4,99 €
Auf den Skipisten von Utah ereignet sich ein unglaublicher Vorfall: In einem spektakulären Coup entführen Terroristen den Präsidenten der USA und töten dabei 30 Männer des Geheimdienstes. Nur der junge Scot Harvath überlebt. Während Secret Service, FBI, CIA und der verdächtig unentschlossene Vizepräsident erklären, dass eine Vereinigung aus dem Nahen Osten hinter dem Angriff steckt, glaubt Harvath keine Sekunde daran. Also beginnt er auf eigene Faust zu ermitteln. Die spärlichen Hinweise führen ihn in die Schweiz. Dort trifft er auf Claudia Müller von der eidgenössischen Staatsanwaltschaft. Auch sie ist den Tätern auf der Spur und berichtet von einer mysteriösen Söldnertruppe, die sich ›Die Löwen von Luzern‹ nennt – ein tödliches Team professioneller Killer. Auf den schneebedeckten Hängen des Pilatus-Bergmassivs beginnt der Kampf gegen die Löwen. Aber lebt der Präsident überhaupt noch? Oder riskieren die beiden ihr Leben vielleicht umsonst? "Die Löwen von Luzern" war der Beginn für den Welterfolg von Brad Thor. Inzwischen schrieb er 15 Romane mit dem Geheimagenten Scot Harvath. Die Thriller erreichen regelmäßig Platz 1 der US-Bestsellerlisten. Nelson DeMille: »Scot Harvath ist der perfekte amerikanische Held.« Dan Brown: »Brad Thor ist so brisant wie die Schlagzeilen von morgen!« Vince Flynn: »Erschreckend realistisch – das Buch ist absolut fesselnd.« Festa - Die besten Thriller aus Amerika.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 855
Veröffentlichungsjahr: 2016
Aus dem Amerikanischen von Claudia Rapp
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe The Lions of Lucerne
erschien 2002 im Verlag Pocket Books, Simon & Schuster.
Copyright © 2002 by Brad Thor
Copyright © dieser Ausgabe 2016 by Festa Verlag, Leipzig
Titelbild: Dean Samed
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-477-5
www.Festa-Verlag.de
www.Festa-Crime.de
Dieses Buch ist für meine wunderbare Frau Trish –
mein Leben, meine Liebe, meine beste Freundin.
Fortes Fortuna Adiuvat.
Fortune favors the brave.
Das Glück ist mit den Tüchtigen.
Aus Gründen der nationalen Sicherheit wurden einige Namen, Orte und taktische Vorgehensweisen in diesem Roman geändert.
Prolog
»Senatoren«, begrüßte Fawcett die Besucher, während er in seinen weichen, teuren Stubbs-&-Wootton-Slippern mit Monogramm über den glänzend polierten Fußboden schritt. »Es freut mich sehr, dass Sie die Zeit gefunden haben.«
Kostbare, in Leder gebundene Bücher schmückten das Arbeitszimmer vom Boden bis zur Decke; die meisten davon Erstausgaben. Schwere Samtvorhänge versperrten den Blick hinaus auf das eiskalte Wasser des berühmten Lake Geneva, Namensvetter des Schweizer Genfer Sees, im Süden von Wisconsin. Die mit Ungeduld erwarteten Gäste des Industriellen saßen in zwei ledernen Clubsesseln beim offenen Kamin.
Senator Russell Rolander stand als Erster auf. »Donald, schön, dich zu sehen.« Der Senator streckte die fleischige Pranke aus und schüttelte Fawcett die Hand. Rolander und Fawcett waren an der University of Illinois Zimmergenossen gewesen. Der Senator ein Football-Ass schon am College, der sich danach viele Jahre bei den Chicago Bears hervorgetan hatte, bevor er in die Politik ging. Rolander war langjähriges Mitglied des Senats, seit Langem einer der einflussreichsten Lobbyisten in Washington, hatte einen der begehrten Posten im Ausgabenausschuss inne und besaß ein Wochenendhaus gleich die Straße hinab von Fawcetts.
Der New Yorker Senator David Snyder stand weitaus langsamer auf und schüttelte Fawcetts Hand auch erst, als der ihm diese entgegenstreckte. Seine Gegner bezeichneten Snyder als hinterhältiges kleines Arschloch, denn er hatte die felsigen Höhen der politischen Landschaft erklommen, indem er einem einzigen, aber wirkungsvollen Mantra gefolgt war: Was du nicht willst, das man dir tu, das füge schneller anderen zu. Er beherrschte jeden schmutzigen Trick, und es gab nur wenige Menschen auf dem Washingtoner Parkett, die es gewagt hatten, sich ihm in den Weg zu stellen. Wer das versuchte, überlebte politisch nicht lange. Snyder war ein schmächtiger Mann mit weichen Zügen und damit das komplette Gegenteil des hünenhaften, grobschlächtigen blonden Rolander. Was Senator David Snyder an körperlicher Größe vermissen ließ, machte er allerdings mit seiner Intelligenz mehr als wett. Sein Intellekt und sein unfehlbares Gespür für Strategie hatten ihm einen Dauersitz im Senatsausschuss zur Aufsicht über die Nachrichtendienste verschafft. In den vergangenen sieben Jahren hatte es keine verdeckte Operation gegeben, die nicht in irgendeiner Form Snyders Handschrift trug.
Fawcett hatte ein Faible für das Theatralische. Nach der Begrüßung nahm er eine Fernbedienung aus einem ägyptischen Intarsienkästchen auf seinem Schreibtisch und richtete sie auf eins der prächtigen Bücherregale rechts vom Kamin. Die falsche Wand glitt zurück und gab den Durchgang zu einem kleineren Raum frei. Dieser maß etwa fünf mal fünf Meter und die weißen Wände waren mit Rokoko-Zierleisten geschmückt und mit weiteren ledergebundenen Büchern bestückt. Der Duft von Honig durchzog den Raum. Auf dem Parkett lag ein großer orientalischer Teppich und in der Südwestecke befand sich ein kleiner offener Kamin mit einem Sims aus Marmor. Den Rauchabzug teilte er sich mit dem Kamin im großen Arbeitszimmer, was dabei half, dieses kleine Zimmer vor Fremden geheim zu halten. An den Wänden hingen mehrere Spiegel in vergoldeten Rahmen, in denen sich der raumgreifende antike Sekretär, der in der Mitte des Raumes stand, spiegelte. Gegenüber dem Sekretär befand sich eine vornehme Couch mit hübsch gedrechselten Beinen. Fawcett lud seine Gäste mit einer Handbewegung ein, ihm in den kleineren Raum zu folgen. Sobald sie sich alle in dem Zimmer befanden, drückte er einen Knopf auf seiner Fernbedienung. Die Wand glitt hinter ihnen zurück an ihren ursprünglichen Platz. Dann drückte Fawcett ganz leicht mit den Fingerspitzen gegen mehrere nebeneinanderstehende falsche Buchrücken in einem der Bücherregale. Sie sprangen heraus und dahinter verbargen sich Kristallkaraffen.
»Wie wäre es mit einem Brandy?«, fragte Fawcett, während er ein großes Cognacglas und die Karaffe mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit herausnahm.
»Ich nehme einen«, erwiderte Rolander.
»Scotch auf Eis, wenn Sie den haben«, sagte Snyder.
Während Fawcett die Drinks einschenkte, bat er die beiden mit einer Geste, auf der Couch Platz zu nehmen. Rolander, der sich in seiner Haut offensichtlich ganz wohlfühlte, ließ sich sofort auf das antike Sofa sinken. Snyder dagegen ließ sich Zeit und drehte zuerst eine Runde durch den kleinen Raum, augenscheinlich, um dessen opulente Ausstattung zu bewundern. Das kleine Hightech-Gerät an seinem Gürtel, das wie ein Piepser aussah, diente zum Aufspüren von Überwachungstechnik wie Wanzen und Mikrofone. Es hatte wie verrückt vibriert, als man ihn und Rolander durch die langen Flure von Fawcetts palastartigem Zuhause zum Arbeitszimmer geführt hatte. Als geübter Kenner von Sicherheits- und Überwachungssystemen waren Snyder viele der sichtbaren Sicherheitsvorkehrungen Fawcetts direkt ins Auge gefallen, und er hatte erraten, wo sich noch weitere, mit dem bloßen Auge nicht erkennbare befanden. Zweifellos besaß Fawcett nur das Beste, was für Geld zu bekommen war. Als extrem vorsichtiger Mensch überließ er niemals etwas dem Zufall, so viel wusste Snyder über ihn, und das war auch einer der Gründe, wieso er sich überhaupt auf diese Sache eingelassen hatte.
Das Gerät hatte nicht einmal vibriert, seit sie den geheimen Raum betreten hatten, daher war sich Snyder für den Moment sicher, dass ihr Gespräch nicht überwacht wurde. Er nahm sein Glas mit drei Finger hoch Scotch von Fawcett entgegen und setzte sich neben Rolander auf das Sofa.
»Donald, ich finde, wir sollten all unsere Besprechungen in diesem Zimmer abhalten«, meldete sich der breitschultrige Senator zu Wort. »Es gefällt mir hier. Ich würde sogar sagen, dass es eins meiner Lieblingszimmer im gesamten Haus ist.«
»Was ist das für ein Geruch?«, fragte Snyder nach. Er kannte diesen Duft, konnte ihn aber nicht zuordnen. Und noch viel weniger hätte er sagen können, warum er ihn so erregend fand. »Kommt mir seltsam bekannt vor. Das riecht wie eine Art Puder.«
»Es ist Honig«, erklärte Fawcett. »Genauer gesagt ist es Bienenwachs. Die Holzfußböden werden damit poliert.«
Als Fawcett das Wort ›Honig‹ aussprach, wusste Snyder sofort, warum ihm der Geruch so vertraut war, und auch warum er ihn erregte.
