zu geben. »Gott sei Dank«, sagte er, als er Rahim die Pistole abnahm und auch seine eigene wieder aufhob.

Er setzte sich wieder und nahm sich einen Moment Zeit, um zu Atem zu kommen. Dann verkündete er: »Ziel neutralisiert.« Wir haben es geschafft.

Der Moment dauerte jedoch nicht lange. Ihm ging bereits all das durch den Kopf, worum sie sich kümmern mussten. Wenn er hierblieb, würde die örtliche Polizei ihn finden. Dann würde er Rahim verlieren und der Terrorist würde außer Reichweite der CIA verwahrt werden. Sein Auftrag war also noch nicht erledigt. Sie mussten die Terroristen aus der Wüste holen und verhören.

»Haney«, sagte Harvath und zwang sich aufzustehen. »Ich gehe mit Rahim nach Westen. Sag dem Piloten, sie sollen sich bereit machen. Dann schnapp dir den Golfwagen und hol uns ab. Beeil dich.«

Harvath zog den Terroristen auf die Beine und schleifte ihn in Richtung des Stadtrands von Black Rock City, wo ihr Fluchtwagen stand.

Was der Rausch aus Leuten machte, war immer wieder erstaunlich. Als sich Harvath mit seinem Gefangenen in Bewegung setzte, wollte eine weitere Gruppe vom Alkohol ermutigter Burner sie aufhalten.

Harvath deutete auf Rahims Sprengstoffweste, aber die Burner schienen die Weste für ein Kostüm zu halten. Dann schwenkte Harvath seine Waffe, und die Burner verstanden offenbar, was er ihnen mitteilen wollte. Harvath hatte ernsthaft in Betracht gezogen, ein paar weitere Schüsse in die Luft abzugeben, aber die Burner traten auch ohne diese Maßnahme einen Schritt zurück. Mit einem Kopfschütteln stieß Harvath den Terroristen vor sich her.

Während der Crystal-Sky-DJ von Rick James zu George Clinton überging, füllte Harvath seine Lunge mit einem weiteren tiefen Luftzug.

Genau in diesem Moment ließ ein weiterer Selbstmordattentäter seine Bombenweste in der Mitte von Black Rock City hochgehen.

5

Am nächsten Morgen

Reggio di Calabria, Italien

Rafschan Tursunow rieb mit seinen rauen Händen eine gelbe Zitronenschale gegen den Rand einer Espressotasse aus Porzellan.

Er hatte der planlosen italienischen Kellnerin gesagt, dass er »keinen Zucker« benötige, aber sie hatte dennoch Zucker gebracht. Er schmiss ihn wie zwei braune Würfel auf die gepflasterte Straße. Zucker gehörte zu den vielen Dingen, die er aufgegeben hatte. Ebenso wie Brot, Reis und Pasta. Der Arzt hatte darauf bestanden. Wenn die Verwandlung funktionieren sollte, musste er 40 Pfund verlieren.

Als gehorsamem Muslim blieben ihm nur wenige Laster. Kaffee war eines davon. Zigaretten waren ein weiteres, auch wenn der Islamische Staat sie verboten hatte.

Er war zu einem Experten für beide Laster geworden. Mit dem Geld, das sie ihm zahlten, konnte er sie sich auch problemlos leisten.

In seinem Heimatland Tadschikistan war das Einzige, was noch schlechter schmeckte als der Kaffee, die Zigaretten. Das galt umso mehr für Syrien. Mittlerweile hatte er jedoch beide Länder hinter sich gelassen.

Das winzige Café ganz in der Nähe des Wassers war eines der bestgehüteten Geheimnisse der Stadt. Und auch wenn die Bedienung nicht viel taugte, war der Barista ein Michelangelo des Kaffees.

Sowohl die Russen als auch die Amerikaner hatten ihm beigebracht, niemals denselben Ort mehr als einmal aufzusuchen. Manche Dinge im Leben waren es jedoch wert, eine Ausnahme zu machen. Dieses Café war so eine Ausnahme. Außerdem kannte ihn hier niemand.

Er sah zu seinem Spiegelbild auf der Glastür des Cafés. Er hatte sich noch nicht an den Anblick gewöhnt. Blepharoplastik und Kanthoplastik hatten seine Augenlider weicher gemacht, damit er weniger eurasisch aussah. Dank Rhinoplastik war seine Nase jetzt schmaler, ein Höcker war entfernt worden und die Spitze war pointierter.

Mit einem otoplastischen Verfahren war die Form seiner Ohren ausgebessert worden, indem die Ohrenläppchen verkleinert wurden. Wangen- und Kinnimplantate verliehen seinem Gesicht vornehmere, abgerundete Züge.

Eine Haartransplantation hatte das Problem seiner Glatzköpfigkeit gelöst und ihm volles Haupthaar verliehen. Die Überreste seines Rettungsrings um die Hüfte waren abgesaugt worden.

Mit anderen Worten: Der pakistanische Chirurg hatte hervorragende Arbeit geleistet. Die Operationen hatten kaum Narben hinterlassen, und in weniger als zwei Wochen war er bereit für sein neues Passfoto gewesen. Der Trip nach Lahore hatte sich gelohnt.

Und nun war er endlich in Europa.

