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Secret Service Agent Scot Harvath auf der blutigen Spur des kaltblütigsten Terroristen der Welt. Das größte Problem für Harvath: Er hat keine Ahnung, wie der Mann aussieht. Der Pfad des Mörders führt Harvath von den brennenden Wüsten Nordafrikas bis in die verwinkelten Gassen Roms. Nelson DeMille: »Scot Harvath ist der perfekte amerikanische Held.« Dan Brown: »Brad Thor ist so brisant wie die Schlagzeilen von morgen!«
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Seitenzahl: 620
Veröffentlichungsjahr: 2017
Aus dem Amerikanischen von Alexander Amberg
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Path of the Assassin
erschien 2003 im Verlag Atria Books, Simon & Schuster.
Copyright © 2003 by Brad Thor
Copyright © dieser Ausgabe 2017 by Festa Verlag, Leipzig
Titelbild: Arndt Drechsler
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-525-3
www.Festa-Verlag.de
www.Festa-Crime.de
Für meinen Vater, Brad Thor senior,
meine Mutter, Judy Thor,
und meinen Onkel, Joseph P. Fawcett.
Sie brachten mir vieles bei,
wovon ich jeden Tag profitiere.
Si vis pacem, para bellum.
Wenn du Frieden wünschst,
rüste dich für den Krieg.
1
Eine einsame Gestalt im traditionellen muslimischen Pilgergewand schlug den Teppichboden unter einem Fenster des prachtvoll ausgestatteten Zimmers zurück und nagelte die Füße einer Dreibeinlafette mit einem handelsüblichen Tacker an den Estrich.
Die Ausrüstung war mittels mehrerer großer Koffer und eines Hartschalen-Golfcase ins saudische Dar Al Taqwa Intercontinental Hotel geschmuggelt worden. Die Araber liebten Golf, weshalb niemand die Gepäckstücke auch nur eines zweiten Blickes gewürdigt hatte.
Zusammengebaut und aufs Abschussgestell montiert, bot die TOW-2-Kurzstreckenrakete der zweiten Generation einen imposanten Anblick. Obwohl die Waffe mit ihrem 1,20-Meter-Profil noch genauso aussah wie die Teile, die von den Israelis 1973 im Jom-Kippur-Krieg eingesetzt worden waren, hatte die effektive Reichweite um fast einen Kilometer zugelegt und entsprach nun mit 4500 Metern der Länge von 41 Football-Feldern – mehr als genug, um heute ihre tödliche Ladung abzusetzen.
Die optische Zielverfolgungseinheit der Rakete war im Nachbarzimmer sicher verankert, das Fadenkreuz auf ihr Ziel ausgerichtet. Ein Infrarotsensor verfolgte Flugbahn und Vorwärtsbewegung der Waffe, um im Bedarfsfall letzte Korrekturen zu übermitteln. Auf so kurze Distanz dürften allerdings keine nötig sein. Das reinste Kinderspiel.
Der digitale Zünder war auf zehn Minuten nach Beginn des Abendgebetes in der Prophetenmoschee eingestellt, der zweitheiligsten Stätte des Islam. Im muslimischen Glauben galt der Freitag als wichtigster Tag der Anbetung, weshalb die Moschee stark frequentiert wurde. Der Zeitpunkt des Anschlags sorgte für ein Höchstmaß an Opfern, ein wahres Blutbad. Der Terrorist hängte an beide Türen ein ›Bitte nicht stören!‹-Schild. Unmittelbar nach Abschuss der Rakete wollte er es sich bereits auf einem Erste-Klasse-Flug Richtung Kairo bequem machen. Von Kairo aus ging die Heimreise über ein geheimes Transport-Netzwerk weiter. Die Spätnachrichten dürften zu diesem Zeitpunkt bereits von dem Vorfall berichten.
Der digitale Zünder nahm seinen verheerenden Countdown auf. Der Terrorist sprühte unterdessen mit einer Spraydose eine große Hand an die Wand, die einen Davidstern hielt.
Einen Augenblick lang gingen ihm Szenen einer glücklicheren Zeit durch den Kopf. Einer Zeit, bevor der Hass so tiefe Wurzeln in ihm geschlagen hatte. Herbst. Zwei junge Liebende aus verschiedenen Lagern, die unterschiedliche Seiten des Konflikts repräsentierten, schlenderten an einem Flussufer entlang. In der Ferne läuteten Glocken, und sie freuten sich über das Glück, das sie zusammengebracht hatte. Ihre Erziehung gab ihnen vor, einander zu hassen, doch trotzdem war ihre Liebe aufgeblüht. Allerdings wurde sie von verschiedensten Einflüssen überlagert. Einflüssen, die nicht nur ihr Leben, sondern die ganze Welt für immer verändern sollten.
Die normalerweise silbrig-grauen Augen des Terroristen funkelten vor Hass so schwarz wie Kohle, während er die letzten Buchstaben unter die Hand sprühte. Eine schlichte, aus drei Wörtern bestehende Botschaft, die einem dennoch einen Schauder über den Rücken jagte: ›Terror für Terror‹.
Zwei Stunden später wälzte sich ein Strom Andächtiger hastig vorwärts. Jene, die zu spät zum Abendgebet kamen. Beim Betreten der Prophetenmoschee, mit dem rechten Fuß zuerst, wie die Tradition es vorschrieb, flehten die Eintretenden: »Ich suche Zuflucht bei Allah dem Allmächtigen und bei Seinem ehrenwerten Antlitz und bei Seiner ewig währenden Macht … Oh Allah! Vergib meine Sünden und öffne die Tore Deiner Gnade für mich.«
Sie schwärmten ins Innere des islamischen Gotteshauses und begaben sich auf die Suche nach freien Plätzen, um sich zwischen den Tausenden Gläubigen hinzuknien. Der Sitte gemäß wurden die Frauen in einen separaten, durch große Stoffbahnen abgetrennten Bereich geleitet, um die Männer nicht vom Gebet abzulenken. Die kleineren Kinder blieben bei ihren Müttern, während ältere Söhne, wohlerzogen genug, um die Andacht nicht zu stören, in den Reihen der erwachsenen Männer Platz nehmen durften. Die meisten Familien in der Prophetenmoschee wurden auf diese Weise voneinander getrennt, als über ihren Köpfen ein lautes Grollen erscholl, mit dem eine massive, mit zwei Sprengköpfen bestückte Rakete die Dachkonstruktion durchbrach, explodierte und todbringendes Feuer auf sie herabregnen ließ.
Gegen Mittag des folgenden Tages gaben die Rettungskräfte allmählich die Hoffnung auf, unter den Trümmern noch Überlebende zu finden. Während sich die Einwohner Medinas hinter den Absperrungen der Rettungsdienste drängten und nach dem Warum fragten, ging bei den Zeitungen und Nachrichtenagenturen in aller Welt zeitgleich per Fax ein Bekennerschreiben mit folgendem Wortlaut ein:
Seit Jahrzehnten unterstützt und ermutigt die arabische Welt den gegen Israel gerichteten Terror. Öffentlich distanzieren sich die arabischen Staaten von Terroristen, unter der Hand jedoch werden sie von ihnen ausgebildet und finanziert. Der Staat Israel wird Gewaltakte auf unserem Grund und Boden beziehungsweise gegen unser eigenes Volk nicht länger hinnehmen. Von nun an werden wir der arabischen Welt in der Sprache antworten, die sie ersonnen und uns so bitter entgegengespuckt hat – in der Sprache des Terrors.
Wie es bei Hiob heißt: ›Wer Unrecht pflügt, wer Unheil sät, der erntet es auch.‹
Das Fax war im Namen einer Organisation verfasst, die sich Hand Gottes nannte. Unter dem Schriftzug prangte dasselbe Piktogramm, das die Polizei von Medina auch an der Wand von Zimmer 611 des Dar Al Taqwa Intercontinental Hotels angetroffen hatte: eine große Hand, die einen Davidstern umklammerte.
Die Operation hatte begonnen.
2
In 60 Kilometern Entfernung trieb westlich von Hongkong auf der anderen Seite des Wassers der Wind die Regenschleier mit Wucht vor sich her. Wie Nadelspitzen prasselten sie gegen das schwimmende Palace Casino in Macau, von den Einheimischen liebevoll ›Boot der Diebe‹ getauft. In den zunehmend aufgewühlteren Fluten des Südchinesischen Meeres zerrte das zwielichtige Casino, eigentlich ein altes Doppeldecker-Fährschiff, an seiner Vertäuung.
Lächelnd reichte die macauische Bedienung dem gut aussehenden Gast eine Flasche Bier. Mit schlanken, aber muskulösen 1,80, braunen Haaren und eisblauen Augen war Scot Harvath Aufmerksamkeit gewohnt. Während die Bedienung sich dem nächsten Gast zuwandte, erwachte die Lautsprecheranlage des Casinos knisternd zum Leben. Zunächst auf Chinesisch, danach auf Portugiesisch und schließlich auf Englisch verkündete eine Stimme, dass der macauische Wetterdienst das tropische Tiefdruckgebiet Anita zum tropischen Wirbelsturm hochgestuft hatte. Vom nahe gelegenen Leuchtturm der Guia Fortress flatterte eine Fahne mit der Ziffer 8, die signalisierte, dass mit Orkanböen zu rechnen war. Die Gäste wurden davon in Kenntnis gesetzt, dass die örtlichen Behörden sowohl die Brücken zwischen den Inseln als auch die Verbindungsadern zum chinesischen Festland jederzeit ohne Vorwarnung sperren konnten.
Wir bringen das besser bald unter Dach und Fach, dachte Harvath. Der jüngste Bericht, den er vom US Naval Pacific Meteorology and Oceanographic Center erhalten hatte, dem US-Seewetterdienst für die Pazifikregion, prognostizierte, dass sich aus dem Tief ein tropischer Wirbelsturm mit Windgeschwindigkeiten von über 120 km/h zu entwickeln drohte. Alles, was darüber hinausging, entsprach einem ausgewachsenem Taifun, was das Ende der Mission bedeutet hätte. Ein Abbruch kam für Harvath jedoch nicht infrage. Er hatte zu viel erreicht, um seine Zielperson entkommen zu lassen.
