4,99 €
An einem kalten Januarmorgen erwachen die Vereinigten Staaten und entdecken, dass ein längst tot geglaubter Feind aus seinem Grab gekrochen ist, um das Land zu zerstören. Nach mehreren Morden an US-Agenten verdichten sich die Hinweise, dass der Killer ein berüchtigter Ex-KGB-Doppelagent ist. Geheimdienstagent Scot Harvath wird eingeschaltet. Zusammen mit der schönen russischen Agentin Alexandra Ivanova startet Harvath eine adrenalingeladene Jagd. Sie geraten mitten in eine teuflische Verschwörung, die die Vereinigten Staaten in die Knie zwingen soll. Ein neuer elektrisierender Thriller mit dem US-Helden Scot Harvath, der die Leser so lange rätseln lässt, bis das letzte Teil des Puzzles passt. Nelson DeMille: »Scot Harvath ist der perfekte amerikanische Held.« Dan Brown: »Brad Thor ist so brisant wie die Schlagzeilen von morgen!«
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 575
Veröffentlichungsjahr: 2020
Aus dem Amerikanischen von Alexander Amberg
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe State of the Union
erschien 2004 im Verlag Atria Books, Simon & Schuster.
Copyright © 2004 by Brad Thor
Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig
Titelbild: Arndt Drechsler
eISBN 978-3-86552-873-5
www.Festa-Verlag.de
www.Festa-Action.de
Für Sloane –
Willkommen auf der Welt, Kleines.
Cunctando Regitur Mundus
Wer wartet, regiert die Welt.
PROLOG
WASHINGTON, D. C.
DIENSTAGABEND, 28. JANUAR
»Chuck, ich möchte einfach nur mal zehn Minuten meine Ruhe haben, damit ich nachdenken kann«, fuhr der Präsident seinen Stabschef an.
Charles Anderson hatte seinen Chef noch nie so erlebt. Andererseits hatte Amerika auch noch nie vor einem Problem dieses Ausmaßes gestanden. In weniger als drei Stunden sollte Präsident Jack Rutledge seine Rede zur Lage der Nation halten, doch er hatte bereits die schwere Entscheidung getroffen, den Kongress zu evakuieren, und sich dazu entschlossen, die Rede als Videoübertragung aus dem Weißen Haus zu senden. Die schwerste Entscheidung lag jedoch noch vor ihm.
»Okay, Leute«, sagte Anderson. »Sie haben den Präsidenten gehört. Ziehen wir uns zurück. Alle raus. Wir treffen uns im Situation Room.«
Nachdem das Oval Office geräumt war, lehnte sich der Präsident auf seinem Stuhl zurück, schloss die Augen und massierte sich mit den Handballen die Stirn. Sein Amtseid verlangte von ihm, die Verfassung zu bewahren, zu schützen und zu verteidigen. Die Verfassung – ein Gesetzeskorpus, das ihn dazu verpflichtete, »den Kongress über die Lage der Nation zu informieren und ihm zur Beratung diejenigen Maßnahmen zu empfehlen, die seiner Ansicht nach erforderlich und angebracht sind«. Nie im Leben hätte er sich träumen lassen, dass die Erfüllung seiner Pflichten dazu führen würde, alles zunichtezumachen, wofür Amerika je gekämpft hatte.
Er musste an die erste Rede zur Lage der Nation denken, die George Washington vor über 200 Jahren in der New Yorker Federal Hall gehalten hatte. Da das große demokratische Experiment noch in den Kinderschuhen steckte, hatte Washington sich auf das Konzept der Union selbst konzentriert und auf die Herausforderungen, die Einigkeit innerhalb der Union nicht nur herzustellen, sondern auch zu wahren.
Wie zum Teufel hatte es nur so weit kommen können?, fragte sich Rutledge, während er die Augen aufschlug und die beiden Ordner auf dem Schreibtisch vor sich betrachtete. Jeder enthielt eine andere Version seiner Rede zur Lage der Nation, und beide bargen sie ein gleichermaßen verheerendes Potenzial. Das Schicksal von Millionen Amerikanern hing von dem ab, was er in den nächsten drei Stunden sagte und unternahm.
Präsident Jack Rutledge war zwar nicht sonderlich religiös, trotzdem schloss er noch einmal die Augen. Diesmal betete er darum, dass Gott ihn leiten möge.
1
SWENIGOROD, RUSSLAND
VOR DREI WOCHEN
»Der Winter kommt dieses Jahr zu früh«, murrte Sergej Stawropol, während er seinen langen Mantel über einen Stuhl an der Tür warf. Er war der Letzte der vier, der eintraf. »Ich glaube, das wird einer der kältesten, die wir seit Langem erlebt haben.« Er ging rüber an die Bar, nahm eine Karaffe Weinbrand und schenkte sich einen zierlichen Kristall-Kognakschwenker voll. Er war ein riesenhafter Mann mit dunklem Haar und einer großen Nase, der man ansah, dass man sie ihm schon mehrmals gebrochen hatte. Mit seinen 1,90 und zweieinhalb Zentnern war er kräftiger als jeder andere im Raum. Aber es waren seine dunklen, durchdringenden Augen, die die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zogen und ihm vor langer Zeit seinen Spitznamen eingebracht hatten. Obwohl er den Beinamen »Rasputin« nicht ausstehen konnte, machte er doch die Erfahrung, dass er seinen Feinden und allen, die sich ihm widersetzen wollten, ein gewisses Maß an Furcht einflößte. Darum hatte er zugelassen, dass der Name an ihm haften blieb. Sein Haar, in dem sich bereits das erste Grau zeigte, war militärisch kurz geschnitten, seine Haut voller Pockennarben. Sein linkes Auge hing ein wenig herab, wegen einer Granate, die vor seinem Gesicht explodierte, als er einen seiner Männer aus dem Weg stieß. Er war zwar doppelt so mutig wie seine versammelten Kollegen, doch seine Manieren ließen deutlich zu wünschen übrig, und wie um dies zu demonstrieren, kippte er den Weinbrand in einem langen Zug hinunter.
Die Männer am Tisch belächelten das Verhalten ihres Freundes. Stawropol war so unerschütterlich wie der Nordstern. In über 40 Jahren hatte nichts ihn verändert – weder Geld noch Macht, nicht einmal das Wissen darum, dass er als einer der größten Soldaten in die Geschichte eingehen würde, die Mütterchen Russland jemals hervorgebracht hatte. Im Kampf hatte er jedem der Männer in diesem Raum schon einmal das Leben gerettet, manchem mehr als einmal. Doch sie hatten sich nicht in diesem abgelegenen Waldgebiet 65 Kilometer westlich von Moskau versammelt, um in der Vergangenheit zu schwelgen. Ganz im Gegenteil, die vier Männer, die um den abgenutzten Eichentisch saßen, waren hier, um die Zukunft zu gestalten.
Draußen wehte ein eisiger Windhauch über die Schotterauffahrt des jahrhundertealten Jagdschlosses. Graue Rauchfahnen rankten sich aus dem gemauerten Schornstein, nur einen Augenblick lang zu sehen, ehe der sich immer mehr verdunkelnde Himmel sie aufsog. Als der kalte Wind sich gegen das imposante Bauwerk stemmte, stöhnte es tief auf.
Stawropol, der Anführer der Gruppe, ging zum Kamin, nahm den schmiedeeisernen Schürhaken, verbrachte einige Augenblicke damit, die Glut zu schüren, während er so tat, als suchte er nach den passenden Worten. Es war eine leere Geste. Denn er wusste genau, was er sagen wollte. Spontaneität zählte nicht zu seinen Eigenschaften. Spontaneität führte zu Fehlern, und Fehler waren die Vorboten des Versagens. Schon seit Jahren ging Stawropol diesen Moment im Geist durch. Seiner wilden Entschlossenheit kam nur seine Fähigkeit zu kalter, leidenschaftsloser Berechnung gleich.
Nachdem er ausgiebig demonstriert hatte, wie sehr er überlegte, richtete er sich zu seiner vollen Größe auf und wandte sich an seine Mitstreiter: »Es freut mich, euch alle hier zu sehen. Schon seit Jahren warten wir auf diesen Augenblick. Heute schlagen wir ein neues, ruhmreiches Kapitel in der Geschichte nicht nur unseres geliebten Mütterchens Russland, sondern der ganzen Welt auf. Vor 15 Jahren …«
»… waren wir noch viel jünger«, fiel einer der Männer ihm ins Wort.
Es war Valentin Primowitsch. Er war schon immer nur Mittelmaß gewesen, immerzu hegte er Bedenken. Seit jeher war er das schwächste Glied in der Kette. Stawropol sah ihn durchdringend an. Er hatte die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass die niederen Chargen sich querstellen könnten, allerdings nicht gleich am Anfang. Unbewusst ballte er seine Hand zur Faust. Er ermahnte sich, ruhig zu bleiben. Warte, sagte er sich. Warte einfach.
Stawropol versuchte, eine freundliche Miene aufzusetzen, ehe er antwortete. »Valentin, wir sind noch immer jung. Und was wir an Jahren verloren haben, machen wir durch Erfahrung mehr als wett.«
»Wir haben jetzt ein gutes Leben«, sprang Uri Warenski Primowitsch zu Hilfe. »Die Welt hat sich verändert. Russland hat sich verändert.«
»Das wussten wir doch!« Stawropols Blick wanderte zu Warenski. Er war weich und bequem geworden. Hätte vor 15 Jahren jemand Stawropol gesagt, dass ein so großartiger Mann, ein so großartiger Soldat, eines Tages vor lauter Selbstzufriedenheit die Hände in den Schoß legen werde – er hätte es nicht geglaubt. »Du vergisst, dass die Veränderung durch uns zustande kam. Es war unsere Idee.«
»Es war deine Idee«, erwiderte Anatoli Karganow. »Wir standen dir zur Seite, so wie immer, aber Uri und Valentin haben recht. Die Zeiten haben sich geändert.«
Stawropol wollte seinen Ohren nicht trauen. Ergriff Karganow, einer der größten militärischen Köpfe des Landes, etwa Partei für Primowitsch und Warenski? Der Anatoli Karganow?