Der Selbstmordanschlag in Amerika beherrschte überall die Schlagzeilen. Von seinem Tisch auf der Terrasse aus konnte er den Fernseher im Inneren des Cafés sehen. Die gezeigten Szenen waren mit Handykameras aufgenommen worden. Festivalbesucher liefen blutverschmiert umher, viele davon im Schockzustand. Andere wanden sich voller Qualen auf dem Boden. Etliche Menschen hatten Gliedmaßen verloren. Noch mehr waren tot. Aber nicht einmal ansatzweise genug.

Zeugenaussagen zufolge hatte es eine enorme Explosion gegeben. Es hätten vier sein sollen. Irgendetwas war schiefgegangen.

Anschlagsziel und -methode waren seine Idee gewesen. Er hätte stärker in den Anschlag eingebunden sein wollen. Aber seine Oberen hatten andere Pläne. Sie wollten das Risiko, ihn in die Vereinigten Staaten zu schmuggeln, nicht eingehen. Sie wollten, dass er sich auf Europa konzentrierte. Dort brauchten sie ihn am dringendsten.

Aber was sollte er tun, falls sich verdeckte Vermittler in die US-Zelle eingeschlichen hatten und sich die Amerikaner bis an die Spitze der Organisation durcharbeiteten?

Die Vorstellung hatte ihn schon den ganzen Morgen verfolgt, aber er wollte nicht mehr darüber nachdenken. Er hatte selbst zu viele Probleme, allen voran den Verlust seines Chemikers.

Die Inkompetenz regte ihn immer noch furchtbar auf. Das Boot hätte niemals in See stechen sollen – nicht bei einem solchen Sturm und erst recht nicht ohne Rettungsboote oder wenigstens Rettungswesten.

Die Menschenschmuggler waren dieses Risiko bereitwillig eingegangen. Sie interessierten sich ausschließlich für das Geld. Deswegen verlangten sie immer, im Voraus bezahlt zu werden.

Wenn es nach Tursunow gegangen wäre, hätten die Schmuggler ihre Bezahlung erst bei Ankunft des Bootes erhalten. Vor allem mit jemandem an Bord, der so wertvoll wie Mustafa Marzouk gewesen war. Wie sie ihn zu diesem späten Zeitpunkt noch ersetzen sollten, erschloss sich ihm nicht.

Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Straße zu und zog eine Packung Treasurer-Zigaretten aus der Tasche seines Jacketts. Er zog die Aluminiumfolie ab. Die Zigaretten hatten goldene Filter und sahen wie kleine Kunstwerke aus. Tursunow steckte sich eine davon zwischen die Lippen, zündete sie mit einem Streichholz an und inhalierte tief.

Wir haben so viel investiert, dachte er. So viel in Bewegung gesetzt. Zu viel, um jetzt einen Rückzieher zu machen. Das Gewicht der Operation lastete schwer auf seinen Schultern.

Er schüttelte seine Armbanduhr unter seinem Hemdsärmel hervor und kontrollierte die Uhrzeit. Es war fast neun.

Langsam ausatmend legte er ein paar Münzen auf den Tisch, schlürfte den Rest seines Espressos und verließ die Terrasse. Er wollte sich einen Eindruck von dem Ort verschaffen, an dem er abgeholt werden würde, bevor es losging.

Reggio befand sich an der Spitze des italienischen Stiefels. Östlich davon befand sich der Aspromonte und westlich die Straße von Messina, die die italienische Halbinsel von Sizilien trennte.

Unter bestimmten Wetterverhältnissen kam es hier zu einer Fata Morgana und es entstand der Eindruck, dass in ein paar Metern Entfernung in Sizilien Leute spazieren gingen. Dabei war Sizilien mehrere Kilometer entfernt.

Heute trat allerdings keine Illusion auf. Die Sonne schien, und die Temperatur kletterte bereits in die Höhe.

Auf seinem Weg bewunderte Tursunow die exotischen Palmen und prächtigen Magnolien. Reggio wurde auch die »Stadt der Bergamotte« genannt, eine angenehm duftende, grüne und genoppte Zitrusfrucht mit gelbem Fruchtfleisch. Sie wuchs ausschließlich in der Region und wurde für die Aromatisierung von Parfüms und Earl-Grey-Tee verwendet.

Reggio war eine Hafenstadt mit einer florierenden Fischereigemeinde. Aber auch die Landwirtschaft in der Umgebung spielte eine wichtige wirtschaftliche Rolle. Von Frühling bis in den Herbst strömten Touristen an Reggios Strände und das himmelblaue Meer.

In einem heruntergekommenen Viertel unweit des Castello Aragonese gab es ein kleines Lokal mit einem schmalen Tresen, das Eis und Gebäck verkaufte. Es hieß Ranieri. Gleich daneben befanden sich ein leer stehendes Grundstück und dahinter ein ausgebranntes Gebäude, das seit Langem dem Verfall überlassen worden war.

Graffitis waren auf die Wände mehrerer Gebäude gesprüht. Die Fenster anderer Häuser waren mit Gittern verriegelt. Unter dem Neonschild einer Biermarke bedeckten Zigarettenstummel den Gehweg wie tote Motten. Tursunow fügte seinen eigenen Stummel dem Haufen hinzu und trat durch die Hintertür.