Harvath zog 50 weitere Hongkong-Dollar aus der Tasche und setzte sich erneut, während er so tat, als nippe er an seinem kalten Bier. Er saß am Tisch einer gemischten Gruppe aus Angloamerikanern und Asiaten, allesamt Hardcore-Spieler, von denen keiner klug genug war, die Kurve zu kratzen, bevor der Sturm schlimmer wurde. Neben ihm hatte sich Sammy Cheng von der Special Duties Unit (SDU) niedergelassen, der geheimnisvollen Terrorabwehreinheit der Hongkonger Polizei. Harvath und Cheng waren sich vor einigen Jahren schon mal begegnet, als Harvaths SEAL-Team nach Hongkong entsandt wurde, um die seinerzeit noch unter britischer Regie stehende Einheit bei der maritimen Ausbildung zu unterstützen.
Obwohl beide Männer wirkten, als seien sie völlig ins Spiel vertieft, galt ihre Aufmerksamkeit einem Chinesen drei Tische weiter.
Der Mann hieß William Lee und zählte zu den Top-Undercover-Agenten der SDU. Heute Abend fungierte er als Mittelsmann einer verbotenen chinesischen Extremistenorganisation, die Waffen und Sprengstoff kaufen wollte. Ziel der Operation war ein Waffenhändler namens Philip Jamek.
Extremistische Gruppen waren Jameks beste Kunden. Man schrieb ihm Geschäfte überall auf den Philippinen, in Indonesien und Japan zu. Inzwischen bot er seine Dienste, die eine Ausbildung in Terrorpraktiken und Attentatsplanung einschlossen, auch in China an. Die chinesische Regierung wollte Jamek ein für alle Mal aus dem Verkehr gezogen wissen. Scot Harvath ging es genauso.
Harvath hatte Monate gebraucht, um ihn aufzuspüren; jenen letzten Angehörigen des als ›Löwen von Luzern‹ bekannt gewordenen schweizerischen Söldnertrupps, der im Jahr zuvor den US-Präsidenten entführt und scharenweise tote Amerikaner zurückgelassen hatte. Die US-Regierung glaubte, dass all diese todbringenden Löwen entweder eliminiert oder in Haft waren, doch Harvath hatte einen entdeckt, der ihnen durch die Maschen geschlüpft war – Philip Jamek. Nicht nur, dass Jamek erwiesenermaßen eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellte, Harvath hatte seinen gefallenen Kameraden zudem geschworen, nicht zu ruhen, bis auch der letzte für ihren Tod Verantwortliche die gerechte Strafe erhalten hatte.
Harvath und Sammy Cheng beobachteten, wie eine Bedienung auf Lee zukam und einen Drink vor ihm auf den Tisch stellte. Sie wechselten ein paar Worte und er langte in die Tasche, um ihr ein Trinkgeld zu geben. Nachdem die Frau weg war, spielte Lee einige Sekunden lang mit seinen Chips und hielt die Hand vor den Mund, tat, als müsse er husten, während er über das winzige, in seinen Ärmel eingenähte Mikrofon Anweisungen durchgab.
»Jamek hat soeben Kontakt aufgenommen«, flüsterte Sammy Cheng Harvath zu, während er die Information über den Ohrstöpsel entgegennahm.
Scot ließ den Blick stur auf dem Tisch ruhen. »Das Mädchen, das ihn gerade bedient hat. Er muss in der Nähe sein.«
»Entweder das, oder er hat der Bedienung die Nachricht übermittelt und sie angewiesen, mit der Übergabe noch zehn Minuten zu warten.«
»Nein, er ist eindeutig in der Nähe und beobachtet Lee, um sicherzugehen, dass er auch tatsächlich allein ist.«
»Bei diesem Wetter dürfte er kaum draußen im Freien stehen. Entweder sitzt er in einem Wagen, der in der Nähe parkt, oder er hat noch eins der letzten Taxis zum Hotel Lisboa genommen.«
»Zum Hotel Lisboa? Hat er den Ort schon wieder geändert?«
Cheng nickte. Jamek hatte den vereinbarten Treffpunkt im Laufe des Tages mehrmals angepasst, sodass es beinahe unmöglich war, ihm eine Falle zu stellen. Harvath kam sich vor wie auf einer Hochgeschwindigkeits-Rundreise durch die Region. Sie waren mit der Star Ferry von Hongkong nach Kowloon und wieder zurück geschippert, hatten sich im Wan Chai District zwei Stunden lang nass regnen lassen, fuhren danach mit der Peak Tram, einer Standseilbahn, zum Victoria Peak hinauf und anschließend runter ins Tal, um gerade noch rechtzeitig am Jetfoil-Terminal einzutreffen und das letzte Tragflächenboot nach Macau zu erwischen.
Den Schauplatz nach Macau zu verlegen hielt er für einen Geniestreich, da die Zuständigkeit der Polizei von Hongkong, der die SDU unterstellt war, nicht bis hierhin reichte. Ein gerissener Schachzug, doch Cheng hatte es kommen sehen und für sein Team im Vorfeld die Genehmigung erwirkt, Jamek nach Macau zu folgen. Das einzige Problem bestand darin, dass der Rest seiner Leute zwar in zwei unauffälligen Transportern saß, allerdings in voller taktischer Montur. Vor Abfahrt der letzten Fähre war keine Zeit geblieben, in Zivilklamotten zu schlüpfen. Deshalb hatte er die Männer zurückgelassen.
Während Lee vom Tisch aufstand und sich mit den Chips zum Wechselschalter aufmachte, ließ sich Harvath durch den Kopf gehen, wie meisterhaft es Jamek gelungen war, ihr Team von über 15 auf mittlerweile nur noch drei Agenten zurechtzustutzen. Außer einem Sturm braute sich hier noch etwas anderes zusammen. Harvath hatte ein ausgesprochen mieses Gefühl.
3
Präsident Jack Rutledge betrat den sicheren Konferenzsaal unter dem Weißen Haus, allgemein nur als Situation Room bekannt. Der Nationale Sicherheitsrat erwartete ihn mit einer Mischung aus vorsichtiger Besorgnis und professionellem Unbehagen. Zu einer solch unchristlichen Zeit herbeizitiert zu werden, noch dazu an einem Wochenende, machte jeden nervös.
»Bitte setzen Sie sich doch«, sagte der Präsident, während er am Kopfende des langen Kirschholztischs Platz nahm. »Vielen Dank, dass Sie an diesem Samstag so früh kommen konnten. Wie Sie alle wissen, sind die Auswirkungen des Terroranschlags auf die Prophetenmoschee in Medina mindestens so verheerend, wie wir befürchteten. Die Israelis erleben zurzeit eine Welle von Selbstmordattentaten, und überall in der islamischen Welt rufen Imame und Mullahs zu weiteren Vergeltungsschlägen auf. Erwartungsgemäß verschärfen muslimische Extremisten nun ihre Rhetorik und fordern einen Angriff auf die Vereinigten Staaten, weil wir bekanntlich Israel unterstützen.
Um alles noch schlimmer zu machen, besteht die Reaktion der Israelis auf die jüngsten Anschläge darin, dass sie mit aller Konsequenz gegen die Palästinenser vorgehen. Das macht dem palästinensischen Chefunterhändler, Ali Hasan, das Leben extrem schwer. Wie wir alle verfolgt haben, entwickelte er sich innerhalb kürzester Zeit zu einer der Schlüsselfiguren im Friedensprozess. Jemand wie er dürfte großen Anteil an der Zukunft Palästinas haben. Während Hasans Volk, ebenso wie ein Großteil der arabischen Welt, nach Blut schreit, gehört er zu den wenigen Stimmen, die eine friedliche Lösung einfordern.
Was die Organisation Hand Gottes betrifft, behaupten die Israelis, der Sache nachzugehen, betonen jedoch, keinerlei Informationen über eine derartige Gruppierung zu besitzen. Im Gegensatz zu dem, was die arabische Presse schreibt, werde sie von ihnen in keinster Weise unterstützt. Wir haben gewisse Bedenken, ob die Israelis uns wirklich alles sagen. Nach dieser einleitenden Bemerkung möchte ich jetzt CIA-Direktor Vaile bitten, uns seinen Bericht zu präsentieren.«
»Vielen Dank, Mr. President«, sagte Vaile, während sein Assistent Aktenordner an die Versammelten austeilte. »Wie Sie alle wissen, ermittelt die CIA seit letzter Woche aktiv wegen des Terroranschlags in Medina. Insbesondere sind wir daran interessiert, die Identität einer bislang unbekannten Terrorgruppierung zu klären, die sich Hand Gottes nennt. Wir konnten bestätigen, dass es sich bei dem für den Anschlag benutzten Geschoss tatsächlich um eine TOW-2-Kurzstreckenrakete israelischer Bauart handelt. Ergänzend zum Bericht des Präsidenten über die seit dem Anschlag wachsenden Unruhen in der islamischen Welt hält es die CIA für wichtig, auf den stetig wachsenden Zuspruch hinzuweisen, den die Hand Gottes in ganz Israel erfährt. Allem Anschein nach wächst in der israelischen Öffentlichkeit der Wunsch nach Selbstjustiz. Die Regierung tut äußerst wenig, um entsprechende Appelle zum Verstummen zu bringen. Nach außen hin haben die meisten israelischen Offiziellen den Anschlag zwar halbherzig verurteilt, äußern sich intern jedoch positiv darüber. Das hat in der vergangenen Woche das Interesse unserer Analysten geweckt.«
»Wollen Sie damit andeuten, die israelische Regierung habe tatsächlich etwas mit dem Anschlag in Medina zu tun?«, fragte der Direktor der Homeland Security, Alan Driehaus.