All seiner sorgfältigen Planung zum Trotz verlief das Treffen keineswegs so, wie Stawropol es sich vorgestellt hatte. Er hielt inne, holte tief Luft, erneut bemüht, sich zu beruhigen, bevor er antwortete.
»Ich habe diese Veränderungen gesehen. Als ich von Moskau hierherfuhr, sah ich sie links und rechts der Straße – alte Frauen, die mit selbst gemachten Besen den Rinnstein fegen oder Kartoffeln und Brennholz verkaufen, nur um genug zu essen zu haben, während die Neureichen in ihren BMW- und Mercedes-SUVs vorüberfahren und amerikanische Rapmusik hören.
In verfallenen Häusern abseits der Straße rauchen kleine russische Kinder Crack-Kokain, setzen sich Heroinspritzen und verbreiten Tuberkulose und das Aidsvirus, die unsere Bevölkerung dahinraffen. An den Plakatwänden und Anschlagtafeln, auf denen wir einst den tiefen Stolz auf unser Vaterland feierten, hängt jetzt Werbung für Pauschalurlaube in Griechenland, neue Fitnessstudios oder die neueste Designermode aus Italien.«
»Aber Russland hat doch Gewinne gemacht«, beharrte Karganow.
»Gewinne, Anatoli? Was für Gewinne denn?« Die Verachtung in Stawropols Stimme war nicht zu überhören. »Die Sowjetunion war früher einmal eine Großmacht, die elf Zeitzonen umspannte. Und sieh uns jetzt an! Die meisten unserer Schwesterrepubliken sind verschwunden, und wir sind in erbärmliche Kämpfe verstrickt, um die wenigen zu halten, die noch übrig sind. Unsere Wirtschaft, die von unseren raffgierigen Landsleuten so bereitwillig akzeptierte freie Marktwirtschaft, bewegt sich Tag für Tag am Rand des Zusammenbruchs. Die Reichen plündern unser Land aus, schaffen ihr Geld ins Ausland und schicken ihre Kinder nach Europa aufs Internat. Unsere Währung wurde abgewertet, unsere Lebenserwartung ist lächerlich gering und unsere Bevölkerung schrumpft. Mehr noch, die Welt braucht nichts von dem, was wir zu verkaufen haben, und jedem ist völlig egal, was wir zu sagen haben, niemand hört darauf. Früher einmal waren wir eine große Weltmacht – eine Supermacht –, jetzt sind wir gar nichts mehr. Dieses Vermächtnis möchte ich nicht hinterlassen.«
»Sergej«, begann Karganow, der Weltverbesserer, »wir alle haben unser Leben dem Vaterland verschrieben. Unsere Liebe zu Russland ist über jeden Vorwurf erhaben.«
»Tatsächlich?« Bedächtig sah Stawropol jeden am Tisch reihum an. »Ich habe den Eindruck, eure Liebe zu Mütterchen Russland ist nicht mehr so groß wie früher. Diese Sache ist nichts für Schwächlinge oder Angsthasen. Vor uns liegt noch viel Arbeit, und es wird nicht leicht. Aber letzten Endes wird Russland uns dankbar sein.«
Unbehagliches Schweigen senkte sich über den Raum. Nach einigen Minuten war Warenski derjenige, der es brach. »Der Tag, über den wir uns alle Gedanken machten, ist zu guter Letzt also gekommen.« Er stellte weniger die Tatsache fest, vielmehr brachte er damit eine gewisse Besorgnis zum Ausdruck, gepaart mit einem Anflug von Reue.
»Du klingst nicht gerade erfreut«, erwiderte Stawropol. »Vielleicht hatte ich unrecht. Womöglich seid ihr gar nicht mehr jung. Womöglich seid ihr alte Männer geworden – und macht euch in die Hosen.«
»Das ist doch lächerlich«, warf Primowitsch ein, für gewöhnlich der Vorsichtigste der Gruppe. »Das meiste, was du für die Sowjetunion hast kommen sehen, ist eingetreten. Aber es war doch nicht alles zum Schlechten. Du möchtest nur das sehen, was du sehen willst.«
Allmählich riss Stawropol der Geduldsfaden. »Was ich sehe, sind drei faule Schweine, die sich zu lange am Trog des Kapitalismus gemästet haben. Drei senile alte Männer, die ein Versprechen vergessen haben, das sie ihren Genossen, ihrem Vaterland gaben.«
»Du tust dir keinen Gefallen, indem du uns beleidigst«, erwiderte Karganow.
»Ach, tatsächlich?« Stawropol tat überrascht. »Der Moment, auf den wir gewartet haben, der Moment, auf den wir so hart hingearbeitet haben, ist endlich gekommen. Endlich sind wir bereit, den schlafenden Riesen zu wecken, und am Vorabend unseres größten Erfolges, nach so vielen Opfern, nach so langem Planen und Warten überlegen meine besten Freunde es sich auf einmal anders. Wie soll ich deiner Meinung nach denn reagieren?«
»Warum stimmen wir nicht darüber ab?«, schlug Warenski vor.
»Eine Abstimmung?«, entgegnete Stawropol. »Wie absolut demokratisch!«
»Es ist 15 Jahre her, dass wir uns auf deinen Plan einließen, Sergej«, sagte Karganow. »Wir sind heute nicht mehr dieselben wie damals.«
»Offensichtlich«, fuhr Stawropol ihn an, »da ein Eid euch ja nichts mehr bedeutet.« Er hob die Hand, um Karganow das Wort abzuschneiden, bevor dieser etwas erwidern konnte. »Ich muss zugeben, ich bin enttäuscht, allerdings nicht überrascht. Die Zeit kann das Feuer in der Seele eines Menschen zum Erlöschen bringen. Manche Männer brennen nicht mehr für ihre Ideale, wenn sie älter werden, sondern verlassen sich auf eine Decke, um sich nachts warm zu halten. Ich gebe mir die Schuld daran. Wir werden darüber abstimmen, wie Genosse Warenski vorgeschlagen hat. Aber zunächst sollten wir uns noch um eine andere Sache kümmern.«
»Was auch immer«, erwiderte Primowitsch. »Lass es uns einfach hinter uns bringen.«
Stawropol lächelte. »Es freut mich, dass du zustimmst, Valentin. Was ich möchte, ist eine vollständige Liste aller Agenten, die wir an Ort und Stelle haben, und wie man sie kontaktiert.«
»Wozu ist das notwendig?«, wollte Karganow wissen.
»Da ich derjenige bin, der das Ganze ins Leben gerufen hat, möchte ich auch derjenige sein, der es beendet. Es dürfen keine offenen Probleme zurückbleiben.«
»Du hast doch nicht etwa vor, sie zu beseitigen?«, fragte Warenski. »Das sind keine bloßen Fußsoldaten.«
»Natürlich nicht, Uri«, sagte Stawropol. »Die Agenten werden schlicht und einfach nach Mütterchen Russland zurückbeordert. Das ist alles. Darüber würdet ihr euch doch alle freuen, oder?«
Am Tisch herrschte Totenstille.
»Und wenn sie nicht zurückbeordert werden möchten?«, wollte Primowitsch wissen.
»Ich bin sicher, dass sie sich überzeugen lassen. Kommt, wir vergeuden Zeit. Ich weiß, dass zu Hause ein warmes Bett auf euch wartet. Sagt mir, was ich wissen muss, damit wir endlich abstimmen können.«
Widerstrebend gaben die Männer Auskunft, während Stawropol sich sorgfältig alles notierte. Sensible Informationen brachte er nur äußerst ungern zu Papier, doch so viele wichtige Einzelheiten seinem alternden Gedächtnis anzuvertrauen, stellte ein noch viel größeres Risiko dar.
Beim Schreiben ging er bedächtig um den Tisch herum, seine Stiefel hallten auf dem Holz der Bodendielen wider. Der Rhythmus war so wie der ganze Mann – akribisch, geduldig.
Nachdem die notwendigen Details gesammelt waren, ließ Stawropol die Männer abstimmen. Einstimmig votierten sie dafür, die Operation abzubrechen. Es war genau so, wie er befürchtet hatte. Primowitsch, Warenski und sogar Karganow waren weich geworden. Nun gab es nur noch eine einzige Option.
»Es ist also beschlossen«, räumte er ein und blieb vor dem Kamin stehen.
»Glaub mir, es ist das Beste«, erwiderte Karganow.
Primowitsch und Warenski brachten ihre Zustimmung zum Ausdruck, während sie aufstanden und ihre Mäntel holten.
»Du kannst immer noch Großes für Russland leisten«, fuhr Karganow fort. »Ich bin sicher, im Verteidigungsministerium wäre man froh, wenn du ihnen deine Talente zur Verfügung stellen würdest. Vielleicht ist sogar ein Posten an einer Militärakademie drin. Da kannst du den Soldaten von morgen beibringen, was es heißt, ein Furcht einflößender russischer Krieger zu sein.«
»Du solltest dir ein Hobby zulegen«, schlug General Primowitsch vor und kam herüber, um seinem alten Kameraden die Hand zu reichen.