Ein korpulenter Mann in zerknittertem Hemd saß hinter dem Tresen und polierte ohne große Leidenschaft Gläser. Er hatte dunkle Augenränder und hatte sich seit Tagen nicht rasiert. Er sah so aus, als hätte er wochenlang kein Bett und keine Badewanne mehr gesehen.

Tursunow schnappte sich einen Hocker am Tresenende. Er wollte mit dem Rücken zur Wand sitzen und die Tür im Blick behalten, die sich zur Straße öffnete.

Die verschlissene Inneneinrichtung hatte schon bessere Tage gesehen. Jahrzehntealte Sport- und Rockband-Poster waren mit Reißzwecken an die Wände geheftet.

Der Barkeeper grüßte ihn nicht. Es schien ihn zu ärgern, dass er nun einen Gast hatte. Er unterbrach die Gläserpolitur und hob eine Augenbraue in Richtung des Fremden.

»Negroni«, erklärte Tursunow, während er die Gazzetta di Reggio vor sich auf den Tresen legte und die Kleinanzeigen aufschlug.

Der Barkeeper sah ihn an, sah auf die Zeitung, und fing wieder an, das Glas zu polieren. Kurz darauf stellte er das Glas auf das Regal hinter ihm und machte sich an die Zubereitung des Cocktails.

Tursunow hätte lieber einen weiteren Kaffee getrunken, aber er war angewiesen worden, den Negroni zu bestellen. Die Bestellung und die Zeitung dienten als Erkennungszeichen.

Da ihm eine Zutat fehlte, rief der Barkeeper etwas in Richtung Küche. Tursunow konnte das italienische Wort für Orange ausmachen, Arancia, aber nicht viel mehr.

Kurz darauf tauchte die Frau des Barkeepers mit einer Tasse Orangenschalen auf. Sie warf einen Blick auf Tursunow, nahm ihn aber kaum zur Kenntnis. Aus ihrem Mund baumelte eine Zigarette, an der gut ein Zentimeter Asche hing.

Sie stellte die Tasse auf die Theke, zog ein iPhone aus ihrer fleckigen Schürze und tippte eine Nachricht, während sie sich zurück in die Küche begab.

Drei Minuten später fuhr draußen ein schwarzer Mercedes mit dunklen Fensterscheiben vor und hielt an.

6

Tursunow war einen Tag zuvor nach Italien geflogen, um sich umzuschauen. Wenn es keine Probleme gab, würde er das Land heute Abend wieder verlassen. Alles hing davon ab, wie das Treffen laufen würde.

Die zwei Männer, die ihn mitnehmen sollten, waren schwere Brocken. Tursunow war knapp 1,80 Meter groß und wog 80 Kilo. Die beiden Männer mussten mindestens 1,90 Meter groß sein und mehr als 90 Kilo auf die Waage bringen. Damit war eine Botschaft verbunden: Versuch keine Tricks.

Sie verlangten sein Handy. Als er es aushändigte, steckten sie es in eine Tasche, die speziell dazu diente, das Senden und Empfangen von Signalen zu unterbinden. Er erwartete fast, dass ihm die Augen verbunden werden würden, aber die Männer verzichteten darauf. Nachdem sie ihn nach Waffen durchsucht hatten, ließen sie ihn auf dem Rücksitz des Mercedes Platz nehmen und fuhren anschließend aus der Stadt.

Während die beiden Männer auf den Vordersitzen Radio hörten, betrachtete Tursunow die Landschaft, die sich veränderte, während sie sich durch die Ausläufer und dichten Wälder des Aspromonte schlängelten.

Sie durchquerten Oliven- und Bergamottehaine. Überall wuchsen Eichen. Je höher sie stiegen, desto mehr Kiefern, Buchen und Sizilianische Tannen sah Tursunow. Die Landschaft war ebenso rau wie schön. Auf den Straßen war allerdings schon bald niemand mehr unterwegs.

Sie fuhren in eine der gefährlichsten Gegenden Italiens. Der Aspromonte war auch als Hochburg der ’Ndrangheta, der kalabrischen Mafia, bekannt. Sowohl Touristen als auch Italiener mieden die Region.

Die südliche Spitze Italiens war größtenteils verarmt, aber die Umgebung des Aspromonte erst recht. Erdbeben, Bergstürze und der eiserne Griff der ’Ndrangheta hatten ihre Spuren hinterlassen. Der Mercedes fuhr durch ein verlassenes Dorf nach dem anderen. Jedes davon war noch verwahrloster als das vorherige.

Tursunow hatte angenommen, dass ihr Ziel irgendwo in der Nähe der Hauptstadt der ’Ndrangheta lag, einem Dorf auf der östlichen Seite des Aspromonte, das San Luca hieß. Stattdessen endete ihre Fahrt vor einer kleinen Stadt auf einem Hügel westlich eines Berges namens Monterosso.

Sie verließen die Hauptstraße und folgten einem kleinen Schotterweg, der an einem Bach entlangführte. Nach einer schmalen Brücke weitete sich der Weg.

Hier und da konnte Tursunow Kapernsträucher und stachelige Kakteen sehen. Vor ihnen befand sich ein halb zerfallenes Bauernhaus aus Stein.