»Wir haben keine konkreten Beweise dafür, aber …«
»Nun, was haben Sie?«, wollte Jennifer Staley wissen, die Außenministerin, während sie in dem ausgeteilten Dossier blätterte.
»Nach dem Massaker an den israelischen Sportlern bei den Olympischen Spielen von München 1972 wollte Ministerpräsidentin Golda Meir gemeinsam mit mehreren hochrangigen israelischen Amtsträgern eine Botschaft aussenden, nicht nur an alle am Massaker von München Beteiligten, sondern auch an jeden, der jemals mit dem Gedanken liebäugelt, einen Anschlag auf Israel zu verüben. Sie lautete: Wer so etwas tut, muss mit tödlicher Vergeltung rechnen.
Um die Botschaft an den Mann zu bringen, wurde ein verdecktes Einsatzteam aus der Sabotage-Einheit des Mossad zusammengestellt. Keine Verhaftungen, kein Gerichtsverfahren, keine Berufung. Die Zielsetzung war einfach: Tötet jeden, den ihr in die Finger bekommt, ob er nun direkt oder indirekt mit dem Attentat in München zu tun hatte, damit die übrigen Terroristen in Furcht leben und nie genau wissen, ob sie nicht die nächsten Opfer sind. Dabei spielte es auch keine Rolle, wo die Verdächtigen sich verkrochen. Das Team war autorisiert, sie überall auf der Welt zur Strecke zu bringen.«
»Ich erinnere mich«, meinte die Außenministerin. »Wie nannten die Israelis diese Gruppe noch mal?«
»Zorn Gottes«, erwiderte Vaile. Die Anwesenden, allesamt mit den Akten beschäftigt, blickten mit plötzlich erwachtem Interesse zum CIA-Direktor auf.
Homeland-Security-Direktor Driehaus rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. »Wollen Sie uns erzählen, dass Sie glauben, die Israelis hätten diese Einheit reaktiviert, um die arabische Welt zu terrorisieren?«
»Das lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht bestätigen, aber wir nutzen jede Ressource, um der Sache auf den Grund zu gehen. Die Israelis zählen zu den Besten, was Undercover-Operationen angeht. Wenn die nicht wollen, dass jemand mitbekommt, dass sie hinter einer Sache stecken, erfährt es meistens auch keiner.«
»Welche diplomatischen Kanäle haben wir bemüht?«, hakte die Außenministerin nach.
Vaile streifte Präsident Rutledge mit einem Blick, ehe er antwortete: »Der Präsident hat den israelischen Ministerpräsidenten direkt mit dem Verdacht konfrontiert. Dieser wies jede Beteiligung seines Landes an den Machenschaften der Hand Gottes empört von sich.«
»Also, was wissen wir tatsächlich?«, fragte der Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs.
»Fest steht, dass das Timing kaum schlimmer sein könnte. Wenn Sie gestatten, möchte ich gerne erklären, weshalb der Präsident dieses Treffen anberaumt hat.« Vaile bat darum, das Licht zu dimmen, während er den Laptop hochfuhr. Zwei große Flachbildschirme an der Stirnseite des Situation Rooms erwachten mit dem Siegel der Central Intelligence Agency zum Leben, während der Direktor mit der Präsentation begann.
»Bevor Osama bin Laden auf der Bildfläche erschien, stand überwiegend Abu Nidal im Rampenlicht. Er gilt nicht nur als Vater des internationalen Terrorismus, sondern steckte auch hinter jedem noch so kleinen Anschlag. Die Abu Nidal Organisation – auch bekannt als FRC, Fatah Revolutionary Council, Revolutionsrat der Fatah – verübte mehr als 90 Terroranschläge in 20 Ländern, wobei über 1000 Menschen zu Tode kamen oder verletzt wurden. Deshalb stufte das Außenministerium Nidal und dessen Leute vorübergehend als gefährlichste Terrororganisation der Welt ein. Seine Ziele waren die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich, Israel, gemäßigte Palästinenser, die PLO und diverse arabische Nationen. Als vorrangiges Ziel der Organisation im Anschluss an die Begründung eines Palästinenserstaats galt die Vernichtung Israels und danach der Vereinigten Staaten …«
»Moment«, unterbrach die Außenministerin. »Diese Leute sind seit Jahren nicht mehr in Erscheinung getreten. Ich dachte, wir unterstellen, dass Abu Nidal in Bagdad getötet wurde.«
»Die CIA neigt dazu, Ihnen zuzustimmen«, erwiderte Vaile.
»Wovon reden wir dann eigentlich?«
»Darüber«, sagte Vaile, während er die nächste Folie seiner Präsentation aufrief.
Die lange Liste von Abu Nidals Terroraktivitäten, unter anderem auch als Drahtzieher der Anschläge auf die Flughäfen von Rom und Wien und des Bombenanschlags auf Pan-Am-Flug 103 über Lockerbie, Schottland, wich der Silhouette eines Männerkopfes.
»Ladys und Gentlemen, darf ich Ihnen Hashim Nidal vorstellen? Abu Nidals Sohn.«
»Aber da ist ja niemand zu sehen«, meldete sich der Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs zu Wort.
»Genau darin liegt die größte Bedrohung, der sich unser Land momentan gegenübersieht«, entgegnete Vaile.
»Director Vaile«, sagte der Direktor der Homeland Security, »wollen Sie damit andeuten, dass Ihnen trotz der enormen Ressourcen, über die die CIA verfügt, nicht einmal ein Bild dieses Mannes vorliegt?«
»Das ist bedauerlicherweise korrekt. Abu Nidal hat große Anstrengungen unternommen, um allein schon die Tatsache, dass er überhaupt einen Sohn hatte, geheim zu halten. Das Einzige, was wir bisher ermitteln konnten, ist sein Name. Frei aus dem Arabischen übersetzt, bedeutet Hashim übrigens ›Vernichter des Bösen‹.«
»Das ist ja reizend«, kommentierte die Außenministerin, während sie ihre Mappe zuschlug und wegschob. »Wollen Sie damit andeuten, Mr. Vaile, dass Abu Nidal das Zepter an seinen Sohn weitergegeben hat?«
»Die uns vorliegenden Informationen legen exakt das nahe.«
»Und was für Informationen sind das?«
»Laut unseren Quellen hat Hashim Nidal ein internationales Netzwerk islamischer Terrororganisationen begründet, dem unter anderem Hamas, Hisbollah, Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden, die Überreste von Al-Qaida, die Muslimbruderschaft und Abu Sajaf, die Dschihadisten auf den Philippinen, angehören … Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Er hat sie davon überzeugt, dass sie Allah am besten dienen, indem sie sich zusammenschließen. Er kennt sowohl ihre Stärken als auch ihre Schwächen. Sie tauschen Strategien und Informationen aus, selbst die Ausbildung betreiben sie gemeinsam. All diese Gruppierungen ruhen auf einem tief verwurzelten religiösen Fundament, dessen Hashim Nidal sich bedient, um ihre politischen Überzeugungen zu ersetzen. Im Grunde hat er sie alle hinter einem gemeinsamen Ziel vereint: der Vernichtung Israels.«
»Und die Bedrohung für die Vereinigten Staaten ist …?«, fragte Driehaus.
»Extrem groß. Ihrer Doktrin folgend wird auf die Vernichtung Israels unmittelbar die Vernichtung der Vereinigten Staaten folgen.«
»Wie kommen Sie darauf, dass das aktuell ist?«, wollte die Außenministerin wissen.
»Eine Vielzahl von Indizien spricht dafür – die NSA hat vermehrt entsprechende Telefongespräche abgehört, das FBI streckte die Fühler nach mutmaßlichen Schläferzellen hier in den USA aus, hinzu kommt ein signifikanter Durchbruch der CIA.« Vaile war vollkommen klar, dass es endlich einmal so aussehen musste, als sei die Agency den Terroristen zwei Schritte voraus, statt ihnen ständig nur hinterherzuhinken.
»Und worin genau besteht dieser signifikante Durchbruch?«, bohrte Driehaus nach.
»Mithilfe der NSA überwachen wir die Kommunikation der am meisten ernst zu nehmenden islamischen Terrororganisationen. Verschiedentlich wurde jemand mit dem Codenamen Ghazi erwähnt – das ist arabisch und heißt ›der Eroberer‹. Bei ihm scheint es sich um eine Art geistigen Übervater zu handeln. Wenn von Ghazi gesprochen wird, schreibt man ihm die Planung für ein bevorstehendes Ereignis zu, das dafür sorgen soll, dass sich die Macht in der Welt hin zu den wahren Gläubigen des Islam verschiebt.
Gestern Abend wurde in Beirut ein führender Vertreter des Islamischen Dschihad aufgegriffen. Bei der Vernehmung identifizierte er Hashim Nidal als die Person namens Ghazi, schränkte jedoch ein, er sei dem Mann nie persönlich begegnet und könne demnach auch keine Beschreibung liefern. Er deutete an, das von Nidal angekündigte Ereignis stehe unmittelbar bevor und werde die arabische Welt ein für alle Mal einen, indem es zunächst Israel und anschließend die USA dezimiere.«
Selbst den abgebrühtesten Pokerfaces am Tisch des Situation Rooms gelang es nicht, das ungläubige Entsetzen zu kaschieren.
»Glaubt die CIA tatsächlich, dieser Hashim Nidal sei in der Lage, so etwas durchzuziehen?«, wollte der Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs wissen.