»Ein Hobby?«, fragte Stawropol. »Das ist eine wirklich gute Idee. Golf vielleicht?«
»Gewiss doch!« Ein Lächeln spielte um Primowitschs Lippen, als Stawropol den eisernen Schürhaken in die Hand nahm und tat, als holte er aus, um damit einen Golfball zu schlagen. Stawropol schien es besser aufzunehmen als erwartet. »Ich habe mir sagen lassen, es soll äußerst entspannend sein.«
Schlagartig wich das Lächeln aus Primowitschs Gesicht, als Stawropol ihm den Schürhaken mit voller Wucht gegen die Schläfe donnerte, ihm den Schädel spaltete.
Einen Moment lang stand Primowitsch nur da, dann sackte sein lebloser Körper zusammen.
»In der Tat äußerst entspannend«, höhnte Stawropol, während er den blutigen Schürhaken fallen ließ.
»Was hast du getan?«, brüllte Karganow.
»Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass es so einfach läuft. Einfach abstimmen und abhauen, oder? Seit über 15 Jahren arbeiten wir daran. Ich habe alles geplant, alles – bis ins kleinste Detail. Natürlich habe ich mit Widerstand gerechnet, von Primowitsch. Vielleicht auch ein bisschen von Warenski. Aber nicht von dir, Anatoli. Nie im Leben!«
»Du hast ja den Verstand verloren«, schrie Warenski. Gleichzeitig setzte er zu einem Sprint um den Tisch herum an, um sich auf Stawropol zu stürzen.
Stawropol zog eine mit wunderschönen Gravierungen verzierte, schwarz verchromte Tokarew, die er am Kreuz versteckt trug, und schoss ihn nieder, noch bevor er es drei Schritte weit schaffte.
Karganow konnte nicht fassen, was er da sah. Stawropol war wahnsinnig, da war er sich sicher.
»Also, was soll es sein, Anatoli?«, fragte Stawropol. »Machst du mit? Oder hältst du zu Valentin und Uri?«
Karganows Miene war ihm Antwort genug.
»Wie du willst!« Damit jagte Stawropol Karganow eine Kugel in den Kopf.
Als er die Schüsse hörte, stieg ein weiterer, in schwere Winterkleidung vermummter Mann aus Stawropols Wagen und ging mit ruhigen Schritten hinein, um seinem Chef zur Hand zu gehen. »Jetzt, wo diese Männer tot sind, haben wir viel mehr zu tun«, meinte er, während er Stawropol dabei half, die drei Leichen durch die Hintertür zu schleppen.
Stawropol lächelte. »Die Liste unserer Agenten in Amerika ist recht lang. Im Lauf der Jahre haben wir hier einen Aldrich Ames verloren, da einen Robert Hanssen, aber viele weitere sind noch vor Ort. Alles wird weitergehen wie geplant, und du, mein Freund, solltest für ein bisschen Platz an deiner alten Uniform sorgen. Ich bin sicher, Russland wird einen ganz neuen Orden schaffen für das, was wir bald bewirken werden.«
Die beiden Männer arbeiteten schweigend, hoben flache Gräber aus, um die Leichen hinter dem abgelegenen Schloss zu verscharren. Sie waren nicht allein. Hoch über ihnen kauerte jemand, beobachtete sie von einem der Pfade aus, die sich durch das dicht bewaldete Gebiet zogen.
2
EASTON, MARYLAND
REDE ZUR LAGE DER NATION – NOCH ZEHN TAGE
Frank Leighton hatte Angst. Ja, um ehrlich zu sein, vor lauter Angst machte er sich fast in die Hose. Mitten in der Nacht hatte er den Anruf erhalten, die Stimme klang eher nach einer Maschine als nach einem Menschen, blechern wie aus einer Dose, als käme sie von weit her. Doch es war nicht der Klang dieser Stimme, der ihn so erschütterte. Es war die Nachricht.
Es dauerte einige Momente, bis Leighton richtig bei sich war – er hatte fest geschlafen. Und warum auch nicht? Schließlich war er im Ruhestand. Mit einem offenen Auge zu schlafen, auf der Hut vor der kalten Klinge, die ein vermeintlich Verbündeter ihm zwischen die Rippen stoßen könnte, auf das verräterische Zischen einer Kugel zu lauschen, die ein namenloser Attentäter aus einer schallgedämpften Waffe abfeuerte, gehörte der Vergangenheit an. Zumindest hatte er das gedacht.
Frank Leighton war seit 15 Jahren aus dem Rennen, hatte mehr als zehn Kilo Übergewicht. Er duschte rasch, rasierte sich, kämmte sich die dichte, graue Mähne. Die Jahre waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Als er in den Spiegel blickte und zu sich selbst sagte »Ich bin doch viel zu alt für diesen Mist«, war dies nichts als die reine Wahrheit.
Der anfängliche Adrenalinschub, den der Anruf ausgelöst hatte, war längst verflogen, darum beschloss Leighton, eine Kanne Kaffee zu kochen, während er seine Möglichkeiten abwägte. Er musste nicht lange überlegen, denn ihm blieb gar keine andere Wahl. Genau dies sah der Plan ja vor.
Als der Kaffee fertig war, schenkte Leighton sich einen Becher ein und ließ noch drei Fingerbreit bis zum Rand. Anschließend holte er eine Flasche Wild Turkey aus dem Schränkchen über dem Kühlschrank, um den Becher damit aufzufüllen. Ein Frühstück für Helden, dachte er, während er seinen Becher nahm und an der Speisekammer vorbei der Wäsche- und Vorratskammer zustrebte, die ihm zugleich als Arbeitszimmer diente.
Während er darauf wartete, dass sein Computer hochfuhr, fiel sein Blick auf das Bild seiner Schwester Barbara mit ihren beiden Kindern. Vielleicht sollte er sie anrufen, warnen. Sie hatte immer noch die Hütte in Wyoming. Dort wären sie in Sicherheit. Er musste ihr ja nicht sagen, warum. Sie würde ihm vertrauen, tun, was er verlangte. Es war wichtig, dass sie in Sicherheit waren, zumindest bis er seinen Auftrag erfüllt hatte. Wie in aller Welt, fragte er sich, konnte es nur so weit kommen? Nach all den Jahren!
Der Webbrowser öffnete sich, riss Leighton aus seinen Gedanken. Er ging auf die Webseite von American Airlines, sah alle internationalen Flüge durch, die heute Morgen von Washington aus starteten. Nachdem er den Flug gefunden hatte, den er suchte, begann er mit der Buchung des Tickets. Er hatte keine Ahnung, ob die alte Capstone-Corporation-Kreditkarte noch funktionierte. Es war die einzige Möglichkeit, den Flug zu reservieren und zu bezahlen, da er keine großen Bargeldvorräte mehr im Haus hatte. Das hatte er mit seinem früheren Beruf, mit seinem alten Leben hinter sich gelassen.
Falls die Karte noch aktiv war, akzeptierte die wenig bekannte Bank in Manassas, Virginia, jeden Fälligkeitstermin, den er in den Computer eingab. Leighton brauchte weder die Karte noch den falschen Pass, der mit dem Namen auf der Kreditkarte übereinstimmte, eigens aus ihrem Versteck in dem Bootsschuppen hinter dem Haus zu holen. Beides war dort in einer Ecke in einer Boje fürs Hummerfischen verwahrt. Wenn das Leben über Jahre hinweg an einem seidenen Faden hängt, vergisst man gewisse Dinge einfach nicht. Er gab die Kreditkartennummer auswendig ein und wartete, während die American-Airlines-Seite seine Anfrage bearbeitete. Wenige Augenblicke später erschien eine Bestätigungsnummer samt Platzreservierung auf dem Bildschirm.
Leighton war klar, dass beim Kauf eines Tickets für denselben Tag sämtliche Alarmglocken schrillten. Eine Waffe mitzunehmen kam also nicht infrage. Er musste warten, bis er an seinem Ziel eintraf. Sobald er dort war, hatte er Zugriff auf mehr als genug Feuerkraft und auch Geld – sofern sich alles noch an Ort und Stelle befand.
Es musste noch dort sein. Die Tatsache, dass die Capstone-Kreditkarte immer noch funktionierte und allein schon die Tatsache, dass sie ihn nach all der Zeit angerufen hatten, war Grund genug anzunehmen, dass er alles so vorfinden würde, wie er es vor 15 Jahren zurückgelassen hatte.
Aber was zur Hölle war überhaupt los? Ob es ein Test war? Falls ja, warum ihn testen? Die hatten doch bestimmt jüngere, fähigere Agenten als ihn – Agenten, die tatsächlich noch im Dienst waren. Nichts davon ergab einen Sinn. Wenn man das wichtigste Pferderennen der Welt veranstalten will, warum dazu alte Schlachtrösser von der Weide holen?
Fragen über Fragen. Frank Leightons Gedanken überschlugen sich, und als seine Bedenken und Vermutungen übermächtig zu werden drohten, schlug er eine Stahltür vor ihnen zu. Er rief sich ins Gedächtnis, was man ihnen allen beigebracht, ihnen wieder und wieder eingetrichtert hatte – Die Regeln können niemals falsch sein. Der Plan ist unfehlbar.
Während er sich zusammenriss und seinen Computer herunterfuhr, dachte Leighton erneut daran, seine Schwester anzurufen. Sollte sein Einsatz fehlschlagen, hätten sie und die Kinder zumindest eine Chance. Dann überlegte er es sich anders. Nein, er durfte sie nicht anrufen. Sosehr er es auch wünschte, das Protokoll war eindeutig. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass es so weit kommen würde. Nichts. Gleichzeitig hatte man ihnen damals gesagt, sie sollten mit etwas Derartigem rechnen – nämlich dass es aus heiterem Himmel geschehen könne.