Früher einmal musste das Haus ein beeindruckendes Gebäude gewesen sein: massiv, mit zwei Meter dicken Wänden und einem schrägen Dach aus Terrakottaziegeln. Bougainvilleen hingen von einem alten Balkon herunter. Teile des Hauses waren immer noch von Jasminstreifen überwachsen.

Der Fahrer parkte vor dem Haus und schaltete den Motor ab. Tursunow wartete keine Aufforderung ab. Er stieg aus, um sich die Beine zu vertreten.

Es war warm hier, wärmer als in Reggio. Tursunow sah in den blauen Himmel. Er konnte nicht anders. Er hatte drei Drohnenangriffe überlebt. Den letzten davon nur knapp. Seine Frau hatte nicht so viel Glück gehabt.

Jeden Tag bereute er seinen Vorschlag, sie solle ihn nach Syrien begleiten. Es hätte keine Rolle spielen dürfen, dass die anderen Kämpfer ihre Frauen mitgebracht hatten. Dass der IS ihm aufgrund seiner Rolle in der Organisation ein Haus zur Verfügung stellte. Dass sie keine Kinder hatten und aneinander hingen. Dass sie ebenso dringend wie er aus Tadschikistan fliehen wollte. Er hätte sie zurücklassen sollen. Dann wäre sie vielleicht noch am Leben.

Er schloss die Augen. Die Sonne stand fast direkt über ihm. Er spürte ihre Wärme auf dem Gesicht und hörte aus der Ferne Vögel in den Bäumen zwitschern. Eine aufkommende Brise trug den Duft von Rosmarin zu ihm. Einen Augenblick lang versuchte er, an nichts zu denken und einfach ruhig zu sein. Aber so plötzlich, wie der Augenblick begonnen hatte, endete er auch wieder.

Sie hörten, wie sich auf der Straße zwei Autos näherten. Er atmete tief ein und öffnete die Augen. Zurück ins wahre Leben.

Er zog eine Zigarette aus der Packung, steckte sie sich in den Mund und lehnte sich gegen den Mercedes. Während er ein Streichholz anzündete, beobachtete er, wie sich zwei marineblaue Range Rover näherten und hinter sich eine Staubwolke aufwirbelten.

Das waren auffällige Autos, vor allem in diesem Teil Italiens. Das war wahrscheinlich Absicht. Kurz vor Ende der Auffahrt bog einer der Range Rover zu einem großen Nebengebäude ab. Der andere Wagen rollte bis zu dem Mercedes und parkte dort.

Ein bulliger Leibwächter stieg vom Beifahrersitz und öffnete die Hintertür.

Als Erstes sah Tursunow einen zierlichen Fuß in Gucci-Schuhen. Es folgte eine kleine, manikürte Hand, an der eine sehr große Golduhr hing. Antonio Vottari war eingetroffen.

Mit seiner Größe von 1,65 Meter war er in ganz Kalabrien als La Formícula bekannt – die Ameise. Er war ein Neffe innerhalb einer der mächtigsten kriminellen Familien der ’Ndrangheta. Seine Brutalität war der Stoff von Legenden.

Gerüchten zufolge lebte der Mann für die Rache. Angeblich war dies der einzige Grund, weshalb er morgens das Bett verließ.

Tursunow musterte ihn. Er war Anfang 30, dünn, blasse Haut. Seine Augen waren schwarz wie die einer Krähe. Seine spitze Nase sah aus wie ein Schnabel.

Er trug einen teuren Anzug, der wahrscheinlich maßgeschneidert war. Seine Manschettenknöpfe passten zu dem Gold seiner Uhr. Seine Haare waren mit viel Öl zurückgekämmt, sodass sie so nass aussahen, als wäre er gerade aus einem Swimmingpool gestiegen. Selbst durch den Rauch seiner Zigarette konnte Tursunow sein Aftershave riechen.

Als Vottari sich bewegte, tat er es wie ein Dschungeltier. Der Blick aus seinen dunklen Augen war starr auf Tursunows eigene Augen gerichtet. Er schien alles um sich herum zu registrieren, jede Person, jeden Stein, jeden Grashalm. Jeder seiner Schritte war bewusst geplant und selbstsicher. Dies hier war sein Territorium. Er entschied, ob du am Leben bliebst oder nicht.

Innerhalb eines Sekundenbruchteils nachdem der Kalabrier aus dem Auto gestiegen war, wusste Tursunow, wie er ihn töten würde. Zunächst galt es aber, sich ums Geschäft zu kümmern. Mit einem Lächeln streckte er seine rechte Hand aus. »Schön, Sie zu sehen, Signore. Danke, dass Sie sich mit mir treffen.«

»Fangen wir an«, entgegnete Vottari und erwiderte den Händedruck.

»Wie Sie wünschen. Haben Sie alles?«

»Wir haben genug.«

Tursunow sah ihn an. »Wie bitte?«

Der Italiener machte eine Kopfbewegung in Richtung des Nebengebäudes. »Kommen Sie. Hier lang.«

Tursunow verstand nicht, was er mit genug gemeint hatte, aber er hielt mit Vottari Schritt. Zwei Leibwächter folgten ihnen. Der Rest blieb bei den Autos.

Der Weg war von Unkraut überwuchert. Während sie auf das Gebäude zugingen, sah Tursunow wieder in den Himmel. Das hier ist Italien, sagte er sich. Hier gibt es keine Drohnenangriffe.