Mitchell Conti – oder Mitch, wie ihn alle genannt hatten – war vor zwei Sommern Teil von Senator Snyders Stab geworden. Mit seinen 23 Jahren ein auffallend gut aussehender junger Mann, genoss er rasch große Beliebtheit im Umfeld des Capitol Hill. Und er wusste seine Beliebtheit zu nutzen; ging mit einer ganzen Reihe weiblicher Berater und Angestellter aus. Während es für Außenstehende aussehen musste, als ob Conti heterosexuell sei, wusste David Snyder es besser. Die elektrisch aufgeladene Spannung zwischen David und Mitch hatte vom Tag ihres Kennenlernens an bestanden, und dann kam das Wochenende, an dem Mitch dem Senator wichtige Unterlagen ins Stadthaus brachte. Die langen Blicke, die sie über einem Drink wechselten, führten sie an diesem Tag direkt ins Schlafzimmer.
Mitch fuhr total auf ein Produkt ab, dass er in einem Sexshop aufgestöbert hatte: Kama Sutra Honey Dust, ein sehr fein gemahlenes Puder, das nach Honig duftete und schmeckte. Mit einem kleinen Federwisch pinselte er Snyders gesamten Körper damit ein und leckte den Honigstaub dann wieder ab. Das hatte nicht nur David gefallen, sondern auch den vielen Frauen, die bisweilen sein Bett teilten, zwischen Mitchs Besuchen.
Die halb leere Dose Honigstaub im Schränkchen unter dem Waschbecken in seinem Bad war die einzige Erinnerung, die Snyder von seinem jungen Liebhaber geblieben war. Die Affäre ging schon mehrere Monate lang, als Snyder herausfand, dass Mitch nicht nur etwas mit einem weiteren Mann laufen hatte, sondern dass er auch noch plante, ihn zu erpressen. Ihn, David Snyder, einen der mächtigsten New Yorker Senatoren der Geschichte. Snyder hatte zu viel erreicht, um es wegen so etwas aufs Spiel zu setzen.
Zwei Wochen später wurden Mitch und sein anderer Liebhaber Opfer einer Schießerei; einfach so, aus einem vorbeifahrenden Wagen. Unter den Politikern herrschte große Entrüstung, dass so etwas immer wieder vorkommen konnte, und dieses Mal hatte es auch noch einen aus ihrem engen Umfeld erwischt. Aber der Zorn verrauchte schnell und die Toten gingen ebenso rasch in die Polizeistatistik der Hauptstadt ein wie alle anderen.
»Das gesamte Zimmer und alles, was sich hier drin befindet, einschließlich des Bienenwachses zum Bohnern, ist eine exakte Kopie des geheimen Arbeitszimmers von Ludwig XV. in Versailles«, prahlte Fawcett. »Und dieser Sekretär«, fuhr er fort, während er mit der Hand über das glatte Holz strich, »ist tatsächlich der echte Schreibtisch Ludwigs XV. Das erste Zylinderbureau, das je hergestellt wurde. Das Ding, das heute in Versailles steht, ist eine Kopie, aber diese Trottel versuchen allen Ernstes, es den Leuten als den echten zu verkaufen.
Ich habe dir erzählt, wie wir den bekommen haben, nicht wahr?«, wollte Fawcett von Senator Rolander wissen.
»Ja, du hattest ihn früher in deinem Haus in Chicago.«
»Nun, Senator Snyder hat die Geschichte noch nicht gehört.« Fawcett sah Snyder an und hob eine Augenbraue, als ob er sagen wollte: Das werden Sie niemals glauben. »Als das französische Volk den Palast von Versailles gestürmt hat, haben sie die Gemälde behalten und das Mobiliar verkauft. Diese spießigen Akademiker, die das Schloss heute am Laufen halten, haben die ganze Welt durchkämmt und versucht, die ganzen Möbel zurückzukaufen.
Sie haben ganz klar gesagt, dass sie den Sekretär für ein nationales Kulturgut halten und alles in ihrer Macht Stehende tun würden, um ihn zurückzubekommen. Sie behaupten auch, dass sie direkt mit der vorherigen Besitzerin verhandelt hätten, aber das ist völliger Blödsinn. Die Besitzerin war eine gerissene alte Dame, die das Ding ganz diskret bei Sotheby’s angeboten hat, um einen Bieterwettstreit anzufachen, alles ohne mediales Aufhebens. Ich habe einen meiner Anwälte aus Amsterdam beauftragt, mich als anonymen Bieter zu vertreten. Die Franzosen haben von Anfang an hohe Gebote abgegeben und wir haben immer schön mitgezogen. Um keinen Preis wollte ich denen das schöne Stück überlassen. Bill Gates ist auch um das Ding herumgeschlichen und ich habe mir echte Sorgen gemacht, dass er mir in die Quere kommen würde, aber nach einer Weile hat er das Interesse verloren. Als die anderen Bieter alle aus dem Rennen waren und wir Kopf an Kopf mit den Franzosen lagen, haben wir sie gewinnen lassen.«
Snyder lehnte sich überrascht nach vorn. »Wenn die das Höchstgebot hatten, wie kommt es dann, dass Sie am Ende dennoch den Sekretär bekommen haben?«
»Das werde ich Ihnen sagen«, freute sich Fawcett, »und bei aller Bescheidenheit, die Sache war brillant eingefädelt. Wir hatten ein Mädel eingeschleust, das die Bankgeschäfte abgewickelt hat. Bei Sotheby’s herrschen sehr strenge Regeln, insbesondere wenn es um Auktionen dieser Größenordnung geht. Denen ist es egal, ob du Charlie de Gaulle oder Charlie Smith heißt; wenn du das Geld nicht rüberwachsen lässt, kommt sofort der Nächste dran. Die haben sich direkt an uns gewandt, als das Geld der Franzosen auf sich warten ließ, und gefragt, ob wir bereit seien, in Höhe des Gebots zu zahlen. Währenddessen sind die Franzmänner schier verrückt geworden, weil sie einfach nicht draufkamen, was da schiefgelaufen war. Das war großes Kino. Unser Mädchen hat alles so hingedreht, dass kein Verdacht auf sie fiel. Es sah so aus, als hätte die Bank in Frankreich den Kapitalfehler gemacht. Und wir konnten den Sekretär für weit weniger bekommen, als wir hätten blechen müssen, wenn es einen richtigen Bieterwettstreit gegeben hätte. Und ganz im Vertrauen, die Franzmänner zu verarschen hat mir an der Sache am besten gefallen.«
Rolander hatte die Geschichte schon einmal gehört, aber die Arglist seines alten Zimmergenossen vom College brachte ihn erneut zum Schmunzeln. Rolander war beeindruckt, wie weit Fawcett es gebracht hatte, nur aufgrund seiner unbändigen Willenskraft und Persönlichkeit. Manchmal fragte er sich, wo er heute wohl stünde, wenn er auch so skrupellos gewesen wäre. Ein Senator zu sein, war nun wirklich nicht übel, und Russ Rolander hatte seinen Posten nicht dadurch bekommen, dass er auf seinem Hintern saß und darauf wartete, dass ihm die Dinge in den Schoß fielen, aber wie mochte es wohl sein, wenn man so viel Geld und Macht hatte wie Fawcett? Wie würde es sich anfühlen, wenn er all seine Laster aus der eigenen Tasche bezahlen könnte, anstatt auf den stetigen Strom von Fawcetts Einzahlungen auf sein Konto in der Karibik angewiesen zu sein?
Nun, wenn du schon bestechlich bist, überlegte Rolander, dann warst du wenigstens so klug, dich von einem Mann mit sehr tiefen Taschen bestechen zu lassen.
Snyders Reaktion war ziemlich ähnlich. Auch er war fasziniert davon, was Fawcett alles zu tun bereit war, um zu bekommen, was er wollte. Snyder fühlte eine bizarr anmutende Kameradschaft mit seinem Gegenüber, denn genau wie Fawcett kannten seine Leidenschaften keine Grenzen, und genau wie er wäre er bis zum Letzten gegangen, um die Welt dazu zu zwingen, ihm zu geben, was er wollte. Aber so viel sie auch gemeinsam haben mochten, eins wusste Snyder ganz genau. Er war schlauer, als Donald Fawcett es jemals werden würde.
»Auf diese Weise habe ich mir also mein kleines Ludwig-XV.-Zimmer gesichert«, fuhr Fawcett prahlerisch fort. »Um wie viel möchten Sie wetten, dass er Marie Antoinette auf genau dieser Couch gebumst hat, auf der Sie jetzt sitzen?«
Snyder versuchte das leise Lächeln zu unterdrücken, verzog aber unwillkürlich seine Mundwinkel. Fawcett mochte unglaublich viel Geld besitzen, aber von Geschichte hatte er null Ahnung. Marie Antoinette war nicht mit Ludwig XV. verheiratet gewesen, sondern mit Ludwig XVI.
»Ich bekomme immer, was ich will. Ist das nicht so, Russ?«
»Allerdings«, stieß Rolander hustend hervor, denn Fawcett, der beim Reden hinter der Couch vorbeigegangen war, hatte ihm just in dem Moment einen harten Klaps auf den Rücken verpasst, als er einen Schluck von seinem Brandy genommen hatte.
Snyder mochte es gar nicht, dass Fawcett wie ein Bussard auf der Suche nach einem verwundeten Beutetier im Zimmer herumging. Er fühlte sich besser, als der Mann sich endlich hinter seinen Schreibtisch setzte.