Nachdem Leighton etwas länger darüber nachgedacht hatte, fiel ihm schließlich doch noch ein Grund ein, jemanden anzurufen; jemanden wie er selbst – jemanden, den sie ebenfalls kontaktiert hatten. Sie mussten ja keine Einzelheiten erörtern, der Klang seiner Stimme würde alles sagen.
Er holte, was er in der alten Hummer-Boje versteckt hatte, aus dem Bootshaus und brachte es ins Schlafzimmer, wo er rasch etwas Kleidung in einen kleinen Koffer packte. Er warf etwas hinein, das wie ein kleiner Tablet-PC aussah, anschließend öffnete er den Manila-Umschlag aus der Boje, breitete dessen Inhalt auf seiner Kommode aus.
Der Pass musste ein wenig nachfrisiert werden. Leighton musste einige Stempel aktualisieren und natürlich das Ablaufdatum ändern. Dasselbe galt für den Führerschein. Die Kreditkarte und die gefälschten Visitenkarten schob er in diverse Taschen des Sakkos, das am Knauf der Schranktür hing.
Anderes, Währung aus der Zeit vor der EU, die mittlerweile vollkommen wertlos war, warf er in einen Blechmülleimer. Eine alte codierte Liste mit Namen, Adressen und Telefonnummern prägte er sich erneut ein, danach warf er sie ebenfalls in den Abfalleimer.
Nun war es an der Zeit, den Anruf zu tätigen. Leighton ging zurück in die Küche, hob den Hörer ab und wählte. Er kam sich vor wie in einem jener Albträume, in denen alles nur in Zeitlupe ablief. Das Telefon am anderen Ende der Leitung schien endlos zu klingeln. Endlich, nach dem fünften Klingeln, hörte es sich an, als nähme jemand ab. Erleichterung durchflutete Leighton. Wenn der Mann, den er anrief, noch zu Hause war, hatten sie ihn womöglich nicht aktiviert. Vielleicht handelte es sich ja bloß um einen Fehler. Der Eindruck verflog jedoch sofort, als Leighton merkte, dass er den Anrufbeantworter am Apparat hatte. Er hinterließ keine Nachricht.
Nun zählte nur noch der Auftrag. Er durfte niemandem trauen. In diesem Moment war alles und jeder verdächtig. Er holte eine Dose Startflüssigkeit unter dem Spülbecken hervor, tränkte damit den Inhalt des Blecheimers. Er durfte keine Spuren hinterlassen. Leighton stellte den Abfalleimer nach draußen auf seine gepflasterte Terrasse, riss ein Streichholz an und sah zu, wie das Papier in Flammen aufging. Als er sicher war, dass alles bis zur Unkenntlichkeit verbrannt war, erstickte er das Feuer mit dem Deckel seines Holzkohlegrills, leerte den Abfalleimer und brachte ihn wieder ins Haus.
Zwei Stunden später schloss Frank Leighton das Haus ab, nachdem er mit den Zeichenutensilien, die er eigens für diesen Zweck aufbewahrte, seinen gefälschten Pass und den Führerschein geändert hatte. Den Koffer im Kofferraum verstaut, setzte Leighton aus seiner Einfahrt. Sein Ziel war der Flughafen. Er hatte nur noch seinen Auftrag im Sinn und das Unheil, das er bald entfesseln würde.
3
CORONADO, KALIFORNIEN
REDE ZUR LAGE DER NATION – NOCH ACHT TAGE
Scot Harvath saß in der Babcock & Story Bar des Hotels Del Coronado und nippte an einer Margarita, der Spezialität des Hauses, doch mit den Gedanken war er ganz woanders. Es war ihm nicht leichtgefallen, nach Hause zu kommen, jedenfalls nicht auf diese Weise, aber seine Mutter hatte darauf bestanden, und Harvath war nun mal ein guter Sohn.
Es war nun schon zehn Jahre her, dass sie seinen Vater zu Grabe getragen hatten, und an diesem Jahrestag hielt Scots Mutter es für angebracht, etwas zu tun, um seiner zu gedenken. Scot brachte nicht den Mut auf, seiner Mutter zu sagen, dass er so gut wie jeden Tag an seinen Vater dachte, weil er wusste, dass sie das Gleiche tat. Michael Harvath war ein guter Mann gewesen – ein guter Ehemann, ein guter Vater, ein guter Soldat und auch der Grund, weshalb aus Scot Harvath ein Navy SEAL wurde.
Harvaths Vater, SEAL-Ausbilder am Naval Special Warfare Center, kam während einer Übung bei einem Sprengunfall ums Leben. Zum Zeitpunkt des Unglücks trainierte Scot mit dem US-amerikanischen Freestyle-Skiteam in Park City, Utah. Damals gehörte er schon mehrere Jahre zum Team, sehr zum Leidwesen seines Vaters. Michael Harvath hatte nicht so hart gearbeitet, um mit anzusehen, wie sein Sohn das College sausen ließ, um eine Laufbahn als Profisportler einzuschlagen. Die beiden hatten so erbittert miteinander gestritten, wie es nur unter herausragenden, eigensinnigen Männern möglich ist, die von ihrem Standpunkt leidenschaftlich überzeugt sind.
Der Streit hatte ihre Beziehung sehr belastet. Unermüdlich versuchte Scots Mutter, den Riss zu kitten, fast als hätte sie gespürt, dass ihr Mann nicht mehr lange zu leben hatte. Nur die ungeheuren Anstrengungen seiner Mutter hielten die Familie überhaupt noch zusammen. Je stärker Michael Scot bedrängte, desto mehr zog dieser sich zurück und ging seinen eigenen Weg. Vater und Sohn waren einander ähnlicher, als jeder von ihnen wahrhaben wollte. Als Scot schließlich von selbst dahinterkam, war sein Vater bereits tot.
Der Verlust war verheerend. Scots Mutter hatte zwar ihren Ehemann verloren, aber man konnte durchaus sagen, dass Scots Kummer der größere war. Er hatte nicht nur den Vater verloren, sondern zwischen ihnen war auch so vieles ungesagt und ungeklärt geblieben.
Bis zum Tod seines Vaters hatte Scot sich in den Weltcuprennen bestens geschlagen und galt als Medaillenanwärter bei den nächsten Olympischen Spielen. Doch sosehr er sich auch bemühte, nach dem Tod seines Vaters konnte er sich nicht mehr auf den Skisport konzentrieren. Er war ihm auf einmal nicht mehr wichtig.
Stattdessen trat er unmittelbar in die Fußstapfen seines Vaters. Nachdem er das College in weniger als drei Jahren mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, ging er zur Navy, wo er das harte Basic Underwater Demolition/SEAL-Auswahlprogramm, auch bekannt als BUD/S, absolvierte und zum SEAL wurde. Mit seiner Erfahrung im Skifahren wies man ihn Team Zwei zu, den Kaltwetterspezialisten beziehungsweise Polar SEALs. Mit seiner außergewöhnlichen Sprachbegabung und dem Wunsch nach noch mehr Action bewarb Harvath sich für Team Six, die Antiterror-Eliteeinheit der Navy, auch bekannt als Dev Group, und wurde genommen. Während seiner Zeit bei der Dev Group wurde der Secret Service auf Harvath aufmerksam.
Wann immer der Präsident einen Termin auf dem Wasser oder in dessen Nähe wahrnahm, forderte man zur Unterstützung die SEALs an. Harvath gehörte zu einem Kontingent, das bei mehreren solcher Sicherungskommandos Hilfe leistete zum Schutz eines ehemaligen Präsidenten, der es liebte, seine Schnellboote vor der Küste Maines auszufahren. Scot hatte sich bei vielen Gelegenheiten als überaus fähig erwiesen, doch als er einen Sprengsatz aufspürte und entschärfte, der einem Ausflug des Präsidenten ein jähes Ende bereiten sollte, ließ dies den Secret Service aufhorchen. Jemanden wie ihn suchten sie schon lange, um ihre Methoden zur Absicherung des Präsidenten zu optimieren.
Es bedurfte einiger Anstrengung, aber schließlich gelang es dem Secret Service, Scot anzuwerben. Nachdem Harvath seine Lehrgänge im Secret-Service-Weiterbildungszentrum in Beltsville, Maryland, absolviert hatte, trat er dem Sicherungskommando des Präsidenten bei, das seinen Sitz im Weißen Haus hatte. Seitdem war eine Menge passiert. Harvath hatte den Präsidenten nicht nur aus den Händen von Entführern befreit und dazu beigetragen, einen größeren Krieg in Nahost abzuwenden, sondern dabei auch erkannt, dass das Leben eines Secret-Service-Agenten nichts für ihn war. Zu seiner Überraschung hatte der Präsident zugestimmt und Harvath ein neues Aufgabengebiet übertragen.
Präsident Jack Rutledge ergänzte seinen Krieg gegen den Terror um eine neue Waffe. Im Rahmen seiner Umstrukturierung der amerikanischen Geheimdienste und seines neuerlichen Engagements in der Terrorabwehr hatte der Präsident im Ministerium für innere Sicherheit, dem Homeland Security Department, ein internationales Sonderdezernat eingerichtet. Es trug die Bezeichnung Office of International Investigative Assistance – Amt zur Unterstützung internationaler Ermittlungen, kurz: OIIA. Es repräsentierte die gesamte nachrichtendienstliche Kapazität und volle Stärke der US-Regierung mit dem Ziel, gegen Amerika und amerikanische Interessen gerichtete Terrorakte auf globaler Ebene zu neutralisieren und zu verhindern.
Zwar wurde Harvath beim OIIA als »Special Agent« geführt, doch nur sehr wenige wussten, worin sein Job wirklich bestand. Die harmlose Bezeichnung ließ die meisten glauben, er arbeite als Agent im Außendienst und unterstütze ausländische Regierungen und Strafverfolgungsbehörden bei der Terrorabwehr. Schließlich war dies das ausdrückliche Aufgabenprofil des OIIA. Hätte der Kongress Harvaths wahren Marschbefehl gekannt, wären für das Office of International Investigative Assistance niemals Haushaltsmittel genehmigt worden.