Andernfalls, wandte eine Stimme in seinem Kopf ein, wäre es der perfekte Moment, erst einmal abzuwarten, bis sich alle im Haus befinden.

Tursunow spürte, wie sich ein Hauch von Paranoia am Rande seines Verstands regte, aber er unterdrückte sie. Er musste die Kontrolle behalten.

An der Eingangstür des Gebäudes deutete Vottari auf Tursunows Zigarette. »Kein Rauchen im Haus!«

Der Italiener war übervorsichtig. Dennoch fügte sich Tursunow. Er nahm einen letzten Zug und ließ die Zigarette auf den Boden fallen. Er drückte sie mit dem Absatz aus.

Als er den Rauch ausatmete, warf er erneut einen Blick in den Himmel und folgte dem Mann ins Innere.

Die Mauern bestanden aus Zementblöcken. Das Gebäude schien ein Stall gewesen zu sein.

»Keine Sorge«, sagte Vottari, der offenbar seine Gedanken gelesen hatte. »Schafe, keine Schweine.«

Im Islam war der Kontakt mit Schweinen verboten, ebenso wie der Kontakt mit Alkohol. Offensichtlich wusste der Italiener das. Vottari wollte ihn ärgern. Deswegen hatte er ihn in eine Bar beordert und ihn einen Negroni bestellen lassen. Und deswegen war sich Tursunow auch sicher, dass sie sich auf einer Schweinefarm befanden.

Er würde den Tod des kleinen Mafioso doch noch etwas langwieriger und qualvoller gestalten müssen.

»Kommen Sie, kommen Sie!«, sagte Vottari und winkte ihn vorwärts. Auf einem langen Tisch waren drei olivgrün angemalte Holzkisten aufgereiht. Die Deckel waren entfernt worden, so wie auch ein Teil des Verpackungsstrohs.

Tursunow studierte die Beschriftung der ersten Kiste, bevor er den Inhalt herausnahm und die Einzelteile zusammensetzte.

»Nicht Ihr erstes Mal«, vermutete der Italiener.

Bevor er dem IS beigetreten war, hatte Tursunow in der tadschikischen Armee und einer Elite-Polizeieinheit gedient. Doch das ging Vottari nichts an. Deswegen ignorierte er ihn.

Er ging zur zweiten und dritten Kiste über, inspizierte ihre Aufschrift und die Inhalte.

»Wo ist der Rest?«

Der Italiener grinste. »Vertrauen Sie mir nicht?«

Tursunow sah auf die Haufen getrockneter Schweinescheiße auf dem Boden – denn um nichts anderes handelte es sich, nahm er an – und lächelte zurück. »Wo ist der Rest?«, wiederholte er.

»Den bekommen Sie, wenn ich mein Geld habe. Die Hälfte jetzt, die andere Hälfte bei Lieferung.«

Tursunow schüttelte den Kopf. »Wir haben vereinbart, dass ich die Ware überprüfen kann. Vor der Lieferung.«

Vottari schnipste mit den Fingern, und einer seiner Männer reichte ihm ein Tablet.

»Was soll das?«

»Hier sind Bilder Ihrer Waren.«

Tursunow swipte verärgert durch die Fotos.

»Sie können alle Beschriftungen und Seriennummern deutlich erkennen«, erklärte der Italiener.

»So haben wir das nicht vereinbart.«

»Wir haben etwas Ähnliches vereinbart.«

Tursunow überlegte kurz. Dann sagte er: »30 Prozent.«

»Mein Freund, das hier ist keine Verhandlung.«

»Und auch keine Geschäftsbeziehung«, entgegnete er und gab dem Italiener das Tablet zurück. »Wir geben unser Geld jemand anderem. Viel Glück beim Verkauf.«

»Pazzo«, kicherte Vottari seinen Männern zu. Verrückt. Aber verrückt gefiel Vottari. Um so verrückt zu sein, musstest du Eier haben.

Er ließ Tursunow den ganzen Weg bis zum Bauernhaus laufen, bevor er seine Männer losschickte, um ihn zurückzuholen.

Als Tursunow wieder vor ihm stand, sagte Vottari: »Die von Ihnen bestellte Ware war sehr schwer zu organisieren. Nur ein Schwachsinniger würde alles zusammen am selben Ort aufbewahren. Sollte der Ware etwas zustoßen, bevor ich mein Geld bekommen habe, wäre das sehr schlecht.«

Tursunow antwortete nicht. Der Italiener hatte keine Frage gestellt, sondern eine Feststellung gemacht. Wer meinte, ein unangenehmes Schweigen beenden zu müssen, schwächte seine Position.

»40 Prozent«, bot der Italiener an. »Und Sie erlauben mir, die Lieferadresse zu ändern.«

»Warum das? Und wo soll das sein?«

»Ein sichererer Ort. Nicht weit von dem Ort entfernt, den wir vereinbart haben.«

Sicherer? Das gefiel Tursunow nicht. Vottari veränderte alle Bedingungen ihres Deals. »25 Prozent.«

»Molto pazzo!«, rief der Italiener und lächelte. »30 Prozent, und ich lege zwei von denen hier drauf. Gratis.«

Er nickte einem seiner Männer zu, der eine kleinere Kiste aus dem Kofferraum des Range Rovers holte, und brachte sie zur Begutachtung in das Gebäude.