»Aber genug von diesem Geschwätz«, entschied Fawcett, während er in sein Glas schaute und den Brandy leise schwenkte, um das süße, metallische Aroma in seine Nase steigen zu lassen. »Wo stehen wir?«
Rolander setzte sich gerader hin, sodass seine beeindruckende Statur die Couch dominierte, und räusperte sich. »Wie du weißt, Donald, geht der Deal so weit vollkommen glatt voran. Unser ausländisches Kapital liegt bereit und die Informationen, die wir im Vorfeld erhalten haben, passen ganz genau zu unseren Berechnungen … so wie wir das erwartet haben. Bei einem Vorhaben wie diesem kann man nicht genug betonen, wie wichtig es ist, sich in alle Richtungen abzusichern …«
Fawcett unterbrach Senator Rolander. »Das ist die eine Sache, die mich an Politikern schon immer gestört hat, dass es euch ständig nur darum geht, euren eigenen Rücken freizuhalten, obwohl ihr euch eigentlich darum kümmern solltet, euren Job zu machen.«
»Hör zu, Donald«, warf Rolander ein, »tu verdammt noch mal nicht so, als wüsstest du alles besser. Es geht hier um eine sehr ernste Sache, und wenn du glaubst, da würde ich mich nicht in alle Richtungen absichern, dann hast du dich geschnitten.«
»Gegen das Absichern ist ja auch gar nichts zu sagen, Russ. Du darfst bloß nicht so viel Zeit damit verbringen, über die Schulter nach hinten zu schauen, dass du gar nicht mehr mitbekommst, was sich vorne abspielt. Verstehst du mich?«
»Ja, klar verstehe ich dich. Ich hoffe nur, du verstehst, wie der Hase läuft. Was wir vorhaben, ist kein Kinderspiel, kein leichtes Geschäft. Der kleinste Fehler kann daraus ein riesiges, chaotisches Desaster machen, und dann müssen wir alle rennen wie die Hasen … oder Schlimmeres.«
»Halt mir keinen Vortrag, Russ. Ich weiß, dass es eine große Sache ist. Da stecken schließlich Milliarden von meinem Geld drin. Großer Gott, bei all den Problemen mit Stromausfällen, die wir allein in Kalifornien haben, sollte man doch meinen, dass wir die Beschaffung und Nutzung fossiler Brennstoffe weiter ausbauen müssen, anstatt zurückzufahren. Was zur Hölle denken die sich eigentlich? Alternative Energiequellen? Die sind nicht nur gefährlich und unberechenbar, man kann sie der amerikanischen Bevölkerung auch kaum schmackhaft machen.«
»Du vergisst die Treibhausgase und die globale Erwärmung«, erinnerte Rolander ihn.
»Ach, scheiß auf die Treibhausgase, scheiß aufs Kyoto-Protokoll und scheiß auf die globale Erwärmung«, schimpfte Fawcett. »Das ist doch allein ein Haufen immer noch unbewiesener Mist. Ich habe zweistellige Millionenbeträge investiert, damit du und deine Kollegen in Washington in dieser Sache die richtigen Weichen stellt. Herrgott noch mal, wenn ich nie wieder einen Lobbyisten oder Politiker mit ausgestreckter Hand sehen müsste, hätte ich immer noch viel zu viele für ein Leben gesehen. Aber was hat mir all das Schmiergeld unterm Strich gebracht? Absolut gar nichts hat’s mir gebracht. Wenn diese Senkung der Ausgaben für fossile Brennstoffe ratifiziert wird, dann mag ich gar nicht darüber nachdenken, wie viel Geld ich dabei verliere. Nicht genug damit, dass die Regierung uns dazu gezwungen hat, Strom an Staaten wie Kalifornien zu lächerlich niedrigen Preisen zu verkaufen, aber jetzt wollen die noch weiter gehen und uns Schritt für Schritt den gesamten Markt wegnehmen. Ich habe diese Sache mit allen legalen und halb legalen Mitteln bekämpft, und jetzt bin ich ein für alle Mal am Zug.«
»Und das bringt mich zurück zu dem, was ich eigentlich sagen wollte, Donald. Damit uns die ganze Sache nicht um die Ohren fliegt, muss unsere Strategie lupenrein sein«, sagte Rolander.
»Entspann dich, Russ. Ich habe dir schon gesagt, dass ich alle Einzelheiten bedacht habe. Denkst du denn, dass ich den Deal aufs Spiel setzen will? Außerdem kann euch beide absolut niemand damit in Verbindung bringen, nicht mal der Weihnachtsmann. Okay?«
»Ist angekommen«, bestätigte Rolander, »aber eins sollte dir klar sein, Donald. Es ist mir egal, wie viel Geld du in diesen Deal gesteckt hast, und es ist mir auch egal, wie viel du dabei verlieren kannst. Keine Planänderungen mehr. Die Sache wird genau so durchgezogen, wie wir sie geplant haben. Du solltest doch nun wirklich am besten wissen, dass ich recht habe mit meinen Bedenken. Unsere Partner im Ausland sind nicht glücklich darüber, dass du den Abschluss vorgezogen hast.«
»Überlass die Sorge darüber ruhig mir«, verlangte Fawcett. »Wie ich schon früher gesagt habe, überlass die ganzen Sorgen mir. Alle Beteiligten werden extrem großzügig für ihre Mitarbeit entschädigt und es gibt für niemanden einen Grund, jetzt nervös zu werden. Der Abschluss wurde vorgezogen, weil der Abschluss eben vorgezogen werden musste. So ist das Geschäft. Wir sind doch alle Profis und Fachleute, also verhalten wir uns auch so und machen weiter wie geplant. Und jetzt« – Fawcett rieb sich erwartungsvoll die Hände und lehnte sich über seinen Sekretär nach vorne – »was sagt der Star Gazer denn dazu?« Zwei Augenpaare richteten sich auf Senator Snyder und warteten auf seinen Bericht.
Snyder atmete tief durch und glättete eine Knitterfalte an seinem Hosenbein, bevor er zu sprechen begann. »Wie erwartet hat er zugestimmt, als Akteur ins Spiel mit einzusteigen, aber er hatte ein paar Bedenken.«
»Er hatte keine Einwände außer denen, die wir vorhergesehen haben, sehe ich das richtig?«
»Das ist korrekt«, bestätigte Snyder.
Diesen Teil des Spiels, die Psychologie der Beeinflussung, liebte Fawcett ganz besonders. Er hatte genau gewusst, wie Star Gazer reagieren würde. Zuerst entrüstet über den Vorschlag, den er als indiskutabel bezeichnete. Dann begann das Streicheln und Stechen, wie er es gern nannte. Zuerst streichelte man das Ego, dann stach man ins Wespennest der Ängste. Es handelte sich um eine uralte Taktik, aber sie funktionierte jedes Mal. Je von sich eingenommener die Persönlichkeit, desto größer der Erfolg. Star Gazer war sehr von sich eingenommen, auch wenn er das sehr gut vor anderen verbarg. Die Fähigkeit, seine Selbstverliebtheit zu kaschieren, war Star Gazers größte Stärke. In Menschen hineinzuschauen und ihre Motivation zu erkennen, und diese Motivation so zu manipulieren, dass es ihm zum Vorteil gereichte, war Donald Fawcetts größte Stärke.
»Wovon redet ihr beide denn jetzt?«, wollte Rolander wissen.
»Worüber wir reden«, gab Snyder zurück, »ist, dass Mr. Fawcett Star Gazer völlig durchschaut hat. Wie ein offenes Buch. Er hat ganz genau vorhergesagt, welche Einwände und Bedenken Star Gazer haben würde. Er hat gewusst, welche Karten wir in welcher Reihenfolge ausspielen müssen, damit wir ihn ganz sicher an Bord bekommen. Star Gazer hat uns eine kurze Liste von ›Forderungen‹ überlassen, und nur wenn wir denen ohne Einschränkung zustimmen, beteiligt er sich an der Sache. Die Liste sieht exakt so aus, wie Mr. Fawcett es vorhergesehen hat.«
Rolander warf Fawcett einen beeindruckten Blick zu. »Er hat also zugestimmt, mitzumachen?«
»Das hat er allerdings«, erwiderte Snyder. »Kommen wir also zu seinen Bedingungen.«
Fawcett lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lächelte.
»Bedingung Nummer eins: Nachdem der Deal über die Bühne ist, muss der Präsident ins Weiße Haus zurückgebracht werden« – Snyder machte eine Kunstpause, bevor er den Satz beendete – »und zwar lebend.«
1
Der Außentemperaturfühler warnte ihn mit einem Piepsen vor möglicherweise vereister Fahrbahn. Gerhard Miner hielt das lederbezogene Lenkrad seines schwarzen Audi A6 etwas fester. Und auch sein Fuß in Gucci-Schuhwerk trat das Gaspedal weiter durch. Die Sonne sank über dem Luzerner See und der kalte Wind, der schon seit dem Mittagessen geweht hatte, wurde wieder kräftiger. Ach, und was für ein Mittagessen das heute war, dachte Miner genießerisch, während die schnittige schwarze Limousine dicht am Ufer des aufgewühlten Schweizer Sees entlangglitt. Einfach exquisit.
Claudia Müller, eine Ermittlerin der Bundesanwaltschaft, hatte Miner wiederholt zu einem Treffen gedrängt, um über die fehlenden Waffen und Ausrüstungsgegenstände zu sprechen, die aus einem Militärstützpunkt nahe Basel verschwunden waren. Kisten voller Nachtsichtgeräte, Blendgranaten, Sturmgewehre der Schweizer Sondereinsatzkommandos, Panzerabwehrraketen, Plastiksprengstoff und einige nicht tödliche Waffen der nächsten Generation, die als Dazzler oder Blendwaffen bekannt waren, all das war auf mysteriöse Weise verschwunden.
Obwohl Claudia ihm versichert hatte, dass ihre Fragen reine Routine waren, hatte Miner sie seit über zwei Monaten immer wieder abgewimmelt, mit der simplen Behauptung, dass seine Fallbelastung so hoch sei, dass er keinen Moment Zeit finden könne, um sich mit ihr zu treffen. Sie müsse doch einsehen, dass die Sicherheit der Schweiz, für die er die Verantwortung trug, wichtiger war als ein paar ›Routinefragen‹, die sie ihm zu stellen gedachte.