»Wir können uns nicht leisten, es nicht zu glauben«, antwortete der Präsident. »Bei dieser Angelegenheit kommt es auf jeden an. Eine enge Zusammenarbeit ist unabdingbar. Hashim Nidal muss gestoppt und seine Organisation zerschlagen werden, bevor er Anschläge in den USA beziehungsweise gegen die Vereinigten Staaten verüben kann. Außerdem müssen wir alles verhindern, was einen Krieg zwischen Israel und der restlichen arabischen Welt heraufbeschwören könnte.«
»Ohne zu wissen, wie dieser Kerl aussieht oder wo er sich aufhält?«, meinte FBI-Direktor Sorce. »Wo sollen wir da überhaupt anfangen?«
»Die CIA setzt bereits alle Hebel in Bewegung«, versicherte Vaile. »Wir gehen mehreren konkreten Hinweisen nach. Wir werden Hashim Nidal aufspüren und ihn stoppen.«
Die meisten Versammelten wünschten sich, sie könnten den Optimismus des CIA-Direktors teilen. Er tappte völlig im Dunkeln und alle wussten es. Die CIA brauchte schon ein kleines Wunder, um dieses Ziel zu erreichen. Blieb die Frage, wo man ein solches Wunder hernehmen sollte.
4
Scot Harvath verließ das Casino gerade noch rechtzeitig, um Lees Taxi wegfahren zu sehen. Als er mit Sammy Cheng zu dem Wagen rannte, den sie am Fährterminal in Macau gemietet hatten, blies der Wind so stark, dass er den Regen horizontal vor sich hertrieb.
Cheng warf ihm die Schlüssel zu, damit er selbst unterwegs telefonieren konnte. Harvath zwängte sich hinter das Lenkrad des winzigen, bei Touristen als Mini Moke bekannten Leihwagens und schob den Sitz so weit zurück, wie es ging. Trotzdem blieb es furchtbar eng. Mit dem Handy telefonieren, meine Fresse! In ganz Hongkong war er noch niemandem begegnet, der es nicht schaffte, gleichzeitig ein Fahrzeug zu lenken, zu telefonieren, Zeitung zu lesen, CDs zu wechseln und dabei auch noch zu Mittag zu essen. Cheng hatte bloß auf den Beifahrersitz gewollt, weil er dort mehr Platz hatte.
Sie fuhren los. Harvath riss das Lenkrad herum, um einem Trümmerteil auf der Straße auszuweichen. Eine starke Bö ergriff den Wagen, hob ihn auf zwei Räder und ließ ihn unsanft auf die Straße prallen.
Sammy deckte sein Handy mit der Hand ab. »Dai feng«, sagte er zu Harvath. »Das ist Kantonesisch für ›starker Wind‹.«
»Blow me!«, konterte der. »Das ist Amerikanisch und heißt ›Scheiß-Karre‹.«
Sammy widmete sich wieder seinem Handygespräch, während Harvath hinter dem Lenkrad kauerte und sich angestrengt bemühte, durch die beschlagene Windschutzscheibe zu spähen. Der Wagen besaß keine Klimaanlage, da er normalerweise mit offenem Verdeck gefahren wurde. Das Fenster auch nur einen Spaltbreit zu öffnen, hätte bedeutet, einen ganzen Schwall Wasser abzubekommen. Mit dem Ärmel seines Jacketts wischte Harvath einen Teil der Scheibe frei, um überhaupt noch etwas zu erkennen. Der Wagen hatte zwar Scheibenwischer, aber die kamen gegen so heftige Regenschleier nicht an.
Die Straßenlaternen schwankten heftig im Sturm. Scot fürchtete schon, eine könnte umstürzen und sich durch das Stoffverdeck bohren. Chengs Gespräch war beendet. Er drückte die Taste zum Auflegen.
»Von Hongkong aus lassen sie keine Tragflügelboote mehr starten«, meinte er zu Harvath. »Es war ein ziemlicher Akt, aber mit Ach und Krach hat der Rest des Teams der Marine-Abteilung ein Cougartec abgeschwatzt und einen Alarmstart hingelegt. Das Boot ist zwar schnell, trotzdem liegen sie mindestens 45 Minuten hinter uns.«
Als ehemaliger SEAL und Schnellboot-Liebhaber kannte Harvath sich aus, doch selbst mit Radar, Wärmebildsensoren und modernsten Navigationssystemen konnte der Rest des SDU-Teams noch Stunden brauchen oder schlimmstenfalls gezwungen sein, endgültig umzukehren, falls sich die Wetterlage noch weiter zuspitzte.
Am besten ging er davon aus, dass er und Cheng keine Verstärkung erhielten.
»Bleiben wir so dicht an unserem Mann dran wie nur möglich«, sagte Cheng, »und hoffen wir, dass wir Glück haben. Keine Waffen, es sei denn, es ist absolut notwendig. Das Lisboa dürfte voller Zivilisten sein.«
Harvath nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte, und lenkte den Wagen in die Auffahrt des majestätisch erleuchteten Gebäudes. Durch die Windschutzscheibe bekamen sie gerade noch mit, wie Lee aus dem Taxi stieg und im Innern des Hotels verschwand. Als sie unter das Vordach fuhren, verstummte das Trommeln der Regentropfen auf dem Leinenverdeck endlich und wich einer beinahe ohrenbetäubenden Stille. Ein von oben bis unten in Ölzeug gekleideter Page öffnete Harvaths Tür und hieß ihn im Hotel Lisboa willkommen.
Harvath reichte ihm die Wagenschlüssel und bedachte das Unwetter mit einem letzten Blick, ehe er das Gebäude betrat, das zudem eine der größte Spielbanken Macaus beherbergte. Diese nahm vier Stockwerke ein und war einfach gewaltig. Die riesige Rotunde wurde von Lärm und Zigarettenqualm erfüllt. Die Spieler an den Tischen brüllten, einer lauter als der andere, um sich über das Geklingel der einarmigen Banditen und das Klimpern der Münzen in den Auszahlungsschalen hinweg Gehör zu verschaffen. Kellnerinnen schwebten vorbei, getragen von den Winden der Gier und menschlicher Habsucht, während Berge von Chips gewonnen und verloren wurden. Hierher kam man nicht, um sich zu vergnügen – sondern um etwas zu riskieren.
Die gleiche Absicht verfolgten Scott Harvath, Sammy Cheng und William Lee. Allen Widrigkeiten zum Trotz hofften sie darauf, Philip Jamek endlich zu schnappen. Harvath hatte es schon immer gewundert, dass auf der ganzen Welt Tag für Tag derartige Einsätze stattfanden und doch kaum jemand Notiz davon nahm. Die meisten nahmen die Vorzüge der Zivilisation als selbstverständlich hin, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass sie mit dem Schwert in der Hand erkämpft und bewahrt wurde. Jemand musste dieses Schwert halten und es manchmal auch einsetzen, um dem Chaos Einhalt zu gebieten.
Die Rotunde war von einer Reihe abgetrennter, mit Verzierungen überladener halb privater Spielsalons umgeben, in denen der Mindesteinsatz 1000 Hongkong-Dollars betrug. Gott sei Dank hatte William Lee an einem der billigeren Pai-Kao-Tische im großen Saal Platz genommen. Harvath und Cheng hielten sich so weit wie möglich im Hintergrund. Mehrmals verloren sie Lee kurzzeitig aus den Augen, während dieser sich durch das überfüllte Casino zwängte. Das Hotel Lisboa warb für sich als Stadt innerhalb der Stadt. Aktuell herrschte definitiv genügend Betrieb, um diese Behauptung zu stützen. Niemand schien sich darum zu scheren, dass sich draußen ein gewaltiger Taifun zusammenbraute. Das Einzige, was zählte, war das Glücksspiel.
Harvath und Cheng bezogen ein paar Tische von Lee entfernt Stellung und setzten ihre Observation fort. Harvath begann sich allmählich zu fragen, wohin ihre fröhliche kleine Jagd sie wohl als Nächstes führte, da brach Cheng das Schweigen.
»Kontakt«, raunte er leise.
Ein Mann mittleren Alters in einem maßgeschneiderten Leinenanzug hatte sich neben Lee gesetzt. Er hielt den blonden Schopf gesenkt, während er seine Karten ausspielte, doch für ein geübtes Auge war klar, dass er mit Lee redete. Nach einigen Sekunden langte der Mann in sein Jackett. Harvath erstarrte und griff nach der Waffe, entspannte sich jedoch, als der Mann ein übergroßes goldenes Feuerzeug aus der Tasche holte und vor sich auf den Tisch legte. Allerdings zückte er keine Zigarette.
Das Gespräch zwischen Lee und dem Fremden ging weiter, bis Lee schließlich am Ring an der linken Hand drehte und zweimal am Ärmelaufschlag seines Hemds zupfte. Das Signal! Er unterhielt sich mit Jamek höchstpersönlich.
Scot und Sammy sammelten ihre Jetons ein und machten Anstalten, aufzustehen. In diesem Augenblick streckte Jamek den Arm aus, legte Lee eine beringte Hand auf die Schulter und erhob sich. Lees Körper verkrampfte, während Jamek sich rasch vom Tisch entfernte. Sekunden später fing Lee an zu zucken. Mittlerweile war es Harvath und Cheng egal, ob man sie entdeckte. Sie stürzten zu dem Tisch, an dem Lee von heftigen Krämpfen geschüttelt wurde.
Chengs Beine waren geringfügig länger, dafür verstand es Harvath besser, Leute aus dem Weg zu schubsen. Aus diesem Grund erreichte er William Lee als Erster. Als er ihn umdrehte, sah er, dass Lees Augen verdreht waren. Lees Hände waren zu Fäusten geballt, sein Rücken steif und so hoch durchgebogen, dass ein Truck darunter durchgepasst hätte. Eine kleine Schar entsetzter Schaulustiger sammelte sich um den Tisch.
»Was zum Teufel ist los mit ihm?«, wollte Sammy wissen.
»Entweder unter Drogen gesetzt oder vergiftet.«
»Womit?«
»Keine Ahnung. Wir müssen Hilfe organisieren. Du packst ihn an den Armen, ich schnapp mir die Beine.«
Cheng kam der Aufforderung nach, doch nur wenige Schritte vom Tisch entfernt stoppte er.
»Was machst du da?«, rief Harvath.