Wenn Scot an seinen verstorbenen Vater dachte, musste er auch oft an den Mann denken, der für ihn wie ein zweiter Vater geworden war. An ebenden Mann, den der Präsident dazu ausgewählt hatte, das neue OIIA zu leiten – den früheren Deputy Director des FBI, Gary Lawlor. Lawlor war die Nummer zwei in der weltweit führenden Strafverfolgungsbehörde gewesen, von daher die perfekte Wahl. Überdies schätzte der Präsident die besondere Beziehung, die zwischen Lawlor und Harvath bestand. Genau darüber dachte Harvath gerade nach, als seine Freundin Meg Cassidy die Bar betrat.
»Hast du etwas von ihm gehört?«, fragte sie, als sie auf dem freien Hocker neben Scot Platz nahm.
»Nichts!«, sagte er und drehte das Handy auf dem Tresen vor sich wie einen Kreisel. »Wie sieht es im Zimmer aus? Irgendwelche Nachrichten?«
»Überhaupt keine. Was sagt die Airline?«
»Es dauerte eine Weile, bis der Mann, den ich am Telefon hatte, herausfand, was los war. Er sagte, anscheinend sei Gary ins Flugzeug gestiegen, und gerade als sie die Türen schließen wollten, um die Maschine auf die Rollbahn zu schleppen, sei er aufgesprungen und habe verlangt, dass sie ihn rauslassen. Zeigte seinen Ausweis und alles. Das jagte den Passagieren eine Heidenangst ein.«
Meg blickte Scot an, um zu sehen, wie er diese Information aufnahm. Wahrscheinlich würde sich ja herausstellen, dass gar nichts war, aber im Moment schien es doch beunruhigend, zumal vor dem Hintergrund seines neuen Jobs. Scot redete zwar nicht viel über Einzelheiten. Doch allein die Tatsache, wie sie einander kennenlernten – er hatte sie in Kairo aus einem entführten Flugzeug befreit, außerdem war er mit Mitte 30 besser in Form als die meisten, die zehn Jahre jünger waren –, all dies verriet Meg, dass die neue Stelle, die der Präsident ihm zugewiesen hatte, nicht viel mit Schreibtischarbeit zu tun hatte. Er war ein Soldat an vorderster Front im Kampf gegen den Terror, und Meg war klug genug zu verstehen, was das bedeutete. Es bedeutete, nicht zu viele Fragen zu stellen und auf alles gefasst zu sein, selbst auf das Schlimmste. Sie war bereit, das für ihn zu tun. In den etwas mehr als sechs Monaten, die sie nun schon zusammen waren, hatte sie tiefe Gefühle für Scot Harvath entwickelt. So tiefe, dass sie sogar mit dem Gedanken spielte, ihre gesamte Firma von Chicago nach Washington zu verlegen, von all ihren Freunden und Ansprechpartnern wegzuziehen, um mit diesem Mann ein neues Leben aufzubauen.
Mit seinen muskulösen 1,80, seinem auf raue Art gut aussehenden Gesicht, dem sandbraunen Haar und den blauen Augen war Scot Harvath für jede Frau ein guter Fang, doch es war der Mann in seinem Innern, der sie von Anfang an am meisten anzog. Neben seinem Scharfsinn und seiner Intelligenz war da noch etwas. Er war von einem schlichten Anliegen getrieben – das Richtige zu tun, koste es, was es wolle. In einer Welt, in der allzu oft der Eigennutz regierte, erkannte Meg an der Seite eines Mannes wie Scot Harvath, worum es in einem edlen, lebenswerten Leben wirklich ging. Zugleich wurde ihr aber auch klar, dass die Eigenschaft, die sie am meisten an ihm bewunderte, ihm eines Tages auch das Genick brechen könnte.
Scots Wunsch, stets das Richtige zu tun, führte dazu, dass er nicht bereit war, Kompromisse einzugehen oder auch nur einen Millimeter nachzugeben, wenn es um seine Prinzipien ging. Manche nannten ihn arrogant, und Meg konnte verstehen, warum. Doch wer ihn für arrogant hielt, übersah das Wesentliche. Scot Harvath glaubte. Er glaubte an sich. An seine Fähigkeiten. Mehr noch, wurde er zu einem Auftrag entsandt, war er überzeugt von dem, was er tat. So hoch das Risiko oder die Gefahr auch war, stets trat er bereitwillig vor, wenn er gebraucht wurde.
Im Moment war allerdings er derjenige, der etwas brauchte, nämlich mehr Informationen. »Was könnte Gary dazu bringen, einfach aufzuspringen und zu verlangen, dass man ihn aus dem Flugzeug lässt?«
»Ich kann mir höchstens vorstellen, dass er vielleicht in letzter Minute einen Anruf erhielt oder dass sein Pager losging oder so. Er würde doch nicht so eine Show abziehen, nur weil er vergessen hat, zu Hause das Bügeleisen auszuschalten. – Hast du es noch mal im Büro versucht?« Mittlerweile war Meg ebenso beunruhigt wie er, und ihre Sorge wuchs von Minute zu Minute.
»Ich habe überall Nachrichten hinterlassen und rufe jede halbe Stunde seinen Pager und sein Handy an. Nicht nur dass er nicht antwortet, anscheinend weiß auch niemand, wo er steckt – niemand. Das ist absolut untypisch für Gary. Der Kerl vereinbart einen Termin zum Mittagessen Monate im Voraus. Du solltest mal seinen Terminkalender sehen. Ich glaube, in D. C. wird man deshalb so langsam nervös.«
»Glaubst du, ihm ist etwas zugestoßen?«
»Im Moment weiß ich nicht, was ich glauben soll. Gary war mit meinem Vater befreundet, schon vor meiner Geburt. Mit ein Grund, weshalb er sich dazu entschied, das Field Office in San Diego zu übernehmen und nicht die Außenstelle in Miami, war, dass sie näher beieinander sein konnten. Sie waren wie Brüder. Außerdem weiß ich, wie viel ihm an meiner Mutter liegt. Es sieht ihm kein bisschen ähnlich, so einem Ereignis fernzubleiben, ohne anzurufen.«
Meg wusste, dass der Gedenkgottesdienst hart werden würde. Und dass Gary Lawlor nicht da war, machte alles nur noch belastender. Scot hatte zwar nichts gesagt, aber ihr war klar, dass er froh war, sie bei sich zu haben.
»Okay«, erwiderte sie, nachdem der Barkeeper ihr ein Glas Wein eingeschenkt hatte und darauf ans andere Ende des Tresens ging. »Wie sieht es mit den Krankenhäusern aus? Wir könnten sie alle anrufen. Ich schlage diesen Weg nicht gern ein, aber es ist wohl einer der wenigen Steine, die wir noch nicht umgedreht haben.«
Als Harvath nach seiner Margarita langte, klingelte sein Handy. Alan Driehaus war am Apparat, Direktor der Homeland Security. »Wo, verflixt, sind Sie?«, wollte er wissen.
»In Coronado«, antwortete Harvath.
»Wo steckt Lawlor?«
»Keine Ahnung. Eigentlich wollte er hierherkommen.«
»Hat er überhaupt versucht, Sie zu kontaktieren?«, fragte Driehaus.
»Nein, ebendeshalb mache ich mir ja Sorgen«, erwiderte Harvath.
Es entstand eine Pause, als der Direktor des Heimatschutzministeriums die Hand über die Sprechmuschel hielt. Im Hintergrund konnte Harvath mehrere Stimmen ausmachen, als Driehaus sich wieder meldete. »Ich möchte, dass Sie die nächste Maschine zurück nach D. C. nehmen.«
»Wozu?«
»Sie werden informiert, sobald Sie hier eintreffen. Es ist dringend, es geht um die nationale Sicherheit. Also verlieren Sie keine Zeit! Und falls Lawlor sich bei Ihnen meldet, möchte ich, dass Sie rauskriegen, wo er steckt, und uns sofort Bescheid geben. Ist das klar?«
»Kristallklar«, sagte Harvath.
»Gut!« Damit legte Driehaus auf.
Harvath drückte die Auflegen-Taste seines Handys, legte es auf den Tresen und griff nach seiner Brieftasche.
»Was ist los?«, wollte Meg wissen.
Harvath kippte seine Margarita hinunter. »Ich muss meine Mutter anrufen und ihr Bescheid geben, dass wir es nicht zum Gedenkgottesdienst schaffen.«
4
BERLIN, DEUTSCHLAND
Gary Lawlor ließ sich Zeit, um zu dem Apartment zu gelangen. Zwar waren über 20 Jahre vergangen, trotzdem verstand er immer noch sein Handwerk. Nach der Ankunft am Frankfurter Flughafen nahm er einen kurzen Inlandsflug nach Nürnberg, von dort aus die Bahn bis in die Vororte Berlins. Zwei Taxis und eine kurze U-Bahn-Fahrt später befand er sich wieder im Herzen einer Stadt, die er früher einmal nur zu gut gekannt hatte. Bei einem Zwischenstopp stellte er seinen Koffer unter und schlenderte eine Zeit lang durch die Straßen, um sich wieder zurechtzufinden, bevor er sich auf den Weg machte, um das sichere Haus in Augenschein zu nehmen.