Er hatte eigentlich erwartet, dass sie es irgendwann aufgeben würde, aber das tat sie nicht. Claudia wollte unbedingt mit Miner reden, und dafür hatte sie gute Gründe.
Vor fünf Jahren hatte er eine Spezialeinheit des Schweizer Geheimdiensts befehligt, die dafür zuständig war, die Sicherheit von Militärbasen und Waffenanlagen in dem kleinen Land zu testen. Miner war so erfolgreich darin gewesen, die Sicherheitsvorkehrungen der Stützpunkte zu umgehen oder auszuhebeln, dass die Einheit aufgelöst wurde. Man befürchtete, die Militärführung zu sehr in Verlegenheit zu bringen, daher wurde Miner in eine andere Abteilung des Geheimdiensts versetzt.
Miner hatte diese Spezialeinheit nicht nur befehligt, er hatte sie auch selbst erschaffen. Die Idee für die Division mit dem passenden Namen Der Nebel (nach dem tödlichen Nebel des alten Gruselfilms The Fog) entsprang dem Training, das Miner im Rahmen eines binationalen schweizerisch-amerikanischen Austauschprogramms in Little Creek im Bundestaat Virginia genossen hatte. Little Creek war der Ort, dem die U. S. Navy SEAL Teams für atlantische, lateinamerikanische und europäische Operationen zugewiesen waren. Außerdem befand sich dort die Special Warfare Development Group der Navy, nicht zu verwechseln mit der DevGroup, der Eliteeinheit zur Terrorismusbekämpfung, die früher unter dem Namen SEAL Team Six bekannt war, denn die war in Dam Neck beheimatet, ebenfalls in Virginia. Die SWDG dagegen war die Ideenschmiede der SEALs, in der neue Waffen, Ausrüstung, Kommunikationssysteme und Taktiken entwickelt wurden.
Die lange Liste langweiliger Fragen, die ihm die Agentin der Behörde geschickt hatte, interessierte Miner rein gar nicht, aber ihre Hartnäckigkeit weckte dann doch seine Neugier. Er forderte eine Kopie der Personalakte von Claudia Müller an. Dank seiner Position als einer der ranghöchsten Geheimdienstoffiziere der Schweiz war es nicht schwer, an die Akte heranzukommen, und seine Anfrage schien auch keineswegs außergewöhnlich.
Miner blätterte Müllers Akte mit minimalem Interesse durch, aber als er die letzte Seite erreichte, hielt er inne. Die letzte Seite war immer am interessantesten. Dort befanden sich ihr Dienstfoto, ihr jüngstes Passfoto und, was am allerbesten war, ein Zeitungsfoto von einem Kletterwettbewerb, bei dem sie den ersten Platz belegt hatte. Im Gegensatz zu den ernst wirkenden Dienst- und Passbildern zeigte dieses Foto eine stolze, energische Frau. Ihr Gesicht war gerötet; man sah ihr das Adrenalin und die Erregung des Wettkampfs an. Sie war hinreißend.
Es gab keinen Grund, Claudia Müller noch länger hinzuhalten. In diesem Moment wusste Miner, dass er sie nicht nur treffen, sondern sie auch besitzen musste.
Knappe anderthalb Stunden entfernt saß Claudia Müller in ihrem Berner Büro in der Bundesanwaltschaft und studierte zum tausendsten Mal Gerhard Miners Akte. Von all den Leuten, mit denen sie im Zuge der Untersuchung gesprochen hatte, war Miner am schwierigsten festzunageln gewesen. Natürlich hatte er Gründe für seine Unerreichbarkeit, und die waren auch alle schlüssig, wie Claudia überprüfen konnte, als sie ihre Chefin bat, bei ihren Kontakten im Verteidigungsministerium nachzuhaken, aber etwas störte sie dennoch daran. Es mochte an ihrem typisch schweizerischen Fetisch für Organisation und Aufgeräumtheit liegen, aber irgendetwas an Miner passte nicht ins Bild.
Miner war 53 Jahre alt und ledig. Ein gut aussehender Mann, knappe 1,90 groß und körperlich extrem fit. Sein graues Haar verriet den teuren Friseur und auch die italienischen Maßanzüge saßen perfekt. Fast jede Frau würde Gerhard Miner als ausnehmend guten Fang bezeichnen. Wieder betrachtete sie die Fotos und fixierte die tiefbraunen Augen, als das Telefon klingelte.
»Hallo?«, meldete sich Claudia, den Blick immer noch auf die Akte gerichtet.
»Fräulein Müller, hier spricht Gerhard Miner vom SND.«
Der streng geheime Strategische Nachrichtendienst war dem Verteidigungsministerium unterstellt und verantwortlich für die Spionageabwehr in der Schweiz. Darüber hinaus wusste niemand viel mehr über die Abteilung, nicht einmal die bestinformierten und -vernetzten Schweizer Bürger.
Claudias Aufmerksamkeit wandte sich sofort von den Bildern ab und der Stimme am anderen Ende der Leitung zu. »Oh, Herr Miner, was verschafft mir die unerwartete Ehre Ihres Anrufs?«, fragte sie freundlich und verbarg ihre Spannung. Nach zwei Monaten hinterlassener Nachrichten und ausbleibender Rückrufe war sie begeistert, den Mann endlich persönlich am Apparat zu haben.
Miner lehnte sich in seinem Stuhl zurück und fragte sich, was Claudia wohl anhatte. Er stellte sie sich in provokativer Aufmachung vor, völlig unangemessen für den Büroalltag einer Frau in ihrer Position. Seine Gedanken wanderten weiter, während er wie auf Autopilot antwortete: »Die Ehre ist ganz auf meiner Seite. Ich kann mich nicht erinnern, wann eine Frau zuletzt so unnachgiebig Jagd auf mich gemacht hat.«
»Ich glaube kaum, dass meine wiederholten Bitten um Informationen im Rahmen einer offiziellen Untersuchung in die Kategorie fallen, die Ihnen da gerade vorschwebt, Herr Miner.«
»Natürlich nicht. Ich bitte um Entschuldigung. Passen Sie auf, bei mir ist morgen ein Zeitfenster frei geworden, da kann ich Sie treffen, wenn Sie das immer noch wollen, aber danach werde ich wieder sehr beschäftigt sein mit einem laufenden Auftrag.«
»Sehr gut«, erwiderte Claudia. »Ich komme zu Ihnen ins Büro; wie wäre es gegen …«
»Oh, das geht nicht, tut mir leid.«
»Wieso?«
»Ich werde morgen nicht vor Ort sein. Ich nehme mir ein paar Stunden frei und bin in meinem Haus in Luzern.«
Es war nicht unüblich für Regierungsbeamte, nur eine kleine Wohnung in der Hauptstadt zu besitzen und an den Wochenenden in ihre jeweilige Heimat zu pendeln. Die Schweizer besaßen eine ausgeprägte Loyalität gegenüber ihren Heimatkantonen und Elternhäusern. Claudia verbrachte selbst zahlreiche Wochenenden bei ihrer Familie in Grindelwald, in dem Haus, das eines Tages ihr gehören würde, wenn ihre Eltern nicht mehr da waren.
Sie überlegte kurz, wie lange sie von Bern nach Luzern brauchen würde und ob sie besser das Auto oder den Zug nehmen sollte.
»Passen Sie auf«, begann Miner.
Schon wieder dieses ›Passen Sie auf‹, dachte Claudia. Nachdem er ihr zwei Monate lang ausgewichen war, hätte sie ihn am liebsten angeschnauzt, aber sie wusste, dass sie sich zusammenreißen musste. Sie hatte sich erst kürzlich für eine neue Position innerhalb ihrer Behörde beworben. Einem der meistrespektierten Agenten des Verteidigungsministeriums auf die Füße zu treten, würde ihr ganz sicher nicht dabei helfen, die Karriereleiter zu erklimmen.
Der Alltag bei der Bundesanwaltschaft war ihr extrem langweilig geworden. Sie hatte die Stelle angenommen, als sie frisch von der Uni kam, den Abschluss in Jura gerade erst in der Tasche. Sie beherrschte alle vier offiziellen Landessprachen der Schweiz: Deutsch, Italienisch, Französisch und selbst das nur selten gesprochene Rätoromanisch. Ihre Englischkenntnisse waren ebenfalls fließend. Ihr beneidenswertes Sprachtalent, ihre hartnäckige Art und der genaue Blick fürs Detail machten sie zu einer sicheren Kandidatin für die Bundespolizei, die Ermittlungsabteilung der Bundesanwaltschaft. Sosehr Claudia ihre Tätigkeit als Ermittlerin zunächst auch geliebt hatte, inzwischen sehnte sie sich nach der Beförderung, die sie aus der glorifizierten Position als profane Kriminalbeamtin herausholen und sie auf Fälle ansetzen würde, die viel spannender waren und bei denen sie tatsächlich jemanden strafrechtlich verfolgen konnte.
Aber ganz gleich wie sehnlichst Claudia sich wünschen mochte, in eine andere Abteilung versetzt zu werden, sie hätte niemals eine laufende Ermittlung aufs Spiel gesetzt. Diesen Fall nicht zu lösen wäre weitaus schlimmer als ein ungeschicktes Vorgehen bei Mitarbeitern des Verteidigungsministeriums. Und wenn sie diesen Fall nicht lösen konnte, dann würde sie bleiben müssen, wo sie war, oder schlimmer noch, würde zurückgestuft oder gar entlassen werden.