»Das Feuerzeug! Dieser Mistkerl hat sein goldenes Riesenfeuerzeug auf dem Tisch vergessen. Vielleicht sind Fingerabdrücke drauf.«
Harvath blickte zu dem abnorm großen Feuerzeug. Innerhalb eines Sekundenbruchteils übernahmen seine Instinkte.
»Lass die Finger davon. Wir müssen hier raus!«
»Was?«
»Er hat es absichtlich liegen lassen. Raus hier!«, brüllte Harvath.
Mit Lee in der Mitte rannten die beiden Männer zum Ausgang. Sekunden später erschütterte eine Explosion den Tisch hinter ihnen. Ein gewaltiger Feuerball wälzte sich durch die Spielbank und schleuderte die drei zu Boden. Der Rücken von Harvaths Sakko hatte Feuer gefangen. Hastig riss er es vom Leib und entblößte damit das an der Wirbelsäule verborgene taktische Holster. Die dadurch sichtbare Pistole verschlimmerte die Panik der ohnehin schon entsetzten Besucher.
Harvath achtete nicht weiter auf sie und beugte sich über Lee, um dessen Puls zu fühlen. Die Zuckungen hatten aufgehört und Lees Augen waren nicht länger so verdreht, dass man nur das Weiße sah. Seine Muskeln entkrampften sich, der Puls ging allmählich wieder normal und die Atmung beruhigte sich. Was immer Jamek ihm injiziert hatte, wirkte zwar extrem heftig, hielt aber nicht lange an. Die perfekte Ablenkung.
Nachdem Cheng davon überzeugt war, dass Lee durchkam, zog er eine 9-Millimeter-Beretta unter dem Mantel hervor und wies einen in der Nähe stehenden Security-Mitarbeiter an, auf seinen Partner aufzupassen und per Funk umgehend medizinische Hilfe anzufordern. Wütend wandte er sich an Harvath: »Erst finden wir den Kerl, dann bringen wir ihn um.«
»Wir müssen ihn lebend kriegen, Sammy«, sagte Harvath. Sie standen auf und machten sich durch den Regen der Sprinkleranlage auf die Suche nach Jamek. Er wusste, dass Cheng den Grund dafür kannte. Harvath hatte ihn vor dem Einsatz ins Bild gesetzt und ihm erklärt, dass nach Präsident Rutledges damaliger Entführung eine Befreiungsaktion gestartet worden war, die sich später als Falle erwies. Das gesamte von den USA losgeschickte Team war dabei ums Leben gekommen. Harvath wusste, dass die Löwen die Tötungsbefehle ausgegeben hatten, allerdings nicht, an wen.
Der ehemalige Anführer der Löwen, Gerhard Miner, wartete in der Schweiz auf seinen Prozess, weigerte sich jedoch, Fragen zu beantworten. Außer ihm hatte nur ein einziger weiterer Angehöriger der Organisation überlebt, Gerhard Miners Finanzmann, Philip Jamek, der soeben versucht hatte, sie umzubringen. Harvath war überzeugt davon, dass der Kerl etwas wusste. Selbst die kleinste Einzelheit könnte dazu beitragen, Licht in den trüben Abgrund zu bringen, in dem die versammelten Nachrichtendienste der Vereinigten Staaten fischten. Ohne Jamek erfuhr nie jemand, wer für den Hinterhalt, dem das Special Operations Team zum Opfer fiel, verantwortlich gewesen war. Das durfte Harvath nicht zulassen. Schließlich hatte er den Gefallenen ein Versprechen gegeben.
Er wartete auf Chengs Erwiderung. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sein Kollege bei der Explosion offenbar eine Verletzung davongetragen hatte.
»Was ist mit deinem Arm passiert?«
»Es ist nicht der Arm, sondern die Schulter. Aber mach dir deswegen keine Sorgen. Wenn es eine Chance gibt, Jamek außer Gefecht zu setzen, ohne ihn zu töten, versuche ich es natürlich. Aber falls ich die Entscheidung treffen muss, ihn umzulegen, werde ich es tun, ohne zu zögern.«
»Kannst du überhaupt schießen?«
»Ich sagte doch, mach dir keine Sorgen. Und nun, wo sollen wir anfangen, verdammt? Dieser Bunker ist riesig. Mittlerweile könnte er überall sein.«
Prompt erhielt Cheng die Antwort auf seine Frage. Aus dem Foyer drangen Schüsse zu ihnen.
Als die beiden den Eingang erreichten, bemerkten sie überall Einschusslöcher. Worauf schießt dieser Kerl … beziehungsweise auf wen? Die reich verzierten Glastüren waren völlig zerschmettert, quer über die Schwelle verstreut breitete sich ein Scherbenteppich aus. Wütend peitschte der Sturm Wind und Regen ins Gebäude. Mit dem Arm musste Harvath sein Gesicht vor dem Unwetter abschirmen.
Draußen konnte er kaum den Himmel ausmachen, der eine gespenstische, schwarz-violette Färbung angenommen hatte. Obwohl das Hotel keine Durchsagen gemacht hatte, war ihm klar, dass mittlerweile Windstärke neun herrschen musste, was bedeutete, dass der Sturm ganz in der Nähe vorbeizog, womöglich sogar Windstärke zehn. In diesem Fall traf sie der Taifun mit voller Wucht.
Während Harvath ins Freie spähte, registrierte er unter dem Vordach eine Bewegung. Eine Gestalt. Es war Jamek, der mit dem Rücken zu ihnen stand. Harvath gab Cheng ein Zeichen, sein Griff schloss sich fester um die Glock, die er von der SDU erhalten hatte. Sie hielten sich dicht an der Gebäudewand, kämpften gegen die starken Böen an und schlichen näher.
Als sie bis auf zehn Meter herangekommen waren, rief Cheng Jamek zu, er solle die Waffe fallen lassen. Da Cheng annahm, Jamek habe ihn über dem Tosen des Windes nicht gehört, wiederholte er die Aufforderung. Es gab ein Geräusch, das wie Donner klang, allerdings krachte es zweimal kurz hintereinander. Jamek wirbelte herum. Sowohl Harvath als auch Cheng machten sich zum Feuern bereit. Jamek hielt eine MP5K-Maschinenpistole in der Hand. Jameks Drehung fiel so heftig aus, dass ihm der Arm grotesk nach oben gerissen wurde und er das Magazin der Waffe ins Vordach entleerte. Noch bevor Scot oder Sammy die Schüsse erwidern konnte, fiel der Mann bäuchlings aufs Pflaster.
Irritiert bewegten sie sich zu Jamek hinüber, hielten die Waffen im Anschlag. Cheng beförderte die MP mit einem Fußtritt außerhalb von Jameks Reichweite. Scot drehte ihn herum. Blut strömte aus riesigen Schusswunden in Brust und Stirn. Das Geräusch schwerer, auf dem nassen Asphalt durchdrehender Reifen unterbrach Harvaths Untersuchung. Ein silberfarbener Mercedes hielt direkt auf sie zu.
Der Fahrer war ganz in Schwarz gekleidet, eine Art Skimaske verdeckte sein Gesicht. In dem verbleibenden Sekundenbruchteil erfasste Scot nur die Augen des Fahrers. Ihre Farbe ließ sich selbst durch die getönte Scheibe mit nichts vergleichen, was er je zuvor gesehen hatte. Sie wiesen eine ans Schwarze grenzende Silberschattierung auf, fast wie Quecksilber. Harvath ging davon aus, dass es lediglich eine optische Täuschung war. Trotzdem wurde er von ihnen an- und förmlich in sie hineingezogen. Er schüttelte das Gefühl ab, gerade noch rechtzeitig, um dem auf ihn zurasenden Wagen auszuweichen, während Sammy Cheng das Feuer eröffnete. Seine Kugeln verfehlten ihr Ziel. Zwei trafen zwar, allerdings bloß den Kofferraum des davonjagenden Mercedes.
»Wer, zum Teufel, war das?«, brüllte Cheng gegen den Wind an, während er unter Schmerzen die Waffe senkte.
»Sieht ganz so aus, als wären wir nicht die Einzigen, die heute auf Löwenjagd sind«, brüllte Scot zurück.
»Holen wir den Wagen, und dann nichts wie hinterher!«
»Ich habe eine bessere Idee.« Er bedeutete Sammy, ihm zu folgen.
Seitlich unter dem Vordach befand sich der mit einem Vorhängeschloss gesicherte Schlüsselkasten des Parkdieners. Harvath hämmerte mit dem Pistolenknauf auf das Schloss und brach es gleich mit dem ersten Schlag auf. Rasch verschaffte er sich einen Überblick und schnappte sich den Schlüssel, den er brauchte. Keine fünf Meter entfernt stand ein schwarzer Audi TT Roadster.
Harvath öffnete die Tür per Fernbedienung. Gemeinsam mit Cheng sprang er in den Wagen.
»Gute Wahl«, kommentierte Sam.
»Wem sagst du das!«
Harvath nahm die Verfolgung des Mercedes und des mysteriösen Attentäters auf. Noch bevor Cheng überhaupt den Sicherheitsgurt angelegt hatte, rauschte er bereits im fünften Gang auf die Straße. Es herrschte absolut kein Verkehr. Die Leute waren entweder zu Hause und hatten alles verbarrikadiert oder sich auf ihren Booten hinter dem Typhoon Shelter im Hafen in Sicherheit gebracht.
Der Wind blies unfassbar stark. Harvath hatte alle Hände voll zu tun, das Fahrzeug unter Kontrolle zu halten. Am San Francisco Hill geriet der Mercedes schließlich wieder in Sichtweite. Harvath schaltete in den vierten Gang runter, trat aufs Gas und jagte den Drehzahlmesser in den roten Bereich. Cheng ersetzte das leer geschossene Magazin durch ein neues.
Harvath holte zunächst auf, doch eine Reihe enger Biegungen ließ ihn zurückfallen.
»Er spielt mit uns«, sagte Cheng.