Tursunow hob den Deckel. Splittergranaten. Er brauchte sie nicht für seinen Plan. Aber es war besser, etwas zu haben, das man nicht brauchte, als etwas zu brauchen, das man nicht hatte. »Abgemacht.«

Vottari schüttelte Tursunows Hand, ließ aber nicht los. »Denken Sie dran«, warnte er, »dass die gesamten Waren Italien verlassen müssen. Bringen Sie sie nach Frankreich. Oder nach Deutschland. Oder auf den Mond. Mir egal. Aber wenn ich rausfinde, dass Sie das nicht getan haben, sind Sie und Ihre Leute tot. Sie alle.«

Tursunow lächelte ungerührt zurück und erwiderte: »Das Letzte, was ich und meine Leute wollen, ist Ärger. Vor allem nicht mit Ihnen und Ihren Leuten.«

7

Samstag

Washington, D. C.

Das kleine Haus des Schleusenwärters war nur eine kurze Autostrecke von D. C. entfernt und stand am Chesapeake and Ohio Canal. Es war ein gedrungenes, zweistöckiges Gebäude aus Steinen aus der Gegend und weiß angemalt.

Die Fensterläden und die Tür waren blau wie Rotkehlcheneier. Daher stammte auch der Spitzname des Hauses.

Im Gegensatz zu anderen Schleusenhäusern im C&O National Historic Park, die zum Übernachten gemietet werden konnten, war das »Blaue Schleusenhaus« für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Und das aus gutem Grund. Eigentümer und Instandhalter war die Central Intelligence Agency.

Als einer der vielen sicheren Unterschlupfe der Agency war das Haus während des Kalten Krieges ausgiebig zur Nachbesprechung mit hochkarätigen sowjetischen Überläufern genutzt worden. Aktuell wurde es für äußerst wichtige und äußerst diskrete Treffen verwendet.

Als Harvath vorfuhr, sah er drei schwer gepanzerte SUVs, die vor dem Haus parkten. Die vor dem Eingang Wache stehenden Agenten der Sicherheitsabteilung hatten trotz ziviler Kleidung eine starke »Leg dich nicht mit uns an!«-Ausstrahlung. Einen solchen Eindruck zu vermitteln war eine wichtige Voraussetzung für den Job.

Noch wichtiger waren Kenntnisse und Fähigkeiten. Terroristen auf der ganzen Welt hätten nur allzu gern die zwei Leute in ihre Finger bekommen, die sich in dem Haus aufhielten.

Harvath stellte seinen Chevy Tahoe auf dem Gras ab und gab dem leitenden Agenten die Hand, einem Mann namens Haggerty. Sie plauderten kurz miteinander.

Haggerty hatte an der University of Notre Dame studiert. Harvath, ein Absolvent der University of Southern California, erklärte stets, dass der Mann nichts dafürkönne. Seine Eltern hätten offenkundig nicht viel auf ihn gegeben.

Es war eine muntere Stichelei, die auf der weit zurückreichenden Rivalität zwischen den beiden Universitäten beruhte. Haggerty hatte größtmögliches Vertrauen in das Footballteam, das Notre Dame dieses Jahr aufs Feld schickte. Sein Vertrauen war in der Tat so groß, dass er eine Wette auf das Spiel gegen USC abschließen wollte.

Nachdem er ihn daran erinnert hatte, dass der Code of Federal Regulations das Glücksspiel während der Arbeit für eine US-Behörde verbot, grinste Harvath und stimmte den gebotenen 100 Dollar zu.

»Und nur Bargeld!«, präzisierte Haggerty. »Nicht diesen Bitcoin-Quatsch.«

Harvath lachte, und sie schüttelten sich die Hände. Er wandte sich ab, stieg die drei Schieferstufen zu dem Schleusenhaus hinauf und klopfte.

»Herein!«, antwortete eine Stimme. »Die Tür ist offen.«

Harvath trat ein und fand den CIA-Direktor Bob McGee und die stellvertretende Direktorin Lydia Ryan an einem abgenutzten Holztisch vor.

McGee war Anfang 60. Er hatte dunkles, gewelltes Haar, das immer schneller ergraute. Sein markantestes Merkmal war jedoch sein dichter Schnurrbart. Einen Schnurrbart dieser Art gab es nur selten in Washington zu sehen, und noch seltener in Regierungskreisen.

Ryan war eine wunderschöne Frau. Sie war die 1,50 Meter große Tochter eines irischen Vaters und einer griechischen Mutter. Sie hatte lange schwarze Haare und dunkelgrüne Augen.

Sowohl McGee als auch Ryan kamen aus dem Geheimdienstbereich der CIA. Sie waren klug, erfahren und redeten nicht um den heißen Brei herum. Der Präsident hatte sie speziell zu dem Zweck ernannt, im CIA-Hauptquartier in Langley aufzuräumen und die Agency wieder zu ihrem alten Glanz zurückzuführen.

»In der Küche ist Kaffee«, sagte Ryan, als Harvath den Raum betrat.

Er ging in die Küche, nahm einen Emaillebecher aus einem der Regale und schenkte sich einen Kaffee ein.

Zurück im Wohnzimmer begab er sich zu McGee und Ryan an den Tisch. Darauf lagen unzählige Akten.