Das Apartment hatten sie wegen seiner Nähe zum Tiergarten ausgewählt, unweit von der damaligen Innenstadt Westberlins. Lawlor fiel auf, dass hier seit der Wiedervereinigung nur noch mehr Betrieb herrschte. Der Bahnhof Zoo, die ausgebombte Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und das alles überragende Europa-Center zogen gewaltige Menschenmassen an, in denen man ohne Weiteres untertauchen konnte. Mit seinem neutralen Mantel und dem unauffälligen grauen Anzug sah Lawlor aus wie jeder x-beliebige deutsche beziehungsweise westeuropäische Geschäftsmann auf dem Weg zu einem wichtigen Mittagessen.
Auf Umwegen bewegte er sich vom Nollendorfplatz aus Richtung Süden und kehrte dreimal zurück, um sicherzugehen, dass ihm niemand folgte. Angesichts der derzeitigen Lage konnte er nicht vorsichtig genug sein.
Der unscheinbare Stadtteil Schöneberg war voller verqualmter Cafés und unzähliger Restaurants, die Küche aus aller Herren Länder anpriesen. Obwohl einige der Geschäfte in den vergangenen beiden Jahrzehnten dichtgemacht hatten, war das Viertel größtenteils noch genau so, wie er es in Erinnerung hatte. Als Lawlor die Goltzstraße erreichte, in der sich die Wohnung befand, wollte er bereits aufatmen, als ihm etwas ins Auge stach. Drei Türen vor dem Apartment saßen zwei Männer in einem schwarzen BMW. Einer der beiden rauchte, während der andere anscheinend Zeitung las. Normalerweise wäre ein solches Verhalten nicht weiter ungewöhnlich, abgesehen davon, dass der Wagen direkt vor einem halb leeren Café parkte. In Europa waren alle ganz versessen darauf, in Cafés zu sitzen, und die Tatsache, dass diese beiden Männer, worauf auch immer, in ihrem Wagen warteten, anstatt sich ins Café zu setzen, gab Lawlor mehr als genug Anlass zum Nachdenken. Doch er durfte nicht stehen bleiben, nicht jetzt. Das würde nur Verdacht erregen. In der Welt, in die Lawlor unversehens zurückversetzt worden war, musste es für jeden Schritt, den man unternahm, für jedes Wort, das man sagte, für alles, was man tat, zwei Gründe geben – den wahren Grund und eine vollkommen glaubwürdige Lüge.
Auf Lawlors Weg lagen weder Läden noch Geschäfte, in die er beiläufig hineinschlendern konnte. Ihm blieb keine andere Wahl, als weiterzugehen und zu hoffen, dass diese Männer bloß auf einen Freund warteten.
Es war lange her, dass Lawlor einen richtigen Außeneinsatz gehabt hatte. Er hatte Herzklopfen, kämpfte darum, es unter Kontrolle zu bringen. All seine Sinne waren geschärft, bei jedem rasenden Herzschlag jagte Adrenalin durch seinen Blutkreislauf. Dies war mehr als nur wilde Fantasie oder Lampenfieber. Nein, Lawlor kannte das Gefühl nur zu gut, genauso wie er Berlin nur allzu gut kannte. In vielen Nächten hatte er dieses Gefühl gehabt, damals, als er durch die todbringenden Gassen jenseits der Mauer streifte. Hier stimmte etwas nicht.
Als er sich dem Heck des BMW näherte, sah er, wie der Kerl mit der Zigarette ihn im Seitenspiegel beobachtete. Ein rascher Blick zum Fahrer. Er schien nach wie vor in seine Zeitung vertieft, in Wirklichkeit jedoch haftete sein Blick am Rückspiegel. Lawlors Körper versteifte sich. Diese Männer vertrieben sich nicht einfach die Zeit, warteten nicht einfach auf einen Bekannten, der im Café war. Sie führten eine Observation durch, und Lawlor hätte ein Jahresgehalt darauf verwettet, was sie observierten. Der Entschluss, das Apartment aufzugeben, fiel so schnell, dass es eher ein Reflex als eine bewusste Entscheidung war. Doch so hatte man sie alle nun mal ausgebildet.
Wenn das Apartment kompromittiert war, konnte dies nur eines bedeuten – jemand wusste Bescheid über sie. Aber wer? Wie war das möglich? Die Operation war eines ihrer bestgehüteten Geheimnisse.
Jetzt war keine Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Lawlor musste machen, dass er aus diesem Bezirk wegkam, und eine Möglichkeit finden, die anderen zu warnen. Wenigstens hatte er noch vor dem Betreten bemerkt, dass das Mietshaus überwacht wurde. Gott allein wusste, was ihn drinnen erwartete.
Als Lawlor an dem BMW vorüberging, warf er aus dem Augenwinkel einen verstohlenen Blick auf den Beifahrer. Um ein Haar wäre ihm das Herz stehen geblieben. Das war unmöglich. Der Mann, den er da sah, war tot. Das wusste Lawlor genau, vor 15 Jahren hatte er ihn nämlich selbst getötet. Was zum Henker war hier los? Verlor er langsam den Verstand? Hatte er etwa Wahnvorstellungen? Nein, es gab keinen Grund, seinen Augen beziehungsweise seiner Erinnerung nicht zu trauen.
Obwohl nichts einen Sinn ergab, musste Lawlor auf seinen Instinkt und seine Ausbildung vertrauen. Er hob die linke Schulter, wandte fast unmerklich das Gesicht ab und ging weiter. Trotz allem, was er gesehen hatte, ohne aus dem Tritt zu geraten.
Zwei Wagenlängen weiter hegte Lawlor bereits die Hoffnung, er habe es geschafft. Da hörte er die Türen des BMW schlagen. Die Männer waren ausgestiegen.
»Entschuldigen Sie!«, sagte der Mann, der Zeitung gelesen hatte. Lawlor tat, als hörte er ihn nicht, ging einfach weiter.
»Mein Herr!«, begann der Kerl erneut. »Bleiben Sie bitte stehen!«
Die beiden Männer spiegelten sich in einem schwarzen Lieferwagen. In der Spiegelung sah Lawlor, wie sie hinter ihm den Schritt beschleunigten. Es war zwar ohnehin offensichtlich, dass sie ihn meinten. Doch noch der letzte Zweifel verflog, als der Mann, von dem Lawlor geglaubt hatte, er hätte ihn getötet, den Mund aufmachte: »Das ist das letzte Mal, dass wir von dir verlangen, stehen zu bleiben.«
Lawlor wusste, dass die Männer bewaffnet waren. An Weglaufen brauchte er zumindest im Augenblick gar nicht zu denken. Davon abgesehen war er vorbereitet für den Fall, dass so etwas passieren würde, und hatte im wahrsten Sinne des Wortes noch etwas im Ärmel.
Da er es nicht riskieren wollte, mit einer Waffe am Leib beziehungsweise im Gepäck einzureisen, hatte er einen kurzen Zwischenstopp in einem kleinen Laden in der Nähe des Nürnberger Bahnhofs eingelegt.
Lawlor blieb stehen, den Rücken den beiden näher kommenden Männern zugekehrt. Nach wie vor sah er ihre Spiegelung in dem schwarzen Lieferwagen. Vorsichtig winkelte er das linke Handgelenk an, manövrierte behutsam die geschliffene Klinge des Messers hervor, das er im Ärmel verborgen trug, bis er die Spitze in seiner Handfläche spürte. Ganz allmählich verlagerte er sein Gewicht auf den rechten Fuß, zog den linken Arm vor die Brust. Nun brauchte er nur noch den Arm in einer schnellen Bewegung zu senken, damit ihm der Messergriff in die Hand rutschte, um auf den ersten Angreifer loszugehen, den er dabei hoffentlich gleich erledigte. Dem anderen wollte er seinen leeren Aktenkoffer überziehen, einen Hartschalenkoffer aus Titan, den er als Teil seiner Tarnung in der rechten Hand trug. Dummerweise bekam Lawlor keine Chance dazu.
Das Laservisier des TASER X26 Shape Pulse zeichnete ihm einen kreisrunden roten Punkt mitten auf den Rücken. Die ihn verfolgenden Männer waren noch gut zwei Meter entfernt, als sein linker Arm plötzlich aus ihrem Blickfeld geriet, und sahen, wie er das Gewicht fast unmerklich nach rechts verlagerte. Sie hatten nicht vor, sich von Lawlor überrumpeln zu lassen. Es gab einen kurzen Knall, als die Stickstoff-Treibladung die mit Widerhaken versehenen ballistischen Sonden mit einer Geschwindigkeit von über 55 Metern pro Sekunde durch die Luft jagte, geradewegs durch Lawlors Trenchcoat. Die Sonden waren mit dünnen, isolierten Drähten verbunden, die eine Reihe von Starkstrom-Impulsen abgaben und Lawlors zentrales Nervensystem lahmlegten. Das Ergebnis war der sofortige Verlust der neuromuskulären Kontrolle. Es dauerte keine Sekunde, bis er hilflos zusammensackte und in Embryohaltung auf dem Bürgersteig lag, unfähig zu denken, zu sprechen und – am wichtigsten für seine Angreifer – um Hilfe zu rufen.
Bestürzte Passanten sahen das Messer aus Lawlors Hand fallen. Als sie mitbekamen, wie die beiden Männer ihrem Opfer fachmännisch Handschellen anlegten und es auf den Rücksitz des BMW verfrachteten, waren sie überzeugt, dass sie gerade Zeuge eines völlig legitimen verdeckten Polizeieinsatzes waren.
Während der Wagen mit quietschenden Reifen davonraste, ahnte niemand, wie gefährlich weit sie danebenlagen.
5
WASHINGTON, D. C.
Während des gesamten Rückflugs rätselte Scot herum, was um alles in der Welt wohl los sein mochte. Verdammt, wo steckte Gary? Und von was für einer dringenden Angelegenheit, die nationale Sicherheit betreffend, hatte Driehaus da geredet?