Man hatte Claudias Chefin Arianne Küess zur Hauptanklägerin im Kriegsverbrechertribunal der Vereinten Nationen berufen, was wiederum bedeutete, dass der Fall der verschwundenen Waffen dem sehr unangenehmen stellvertretenden Staatsanwalt Urs Schnell übertragen worden war. Es handelte sich um Schnells ersten Fall und er wollte ihn so bald wie möglich sauber und mit einer roten Schleife versehen gelöst wissen. Er hatte der Sache höchste Priorität eingeräumt und Claudia spürte das Gewicht der Verantwortung schwer auf ihren Schultern. Das Problem bestand darin, dass sie noch keinerlei Fortschritte gemacht hatte und ihr die Hinweise ausgingen.
»Treffen wir uns doch hier zum Mittagessen; würde Ihnen das passen?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, fuhr Miner fort: »Um halb eins im Restaurant im Hotel des Balances in der Altstadt. In Ordnung?«
Nein, es passte ihr gar nicht, extra nach Luzern zu fahren, aber Claudia musste mit Miner reden, also sagte sie zu und legte auf. An diesem Abend zerbrach sie sich den Kopf, was sie anziehen sollte. Sie wollte professionell wirken, aber da sie von Miners Neigung zu schönen Frauen wusste, würde sie auch ihr Aussehen einsetzen, um ihr Ziel zu erreichen. Ihr war dabei völlig bewusst, dass das ethisch gesehen unterste Schublade war, aber sie war auch verzweifelt. Schließlich wählte sie einen schicken, eng sitzenden marineblauen Rock, der knapp über dem Knie endete, und einen taillierten Blazer in der gleichen Farbe, dazu eine auffällige silberfarbene Bluse. Sie ließ den obersten Knopf offen und knöpfte dann auch noch den zweiten auf, als sie am nächsten Tag um 12:25 Uhr die Lobby des Hotels betrat.
Mit Bedacht hatte Miner einen der ruhigeren Tische des Restaurants gewählt. Die Tischnische lag am Fenster, mit Blick auf die Reuss. Die schmiedeeisernen Tische auf der Terrasse waren verwaist, und dahinter paddelte ein Grüppchen der berühmten Luzerner Schwäne langsam unter der malerischen alten überdachten Holzbrücke hindurch, dem Wahrzeichen der Stadt. Miner schien in die Betrachtung der Schwäne versunken, die ihre schneeweißen Schwanzfedern in die Höhe streckten und in den Tiefen des rasch dahinströmenden Flusses mit den Köpfen nach Futter tauchten. In Wirklichkeit nutzte Miner das Fenster als Spiegel, um zu sehen, wie die Untersuchungsbeamtin Müller den Raum betrat, genau wie er auch alle anderen Gäste im Blick behalten hatte, die das Restaurant in den letzten 20 Minuten betreten oder verlassen hatten. Miner betrachtete Claudia, wie sie durch den Speiseraum immer näher kam, und dann tat er überrascht, als sie schließlich den Tisch erreichte.
»Guten Tag, Herr Miner. Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.« Claudia beugte sich über den Tisch, um ihm die Hand zu schütteln. Sie war sicher, dass er sie hatte hereinkommen sehen.
Das Spiel konnte beginnen.
Zwei Stunden später verließ sie das Hotel des Balances, wütend und unzufrieden mit dem Verlauf des Gesprächs. Sie musste ein paar Schritte spazieren gehen und den Kopf freibekommen. Claudia ging die kopfsteingepflasterte Einfahrt des Hotels hinauf, in Richtung Weinmarkt.
Die Luzerner Altstadt befand sich auf der rechten Flussseite und war komplett als Fußgängerzone deklariert, mit alten Kopfsteinpflastergassen und Häusern aus dem 16. bis 18. Jahrhundert. Viele der Fassaden waren mit Fresken versehen, die das Leben der alten Schweiz zeigten. Im Erdgeschoss vieler Gebäude befanden sich Boutiquen, Restaurants und kleine Läden. In diesem Teil der Stadt konnte man keine zwei Meter weit laufen, ohne Schaufenster voller teurer Armbanduhren oder altmodischer Kuckucksuhren zu sehen. Fraglos war all das auf Touristen ausgerichtet, aber die aus der Zeit gefallene Schönheit des Viertels übte eine beruhigende Wirkung auf Claudia aus.
Ziellos wanderte sie an den Läden vorbei die Kapellgasse entlang und versuchte, sich einen Reim auf das Treffen mit Miner zu machen. Er war sehr freundlich gewesen, fast schon zu freundlich; herablassend. Claudia hatte schnell begriffen, dass er nichts preisgeben würde, jedenfalls nicht freiwillig. Er verhielt sich extrem unkooperativ und berief sich jedes Mal auf die nationale Sicherheit, wenn Claudia ihm eine direkte Frage stellte.
»Wo waren Sie in der Nacht, als die Waffen gestohlen wurden?«
»Im Einsatz.«
»Und wo hat dieser Einsatz stattgefunden? Worum ging es?«
»Das kann ich nicht sagen.«
»Was können Sie nicht sagen? Wo Sie waren oder worum es ging?«
»Beides.«
»Und warum können Sie mir das nicht sagen?«
»Weil es sich um eine Angelegenheit nationaler Sicherheit handelt.«
»Und bei einer großen Menge gefährlicher Waffen, die aus einem Schweizer Armeedepot entwendet wurde, handelt es sich nicht um eine Angelegenheit nationaler Sicherheit?«
»Alles, was ich dazu sagen kann, ist, dass es Ihre Angelegenheit ist, nicht meine.«
»Herr Miner, geht es wirklich darum, dass Sie mir nicht sagen dürfen, wo Sie sich in der fraglichen Nacht aufgehalten haben, oder wollen Sie es mir bloß nicht sagen?«
»Beides«, erwiderte Miner. »Ich werde es Ihnen nicht sagen, weil ich es nicht darf.«
»Herr Miner, ist Ihnen bewusst, dass ich einen richterlichen Beschluss erwirken kann, der Sie dazu zwingt, meine Fragen zu beantworten?«
»Ja.«
»Warum machen Sie es uns beiden dann nicht etwas leichter? Beantworten Sie einfach meine Fragen, dann fahre ich zurück nach Bern und verfolge die weiteren Ermittlungen von dort aus.«
»Fräulein Müller, es ist nicht meine Aufgabe, Ihnen die Arbeit zu erleichtern. Ich diene der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Es steht mir nicht frei, diese Fragen zu beantworten, die Sie mir stellen. Sollten Sie tatsächlich versuchen, mich zur Beantwortung zu zwingen, dann versichere ich Ihnen, dass Ihre Anstrengungen auf hohe Widerstände treffen werden. Ich übe eine Tätigkeit im Dienst des Schweizer Volkes aus, die man getrost als heikel bezeichnen kann. Und ich mache diesen Job schon länger, als Sie überhaupt auf der Welt sind. Meine Stellung enthebt mich der Beantwortung Ihrer Fragen. Ich habe Ihnen doch bereits mehrfach gesagt, dass ich für Ihre Untersuchung wertlos bin, aber Sie haben dennoch weiter auf dieses Treffen gedrängt.«
Claudia war fest entschlossen, irgendetwas aus ihm herauszuholen, also wechselte sie den Kurs. »Vielleicht können Sie mir dann als Experte, was die Sicherheit der Schweizer Militäranlagen angeht, einen Hinweis geben, wie so ein Diebstahl möglich war und wo man derartige Waffen verstecken oder verkaufen könnte, falls das die Absicht dahinter war.«
»Fräulein Müller, wie ich selbst feststellen durfte, gibt es viele Wege, einen unserer Stützpunkte unbemerkt zu betreten. Eine oder mehrere Personen könnten das mit oder auch ohne Hilfe von innen geschafft haben. Gab es Anzeichen eines gewaltsamen Eindringens?«
»Nein, nicht soweit es unsere Ermittlungen ergeben haben.«
»Und haben die Sicherheitsvorrichtungen zum angenommenen Tatzeitpunkt alle ordnungsgemäß funktioniert?«
»Ja, haben sie.«
»Sie haben selbstverständlich das gesamte Personal der Basis befragt, um zu sehen, ob irgendwer in jener Nacht etwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört hat?«
»Selbstverständlich.«
»Und?«
»Und gar nichts, niemand hat etwas Ungewöhnliches bemerkt.«
»Gut, dann bringt uns das zu Ihrer nächsten Frage. Wo könnte man diese Art ›Waren‹ verstecken? Die Antwort ist: überall. Und wo könnte man sie verkaufen, auch da lautet meine Antwort: überall. Sie haben ganz einfach nicht ausreichend Hinweise, um auch nur eine Hypothese aufzustellen, was da genau geschehen ist. Sie jagen einem Phantom hinterher, und wenn ich ganz ehrlich bin, dann hege ich keine großen Hoffnungen, dass Ihre Ermittlungen von Erfolg gekrönt sein werden. Dennoch ist Ihr Tag noch nicht ganz verloren. Da Sie nun schon den ganzen Weg von Bern hierhergekommen sind, können Sie zumindest das köstliche Essen genießen, und später können wir vielleicht noch einen kleinen Spaziergang machen.«
Claudia verbrachte den Rest des Mittagessens damit, weiter um Antworten zu buhlen, aber Miner ließ jede Frage an seinem undurchdringlichen Panzer abprallen. Er besaß außerdem die Unverschämtheit, zu versuchen, sie zu verführen. Er fand sie ganz klar attraktiv und um ehrlich zu sein hatte Claudia ja auch die Waffen einer Frau eingesetzt, um mehr Informationen aus ihm herauszulocken. Aber anstatt mit irgendetwas Brauchbarem herauszurücken, hatte er sie nur noch eindeutiger angemacht. Claudia kam zu dem Schluss, dass sie es besser hätte wissen müssen. Auch wenn er ganz deutlich ausstrahlte, dass Frauen seine Leidenschaft waren, bedeutete Leidenschaft ja nicht automatisch auch Schwäche. Ihr Fehler, dass sie darauf spekuliert hatte.