Sie hatten schon viele Treffen dieser Art abgehalten, außerhalb des CIA-Hauptquartiers, nachts oder am Wochenende. Je weniger Leute wussten, was sie hier planten, desto besser.

Der Terrorismus war geradezu explosionsartig wie ein Blinddarmdurchbruch gekommen und verbreitete sein Gift überall. Auf der ganzen Welt kam es zu Attentaten, vor allem in Europa. Aber jetzt auch in den Vereinigten Staaten.

Der IS hatte Gebiete verloren und wurde in Kämpfen immer wieder besiegt. Die Terrororganisation war wie ein verwundetes, in die Ecke gedrängtes Tier. Verzweifelt schlug sie um sich und rief zu weltweiten Anschlägen auf Amerikaner auf. Ihre Botschaft war unmissverständlich: Kein Ort der Welt war sicher.

Im Gegenzug hatte der amerikanische Präsident ebenfalls eine unmissverständliche Botschaft verkündet: Kein Stein war groß genug, als dass sich der IS darunter verkriechen könnte. Kein Loch war tief genug, um sich darin einzubuddeln. Wo auch immer sich die IS-Anhänger versteckten – die Vereinigten Staaten würden sie alle finden. Ausnahmslos. Amerika würde seine Feinde aufspüren, bis in den letzten Winkel der Erde. Und würde dabei unerbittlich vorgehen.

Das Problem war, dass nicht jeder in den USA die Meinung des Präsidenten teilte. Einige Leute hielten seinen Ansatz für zu antagonistisch. Sie befürchteten, dass er den Terroristen genau das lieferte, was sie wollten, und ihnen somit in die Hände spielte. Sie wollten einen Präsidenten, der weniger Cowboy, sondern eher Samurai war – weise und geduldig. Und dass er nur zuschlug, wenn es absolut notwendig war, und sich anschließend wieder in die Dunkelheit zurückzog.

Dann wiederum gab es Leute, die überhaupt keine Schläge gegen den IS befürworteten. Sie behaupteten, dass jegliche Vergeltung die Gewaltspirale nur noch weiter anheizen würde. Wenn wir nicht aufhören, wird der IS es auch nicht tun, lautete die Warnung. Die bereits schlimme Lage würde sich nur noch weiter verschlimmern.

Viele hatten den Eindruck, der Präsident wüsste ihre Vorschläge nicht zu schätzen und würde sich nicht einmal die Mühe machen, darüber nachzudenken. Doch der kleine Kreis von Personen, die den Präsidenten gut kannten und mit denen er sich beratschlagte, wusste, dass dieser Eindruck täuschte.

Der Präsident führte den Kampf nicht gern, aber es war ein gerechter Krieg. Er nahm es nicht auf die leichte Schulter, Gewalt anzuwenden. Sein größter Wunsch war der Friede. Mehr als alles andere wollte er die Sicherheit der Menschen in Amerika. Die Sicherheit der Amerikaner im In- und Ausland war seine wichtigste Aufgabe als oberster Befehlshaber. Diese Pflicht stand für ihn an erster Stelle.

Er war außerdem in etwas eingeweiht, das seinen Mitbürgern nicht zugänglich war. Jeden Morgen erhielt er einen geheimdienstlichen Bericht, der darlegte, wie gefährlich Organisationen wie der IS oder Al-Qaida wirklich waren.

Ihre Mitglieder waren Fanatiker, die glaubten, sie wären auserwählt worden, um die Erde zu beherrschen. Zu diesem Zweck mussten sie Amerika und seine Verbündeten durch den Dschihad unterwerfen. Wer sich nicht vollkommen diesem Ziel hingab, verstieß gegen Gottes Willen.

Der Fundamentalismus dieser Menschen war ein Krebsgeschwür. Es befiel fast jeden, der damit in Kontakt kam. Und doch fehlte es denjenigen, die es am ehesten entfernen könnten, an Mut und Bereitschaft, dies auch zu tun. Die muslimische Welt war gänzlich außerstande, das Problem zu bekämpfen. Egal wie viele Grausamkeiten im Namen ihrer Religion und ihres Gottes begangen wurden.

Angesichts dieser geringen Kooperation blieben dem Präsidenten wenige Möglichkeiten. Und es wurden sogar noch weniger, da viele von Amerikas Verbündeten mit knappen Ressourcen und Radikalisierungswellen im eigenen Land beschäftigt waren.

Obwohl der Präsident die Meinungen der Amerikaner respektierte, die ihm nicht zustimmten, konnte er die Zukunft bereits erahnen. Er konnte sehen, was auf die Vereinigten Staaten zukam, wenn das Land nichts unternahm.

So wie die Israelis würden auch die Amerikaner einer ständigen Bedrohung ausgesetzt sein. Strände, Restaurants, Züge, Busse, Clubs, Lebensmittelläden, Schulen, Spielplätze, Hundeparks, Kinos, Sportveranstaltungen, Paraden, Einkaufszentren und sogar ihre eigenen Gebetshäuser – alles kam für einen Anschlag infrage.