Als sie am Reagan National Airport eintrafen, warteten bereits zwei Wagen auf sie. Einer, um Meg zurück zu Scots Apartment in Alexandria zu bringen, der andere fuhr Harvath direkt zur Zentrale der Homeland Security.
Als Harvath den abhörsicheren Konferenzraum des Direktors betrat, deutete Driehaus mit einer Handbewegung auf einen Stuhl etwa in der Mitte des glatten Eichentisches. Zu seiner Rechten saßen CIA-Direktor Vaile und FBI-Direktor Sorce. Harvath nickte Vaile und Sorce zu. »Wir danken Ihnen, dass Sie so schnell zurückgekommen sind«, sagte Driehaus, »vor allem angesichts der Umstände, die Sie überhaupt erst nach Kalifornien führten.«
Harvath quälten schwere Schuldgefühle, weil er nicht am Gedenkgottesdienst für seinen Vater teilnahm, und er wollte diese fürs Erste einfach nur hinter sich lassen. »Sie sagten, es sei dringend und gehe um die nationale Sicherheit?«
»Ja, das ist der Fall!« Driehaus zog einen dicken blauen Aktendeckel aus der Fächermappe, die vor ihm auf dem Tisch lag, entnahm ihm eine Reihe 20 mal 25 Zentimeter großer Hochglanzfotos und reichte sie Harvath über den Tisch. »Kennen Sie einen dieser Männer?«
Bestürzt stellte Harvath fest, dass es sich bei den Bildern um eine Mischung aus Tatort- und Autopsiefotos handelte, die zehn Männer zwischen Ende 40 und Mitte 60 zeigten. Die meisten sahen aus, als hätten sie einen Kopfschuss erhalten, einigen hatte man die Kehle durchgeschnitten. Nachdem Harvath die Bilder ein zweites Mal durchgesehen hatte, schob er sie zu Driehaus zurück. »Ich habe keinen davon je gesehen. Hat ihr Tod etwas mit Garys Verschwinden zu tun?«
»Möglicherweise«, erwiderte FBI-Direktor Sorce. »Die Leichen wurden im Laufe der letzten Tage gefunden. Ausgehend von der begrenzten Menge an Informationen, die wir aufdecken konnten, gehörten diese Männer alle einer Einheit des Army-Nachrichtendienstes an, Army Intelligence, die zur selben Zeit wie Gary in Berlin stationiert war. Was sie machten, war streng geheim, es gibt keinerlei Aufzeichnungen darüber.«
»Na und? Gary war doch gar nicht mehr bei der Army, als er nach Übersee ging. Die Tatsache, dass diese Leute auch beim Army-Nachrichtendienst waren, ist doch bloß Zufall.«
Kaum hatte Harvath das gesagt, wünschte er sich, er könnte die Worte zurücknehmen. Ihm war klar, wie lahm es klang. Außerdem glaubte nicht einmal er selbst so richtig an das, was er da sagte. Gerade er war doch immer der Erste, der sagte, dass es keinen Zufall gebe. Diese schlichte Überzeugung hatte ihm mehr als einmal das Leben gerettet, und ihm war klar, dass dies einer der wesentlichen Grundsätze der Intelligence Community war.
»Agent Harvath«, sagte Driehaus, »lassen Sie uns ein wenig die Hintergründe beleuchten. Ich weiß Ihre Loyalität Gary gegenüber zu schätzen. Fangen wir doch damit an, dass Sie uns erzählen, was Sie über ihn wissen.«
Harvath griff nach der Wasserkaraffe, die auf dem Tisch vor ihm stand, schenkte sich ein Glas ein. Er nahm einen großen Schluck, während er seine Gedanken sammelte. »Gary Lawlor war schon lange, bevor ich überhaupt geboren wurde, mit meinen Eltern befreundet. Er war beim Army-Nachrichtendienst und lernte meinen Vater, einen SEAL, in Vietnam kennen. Durch ihre Arbeit wurden sie ziemlich gute Freunde, absolvierten gemeinsam mehrere Einsätze. Insbesondere bei einer Mission, erzählte mir mein Vater, rettete Gary ihm sogar das Leben. Darum schätze ich, könnte man sagen, ohne Gary Lawlor wäre ich heute nicht hier.«
Harvath hielt inne, musterte die Gesichter auf der anderen Seite des Tisches, ehe er fortfuhr. »Nachdem Gary den Dienst in der Army quittiert hatte, lebten er und seine Frau eine Zeit lang in Europa, bevor er zurückkehrte, um beim FBI Karriere zu machen. Dort spezialisierte er sich auf Gebiete, die von Terrorbekämpfung bis zu Wirtschaftskriminalität reichten. Irgendwann wurde er zum Leiter der Außenstelle San Diego befördert. Das war der Zeitpunkt, als ich ihn wirklich kennenlernte. Als mein Vater bei dem Unfall im Naval Special Warfare Center in Coronado ums Leben kam, nahm Gary sich Urlaub, um zu uns zu kommen und uns beizustehen, damit wir unser Leben wieder auf die Reihe bekommen.«
Der Gedanke an den Tod seines Vaters und die darauffolgende schwere Zeit ließ Harvath innehalten. FBI-Direktor Sorce ergriff die Gelegenheit und fragte: »Agent Harvath, hat eigentlich jemals jemand mit Ihnen über den Tod von Garys Frau gesprochen?«
»Meine Mutter.«
»Was hat sie Ihnen erzählt?«
»Dass Heide bei einem Autounfall in Europa überfahren wurde.«
»Erzählte Ihre Mutter Ihnen auch, wo in Europa das geschehen ist?«
»In Deutschland, glaube ich. Was spielt das denn für eine Rolle?«
»Agent Harvath«, warf Direktor Vaile ein, »wissen Sie, was sie in Deutschland machten?«
»Heides Familie stammte von dort. Heide gehörte eine Kunstgalerie und Gary arbeitete im Investment Banking.«
FBI-Direktor Sorce blickte erst Vaile, dann Driehaus an. Beide nickten. »Scot, Heide gehörte in der Tat eine Galerie in Westberlin, und Gary arbeitete bei einer amerikanischen Investmentfirma. Aber das war nur eine Fassade für das, was sie wirklich machten.«
»Wovon reden Sie da?« Harvath beugte sich näher an den Tisch, fast als wollte er Scores Worte damit zwingen, einen Sinn zu ergeben.
»Wussten Sie, dass Gary fließend Russisch spricht?«
»Gary? Russisch? Ist das Ihr Ernst?«
»Mein voller Ernst!«
»Nein, das wusste ich nicht. Andererseits gibt es eine Menge Leute, die Russisch …«
»Seine Großmutter stammte aus Minsk.« Sorce holte nun ebenfalls einen Aktenordner hervor und begann vorzulesen. »Nachdem ihr Ehemann im Ersten Weltkrieg gefallen war, emigrierte sie in die USA. Sie heiratete wieder und bekam drei Kinder, eines davon die Tochter, die Garys Vater heiratete. Garys Eltern arbeiteten viel, und seine russische Großmutter zog ihn quasi allein auf.
Er war so etwas wie ein Wunderkind. Als er sechs war, sprach er nicht nur fließend Russisch, er konnte es auch lesen und schreiben. Es wurde ihm sozusagen in die Wiege gelegt, er lernte es genauso wie Englisch.«
»Dann hat er also russische Vorfahren. Große Sache!«, meinte Harvath. »Das trifft auf viele in Amerika zu. Wenn es ein Verbrechen ist, aus einem Land zu kommen, das sich früher einmal dem Kommunismus verschrieb, dann sollten Sie sich lieber mal bereit machen, die Hälfte der Einwohner Miamis hinter Schloss und Riegel zu bringen und einen Großteil der Leute in Downtown San Francisco.«
»Lassen Sie mich ausreden«, erwiderte Sorce. »Eben wegen seiner Russischkenntnisse war er in der Army und später beim FBI so gefragt. Haben Sie eine Ahnung, womit Heide wirklich ihren Lebensunterhalt bestritt, bevor sie getötet wurde?«
»Das sagten Sie doch gerade selbst. Sie war Kunsthändlerin. Zu Hause in Kalifornien, bei meiner Mutter, hängen immer noch viele Gemälde aus ihrer Galerie an der Wand.« Harvath beschlich ein ungutes Gefühl. Ihm gefiel nicht, wie die Sache lief, und er nahm an, es werde wohl noch schlimmer kommen. Als CIA-Direktor Vaile sich wieder einklinkte, wusste Scot, dass er damit richtiglag.
»Zur Zeit des Kalten Krieges«, sagte Vaile, »warben Gary und Heide Lawlor ausländische Spione an, und sie waren mit die Besten in ihrem Job.«
In Harvaths Stimme lag ein Schmunzeln. »Heide Lawlor arbeitete für den US-Geheimdienst und hat Agenten für uns umgedreht?«
Niemand sonst am Tisch lächelte. Die drei Gesichter, die Harvath entgegenstarrten, schienen aus Granit gehauen.
»Ihr Fokus lag auf Osteuropa«, fuhr Vaile fort. »Heide Lawlor sprach Deutsch, Polnisch und Tschechisch. Gary wickelte die russischen Geschäfte ab.«
»Sie nehmen mich doch auf den Arm, oder?«, fragte Harvath.
»Er macht keine Scherze«, sagte Sorce. »Tatsächlich waren Gary und Heide so erfolgreich, dass der Präsident ihnen ’81 im Rahmen einer streng geheimen Feierlichkeit im Weißen Haus sogar einen Orden verlieh.«
Davon hatte Harvath noch nie etwas gehört. Obwohl es schwer zu glauben war, entsprach es doch genau Gary Lawlors Charakter. Was Scot jedoch am meisten erschreckte, war die Erkenntnis, wie wenig er eigentlich über Garys Vergangenheit wusste.