»Was meinst du damit?«
»Damit meine ich, dass unsere Sightseeingtour weitergeht. Nur dass wir im Moment die Route nehmen, auf der normalerweise der Macau Grand Prix ausgetragen wird.«
Harvath hatte sich schon den ganzen Tag an der Nase herumführen lassen und war jetzt offiziell angepisst. Höchste Zeit, dieses Katz-und-Maus-Spiel zu beenden.
»Gibt es irgendwelche guten Geraden auf dieser Strecke, Sammy?«
»Direkt nach Fisherman’s Bend. Die Kurve müsste bald zu sehen sein.«
»Gut! Wenn wir dort sind, schnappst du dir das Lenkrad.«
»Warum?«
»Weil du mit deiner Schulterverletzung eh nichts triffst. Außerdem habe ich eine Idee.«
»Was immer du vorhast, ich hoffe, es funktioniert.«
Harvath zog eine Cyclone-Brille aus der Seitentasche seiner Cargohose, eine Biker-Brille mit gepolsterten Okularmuscheln, mit der die Augen selbst bei Vollgas vor Wind, Staub und sogar Wasser geschützt wurden.
»Gleich erreichen wir die Gerade«, signalisierte Cheng.
Harvath schaltete den Gang runter und kitzelte erneut den Drehzahlmesser in den Extrembereich. Er aktivierte den Tempomaten und betätigte die Taste für den Fensterheber, während er die Schutzbrille aufsetzte und das Neopren-Trageband am Kopf festzurrte. Anschließend ließ er das Lenkrad los und zwängte sich so weit aus dem Fenster, bis er fast auf der Schwelle saß.
Er hielt das Gesicht in den Wind. Die Brille wurde ihm fest ans Gesicht gepresst, sodass seine Augen vor dem Regen geschützt wurden. Die Glock fühlte sich leicht wie eine Feder an, der Sturm drohte sie ihm aus der Hand zu reißen. Indem er all seine Kraft zusammennahm, gelang es ihm, sie auf dem Leinenverdeck des Roadsters abzustützen und auf den Mercedes zu richten. Er zielte und feuerte krachend eine Salve ab. Die Heckscheibe des Mercedes zerbarst, der linke Hinterreifen explodierte, kreischend flog schwarzes Gummi davon. Für einen Moment glaubte Harvath, im Rückspiegel die schwarz-silbernen Augen des Fahrers auszumachen, bevor der Mercedes ins Schlingern geriet.
Völlig durchnässt glitt Harvath ans Steuer des Audis zurück.
Der Fahrer des Mercedes hatte die Kontrolle über die Limousine zurückgewonnen und raste auf drei Reifen und einer Felge weiter. Als sie sich dem Mandarin Oriental Hotel näherten, brach der Mercedes in einer scharfen Rechtskurve aus. Scot war klar, dass sie wieder da waren, wo sie angefangen hatten.
»Wir haben ihn!« Mit diesen Worten trat Harvath das Gaspedal durch.
In genau diesem Augenblick begann der Mercedesfahrer durch die Öffnung zu zielen, an der sich eben noch die Heckscheibe befunden hatte. Harvath riss das Lenkrad des Audi nach links, als großkalibrige Kugeln durch die Motorhaube pflügten. Der Sportwagen schlitterte durch eine Pfütze und mit einem Mal sah Scot alles wie in Zeitlupe. Das Schicksal der beiden Fahrzeuge war besiegelt. Während der Audi unaufhaltsam auf einen Stapel Gerüstteile und Baumaschinen zuschlitterte, raste der Mercedes an einer Reihe geparkter Wagen entlang.
Der Audi prallte auf Chengs Seite gegen das Hindernis. Sämtliche Airbags lösten aus.
Der Mercedes krachte in die parkenden Fahrzeuge, wurde in die Luft geschleudert, überschlug sich und landete mit einem lauten Krachen.
Kaum hatte Harvath den Schock des Aufpralls abgeschüttelt, fiel sein Blick auf das Einschussloch in der Windschutzscheibe des Audis. Noch bevor er sich zu Sammy Cheng umdrehte, war ihm klar, dass es seinen Freund erwischt hatte. Harvath hörte das gurgelnde Geräusch, mit dem das Blut aus der Öffnung schoss, die sich die Kugel durch Chengs Kehle gebahnt hatte. Er versuchte die Blutung zu stillen, doch vergebens. Innerhalb von Sekunden stockte die Atmung. Cheng war tot.
Wutentbrannt kletterte Harvath aus dem Audi und taumelte zu der Stelle, wo der Mercedes brennend auf dem Dach lag. Er näherte sich dem Wagen von hinten, bemüht, die Glock ruhig zu halten. Je näher er kam, desto stärker krümmte sich sein Finger um den Abzug. In einer fließenden Bewegung, die man ihm in seinem ramponierten Zustand gar nicht zugetraut hätte, schwenkte er die Pistole durchs Fenster, während seine Augen den Wagen nach dem Fahrer absuchten. Doch das Fahrzeug war leer. Sein Blick huschte suchend über die Straße. Möglicherweise war der Fahrer ja hinausgeschleudert worden. Aber nichts. Keine Spur von ihm. Der Todesschütze mit den silberfarbenen Augen hatte sich im Unwetter in Luft aufgelöst.
5
Das Debakel in Macau lag jetzt eine Woche zurück. Noch immer konnte Harvath das Gefühl nicht abschütteln, versagt zu haben. Nach Chengs Tod war er in die Schweiz geflogen, um seine Wunden zu lecken und Zeit mit Claudia zu verbringen, aber es lief definitiv anders als erhofft.
Harvath wälzte sich herum, fühlte den leeren Platz an seiner Seite. Er war bereits kalt. Claudia musste längst ins Büro aufgebrochen sein. Er war zwar kein sentimentaler Typ, dennoch machte es ihm zu schaffen, auf wie viele Liebesbeweise sie mittlerweile verzichtete. So hatte sie aufgehört, ihn morgens zum Abschied zu küssen oder ihm eine Kaffeetasse hinzustellen. Sie hinterließ keine Zettel mehr für ihn im Badezimmer und, am allerschlimmsten, schien ihm nicht mehr zu vertrauen.
Bei seiner Rückkehr aus Hongkong und Macau hatte Harvath damit gerechnet, mit Claudia ein paar Tage auf dem Bauernhof ihrer Eltern in Grindelwald zu verbringen, bevor Gerhard Miners Prozess begann. Stattdessen hatte Claudia ›entschieden‹, dass sie mehr Zeit brauchte, um den Fall vorzubereiten, und so blieb Scot in Bern mehr oder weniger sich selbst überlassen.
Ihm war klar, weshalb sie das tat. Egal, wie geduldig er ihre Fragen beantwortete, mit denen sie ihn seit seiner Ankunft am Flughafen Zürich bombardierte, sie glaubte ihm einfach nicht. Claudia mochte es nicht, wenn man ihr Informationen vorenthielt, er übrigens auch nicht. Aber da es um Fragen der nationalen Sicherheit ging, musste er ihr nun mal vieles verschweigen – selbst wenn sie alles andere miteinander teilten, unter anderem auch das Bett.
Obwohl Harvath nicht sagen durfte, wo er gewesen war, und sich beharrlich weigerte, ihr seinen Pass zu zeigen, wusste sie, dass seine Reise ihn nach Asien geführt hatte. Außerdem wusste sie, dass er etwas mit dem Mord an Philip Jamek zu tun hatte. Jamek hätte ihr bei der bevorstehenden Anklage gegen Miner von Nutzen sein können, doch nun nützte er niemandem mehr.
Es schmerzte Harvath, dass sich zwischen ihm und Claudia eine Kluft auftat, doch er konnte ihr nicht die Wahrheit sagen, jedenfalls nicht die volle Wahrheit. Er versicherte ihr, dass er nichts mit Jameks Ermordung zu tun hatte. Das stimmte sogar. Jemand anders hatte Jameks Tod gewollt, aber warum? Die Chinesen hätten keinen Killer auf ihn angesetzt. Das ergab keinen Sinn. Vielleicht hatte Jamek bei einem seiner Waffengeschäfte jemanden aufs Kreuz gelegt, und der Anschlag war nun die Quittung dafür. Vielleicht gab es aber auch eine völlig andere Erklärung. Nur eins wusste Harvath mit Sicherheit: Die Augen des Attentäters verfolgten ihn nach wie vor.
Dass er sich zum Zeitpunkt von Jameks Ermordung in Asien aufgehalten hatte, unterlag strengster Geheimhaltung, er durfte nicht darüber sprechen. Claudia musste sich damit abfinden, keine Details zu erfahren. Und das tat sie auch.
Sie fand sich damit ab, indem sie sich hinter ihrer Arbeit verschanzte. Nachdem sie Scot bei der Rettung des Präsidenten und der Verhaftung Gerhard Miners unterstützt hatte, war sie befördert worden. Damit hatte sich für sie ein Traum erfüllt. Sie war nun eine qualifizierte Staatsanwältin und gehörte dem Team an, das dafür sorgen sollte, Gerhard Miner für den Rest seiner Tage hinter Schloss und Riegel zu bringen.
Die Schweiz hatte die ganze Welt verblüfft, indem sie sich standhaft weigerte, Miner an die USA auszuliefern, damit ihm dort der Prozess gemacht wurde. Die Schweizer versicherten den Amerikanern, dafür zu sorgen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde, allerdings werde man Miner für seine Verbrechen nicht hinrichten. Sollte Miner für schuldig befunden werden, und die Schweizer Regierung versicherte den Vereinigten Staaten, dass es dazu kam, verbrachte er den Rest seines Lebens hinter Gittern.