Der Abschluss ihres Mittagessens verlief nicht weniger frustrierend als der Auftakt. Ohne sie überhaupt zu fragen, bestellte Miner für sie beide einen Digestif. Mit welcher Selbstverständlichkeit er sich das erlaubte, brachte ihr Blut endgültig zum Kochen: Zunächst einmal orderte er Alkohol, obwohl sie aus Prinzip im Dienst nicht trank, und dann hielt er ihr auch noch einen Vortrag darüber, dass sie den wunderbaren Dessertwein ablehnte, den der Food & Beverage Manager des Hotels extra für ihn im Keller aufbewahrte. Zweifellos hat Miner den Mann in seinem Griff, wenn er so bevorzugt behandelt wird, dachte Claudia und nahm sich vor, mehr über den Manager herauszufinden, wenn sie wieder in Bern war.
Und nicht genug damit, dass Miner ihr vorhielt, was für eine besondere Delikatesse dieser Wein war, den das Hotel extra und nur für ihn bereithielt. Nein, er musste noch groß darauf herumreiten, was die ungebildete kleine Claudia hier eigentlich verpasste. Von oben herab erklärte er ihr die Vorzüge der raren Köstlichkeit, sodass es klang, als habe er die Broschüre eines Weinguts auswendig gelernt. Der arrogante Ton passte zu Gerhard Miner.
Vin de Constance war eine Beerenauslese vom Weingut Constantia in Südafrika. Schon Napoleon Bonaparte hatte diesen Wein zu schätzen gewusst und sich monatlich 30 Flaschen nach Elba schicken lassen, um sich die Verbannung zu versüßen. Auch der preußische König und Ludwig XVI. liebten Vin de Constance. Dickens setzte ihm ein literarisches Denkmal in Edwin Drood, und Baudelaire sagte: »Nur die Lippen einer Geliebten besaßen noch mehr himmlische Süße.« Nur 12.000 Flaschen wurden jährlich produziert, von denen fast alle bereits vorbestellt und verkauft waren, bevor sie auf dem Markt angeboten wurden. Ein amerikanischer Kollege, der Miner mit diesem wunderbaren Getränk bekannt gemacht hatte, kümmerte sich dann auch darum, dass eine Kiste für ihn in die Schweiz geschickt wurde. Das war kein leichtes Unterfangen, da der Vin de Constance zu den begehrtesten Weinen der Welt gehörte.
Während Claudia diese lächerliche Rede über sich ergehen ließ, malte sie sich aus, wohin sich Miner seinen Wein stecken konnte, sollte im Keller des Hotels je Platzmangel herrschen. Obwohl sie sein Angebot bereits höflich abgelehnt hatte, schenkte er ihr dennoch von der teuren Flüssigkeit ein. Als Claudia den Flaschenhals packte und deutlicher klarmachte: »Ich sagte: nein danke«, verzog sich sein Mundwinkel höhnisch. Dieses kleine Zeichen der Verachtung oder des Spotts, das er mit einem falschen Lächeln zu maskieren versuchte, bewies ihr lediglich, dass Miner doch nicht vollkommen undurchschaubar und unangreifbar war. Sie kreidete es sich als einen winzigen Sieg an, nach dieser Reihe von schmerzhaften Niederlagen, als die sie das gemeinsame Mittagessen bezeichnen würde.
Claudia hatte so hartnäckig darauf bestanden, Miner zu befragen, weil er ihre letzte mögliche Spur darstellte. Alle anderen hatte sie ausführlich verfolgt. Sie hatte das Personal der Militärbasis wieder und wieder befragt, hatte die Konten und das Einkaufsverhalten der Angestellten überwacht, immer in der Hoffnung, dass, falls jemand von drinnen mit der Sache zu tun hatte, er oder sie über kurz oder lang einen Fehler machen würde. Eine Einzahlung oder der Kauf von etwas wirklich Teurem, der nicht einfach so erklärt werden konnte. Aber bis heute war nichts Entsprechendes geschehen. Keine Auffälligkeiten innerhalb der Schweiz und auch nichts auf den Schwarzmärkten im Ausland.
Abgesehen von dem nervigen Vortrag über Vin de Constance hatte Claudia das Gefühl, heute kein bisschen mehr zu wissen als gestern. Ihre Fahrt nach Luzern war reine Zeitverschwendung gewesen. Was die verschwundenen Waffen anging, hatte Miner von allen Schweizern am ehesten die Fähigkeiten und das Wissen, sie zu stehlen. Da war ihre Einschätzung durchaus richtig. Aber nur weil der Mann vor mehreren Jahren von der Regierung beauftragt worden war, die Sicherheit der nationalen Militäranlagen zu überprüfen, bedeutete das nicht, dass er irgendetwas mit dem Diebstahl der Waffen zu tun hatte.
Außerdem hatte Miner natürlich vollkommen recht, dass jeder Versuch, einen Richter dazu zu bringen, ihn zur Beantwortung ihrer Fragen zu zwingen, am Widerstand der höchsten Funktionäre der Schweizer Regierung scheitern musste. Solange sie keinerlei Beweise gegen Miner in der Hand hatte, würde ihn auch niemand zur Kooperation zwingen.
Und da er sich weigerte zu kooperieren, hatte Claudia nicht einmal mehr einen Strohhalm, an dem sie sich festhalten konnte. Da war nur leere Luft. Ihre Ermittlungen waren von einem Misserfolg nach dem anderen gekennzeichnet. Es half nichts, dass ihr Bauchgefühl ihr sagte, dass Miner etwas damit zu tun hatte, denn ihr Verstand sagte, dass die Chancen, ihn zu einem echten Verdächtigen zu machen, eins zu einer Million standen. Und nun war ihre Untersuchung, und damit gleichzeitig auch ihre Karriere, zum Stillstand gekommen.
Als Gerhard Miner auf den Langzeitparkplatz des Züricher Flughafens fuhr, hatte er Claudia bereits wieder vergessen. Sein Gehirn konzentrierte sich auf die Mission. Die plötzliche Änderung im Zeitplan bereitete ihm Sorgen, aber so etwas lag in der Natur seines Geschäfts. Staatsmänner mussten ihre Reisen oft abbrechen oder ihre Pläne in letzter Minute komplett umwerfen. Da diese Reise mit dem 16. Geburtstag der Tochter des amerikanischen Präsidenten zusammenfiel, war Miner sicher gewesen, dass der Staatschef so viel Zeit wie möglich im Skiurlaub verbringen würde, wenn es nicht gerade einen internationalen Zwischenfall gäbe. Die Tatsache, dass der Präsident seinen Urlaub nun ein paar Tage früher als geplant abbrechen wollte, war zwar unpraktisch, gefährdete die Mission jedoch keineswegs.
Miner trat auf den leeren Schalter der ersten Klasse zu und zeigte dort sein Ticket und den Pass vor. Er gab sich Mühe, auffällig mit der Dame hinter dem Check-in-Schalter zu flirten, die sich dann auch laut wunderte, dass ein so attraktiver Mann keine schöne Frau dabeihatte, die ihn auf seinem Flug nach Athen begleitete.
Als er danach in der Swissair Lounge darauf wartete, dass das Boarding für seinen Flug begann, änderte er seine Strategie und regte sich furchtbar auf, als eine junge Kellnerin ihm ein Glas Cabernet über seine Hose kippte. Das arme Mädchen dachte, es wäre ihr Fehler gewesen, aber in Wirklichkeit hatte Miner mit seiner Schulter das Tablett mit dem Wein angestoßen, als sie gerade eine Cocktail-Serviette auf seinen Tisch legte. Sein Wutausbruch führte zu einer überschwänglichen Entschuldigung des zuständigen Swissair-Flughafenservice-Managers, die sich den ganzen Weg von der Lounge bis zum Gate hinzog. Und auch nachdem Miner seinen Platz in der Maschine eingenommen hatte, entschuldigte sich der Manager noch einmal und bat den Steward der ersten Klasse, sich ganz besonders aufmerksam um den leidgeprüften Passagier zu kümmern. Miner hatte genau das erreicht, was er beabsichtigt hatte. Mindestens fünf Menschen würden sich an ihn erinnern und bestätigen, dass er den Swissair-Flug nach Griechenland angetreten hatte.
Die nächsten anderthalb Wochen verbrachte er in den beliebten Häfen von Paros und Mykonos, gab zu viel Geld aus und unterhielt seine neuen Freunde, während er immer wieder an den nicht enden wollenden ›technischen Problemen‹ seines gemieteten Segelschiffs herumschraubte. Er gab den Barmännern, Kellnern und Hafenmeistern viel zu hohe Trinkgelder, um sicherzustellen, dass man sich nicht nur an ihn erinnern, sondern den Mann und seine locker an der Brieftasche sitzende Hand in der nächsten Saison ungeduldig erwarten würde.
In der Gewissheit, dass sein Alibi wasserdicht war, segelte Miner zur unbewohnten Insel Despotiko, etwa drei Stunden südwestlich von Mykonos gelegen, wo, wie abgemacht, sein Cousin aus dem Schweizer Städtchen Hochdorf auf ihn wartete. Der Mann war Schreiner und sah Miner unglaublich ähnlich.
Er stellte keinerlei Fragen, denn er wusste erstens, wie heikel die Tätigkeit seines Cousins oft war, und zweitens freute er sich schlichtweg über den Gratisurlaub. Der Plan sah vor, dass er weiter nach Süden segelte, erst nach Santorini und dann nach Kreta, wo er die gemietete Jacht wegen wiederholter technischer Probleme zurücklassen würde. Dann würde er sich zum Hafen Patras an der Westseite von Kreta begeben, wo eine Kabine der ersten Klasse auf einem Kreuzfahrtschiff der Minoan Lines nach Venedig für ihn reserviert war.