»Davon hatte ich keine Ahnung.«
»Wahrscheinlich wissen Sie auch nicht, dass es sich bei Heides Tod keineswegs um einen Unfall handelte.«
Zwar war Scot bemüht, eine teilnahmslose Miene zu bewahren, doch beim Poker hätte er damit keinen Blumentopf gewonnen. Heide Lawlor war für ihn immer nur »Tante Heide« gewesen. Da sie und Gary keine eigenen Kinder hatten, hatte sie ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit verwöhnt. Weihnachten, Geburtstage, was auch immer. Heide brauchte nie einen Grund, um zu zeigen, wie gern sie ihn hatte. Als er nun erfuhr, dass Heide ermordet worden war, versetzte es ihm einen Stich ins Herz.
»Wusste Gary das?«, wollte er wissen.
»Ja«, sagte Vaile, »Gary wusste es.«
»Wer war es? Und erzählen Sie mir jetzt bloß nicht, es waren die Russen. Ich möchte wissen, wer genau sie getötet hat.«
»Sein Name war Helmut Drägar.«
»War?«
»Ganz recht, war. Er war zweifellos der beste Agent, den die berüchtigte ostdeutsche Stasi jemals hervorbrachte. Sein Ruf war legendär. Es hieß, er sei der einzige Mensch, den Carlos der Schakal jemals fürchtete. Er war in mehreren Sprachen bewandert, als Attentäter absolut tödlich und ein Topagent.«
»Und das heißt?«, fragte Harvath.
»Das heißt, dass er seinen Job tadellos machte. Er war ein Meister der Verkleidung und verfügte über enorme Menschenkenntnis. Im Handumdrehen konnte er untertauchen oder jemanden dazu bringen, ihm aus der Hand zu fressen. Drägar stammte zwar nicht aus Russland, aber die Russen ernannten ihn zum Ehrenbürger – so sehr schätzten sie ihn. Kurz gesagt, er war der vollendete Spion.«
»Da Sie von ihm in der Vergangenheit sprechen, nehme ich an, er ist tot. Liege ich damit richtig?«
»Absolut«, erwiderte Vaile. »Lawlor tötete ihn.«
»Weshalb nahmen die Heide zur Exekutierung ins Visier?«, wollte Harvath wissen.
»Wenn man in seinem Job so gut ist, wie sie es war, will die Gegenseite einem etwas ganz anderes verpassen als einen Orden.«
»Aber Sie sagten doch, Gary sei genauso gut gewesen. Weshalb hatten die es nicht auch auf ihn abgesehen?«
»Genau diese Frage stellen wir uns auch«, entgegnete Vaile. »Lange glaubten wir, es habe daran gelegen, dass die Agenten, die Heide umdrehte, so viele nachrichtendienstliche Bravourstücke ablieferten. Verstehen Sie mich nicht falsch, Gary hatte ebenfalls seine Erfolge. Aber was Heide machte, war von weit größerem Wert. Kurz gesagt: Bei Gary hätte es sich vielleicht gelohnt, ihm eine Kugel zu verpassen, aber das vorrangige Ziel der Russen war Heide.«
»Aber sie waren doch immer zusammen, oder? Ich kann mir vorstellen, man hätte die beiden ohne Weiteres auch gemeinsam erledigen können.«
»Das klingt einleuchtend, nicht wahr?«, meinte Vaile. »Man hielt Gary Lawlor immer für sehr geschickt darin, sich und seine Frau am Leben zu erhalten.«
»Bis Heide von dem Wagen überfahren wurde.«
»Genau.«
Harvath stützte seinen rechten Ellenbogen auf den Konferenztisch, rieb sich den Nasenrücken zwischen Daumen und Zeigefinger. Er wünschte, sie würden endlich zur Sache kommen.
Vaile bemerkte Harvaths Missmut. »Vielleicht darf ich etwas deutlicher werden. Gegen Ende der Zeitspanne, in der Gary und Heide in Europa, insbesondere in Berlin, eingesetzt waren, gab es ein größeres Nachrichtenleck. Jemand versorgte die Russen mit äußerst sensiblen Informationen.«
»Und Sie haben den Betreffenden nie erwischt«, sagte Harvath.
»Ganz recht. Wir überprüften jeden, einschließlich der Lawlors …«
»Die ja offenkundig von dem Vorwurf freigesprochen wurden.«
»Zum damaligen Zeitpunkt ja. Aber in Anbetracht der jüngsten Ereignisse wirft Heides Tod erneut Fragen auf.«
»Wollen Sie damit sagen, Sie glauben, Gary hatte etwas damit zu tun?«, fragte Harvath ungläubig.
Beschwichtigend hob Vaile die Hand. »Die Lawlors bearbeiteten Agenten aus unterschiedlichen Teilen Russlands und des Ostblocks. Daher waren sie unterschiedlichen Vorgesetzten unterstellt. Kurz vor ihrem Tod erwähnte Heide ihrem Vorgesetzten gegenüber, sie mache sich Sorgen um Gary.«
»Woher wissen Sie das denn?«
»Es bedurfte einiger Recherchearbeit, aber schließlich konnte ich in unseren Akten in Langley eine Kopie ihrer Meldung aufstöbern. Sie sagte, Gary habe sich irgendwie verändert. Sie vermutete, er arbeite an einem Projekt außerhalb seiner üblichen Pflichten. Abends verschwand er und blieb manchmal tagelang weg. Er behauptete, es habe mit seiner Arbeit zu tun und er dürfe nicht darüber reden. Doch als Heides Vorgesetzter sich die Sache näher ansah, musste er ihr mitteilen, dass er nichts finden konnte, um Garys Geschichte zu untermauern. Wenig später wurde Heide getötet.«
»Das ist doch lächerlich«, meinte Harvath. »Danach haben die Gary doch ausgepresst wie eine Zitrone.«
»Er war völlig verzweifelt über ihren Tod und wirkte auch so nach außen. Es schien echt. Erst als er eine Kopie des Berichts von Heides Vorgesetztem sah, fing er an zu reden. Zunächst sagte er, er wolle den guten Namen seiner Frau nicht in den Schmutz ziehen. Ein paar Tage später behauptete Gary, Heide habe vor ihrem Tod eine Paranoia entwickelt und sogar Medikamente dagegen genommen. Sie habe nicht mehr gewusst, wem sie trauen konnte, und sogar angefangen, ihm zu misstrauen. Es war ein schwieriges Szenario für uns. Aussage stand gegen Aussage, nur dass sie tot war und weder bestätigen noch widerlegen konnte, was Gary uns da erzählte. Wir befragten ihn eingehend, doch er hielt an allem fest. Ein niedergelassener Mediziner bestätigte sogar, dass er Heide wegen Paranoia und Depressionen behandelt und ihr auch Tabletten verschrieben habe. Fall abgeschlossen.«
»Und wo liegt jetzt das Problem?«, hakte Harvath nach. »Sie glauben doch nicht etwa, dass er etwas Illegales im Schilde führte.«
CIA-Direktor Vaile atmete tief durch, ehe er antwortete: »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben wir nicht die geringste Ahnung, was wir glauben sollen.«
»Alles nur wegen einer Mordserie an Army-Intelligence-Agenten, die sich zur gleichen Zeit wie Gary in Berlin aufhielten? Ich gebe ja zu, dass die Morde offensichtlich zusammenhängen, aber eine Verbindung zwischen Gary und den Opfern herzustellen, das haben Sie nicht geschafft.«
»Genau genommen doch«, erwiderte Driehaus. »Wir haben die Verbindung.«
Harvath war sprachlos. »Worin besteht sie?«
»Einige der Opfer riefen Gary an, kurz bevor sie getötet wurden.«
6
PETROSAWODSK, RUSSLAND
»Unmöglich!«, knurrte Sergej Stawropol in sein Satellitentelefon, sorgsam darauf bedacht, nicht die Aufmerksamkeit der Techniker und Wissenschaftler auf sich zu ziehen, die rings um ihn herum bei der Arbeit waren. »Mir ist egal, ob sich die Leiche in einem Wolf befindet, in einem Bären oder im Magen eines hungrigen Schweins, das irgendeinem Bauern gehört. Ich will, dass du das Vieh findest, es aufschneidest und mir seine Knochen bringst. Hast du verstanden?«
Milesch Popow, der 22-jährige, von Messernarben verunstaltete Unternehmer am anderen Ende der Leitung, war sauer. Was zum Geier glaubte der Kerl eigentlich, mit wem er hier redete? »Sie haben mich bezahlt, um die Autos von der Jagdhütte in Swenigorod wegzuschaffen. Ich hätte sie für eine Menge Geld verkaufen können, aber unsere Abmachung war, sie endgültig verschwinden zu lassen, und dafür habe ich gesorgt. Dann rufen Sie mich an und verlangen von mir, dass ich zurück nach Swenigorod fahren soll, um nachzusehen, was die Polizei dort treibt. Die waren überall, trotzdem bin ich hin und habe mich umgesehen, wie Sie es verlangten. Das habe ich gratis getan, als Kundenservice sozusagen. Aber was Sie jetzt von mir verlangen, kommt nicht infrage, weil ich …«
Stawropol kam ohne Umschweife zur Sache. »Wie viel?«, schnitt er dem jungen Moskauer Mafioso das Wort ab.
»Hier geht es nicht um Geld.«
»Mach dich nicht lächerlich. Das hier ist das neue Russland. Es geht immer nur ums Geld.«
»Geklaute Autos fallen nicht unbedingt in dieselbe Kategorie wie Leichen.« Mit gesenkter Stimme stellte Popow sich auf eine harte Verhandlung ein.