Da Claudia mit ihrer Beförderung auch höhere Ansprüche erfüllen musste, begriff Scot allmählich, dass ihre Hoffnungen auf eine tragfähige Beziehung schwanden. Harvath hatte Sonderurlaub, vom Präsidenten genehmigt, doch früher oder später musste er zurückkehren und seine neue Stelle als Koordinator des Weißen Hauses für Secret-Service-Operationen antreten. War das erst einmal geschehen, wurde es für sie nahezu unmöglich, sich regelmäßig zu sehen. Beide hatten sie sich für Jobs entschieden, in denen zuerst die Karriere kam und danach das Privatleben. Beide hatten sie viel zu hart für ihre aktuelle Stellung gearbeitet, um alles aufzugeben und allein aus Liebe in ein anderes Land zu ziehen.
Obwohl Harvath es ablehnen musste, die meisten von Claudias Fragen zu beantworten, verging doch kein Tag, an dem er sich nicht bemühte, Zugang zu Gerhard Miner zu bekommen. Die Schweizer vertraten die Meinung, sie hätten bereits umfassend kooperiert und beispiellose Bereitschaft zur Zusammenarbeit gezeigt. Vernehmungsteams sowohl vom FBI als auch von der CIA sowie ganze Heerscharen amerikanischer Diplomaten waren bereits durch den Hochsicherheitstrakt 15 Kilometer nordöstlich von Bern defiliert, in dem man Miner gefangen hielt. Ein Secret-Service-Agent, mochte er auch noch so clever sein, machte für die Schweizer keinen Unterschied. Miner hatte den Amis alles gesagt, was er zu sagen hatte. Mehr noch, Miner kündigte den Schweizern an, jegliche Kooperationsbemühungen einzustellen, sollten sie Agent Harvath auch nur in seine Nähe lassen. Miner drohte sogar mit einer Klage. Bei der Rettung des Präsidenten hatte Harvath Miner beinahe zu Tode geprügelt. Miner litt immer noch unter den Nachwirkungen; nicht nur an einem der schwersten Fälle von Arthritis, die den Schweizer Gefängnisärzten je untergekommen waren, sondern auch an beträchtlichen Nervenschädigungen im gesamten Gesicht, weil Harvath ihm den Kiefer an insgesamt sieben Stellen gebrochen hatte. Nein, die Schweizer ließen Scot Harvath unter keinen Umständen in Miners Nähe. Nicht einmal ein direktes Gesuch von US-Präsident Jack Rutledge persönlich hatte sie zum Umdenken bewogen.
Claudia hätte Scot ohne Weiteres Zugang zu dem Gefangenen verschaffen können. Aber da er nicht mit ihr kooperierte, tat sie es umgekehrt auch nicht. So einfach war das. Der Gedankengang spukte Scot noch immer im Kopf herum, als es klingelte.
Er nahm Claudias schnurloses Telefon ab. »Bei Müller!«
»Scot, ich bin’s«, meldete sich Claudia.
»Hi!«
»Hi!«
Verlegenes Schweigen folgte.
»Hör zu, ich wollte dir sagen, dass es mir leidtut.«
»Was denn?«
»Dass es nicht so gut läuft zwischen uns.«
»Mir tut’s auch leid.«
»Du weißt, dass du mir sehr viel bedeutest.«
»Ich weiß.«
»Es ist nur … ich glaube nicht, dass es funktionieren wird.«
Obwohl er genau wusste, wovon sie sprach, musste er trotzdem nachhaken: »Was, glaubst du, wird nicht funktionieren?«
»Die Sache mit uns. Eine Beziehung. Wir haben große Schwierigkeiten und extreme Gefahren überwunden. Das hat uns ziemlich schnell zusammengebracht, wahrscheinlich zu schnell. Aber wir sind zu verschieden. Du führst dein Leben zu Hause in Washington, ich meins hier in Bern.« Schließlich kam das gefürchtete »Wir können trotzdem noch Freunde bleiben, oder?«.
Scot ging nicht auf die Frage ein. »Claudia, warum sagst du mir das jetzt, am Telefon?«
Sie schwieg.
»Claudia? Bist du noch da?«
»Ja, entschuldige, ich war abgelenkt. Hier geht alles drunter und drüber.«
»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.«
»Es wurde alles vorverlegt.«
»›Vorverlegt‹? Wovon sprichst du eigentlich?«
»Von Miners Fall. Seine Anwälte haben einen Verfahrensantrag gestellt. Wir dachten, wir könnten ihn zerpflücken. Das ist uns aber nicht gelungen. Für heute Vormittag ist eine erste Anhörung angesetzt, bei der Miner anwesend sein wird. Jetzt, wo der Prozess vorverlegt wurde, habe ich eine Menge zu tun. Ich werde ständig Überstunden machen müssen und da dachte ich mir, wir sollten am besten direkt einen Schlussstrich ziehen.«
Normalerweise war Harvath nicht auf den Mund gefallen und selten um eine schlagfertige Erwiderung verlegen. Doch nun fehlten ihm ausnahmsweise die Worte.
»Scot, ist alles in Ordnung?«
»Wie lange weißt du schon davon?«
»Von der Anhörung? Seit ein paar Tagen.«
»Wie sieht es mit eurer Security aus? Wen habt ihr vor Ort?«
»Keine Sorge, Agent Harvath, die Amerikaner sind nicht die Einzigen, die einen Gefangenentransport durchführen und einen Gerichtssaal sichern können.«
»Claudia, nach allem, was du mir über diesen Jamek in Macau erzählt hast …«
»Scot, dafür habe ich jetzt keine Zeit und will mir auch nicht länger deine Lügen anhören, was deiner Meinung nach in Macau passiert ist. Ich weiß, dass du dort gewesen bist. Nachdem du aus Miner nicht herausbekamst, was du wolltest, hast du dich auf die Suche nach Jamek gemacht in der Hoffnung, dass er dir mehr erzählen kann.«
»Claudia, ich hab dir doch schon gesagt, dass ich in Jameks Tod nicht involviert war.«
»Ja, hast du gesagt. Aber du streitest nicht ab, dass du davon weißt, und du leugnest auch nicht, in Macau gewesen zu sein, als es passiert ist.«
»Du weißt, dass ich dir nicht sagen darf, wo ich war oder was ich getan habe.«
»Ich weiß, aber trotzdem tut es weh. Du bist mir wichtig. Das weißt du.«
»Dann schleus mich rein, damit ich Miner sehen kann. Ich muss mit ihm reden. Ich versprech dir, ihn nicht anzurühren.«
»Ich wünschte, ich könnte dir helfen. Mehr noch, ich wünschte, ich könnte dir glauben, aber das kann ich nicht, weder was Macau noch was Miner betrifft. Ich glaube dir gar nichts mehr. Besser, wir machen Schluss, okay? Mach es bitte nicht schwerer, als es eh schon ist.«
»Okay, Claudia, du hast recht. Du hast dein Leben hier, und ich habe meins zu Hause in D. C. Auch wenn wir beide es uns noch so sehr wünschen, es wird nicht funktionieren. Aber könntest du mir einen letzten Gefallen tun?«
»Scot, ich sagte doch, ich kann dich nicht zu Miner lassen.«
»Nein, vergiss es. Wie transportiert ihr Miner?«
»Das kann ich dir nicht verraten. Nicht am Telefon.«
»Nur eins: Gehörst du der Eskorte an, die ihn zum Gericht bringt?«
»Natürlich!«
»Dann will ich bei dir mitfahren.«
»Du willst was? Das ist lächerlich. Außerdem sagte ich doch gerade, dass ich dir nicht traue und dich nicht in Miners Nähe lasse.«
»Claudia, hier geht es nicht um ihn. Mir ist egal, wer bei euch für die Security verantwortlich ist; die verfügen noch nicht mal über die Hälfte von meinem Wissen. Nenn mich meinetwegen arrogant, aber wenn es um solche Sachen geht, ist niemand besser als unser Secret Service. Betrachte es als Gratis-Sicherheitsberatung. Es gibt zahllose Länder, die gutes Geld für so was hinblättern.«
»Ich halte das für keine gute Idee.«
»Ich will doch bloß, dass eure Fahrtroute und der Gerichtssaal sicher sind. Mehr nicht! Du hast mein Wort, ich versprech’s dir. Miner wird überhaupt nichts davon mitbekommen, dass ich da bin. Ich mach das aus Sorge um dich.«
»Um mich? Warum denn?«
»Weil jemand Philip Jameks Tod wollte. Ich bin überzeugt, dass es nicht die Chinesen waren. Sie wollten ihn ebenfalls tot sehen, klar, aber sie hätten vorher zumindest noch einen Schauprozess abgezogen. Jemand anders wollte Jameks Tod, ich weiß nicht, ob es etwas mit Miner zu tun hat, aber wenigstens kann ich dann in der Gewissheit nach Hause fahren, dass du in Sicherheit bist.«
»Okay, Scot, du hast gewonnen. Ich rufe ein Taxi, das dich ins Büro bringt. Ich hoffe nur, dass ich damit keinen schweren Fehler begehe.«
6
Eine Stunde und 45 Minuten später saß Harvath auf dem Beifahrersitz von Claudias VW, während sie auf der kurzen Strecke zum Gefängnis Bern hinter sich ließen. Der Konvoi bestand aus acht Fahrzeugen. Zwei Polizeimotorräder fuhren voran, gefolgt von zwei Streifenwagen, dem Transporter und zwei weiteren Streifenwagen. Claudias Wagen bildete die Nachhut.
Selbst in einem Land wie der Schweiz, dessen Einwohner sich viel auf ihr organisatorisches Talent einbildeten, konnte etwas schiefgehen. Bern wurde ständig von Verkehrsstaus geplagt. Der heutige Tag bildete da keine Ausnahme. Es gefiel Harvath ganz und gar nicht, im letzten Fahrzeug des Konvois zu sitzen. Andauernd bat er Claudia, den Funkverkehr mit den Führungsfahrzeugen zu übersetzen, den sie über das Gerät in ihrem Wagen mitverfolgen konnten. Claudia versicherte ihm, dass es lediglich um den Berner Straßenverkehr ging. Die Motorradpolizisten beklagten sich, dass die Leute nicht schnell genug auf ihre Sirenen reagierten. Aber fairerweise musste man sagen, dass es gar nicht so einfach war, beim Klang einer Polizeisirene mal eben kurz Platz zu machen; schon gar nicht, wenn man auf einer engen, noch aus dem Mittelalter stammenden Einbahnstraße im Stau steckte, auf der an beiden Seiten Autos parkten.