Sein Cousin würde mit Miners Pass und seiner Kreditkarte reisen. Da Miner wusste, dass die Kabinenstewards der ersten Klasse für ihre Passagiere die Aufgabe übernahmen, die Pässe den Grenzbeamten vorzulegen, machte er sich keine Sorgen darum, dass sein Cousin oder dessen Ausweis genauer unter die Lupe genommen werden würde. Dann sollte der Schreiner eine Woche in Norditalien verbringen, bevor er mit dem Zug nach Frankreich weiterfuhr.
Miner hatte ihm ein Schlafwagenabteil gebucht, erneut in der ersten Klasse. Da der Zug die französische Grenze mitten in der Nacht passieren würde, wenn die Passagiere schliefen, würde auch hier ein Schaffner am Abend die Pässe der Reisenden einsammeln, sie nachts den Grenzern zeigen und morgens mit dem Frühstück wieder austeilen.
Nach einer weiteren Woche in Frankreich würde der Schreiner einen anderen Nachtzug zurück in die Schweiz nehmen, um erneut die direkte Passkontrolle zu umgehen. Und wenn er nach diesem letzten Grenzübertritt den Pass aus den Händen seines Schaffners zurückerhielt, sollte er ihn gemeinsam mit all den anderen Belegen, die er während seines wunderbaren Urlaubs zu sammeln angehalten war – wie Zugfahrkarten und Kreditkartenbelegen –, in einen großen braunen Umschlag packen. Der Umschlag war auf eine Postfachadresse in Luzern adressiert und in mehr als ausreichender Höhe frankiert. Wenn der Zug in Bern eintraf, würde der Schreiner den Brief direkt am Bahnhof einwerfen, bevor er mit einem weiteren Zug zurück nach Hochdorf fuhr.
Auf diese Weise sicherte sich Miner Augenzeugen, Zollvermerke und eine Spur seiner Kreditkartenabrechnung, die durch drei europäische Länder führte, während er selbst als Teil einer Reisegruppe mit einem gefälschten Malteser Pass von Griechenland in die Türkei einreiste. Er war zuversichtlich, dass sein Alibi wasserdicht wäre, sollte er es je benötigen.
Keine 24 Stunden später saß ein zerknittert wirkender westeuropäischer Geschäftsmann unbeachtet im Wartebereich der Fluglinie und las die International Herald Tribune vom Vortag. Mit blonden Haaren und Vollbart, blauen Kontaktlinsen und einer Körperpolsterung, die ihn 20 Kilo schwerer wirken ließ, reiste Miner jetzt mit einem niederländischen Pass als Henk van Huevel aus Utrecht.
Er las einen Artikel, der ihm zufällig ins Auge gesprungen war. Darin ging es um den anstehenden Skiurlaub, den der amtierende Präsident der Vereinigten Staaten, Jack Rutledge, mit seiner Tochter Amanda unternehmen würde, und um die Frage, was diese Reise den amerikanischen Steuerzahler kostete.
Als die Durchsage kam, dass man nun zunächst die Passagiere der ersten Klasse auf Flug 7440 von Istanbul nach New York willkommen heißen würde, faltete Miner die Zeitung und klemmte sie unter den Arm. Er ging auf das Gate zu und dachte: Die haben absolut keine Vorstellung davon, was diese Reise kosten wird.
2
»Da habt ihr euch aber einen super Tag ausgesucht, was?«, fragte der junge Mann am Lift, als Scot Harvath und Amanda Rutledge herangeschlurft kamen, um den nächsten Sessellift zu besteigen. Er meinte den weichen Schnee, der den ganzen Tag über gefallen war.
»Das Licht ist ein bisschen matt«, erwiderte Amanda.
Scot musste lachen. Amanda fuhr noch nicht allzu lange Ski, aber sie hatte sofort den Jargon und die Eigenheiten eines verwöhnten Skifahrers aufgeschnappt.
»Was ist denn so komisch?«, wollte sie wissen, als der Lift sanft gegen ihre Kniekehlen stieß und sie sich beide hineinsetzten. Die Fahrt hinauf zum Deer Valley Squaw Peak begann.
»Du bist so komisch.«
»Ich? Aber wieso denn?«
»Nichts für ungut, Mandie. Deine Technik ist schon ziemlich gut, aber wie oft bist du in deinem Leben denn schon Ski gefahren? Vielleicht fünf oder sechs Mal?«
»Ja und?«
»Und das war immer nur der Mist an der Ostküste. Alles vereist, oder?«
»Und?«
»Na ja, ich finde es einfach lustig, zu hören, wie du dich über das Licht beklagst, wenn du endlich mal auf der Sorte Schnee fahren kannst, um die dich jeder Skiprofi beneiden würde.«
»Okay, ich schätze, das ist irgendwie lustig, aber du musst doch zugeben, dass man bei diesem Wetter kaum etwas sieht.«
Damit hatte Amanda Rutledge zu 100 Prozent recht. Seit einer Woche hatte es jetzt durchgehend geschneit. Scot hatte ein Teleskop mitgebracht, da er gehofft hatte, hier seiner Leidenschaft für Astronomie nachgehen zu können. Die vielen Lichter zu Hause in Washington machten es unmöglich, am Nachthimmel irgendetwas Interessantes zu sehen. Leider hatte sich das Wetter in Park City bisher geweigert zu kooperieren. Heute fiel der Schnee besonders dicht. Die Sicht war massiv eingeschränkt und die Wetterbedingungen bereiteten Scot immerhin ausreichend Sorge, dass er vorschlug, der Präsident und seine Tochter sollten doch einen Tag die Füße hochlegen und abwarten, wie der morgige Tag werden würde. Aber der Präsident hörte nicht auf die Bedenken, die der Kopf seiner Vorausmannschaft vorbrachte. Er stellte klar, dass er und Amanda zum Skifahren hergekommen waren und dass sie genau das nun auch tun würden.
Seine Skifahrpläne wurden aber auch noch von anderer Seite torpediert: Das Mehrheitsbündnis, das der Präsident mühevoll zusammengeschustert hatte, um sein Gesetz zur Reduzierung der Nutzung fossiler Brennstoffe durch den Kongress zu bringen, drohte auseinanderzubrechen. Das Gesetz bedeutete einen herben finanziellen Schlag für die großen Ölgesellschaften, würde aber gleichzeitig dem Sektor für alternative Energiequellen den längst überfälligen Auftrieb geben. Aber wenn der Präsident seine Gesetzgebung durchdrücken wollte, musste er den Wackelkandidaten im Kongress ständig das Händchen halten, damit sie nicht umfielen. Die für die kommende Kongresswahl prognostizierte Fluktuation würde das Schicksal seines Lieblingsprojekts besiegeln. Der Gesetzesentwurf hatte nur in der laufenden Session Chancen, ratifiziert zu werden.
Obwohl er die Dauer seines Urlaubs bereits vor der Abreise aus Washington verkürzt hatte, dachte der Präsident nun darüber nach, noch früher zurückzukehren. Scot verstand nur allzu gut, dass der Mann dann wenigstens so viele Abfahrten und so viel Zeit mit seiner Tochter wie möglich in die wenigen Tage packen wollte, bevor er wieder in die Hauptstadt musste.
»Bist du im Moment mit jemandem zusammen?«, fragte Amanda.
Mit diesem plötzlichen Themenwechsel hatte Scot nicht gerechnet. Er vergaß die Probleme des Präsidenten und das unbeständige Wetter.
»Bin ich mit jemandem zusammen? Wer will das denn wissen?«, zog er sie auf.
Amanda errötete und wich seinem Blick aus, aber sie sprach weiter. »Ich möchte das wissen. Ich meine, du erwähnst nie irgendwelche Verabredungen oder so was.«
Scot lächelte erneut, verbarg das aber vor ihr. Wahrscheinlich hatte sie den ganzen Tag über diese Frage nachgedacht, aber jetzt erst den Mut aufgebracht, sie auch wirklich zu stellen.
Seit dem Tag, an dem er Teil des Alltags im Weißen Haus geworden war, war Amanda in Scot verknallt und das wussten auch alle. Mehr als einmal hatte der Präsident sie ermahnen müssen, Scot nicht abzulenken, wenn er im Dienst war. Amanda, oder Mandie, wie Scot sie nannte, war ein nettes Mädchen. Obwohl sie ihre Mutter erst vor wenigen Jahren an den Brustkrebs verloren hatte, schien sie ein ganz normaler Teenager. Sie war klug, sportlich und würde sich zu einer sehr schönen Frau entwickeln. Scot ging nicht auf ihre Frage ein.
»Das war keine schlechte Geburtstagsparty gestern Abend«, sagte er.
»Ja, war ganz cool. Danke noch mal für die CDs. Du musstest mir nichts schenken.«
»Hey, das war immerhin dein Geburtstag. Endlich 16. Eigentlich wollte ich dir ein Auto schenken, aber der Nationale Sicherheitsberater deines Dads meinte, dass du hinter dem Steuer deines eigenen Schlittens eine zu große Gefahr für das Land wärst. Also muss der Ferrari wohl vorerst in meiner Garage stehen bleiben, bis wir es schaffen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.«
Amanda lachte. »Das mit den CDs war jedenfalls wirklich süß und ich danke dir auch für die Skistunden heute.«
Bevor er zu den SEALs gestoßen war und dann für den Secret Service rekrutiert wurde, war Scot ein ziemlich versierter Skifahrer gewesen, der es bis zu einem Platz in der Nationalmannschaft im Freestyle gebracht hatte. Gegen den Willen seines Vaters hatte Scot sich entschieden, das College hintanzustellen, um eine Karriere als Profi-Skifahrer zu verfolgen. Er war mehrere Jahre lang im Team gewesen, das genau hier in Park City in Utah trainiert hatte. Er schlug sich bei den Weltmeisterschaften extrem gut und man sagte ihm große Chancen auf eine Olympia-Medaille voraus, aber als Scots Vater bei einem Trainingsunfall ums Leben kam, war er am Boden zerstört. Harvath senior hatte als Ausbilder im Navy-SEAL-Trainingslager in ihrer Heimatstadt Coronado in Kalifornien gearbeitet. Nachdem Scot seinen Vater verloren hatte, konnte er machen, was er wollte, die Skiwettkämpfe reizten ihn einfach nicht mehr. Stattdessen entschied er sich, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Nachdem er das College mit Bestnoten abgeschlossen hatte, bewarb er sich bei den SEALs und wurde Team Two zugeteilt, das auch als Kaltwetter-Spezialisten oder Polar SEALs bekannt war.