Je mehr Anschläge es gab, desto mehr würde die verängstigte Bevölkerung verlangen, dass etwas getan werden müsse. Überall würde es bewaffnetes Sicherheitspersonal und Kontrollen geben. Aber auch das würde nicht reichen, um Amerikas Feinde abzuschrecken. Die Terroristen würden zuschlagen, wenn die Amerikaner ihre Kinder zur Schule brachten oder in der Schlange für den Körperscanner vor der neuesten Broadway-Show standen. Es war einfach nicht möglich, rund um die Uhr die Sicherheit aller Amerikaner zu gewährleisten.

Die Forderungen, mehr zu machen, würden lauter werden. Letztlich würden die Bürokraten und Politiker versuchen, den Terrorismus mit einer Unmenge an Sicherheitsmaßnahmen zu besiegen. An diesem Punkt würde Amerika in eine äußerst gefährliche Richtung abbiegen. Wie Benjamin Franklin angeblich gesagt hatte: Wer bereit ist, ein wenig Freiheit für ein wenig Sicherheit aufzugeben, verdient weder das eine noch das andere und wird beides verlieren.

Das war, knapp zusammengefasst, die größte Sorge des Präsidenten. Also entschied er sich zu handeln.

Obwohl der Präsident einen großen Teil seiner politischen Möglichkeiten für eine deutliche Erhöhung des FBI-Haushalts aufgewendet hatte, stand die Behörde vor enormen Schwierigkeiten. Sie führte in allen 50 Bundesstaaten Ermittlungen durch, verfügte aber nicht einmal ansatzweise über die notwendigen Ressourcen, um diese Ermittlungen auch abzuschließen. Die Terroristen waren schnell. Sie kamen aus allen Richtungen und Gesellschaftsschichten. Es gab einfach zu viele Fälle, zu viele Spuren und nicht genügend Agenten.

Dem Präsidenten blieb nur eine einzige Möglichkeit. Und die würde höchstwahrscheinlich zu seiner Amtsenthebung führen, sollte etwas darüber bekannt werden.

McGee sah Harvath an und sagte: »Reden wir über das, was beim Burning-Man-Festival passiert ist.«

8

Harvath arbeitete inoffiziell. Normalerweise würde die Öffentlichkeit ohnehin nichts davon mitbekommen. Aber im Zeitalter von Hackern und Dokumenten-Leaks gab er sich große Mühe, kaum etwas schriftlich festzuhalten, falls überhaupt.

Die Regierungen wechselten, und auch die Vorstellungen davon, worin die Aufgabe der CIA bestand – und worin nicht. Maßnahmen, die in den Wochen und Monaten nach dem 11. September noch gerechtfertigt erschienen, mochten unter anderen Gesichtspunkten in Zukunft anders bewertet werden. Die beste Methode, im historischen Rückblick nicht schlecht abzuschneiden, bestand darin, gar nicht erst Teil der Geschichte zu werden, fand Harvath.

Er konnte die Haltung des Präsidenten nachvollziehen. Die individuelle Freiheit war für ihn ein wichtiges Gut. Aber die Sicherheit der Amerikaner war ihm ebenfalls wichtig.

Er hatte die Barbarei von Gruppen wie dem Islamischen Staat oder Al-Qaida hautnah miterlebt. Er war Zeuge dessen geworden, was sie ihren Opfern antaten, auch Frauen und Kindern.

Einer der schmerzhaftesten Momente seiner Laufbahn war die Rettung des entführten Sohns eines irakischen Polizisten gewesen. Die Befreiung war geglückt, aber der kleine Junge war in seinen Armen gestorben. Das Kind war auf unfassbar grausame Weise gefoltert worden.

Solche Erfahrungen ließen sich nicht unbegrenzt wegstecken. Deswegen brauchte Harvath hin und wieder etwas Zeit für sich allein, mit ein paar Sixpacks oder einer Flasche Bourbon. Lange Joggingrunden und ein anstrengendes Krafttraining reichten nicht, um mit den Belastungen fertigzuwerden.

Das war nicht die gesündeste Art und Weise, alles zu verarbeiten, aber der menschliche Verstand verfügte leider über keine LÖSCHEN-Taste. Manchmal musste Harvath einfach alles vergessen, wenn auch nur für kurze Zeit.

Solche Erlebnisse waren eine schwere Bürde, aber das gehörte zum Beruf. Ohne jemanden, der die Wölfe jagte, würden die Schafe niemals in Sicherheit sein. Die Wölfe vermehrten sich zu schnell. Die Hirtenhunde waren der Aufgabe nicht mehr gewachsen. Es ging ums Überleben.

Als der Präsident entschied, Amerikas Spielregeln zu ändern, war Harvath einverstanden gewesen.

Im Zuge dieser neuen Regeln war er zum Burning-Man-Festival entsandt worden und hatte ohne offizielle Billigung gehandelt. Das FBI hatte nicht genügend Finger und Zehen, um all die undichten Stellen im Terrorismus-Eimer zu stopfen.

Wenn möglich, teilte die CIA ihre Erkenntnisse mit dem Bureau. Nur allzu oft wurden diese Erkenntnisse jedoch hintangestellt. Es war nicht die Schuld des FBI. Die Behörde hatte einfach zu viel um die Ohren.

Mit stiller Zustimmung des Präsidenten hatte man in Langley damit begonnen, mehr eigenständige Operationen zu entwerfen, zu planen und durchzuführen. Je nach Gesichtspunkt war Burning Man entweder ein spektakulärer Erfolg oder Misserfolg gewesen.