»Wir sind jetzt ganz in der Nähe.« Wie auf Kommando feuerte Claudia im Maschinengewehrtempo auf Schwyzerdütsch Bemerkungen in ihr Walkie-Talkie, ehe sie aus dem Konvoi ausscherte.
»Was tust du da?« Harvath richtete sich kerzengerade im Sitz auf, während Claudia aus der Formation ausbrach.
»Das Gerichtsgebäude ist nicht mehr weit. Die Presse hat Wind davon bekommen, dass Miner heute erscheinen wird, darum haben sie alles aufgefahren, was sie haben. Ich will nicht, dass dich jemand beim Betreten des Gebäudes zu Gesicht bekommt, deshalb nehmen wir nicht den Vordereingang. Du willst dir doch den Gerichtssaal ansehen, oder?«
»Selbstverständlich, aber wie konnte die Presse Wind davon bekommen, dass das Verfahren auf heute vorverlegt wurde?«
»Wie findet man in Amerika denn solche Sachen raus? Die Leute reden.«
»Beunruhigt dich das nicht?«
»Doch, natürlich, aber so läuft das bei den Journalisten nun mal. Sie schmieren jeden und haben überall ihre Quellen. Was kann ich schon dagegen tun? Hör zu, zusammen mit den Leuten im Transporter wird Gerhard Miner von über 25 der besten und noch dazu schwer bewaffneten Angehörigen der Polizei und des Schweizer Militärs bewacht. Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber seit Miner die Gefängnismauern hinter sich gelassen hat, folgt uns ein Militärhubschrauber.«
Natürlich war Scot der Helikopter aufgefallen. Dass Claudia so weit vorausgedacht hatte, beeindruckte ihn. Trotzdem machte er sich Sorgen.
»Im Gerichtssaal und im ganzen Gebäude sind zusätzliche Männer postiert. Draußen haben sich Zivilbeamte unter die Pressevertreter gemischt. Nun, Agent Harvath, wie schätzt du meine Sicherheitsvorkehrungen ein?«
»Bisher muss ich sagen, du bist ziemlich gründlich …«
»Man bräuchte eine Armee, um an Miner heranzukommen.«
Scot wusste, dass sie sich irrte. Es war gefährlich, sich im Glauben zu wiegen, man sei auf alles vorbereitet. Sollte ein Einzelner fest entschlossen sein, um jeden Preis Schaden anzurichten, gab es nichts, was eine Organisation, egal welche, tun konnte, um ihn oder sie aufzuhalten. Mit dieser Angst lebte der Secret Service 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Scot war im Begriff, ihr das zu sagen, als das Funkgerät knisternd zum Leben erwachte. Aus einem der Führungsfahrzeuge drangen hektische Rufe zu ihnen.
»Was ist los?«, erkundigte sich Scot.
»Wohl ein Unfall.«
»Ein Unfall? Was für ein Unfall?«
Claudia war bereits auf die Bremse getreten und brauste im Rückwärtsgang mit Höchstgeschwindigkeit zurück zur Stelle, an der sie aus dem Konvoi ausgeschert war. »Keine Ahnung. Die beiden Motorräder sind umgefallen. Ich kann nicht das Funkgerät bedienen und gleichzeitig rückwärtsfahren.«
Harvath wollte ihr gerade vorschlagen, die Plätze zu tauschen, da zerriss eine gewaltige Explosion die warme Morgenluft. Hinter den Gebäuden zu ihrer Rechten quoll ein Feuerball in die Höhe. Die Funksprüche wurden immer dringlicher und reihten sich in das allgemeine Durcheinander der Umgebung ein. Harvath vernahm das charakteristische Wupp, Wupp, Wupp, mit dem sich die Landung eines schweren Helikopters ankündigte.
Harvath griff Claudia ins Lenkrad und riss es nach links, während er gleichzeitig die Handbremse anzog. Der VW schrammte an drei geparkten Wagen vorbei und drehte sich um 180 Grad. Claudia war viel zu verblüfft, um zu protestieren. Wenigstens fuhren sie jetzt wieder vorwärts und kamen besser voran. Hinterher konnte Scot sich immer noch entschuldigen. »Gib Gas!«, sagte er.
Sie bogen um die Ecke und kehrten zur Straße zurück, auf der sie den Konvoi verlassen hatten. Dort herrschten Zustände wie im Bürgerkrieg. Mindestens 15 Autos brannten lichterloh. Glassplitter und brennende Trümmerteile verstreuten sich überall, mehrere Geschäfte und angrenzende Gebäude standen in Flammen.
Claudia fuhr so dicht heran, wie sie konnte, bevor sie zusammen mit Harvath aus dem Wagen sprang und losrannte. Man sah auf den ersten Blick, dass dies kein normaler Unfall war. Ein ziemlich großer Sprengsatz musste genau in dem Moment detoniert sein, als die Wagenkolonne vorbeifuhr. Harvath beobachtete, wie Claudia an ihrer Waffe hantierte.
»Und was ist mit mir?«, beschwerte er sich.
Ohne langsamer zu werden, langte Claudia unter ihren Blazer, zog eine kurzläufige Walther P38K und warf sie Harvath zu. Das Walkie-Talkie an den Mund gepresst, erteilte sie brüllend Anweisungen.
In einer kurzen Sprechpause wandte sie sich an Harvath. »Einer der Zivilbeamten meint, die Motorradpolizisten wurden von einem Scharfschützen außer Gefecht gesetzt. Als sie stürzten, stoppte der Konvoi und dann ging die Ladung hoch. Ich lasse den Hubschrauber das Gebiet absuchen. Die Stadtpolizei errichtet bereits Straßensperren.«
Das Feuer hielt sie vom Näherkommen ab. Scot stand untätig daneben, während Claudia angestrengt versuchte, die Bemühungen von Polizei und Militär via Walkie-Talkie zu koordinieren. Die Rettungskräfte trafen zeitnah ein, brauchten jedoch mehr als drei Stunden, um die Brände unter Kontrolle zu bringen. Es dauerte weitere vier Stunden, bis die Spurensicherung ihre Arbeit erledigt hatte.
Bei dem Sprengsatz hatte es sich um eine Autobombe gehandelt. Ausgehend von Marke und Modell meinten die Anwohner, der Wagen habe seit mindestens zwei Tagen dort geparkt, doch niemand wusste es genau oder sah sich in der Lage, eine Beschreibung des Fahrers zu liefern. Die Polizei hatte nur eine einzige Zeugin, die man aber schnell wieder ignorierte. Eine alte Sinti, die das Viertel durchstreifte und mit einem Stock in den Mülltonnen stocherte. Man hielt sie für völlig verrückt. Sie behauptete, den Fahrer gesehen zu haben, doch anstelle einer Beschreibung gab sie zu Protokoll, es sei Satan persönlich gewesen. Der Teufel habe sie aus Augen angesehen, die ihre Farbe ändern konnten – von silbern nach schwarz, als werde der Mond plötzlich zu Schiefer.
Harvath, der in der Nähe stand, schnappte genug von dem stark dialektal gefärbten Deutsch der Frau auf, um in Verbindung mit ihren Gesten mitzubekommen, wovon sie redete. Mit seinem Verdacht hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen. Derselbe Mann, der Philip Jamek erschossen hatte, wollte auch Gerhard Miner tot sehen. Die Löwen hatten etwas gewusst, und jemand wollte dafür sorgen, dass sie den Mund hielten – und zwar für immer.
Harvath war noch bemüht, aus den Informationsfetzen in seinem Gehirn ein Bild zusammenzusetzen, da kam Claudia zu ihm. »Ich möchte, dass du dir etwas ansiehst. Ein Stück weiter die Straße rauf.«
»Was denn?«
Sie gab ihm keine Antwort und marschierte einfach los. Scot folgte ihr.
Harvath glaubte nicht an Zufälle. Um genau zu sein, war es in seiner Branche überlebenswichtig, nicht an den Zufall zu glauben. Es gab keinen Zufall. Und genau das war das Verstörende an dem Anschlag auf die Fahrzeugkolonne. Seine beiden besten menschlichen Hinweisgeber waren tot. Er ging fest davon aus, dass jemand Jamek und Miner absichtlich getötet hatte, bevor sie Harvath oder sonst jemandem berichten konnten, was sie über jene verhängnisvolle Nacht wussten, in der eine komplette Spezialeinheit über die Klinge gesprungen war.
Claudia führte ihn in ein schmales Mietshaus, mehrere Treppenfluchten hinauf. In typisch europäischer Manier gab es natürlich keinen Aufzug. Deshalb mussten sie zu Fuß nach oben.
Auf dem oberen Treppenabsatz deutete sie auf eine offene Wohnungstür, hinter der ein Team der Spurensicherung eifrig bei der Sache war. Claudia unterhielt sich kurz mit dem Kriminalbeamten, der die Ermittlungen leitete, und übersetzte anschließend für Scot.
»Der Vermieterin zufolge ist der Inhaber dieser Wohnung seit einer Woche verreist. In den Urlaub. Spuren an der Tür deuten darauf hin, dass sich jemand gewaltsam Zugang verschafft hat, aber anscheinend wurde nichts gestohlen.«
»Und?«
»Warte, bis du siehst, was im Schlafzimmer ist.«
Claudia führte Harvath an den Fotografen und den Männern vorbei, die alles einstaubten, um Fingerabdrücke zu nehmen. Auf dem Bett lag neben einer chirurgisch aus dem Fenster entfernten Glasscheibe ein langes schwarzes Gewehr.
»Weißt du, was das für eine Waffe ist?«, fragte sie.