Scot war sich bewusst, dass er seinen momentanen Posten als Kopf der präsidialen Vorausmannschaft nicht nur der Tatsache verdankte, dass er sich in Park City auskannte, sondern auch seinem Hintergrund und seiner Erfahrung. Und er wusste auch, dass Präsident Rutledge deswegen den Bitten seiner Tochter nachgegeben hatte, Scot heute zu ihrem Begleiter zu machen, damit er ihr ein paar Tricks beibringen konnte.
Amanda hatte sich total gefreut und fand, dass sie bisher einen perfekten Tag erlebt hatte, wie ›matt‹ das Licht auch sein mochte.
»Du bist so eine exzellente Schülerin, da ist es ein Vergnügen, dir etwas beizubringen.« Scots Funkgerät unterbrach ihre Unterhaltung mit einem Knacken. Er hob die Hand, um ihr zu signalisieren, dass er in seinen Ohrstöpsel lauschte, und Amanda schwieg entsprechend.
»Norseman, hier ist Sound. Over«, kam die kratzig klingende Stimme über seine Funkverbindung. Den Rufnamen Norseman hatte Scot sich bei den SEALs eingefangen und seither immer beibehalten. Mit seinen 1,80 und muskulösen 72 Kilogramm Gewicht, dem braunen Haar und den eisblauen Augen sah der gut aussehende Scot Harvath eher deutsch als skandinavisch aus. Aber den Rufnamen hatten sie ihm ja auch nicht wegen seines Aussehens gegeben, sondern wegen der vielen skandinavischen Stewardessen, mit denen er während seiner Zeit als SEAL ausgegangen war.
Die Stimme am anderen Ende von Scots Motorola, die sich als Sound gemeldet hatte, gehörte dem Chef des Sicherheitsteams des Präsidenten, Sam Harper. Harper hatte sich Scots angenommen, als der zum Team im Weißen Haus gestoßen war. Der ranghöchste Agent des Secret Service im Weißen Haus, dem sie beide unterstellt waren, hieß William Shaw – und sein Rufname lautete Fury. Wenn man also Harper und Shaw zusammenbrachte, kam The Sound and the Fury heraus. Das war nicht nur der Titel eines berühmten Romans von William Faulkner, sondern bedeutete auch in etwa so viel wie ›Lärm und Zorn‹; und jeder, der jemals unter ihrem Kommando Mist gebaut hatte, wusste nur allzu gut, wie passend dieser Titel für das Duo war.
Die ganze Woche lang war die Kommunikation zwischen den Beteiligten reibungslos verlaufen, aber aus irgendeinem Grund war die Funkverbindung heute mehrfach ausgefallen. Vielleicht lag es ja am Wetter.
»Hier ist Norseman. Sprechen Sie, Sound. Over«, sagte Scot in sein Kehlkopfmikrofon.
»Norseman, Hattrick möchte wissen, wie es Goldilocks geht. Over.«
»Mandie«, wandte sich Scot an Amanda, »dein Dad möchte wissen, wie du dich heute schlägst.«
Als der frühere Vizepräsident Rutledge sein Amt antrat, war er zuvor dreimal hintereinander zu einem der attraktivsten Politiker in Washington gewählt worden. Der dem Hockey entliehene Spitzname Hattrick, der für drei Tore hintereinander stand, wurde daraufhin schnell zum Insiderwitz für all jene, die ihn näher kannten. Jack Rutledge war die Aufmerksamkeit der Medien für sein Aussehen etwas peinlich, aber er wehrte sich nicht gegen den Spitznamen, und den übernahm dann auch das Verteidigungsministerium, das die Codenamen für den Präsidenten und seinen Vize festlegt. Nachdem seine Ehefrau gestorben war, verbreitete sich rasch die Nachricht unter den Angestellten im Weißen Haus, dass der Präsident nicht versuchen würde, ein viertes Mal Teil der Regierung zu sein. Sein Codename hatte sich als prophetisch erwiesen.
Amandas Codename dagegen drängte sich einem geradezu auf, wenn man ihre langen blonden Locken vor sich sah, und im Weißen Haus hieß sie daher schon immer Goldilocks, wie das Mädchen aus dem Märchen mit den drei Bären.
»Ich bin ein bisschen hungrig, aber abgesehen davon geht’s mir ziemlich gut«, antwortete sie.
»Sound, Goldilocks ist noch voll an Deck, würde aber der Kombüse gern in naher Zukunft einen Besuch abstatten. Over.«
»Verstanden, Norseman. Die Lifte schließen offiziell um 16:30 Uhr; das ist in 20 Minuten. Hattrick will wissen, ob Goldilocks noch weiterfahren möchte, oder ob wir für heute einpacken sollen. Over.«
Scot wandte sich erneut an Amanda: »Dein Dad fragt, ob sie für dich den Lift noch länger offen halten sollen, oder ob das unsere letzte Abfahrt wird und wir dann zurück zum Haus fahren.«
»Meine Zehen werden langsam kalt. Ich glaube, ich bin heute genug gefahren. Diese letzte Abfahrt noch.«
»Sound, Goldilocks möchte es wie das kleine Schweinchen machen. Over.« Dieses ›Schweinchen‹ bezog sich auf einen Kinderreim, in dem das fünfte kleine Schweinchen ›tripp, tripp, trapp‹ nach Hause ging.
»Verstanden, Norseman. Hattrick ist auch dafür. Treffen wir uns bei der letzten Runde. Over.«
»Letzte Runde, verstanden, Sound. Norseman Ende.«
Als Scot, Amanda und ihre Sicherheitseinheit den Treffpunkt erreichten, der als letzte Runde bekannt war, warteten der Präsident, Sam Harper und der Rest des Teams bereits auf sie.
»Hi, Schätzchen«, begrüßte der Präsident seine Tochter, die recht gekonnt auf ihren Skiern herangefahren kam. Dann umarmte er sie kurz. »Machst du Fortschritte beim Fahren? Hast du schon gemerkt, dass es anders ist, jetzt, da du 16 bist?«
»Die Zahl macht ganz sicher nicht den Unterschied, Dad. Aber ich bin wirklich besser geworden.«
»Ist das wahr?«, hakte der Präsident nach und warf Scot einen fragenden Blick zu.
»Ja, Sir, Mr. President. Amanda hat heute Nachmittag so einiges dazugelernt. Sie könnte uns jetzt alle die Todesrinne runterjagen, wenn sie wollte«, erwiderte Scot.
»Die Todesrinne?«, wiederholte Amanda. »Du musst irre sein. Da würde ich nicht mal mit einem Schneepflug runterfahren!«
Ein paar von den Agenten des Secret Service lachten nervös. Die Todesrinne war eine der schwierigsten Abfahrten, jenseits der markierten Pisten, die sie direkt in die Nähe des Hauses führen würde, in dem die Gruppe um den Präsidenten wohnte. Dieses Haus war Teil der ultraexklusiven Gemeinde namens Snow Haven, die so im Deer Valley gelegen war, dass man direkt von den Behausungen aus auf Skiern losziehen konnte.
Die Nervosität der Agenten beim Gedanken an die Todesrinne kam nicht von ungefähr. Diese Abfahrt erforderte ein sehr hohes Maß an Können und Geschick. Selbst für die Besten von ihnen wäre das eine nervenaufreibende Herausforderung. Es gab dort nicht nur viele Felsen und steile, fast senkrechte Abhänge, sondern wo die Piste langsam wieder flacher wurde, bevor sie noch einmal steil abwärts verlief, gab es auch ein breites Plateau mit ziemlich dichtem Baumbestand.
Der Präsident war ein sehr versierter Skifahrer und liebte es, jeden Tag eine andere schwierige Abfahrt zurück zum Haus zu nehmen. Vormittags fuhr er die leichten Pisten gemeinsam mit seiner Tochter, und nach dem Mittagessen fuhr jeder seine eigenen Wege, damit er sich den anspruchsvolleren Pisten widmen konnte. Die wirklich fordernden letzten Abfahrten des Tages galten eigentlich schon als Hinterland und gehörten nicht mehr zum markierten und ständig gepflegten Pistennetz von Deer Valley. Daher war es den Männern vom Secret Service auch nicht schwergefallen, diese Strecken zu sichern. Sie hatten einfach Markierungen angebracht, um anderen Skifahrern den Zugang zu verwehren.
Je sicherer der Präsident sich auf seinen Skiern fühlte, desto stärker juckte es ihn in den Fingern, sich an immer steilere Abfahrten zu wagen. Der Adrenalinstoß, den er dabei spürte, stellte einen beflügelnden Schlusspunkt seines Tages im Schnee dar, beinahe wie eine Belohnung. Alle Schussfahrten, die er bisher ausprobiert hatte, befanden sich in ein und demselben Gebiet. Die Todesrinne lag ein bisschen weiter im Osten, abseits vom Rest der Abfahrten, und der Secret Service wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis der Präsident beschließen würde, dass er sie in Angriff nehmen wollte.